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Es kommt Dicker - Marius Leutenegger

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24 | Spezial – Zeitgeschehen Books Nr. 3/2013 Alle Bücher finden Sie auch auf Spezial – Zeitgeschehen | 25<br />

Das Heute festhalten<br />

Was wir als «Zeitgeschehen» bezeichnen, soll ein deutliches Bild<br />

der Gegenwart zeichnen. Was eignet sich heute für diese Kategorie?<br />

«Books» hat aus der Fülle der Neuerscheinungen zu Gesellschaft,<br />

Politik und Kultur einige Themen herausgegriffen.<br />

Benjamin Gygax<br />

Zeit ist ein faszinierendes Phänomen, das<br />

nicht nur Sportler, Philosophen und Physiker<br />

beschäftigt, sondern uns alle im Alltag.<br />

Vielleicht hat die deutsche Sprache deshalb<br />

in Kombination mit dem Wort «Zeit»<br />

einige ebenso eigentümliche wie prägnante<br />

Begriffe hervorgebracht. Der Dichter<br />

und Philosoph Johann Gottfried Herder<br />

prägte 1769 den Begriff «Zeitgeist» für die<br />

vorherrschende und typische Art, wie zu<br />

einer bestimmten Zeit gedacht und gefühlt<br />

wird. Seine Wortschöpfung war so eingängig,<br />

dass sie es sogar als Lehnwort in mehrere<br />

andere Sprachen geschafft hat, zum<br />

Beispiel ins Englische. Hans Magnus<br />

Enzensberger äusserte sich zwar verächtlich<br />

über diesen ominösen Geist, der eine<br />

Zeit durchweht: «Etwas Bornierteres als<br />

den Zeitgeist gibt es nicht. Wer nur die<br />

Gegenwart kennt, muss verblöden.» Vielleicht<br />

verkennt Enzensberger dabei aber,<br />

dass man den «Zeitgeist» oft nur unter einer<br />

Lupe erkennen kann, die «Geschichtsbewusstsein»<br />

heisst – schliesslich macht ja<br />

erst der Vergleich eine Besonderheit erkennbar.<br />

Ein Bild der Gegenwart zeichnen<br />

Mit dem «Zeitgeist» verwandt ist auch das<br />

«Zeitgeschehen». Dieser Begriff hat die<br />

Aufgabe, aktuelle Ereignisse von historischen<br />

abzugrenzen. Deshalb findet er auch<br />

rege Verwendung dort, wo es um Aktualität<br />

geht: Als Rubrik in Zeitungen und Zeitschriften.<br />

Daraus zu schliessen, dass alles<br />

gerade Aktuelle sich als «Zeitgeschehen»<br />

qualifiziert, wäre falsch. Die Kategorie<br />

«Zeitgeschehen» adelt sozusagen jene Aktualität,<br />

die prägend und dauerhaft, ja vielleicht<br />

sogar epochenbildend ist. «Zeitgeschehen»<br />

soll mit wenigen klaren und<br />

kräftigen Strichen ein Bild der Gegenwart<br />

skizzieren.<br />

«Zeit» ist zeitlos<br />

Was charakterisiert unsere Zeit? Ein Thema,<br />

das zwar in gewisser Weise zeitlos ist,<br />

uns heutzutage aber besonders stark beschäftigt,<br />

ist die Zeit selber. Einen äusserst<br />

anregenden und auch anspruchsvollen<br />

Blick auf dieses Phänomen präsentiert<br />

Aleida Assmann mit «Ist die Zeit aus den<br />

Fugen?» Sie ist Professorin für Anglistik<br />

und Literaturwissenschaften in Konstanz<br />

und vertritt eine interessante These. Ihr<br />

Ausgangspunkt: «Das Auseinanderbrechen<br />

und neu Zusammensetzen des temporalen<br />

Zeitgefüges von Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft.» Sie mute ihren<br />

