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Deutsche Stilistik

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differenzierende Ausdrucksvariation angestrebt werden.<br />

Neben den Eigenbezeichnungen der Dinge und den Verben tragen die Adjektive<br />

(einschließlich attributiv und adverbial verwendete Partizipien) in besonderem<br />

Maße zur Erhöhung der Anschaulichkeit bei. Häufig gehen von ihnen die<br />

entscheidenden Vorstellungsdifferenzierungen aus. Vor allem Gegenstände oder<br />

Vorgänge aus dem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren (Sichtbaren, Hörbaren,<br />

Fühlbaren) wirken anschaulicher, wenn ihnen vorstellungsdifferenzierende<br />

Adjektive bzw. Adverbien beigefügt sind. Man vergleiche etwa folgende Sätze:<br />

Ein alter Baum ragte in den Ein knorriger alter Baum ragte<br />

grauen Novemberhimmel. mit seinen weitgespannten Ästen<br />

in den milchig-grauen Novemberhimmel.<br />

Während der erste Satz durch ragen und grau nur vage Vorstellungen zu wecken<br />

vermag, erwächst im zweiten Satz durch knorrig, weitgespannte Äste und milchiggrau<br />

ein wesentlich anschaulicheres Bild. Das Beispiel zeigt, daß Adjektive häufig<br />

erst im Zusammenhang mit vorstellungskräftigen Verben recht wirken. Dabei<br />

können auch Adverbien zur Vorstellungsdifferenzierung, insbesondere zur modalen<br />

Schattierung, beitragen. Um dieses zu verdeutlichen, stellen wir wiederum einige<br />

Beispiele aus Goethes »Ur-Meister« und den »Lehrjahren« gegenüber. Sie zeigen,<br />

daß selbst ein so großartiger Stilist wie Goethe seinen Ausdruck zu verbessern<br />

suchte, um die Bildkraft seiner Aussagen zu steigern:<br />

»Ur-Meister« »Lehrjahre«<br />

Und sie ging, nachdem sie ihm Sie ging, nachdem sie ihm einen<br />

einen Blick zugeworfen, in das leichtfertigen Blick zugeworfen,<br />

Haus. in das Haus.<br />

… …<br />

Und nach einer Pause rief sie Und nach einer kurzen Pause<br />

rief sie aus: rief sie heftig aus:<br />

… …<br />

Es kamen Bediente mit Lichtern Eilig kamen Bediente mit Lichauf<br />

die Treppe gesprungen. tern auf die Treppe des Hauptgebäudes<br />

gesprungen: 34<br />

Wie unter den Verben, so gibt es auch unter den charakterisierenden Adjektiven<br />

solche mit stark differenzierender und solche mit gering differenzierender<br />

Wirkung. Die Anschaulichkeit, zu der wir hier auch die quälitative Differenzierung<br />

von Angaben (die geistige Anschaulichkeit) zählen möchten, kann durch zu<br />

allgemeine adjektivische Angaben geschwächt werden. Zu den schwach<br />

differenzierenden Adjektiven müssen zu allgemein wertende Wörter wie schön,<br />

gut, schlecht, böse, groß, klein, ganz usw. gezählt werden, soweit sie nicht durch<br />

den vorangehenden oder folgenden Kontext näher bestimmt sind. Das Adjektiv<br />

schön kann z.B. etwas Angenehmes (schönes Wetter), etwas Harmonisches<br />

(schöner Klang), etwas Ideales (schöne Seele), etwas Wohlgefälliges (schönes<br />

Mädchen) oder etwas Charakteristisches (schöne Burg) meinen; ein großes Haus<br />

kann hoch, wuchtig, geräumig, verwinkelt,<br />

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