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Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

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Lebenszeit, Natur und Betrachter erweisen sich als <strong>in</strong> E<strong>in</strong>es geschlungen.“ 35<br />

Auf diese Weise entzieht sich das Gedicht <strong>der</strong> Faktizität e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Ereignisses als<br />

historischem Anlass <strong>des</strong> Gedichts. In se<strong>in</strong>en Dornburger Tagebuchaufzeichnungen notiert<br />

Goethe um das unter <strong>der</strong> Überschrift <strong>des</strong> Gedichts vermerkte Datum herum <strong>in</strong>tensive<br />

meteorologische Beobachtungen. Und just das Verhalten <strong>des</strong> Nebels und <strong>der</strong> Wolken am<br />

Vormittag erschienen Goethe als notierenswerte Konstellationen. Killy zitiert aus E<strong>in</strong>trägen<br />

über zwei Wochen h<strong>in</strong>weg. Deren letzter, vom 18. August 1828, enthält die Formulierung<br />

„[...] h e i l i g e F r ü h e ward empfunden.“ 36 Dieses Gefühl kommt <strong>in</strong> den Versen 9 und 10<br />

<strong>des</strong> Gedichts zum Ausdruck. Die faktischen Erlebnisse <strong>des</strong> beobachtenden Dichters haben<br />

e<strong>in</strong>e „Idee“ angeregt; Goethe benutzt diesen Begriff.<br />

„Von se<strong>in</strong>en »Wahlverwandtschaften« sagt er, daß dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Strich enthalten, <strong>der</strong> nicht<br />

erlebt, aber ke<strong>in</strong> Strich so, wie er erlebt worden. Dasselbe von <strong>der</strong> Geschichte <strong>in</strong><br />

Sesenheim..“ 37<br />

Was dort gilt, trifft auch hier zu. Der Dichter erkennt <strong>in</strong> den Phänomenen etwas<br />

Allgeme<strong>in</strong>es, Inneres, Höheres.<br />

„Goethe hat dafür den Namen Idee, aber nicht nur diesen, An jenen geschichtlichen<br />

Augenblicken, <strong>der</strong>en Eigentliches <strong>in</strong> dem Gedicht zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Bild aufgehoben ist,<br />

wurde ihm die ganze Ewigkeit sichtbar <strong>in</strong> ihrem unendlichen Wert. „ 38<br />

„Aber wenn es darum geht, den großen Anachronismus zu denken, dass alle diese Momente<br />

zugleich anwesend s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Lebenszeit, alle Morgen e<strong>in</strong>e ganze Ewigkeit von<br />

Morgen repräsentieren, so müssen wir – mit Goethe zu reden – aus dem Reiche <strong>der</strong> Erfahrung<br />

<strong>in</strong> das <strong>der</strong> Idee schreiten. Dieser Schritt ist denkend nicht vollziehbar.“. 39<br />

Das Symbol <strong>in</strong> Goethes Verständnis ist also <strong>der</strong> poetische Ausdruck von etwas, das direkt<br />

nicht <strong>in</strong> Sprache zu fassen ist:<br />

„Durch Worte sprechen wir we<strong>der</strong> die Gegenstände noch uns selbst völlig aus ... Sobald von<br />

tiefern Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Sprache e<strong>in</strong>, die poetische. [...]<br />

Poesie deutet auf die Geheimnisse <strong>der</strong> Natur und sucht sie durch’s Bild zu lösen.“ 40<br />

Killy betont die universale Bedeutung dieser Ausprägung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> bei Goethe:<br />

Die <strong>in</strong>nigste und tiefste Form, zugleich die anschaulichste, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Goethe Bil<strong>der</strong> gebraucht, ist<br />

die <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>. Es ist bei ihm <strong>in</strong> mehr als e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne klassisch geworden. Es<br />

vermag e<strong>in</strong>e ganz bestimmte, <strong>in</strong> allen großen Beispielen <strong>der</strong> Goetheschen Lyrik<br />

wie<strong>der</strong>kehrende Leistung. Se<strong>in</strong> Gebrauch ist verschieden, se<strong>in</strong> Gegenstand wechselt, aber die<br />

Gesetze, nach denen es sich darstellt, die Wahrheit, die es ersichtlich macht, s<strong>in</strong>d beständig.<br />

Symbolisch kommt im Dornburg-Gedicht durch die Anschauung <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> klassische<br />

Gedanke <strong>des</strong> sittlichen Menschen zum Ausdruck, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Harmonie mit <strong>der</strong> Natur weiß,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> er das Göttliche fühlt. Die Sonne, das Symbol göttlicher Schöpfung erfährt den Dank<br />

<strong>des</strong> Menschen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Zuversicht und Vertrauen lebt.<br />

Die Allegorie verwandelt die Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Begriff, den Begriff <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bild, doch so,<br />

daß <strong>der</strong> Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an<br />

demselben auszusprechen sei.<br />

Die Symbolik verwandelt die Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> Idee, die Idee <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bild, und so, daß die Idee<br />

im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst <strong>in</strong> allen Sprachen<br />

ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. 41<br />

35<br />

a.a.O.<br />

36<br />

a.a.O., S. 12<br />

37<br />

Eckermann, Gespräche mit Goethe, E<strong>in</strong>trag vom 17. Februar 1830.<br />

38<br />

Killy, <strong>Wandlungen</strong>, S. 13<br />

39<br />

a.a.O., S. 15<br />

40<br />

Goethe: Maximen und Reflexionen. zit nach Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 14<br />

41 Goethe, Werke, Berl<strong>in</strong>er Ausgabe, Bd. 18, S. 638<br />

14

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