Lesern zu, schreibt die Kulturwissen-<br />

schaftlerin, «Befunde aus verschiedenen<br />

Geschichtsepochen und kulturellen Bereichen<br />

zu besichtigen in der Erwartung, dass<br />

sich aus diesen konkreten Fragmenten ein<br />

Bild dessen aufbaut, was ich mit einem<br />

abstrakten Begriff das ‹Zeitregime der Moderne›<br />

nenne». Der Niedergang dieses<br />

Zeitregimes sei der Grund für ein temporales<br />

Chaos in unserer Zeit. Bisher hatte es<br />

uns auf die Zukunft ausgerichtet und liess<br />

uns die Vergangenheit vergessen. Heute sei<br />

Geschichte «Vergangenheit, die nie vergeht»<br />

und uns damit nicht mehr loslässt –<br />

und der Glaube an die Zukunft ist vielen<br />

abhanden gekommen.<br />

Der Einzelne und das Imperium<br />

Vielleicht lässt sich diese These zum Zeitregime<br />

gerade anhand des nächsten Buchs<br />

illustrieren? Swetlana Alexijewitsch, die<br />

1948 in der Ukraine geboren wurde, hat<br />

ihr neues Buch «Secondhand-Zeit» genannt.<br />

Die Journalistin und Buchautorin<br />

ist eine der profiliertesten Zeitzeuginnen<br />

der postsowjetischen Gesellschaft. Ihre Bücher<br />

wurden unter anderem mit dem<br />

«Kurt-Tucholsky-Preis» des schwedischen<br />

PEN, mit dem «Triumph-Preis für Kunst<br />

und Literatur Russlands» und mit dem<br />

«Leipziger Buchpreis zur Europäischen<br />

Verständigung» ausgezeichnet. 2013 erhält<br />

Swetlana Alexijewitsch den Friedenspreis<br />

des Deutschen Buchhandels. Für ihr<br />

Werk hat die Autorin Gespräche mit Männern<br />

und Frauen aufgezeichnet, die sich an<br />

die Sowjetzeit erinnern. Zwar sehen jüngere<br />

Menschen diese Ära nur im Nebel der<br />

Geschichte, doch der Kalte Krieg, die Sowjetunion<br />

und der kommunistische Staatsterror<br />

leben in der Erinnerung vieler Russinnen<br />

und Russen weiter. «Ich kenne<br />

diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich<br />

habe viele Jahre Seite an Seite mit ihm<br />

gelebt. Er ist ich», schreibt die Autorin.<br />

Diesem «Ich» ist sie auf der Spur – und sie<br />

nähert sich ihm mit den Mitteln der Journalistin.<br />

«Ich schreibe mit, ich suche Körnchen<br />

für Körnchen, Krume für Krume nach<br />

der Geschichte unseres ‹alltäglichen›, unseres<br />

‹inneren› Sozialismus. Danach, wie<br />

er in der Seele der Menschen wirkte. Dieser<br />

Massstab hat mich schon immer fasziniert<br />

– der Mensch ... der einzelne Mensch.<br />

Denn im Grunde passiert dort alles.» Und<br />

was passiert zurzeit? Vielen gilt Stalin wieder<br />

als grosser Staatsmann, die sozialistische<br />

Vergangenheit wird nostalgisch verklärt.<br />

Dieses Leben mit gebrauchten Ideen<br />

und Worten nennt Swetlana Alexijewitsch<br />

«Secondhand-Zeit». In ihren Gesprächen<br />

stellt sie die Brutalisierung von Menschen<br />

fest, die «immer entweder gekämpft oder<br />

sich auf einen Krieg vorbereitet haben».<br />

Das Buch ist keine leichte Kost, aber vielfältig<br />

und berührend. <strong>Es</strong> zeigt, wie die Sowjetunion<br />

bis ins Heute nachwirkt.<br />

Kapitalismus oder Demokratie?<br />

Der Kalte Krieg ist Geschichte und die Konkurrenz<br />

zwischen kommunistischem und<br />

kapitalistischem Block weitgehend vorüber.<br />

Doch damit rückt zunehmend eine andere<br />

Bruchstelle ins Bewusstsein: jene zwischen<br />

Kapitalismus und Demokratie. So<br />

zumindest sieht es Jakob Augstein in seinem<br />

Buch «Sabotage». Der Sohn von<br />

«Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein ist im<br />

Untertitel sehr klar: «Warum wir uns zwischen<br />

Demokratie und Kapitalismus entscheiden<br />

müssen». Der streitbare und umstrittene<br />

linke Publizist hält ein Plädoyer<br />

dafür, Gerechtigkeit, Gesetz, Gleichheit,<br />

Demokratie und Freiheit zu verteidigen,<br />

sonst gehe die Gesellschaft kaputt. «Aber<br />

wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch<br />

der Mensch kaputt. Das wollten die Ideologen<br />

des Neoliberalismus lange Zeit nicht<br />

wahrhaben.» Die Bedrohung sieht er im<br />

Finanzkapitalismus. Auch wenn Augstein<br />

von der Deutschen Politik ausgeht, wirft er<br />

Fragen auf, die von globaler Bedeutung<br />

sind. Die Lösungsvorschläge sind nicht so<br />

eindeutig, doch Augstein kreist um den Begriff<br />

der Gewalt und bringt den französischen<br />

Begriff der «Sabotage» ins Spiel:<br />

Dieser bezeichnet nicht Gewalt gegen Menschen,<br />

sondern gegen Sachen.<br />

Das Leben zurückgewinnen<br />

Kapitalismus oder Demokratie? Diese gesellschaftliche<br />

Frage könnte auf individueller<br />

Ebene vielleicht auch lauten: Arbeit<br />

oder Leben? So legt es uns zumindest Ulrich<br />

Renz in «Die Tyrannei der Arbeit»<br />

nahe. Und diese oder eine ähnliche Frage<br />

hat uns alle in der rastlosen Leistungsgesellschaft<br />

schon einmal beschäftigt. Ulrich<br />

Renz’ Buch verspricht nicht weniger als<br />

die Antwort darauf, «wie wir die Herrschaft<br />

über unser Leben zurückgewinnen».<br />

Doch zunächst zur Problemstellung:<br />

Heute ist das, was wir einen Lebenslauf<br />

«Aber wenn die<br />

Gesellschaft kaputt<br />

ist, geht auch der<br />

Mensch kaputt. Das<br />

wollten die Ideologen<br />

des Neoliberalismus<br />

lange Zeit<br />

nicht wahrhaben.»<br />

nennen, in Wirklichkeit ein Berufslauf. Arbeit<br />

bestimmt unser ganzes Dasein. Mit<br />

dieser Feststellung provoziert der Autor<br />

zwei Fragen: Was soll daran schlecht sein?<br />

Und wie sollen wir sonst unsere Bedürfnisse<br />

erfüllen? Ulrich Renz schreibt in seiner<br />

Einleitung: «Zwar ist der Autor hoffnungsloser<br />

Romantiker und Freund von Utopien.<br />

Aber er ist nicht doof. Er weiss, dass wir<br />

alle von unserer Hände Arbeit leben, als<br />

Einzelne wie als Gesellschaft.» Doch die<br />

Glaubensgewissheiten der Leistungsgesellschaft<br />

seien inzwischen so fest in die<br />

Hirne einbetoniert, dass wir sie bedenkenlos<br />

an unsere Kinder weitergäben: Ihr<br />

Spiel soll sinnvoll sein, wir «fördern» sie<br />

und merken gar nicht, dass wir ihnen ihre<br />

Kindheit nehmen, indem wir sie zu Hoffnungsträgern<br />

auf dem Arbeitsmarkt machen.<br />

Der Autor prangert aber an, dass wir<br />

uns keine Pausen mehr gönnen, weil wir<br />

glauben, das Rad bleibe dann stehen. Seine<br />

eigene Auflehnung gegen die Tyrannei der<br />

Arbeit hat der Arzt Ulrich Renz hinter sich:<br />

Er schmiss seinen Job als Leiter eines medizinischen<br />

Fachverlags und wurde freier<br />

Autor. Das ist keine Lösung für alle. Wichtig<br />

sei aber, sich aus der Erfolgsfalle zu befreien:<br />

«<strong>Es</strong> gehört zu den Gründungsmythen<br />

der Leistungsgesellschaft, dass Erfolg mit<br />

Glück, ja mit Seelenheil identisch ist.»<br />

Nur die Fakten<br />

Seelenheil ist ein gutes Stichwort für das<br />

nächste Buch, denn es könnte diesem beträchtlichen<br />

Schaden zufügen. Zu Beginn<br />

seines Buchs «Zehn Milliarden» gestattet<br />

sich Stephen Emmott Emotionen: «Dies<br />

ist ein Buch über uns. <strong>Es</strong> ist ein Buch über<br />

Sie, Ihre Kinder, Ihre Eltern, Ihre Freunde.<br />

<strong>Es</strong> geht um jeden Einzelnen von uns. Und<br />

um unser Versagen. Unser Versagen als Individuen,<br />

das Versagen der Wirtschaft und<br />

das unserer Politiker. <strong>Es</strong> geht um einen<br />

beispiellosen Notfall planetarischen Ausmasses.<br />

Und um unsere Zukunft.» Der<br />

Mann, der sich zu so alarmistischen Tönen<br />

hinreissen lässt, ist kein ideologieverblendeter<br />

Umweltaktivist, sondern Professor in<br />

Oxford und Leiter eines von Microsoft aufgebauten<br />

Forschungslabors für computer-<br />

ISBN 978-3-404-16833-0

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