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Deutsche Stilistik

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charakter selbst in Frage gestellt.<br />

Vor einiger Zeit veröffentlichte ein Stilkritiker folgende Darlegungen eines<br />

Studenten über Brechts Drama »Das Leben des Galilei«: 16<br />

An die Stelle des herkömmlichen christlichen Glaubens tritt in neuerer Zeit der<br />

Zweifel, womit »Wissen« gewonnen wird. Alles Lebendige ist bewegt, pulsiert,<br />

atmet: denn Leben schlechthin ist nicht Starrheit, sondern Bewegung. Jeder<br />

Linsenschleifer, jeder Maurer, jedes Fischweib wird selbständig. Denn sie<br />

trachten alle danach, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern<br />

und von unserer riesigen Unwissenheit ein wenig abzutragen.<br />

Der besagte Stilist schreibt dazu: »Diese Sätze waren in dem Text, dem sie<br />

entnommen sind, in keiner Weise verständlicher, als sie, herausgelöst aus diesem<br />

Zusammenhang, erscheinen.« Es soll hier nicht auf die einzelnen Lücken des<br />

Textes eingegangen werden; ebenso nicht auf die stilistischen Eigenarten.<br />

Lediglich der mangelnde gedankliche Zusammenhang und die mangelnde<br />

Folgerichtigkeit der Einzelsätze sollen beachtet werden. Was hier im einzelnen<br />

fehlt, kann der Vergleich mit einer rekonstruierten Fassung des Gemeinten durch<br />

den Stilkritiker zeigen.<br />

An die Stelle des herkömmlichen christlichen Glaubens ist in den neueren<br />

Jahrhunderten der wissenschaftliche Zweifel getreten, der jede Aussage auf<br />

ihren Wahrheitsgehalt prüft. Er gestattet ein unvoreingenommenes Urteil und<br />

führt zu einem Wissen, das der gegebenen Wirklichkeit, in der wir leben,<br />

abgewonnen ist. Dabei wird im Verlauf der Zeiten von unserer riesigen<br />

Unwissenheit ein kleines Stück um das andere abgetragen. So wird z.B. erkannt,<br />

daß das Leben nicht Starrheit ist sondern Bewegung. Also müssen auch die<br />

gesellschaftlichen Zustände veränderbar sein. Den bisher Unterdrückten und<br />

Ausgebeuteten eröffnet sich die Aussicht, selbständiger zu werden. Jeder<br />

Linsenschleifer, jedes Fischweib kann auf ein menschenwürdiges Dasein hoffen,<br />

kurz, allen Entrechteten kann die Mühseligkeit ihrer Existenz erleichtert werden.<br />

Zu große Gedankenschritte schaffen leicht Verstehenslücken, erschweren das<br />

Verständnis und erwecken Zweifel an der Richtigkeit des Gesagten. Nur in<br />

Kurztexten ohne Erläuterungsabsicht, also in Werbeslogans, politischen Parolen,<br />

Nachrichtenschlagzeilen u.dgl., denen oft weitere Erläuterungen beigegeben sind,<br />

gehören die informativen »Sprünge« zum funktionalen Stil. Wo solche Texte<br />

jedoch für sich stehen, um Erwartungs- oder Assoziationsreaktionen auszulösen, ist<br />

die Möglichkeit der Fehlintormation leicht gegeben.<br />

Auch in erzählenden Texten kann die lückenhafte Darstellung gelegentlich zur<br />

charakteristischen Gestaltungsweise gehören. Schon J. G. Herder (1744-1803) hat<br />

die Technik der »Sprünge« als auffallendes, aber sinnvolles Merkmal der<br />

»Volkspoesie« gelobt. Seitdem ist diese Darbietungsform in Balladen und Liedern<br />

häufig angewandt worden. Die erzählerische »Gipfeltechnik«, die nur die<br />

wichtigsten Kindheiten eines Vorgangs herausgreift und darstellt, verfährt durchaus<br />

folgerichtig, wenn sie die Auswahl so trifft, daß Phantasie und Erfahrung des<br />

Lesers oder Hörers die ausgesparten Zwischengeschehnisse selbst hinzudenken<br />

können. Eine derartige Darstellungsweise steht der lyrischen Gestaltung nahe, die<br />

ebenfalls größere Vorstellungs- oder Erlebniszusammenhänge oft nur andeutet und<br />

gerade durch die ausspa-

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