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Deutsche Stilistik

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dessen bietet die kontextuale Verknüpfung mit dem Vorangehenden, schafft aber<br />

zugleich auch die Voraussetzung für den folgenden Text.<br />

Der inhaltlich-sachliche Zusammenhang allein reicht jedoch nicht aus, um einen<br />

Text zu konstituieren. Das folgende Beispiel macht dies deutlich:<br />

Der Mais stand regungslos; über der freien, glänzenden Landschaft lag eine<br />

unbeschreibliche Stille; von den Gipfe1n der fernen Berge stiegen Morgenwolken<br />

wie stille Rauchwolken gegen den leuchtenden Himmel und zwischen<br />

Baumgruppen, die aussahen wie gewaschen, glänzten Landhäuser und Kirchen<br />

her. Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Strafkommando, die zweite<br />

Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit<br />

hundertsieben Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand. Kaum<br />

hatte das Streifkommando die äußerste Vorpostenlinie der eigenen Armee etwa um<br />

eine Meile hinter sich gelassen, als zwischen den Maisfeldern Waffen aufblitzten<br />

und die Avantgarde feindliche Fußtruppen meldete. 12<br />

Die Sätze gehören offenbar zusammen: im ersten und zweiten Satz ist vom Morgen<br />

die Rede, im ersten und dritten Satz von Maisfeldern und Baumgruppen; der zweite<br />

und dritte bilden sogar einen Handlungszusammenhang. Der Text offenbart jedoch<br />

dem aufmerksamen Leser mehrere Brüche in der semantischen und stilistischen<br />

Kohärenz, obgleich es sich hier um die ersten drei Sätze eines Textes, nämlich<br />

Hugo von Hofmannsthals »Reitergeschichte« handelt. - Allerdings haben wir<br />

einige Umstellungen vorgenommen.<br />

Die auffallendste Diskrepanz besteht zwischen dem ersten und zweiten Satz. Zwar<br />

ist eine Novelleneinleitung durch eine Landschaftsschilderung nichts<br />

Ungewöhnliches. Störend wirken jedoch die genaue Zeitangabe und Angabe der<br />

Umstände im berichtenden zweiten Satz.<br />

Worauf ist dieser Eindruck zurückzuführen? Es mag sein, daß wir auch hier, durch<br />

die hinweisende (deiktische) Wirkung des einleitenden über der . . . Landschaft<br />

veranlaßt, einen vorangehenden oder nachfolgenden Hinweis auf diese Landschaft<br />

vermissen, den die Ortsangabe des zweiten Satzes nicht bietet. Vergleiche mit<br />

anderen Texten zeigen uns jedoch, daß auch in ähnlichen Fällen die genaue<br />

Zeitangabe häufig vorangeht, sofern sie nicht in einem temporalen Nebensatz<br />

unmittelbar angeschlossen wird (z.B. Es läuteten gerade die Domglocken, als ich<br />

am 10. Juli in Köln ankam). Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß bei<br />

Kombinationen von berichtenden und schildernden Ausdrucksweisen die<br />

berichtende der schildernden meistend vorangeht. Die szenische Verbreiterung, die<br />

hier durch die Landschaftsschilderung geleistet wird, setzt den einführenden<br />

Berichtssatz voraus. In Hofmannsthals Text steht dann auch unser zweiter Satz mit<br />

der präzisen Zeitangabe zuerst. Die Schilderung der Natur bezieht sich dann auf die<br />

Szene um San Alessandro beim Ausritt der Eskadron und bildet so eine<br />

wohlkomponierte Unterbrechung des Geschehens, die die konträre Grundstimmung<br />

der Novelle bereits am Anfang vorwegnimmt. 13<br />

Aber auch die reihende Landschaftsschilderung unserer Textmontage ist stilistisch<br />

mißglückt. In Hofmannsthals Fassung wird nämlich zuerst der Gesamteindruck<br />

geschildert: Über der freien, glänzenden Landschaft lag eine<br />

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