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Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

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er die gefährlichen Fußangeln <strong>der</strong> ‚engagierten’ Lyrik und gewann so exemplarische Bedeutung<br />

für viele jüngere Dichter nach dem zweiten Weltkrieg. 63<br />

Hamburger bemerkt aber auch:<br />

[...] se<strong>in</strong> Lied Die Liebenden [...] ist das am nachhaltigsten bee<strong>in</strong>druckende von vielen<br />

Gedichten, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e recht rauhe Wirklichkeit e<strong>in</strong>e ganz eigene Zartheit <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung<br />

abwirft. 64<br />

Bertolt Brecht<br />

Die Liebenden (um 1928)<br />

Sieh jene Kraniche <strong>in</strong> großem Bogen!<br />

Jenny<br />

Die Wolken, welche ihnen beigegeben<br />

Paul<br />

Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen<br />

Jenny<br />

Aus e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong> andres Leben<br />

Paul<br />

5 In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Jenny<br />

Sche<strong>in</strong>en sie alle beide nur daneben.<br />

beide<br />

Daß so <strong>der</strong> Kranich mit <strong>der</strong> Wolke teile<br />

Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen<br />

Jenny<br />

Daß also ke<strong>in</strong>es länger hier verweile<br />

Paul<br />

10 Und ke<strong>in</strong>es andres sehe als das Wiegen Jenny<br />

Des an<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem W<strong>in</strong>d, den beide spüren<br />

Die jetzt im Fluge beie<strong>in</strong>an<strong>der</strong> liegen<br />

So mag <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> das Nichts entführen<br />

Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben<br />

Paul<br />

15 Solange kann sie beide nichts berühren Jenny<br />

Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben<br />

Wo Regen drohen o<strong>der</strong> Schüsse schallen.<br />

Paul<br />

So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben<br />

Fliegen sie h<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ganz verfallen.<br />

Jenny<br />

20 Woh<strong>in</strong> ihr? Paul<br />

Nirgendh<strong>in</strong>.<br />

Jenny<br />

Von wem davon?<br />

Paul<br />

Von allen. Jenny<br />

21 Ihr fragt, wie lange s<strong>in</strong>d sie schon beisammen? Paul<br />

Seit kurzem.<br />

Jenny<br />

22 Und wann werden sie sich trennen? Paul<br />

Bald.<br />

Jenny<br />

23 So sche<strong>in</strong>t die Liebe Liebenden e<strong>in</strong> Halt. beide<br />

Den Raum umschreibt Brecht mit den Begriffen Wolken [...] Zogen, Höhe, Himmel, W<strong>in</strong>d,<br />

zuletzt, als Ziel, das Nichts. Die Liebenden s<strong>in</strong>d repräsentiert durch die Worte Kraniche,<br />

entflogen, befliegen, im Fluge beie<strong>in</strong>an<strong>der</strong> liegen, Fliegen h<strong>in</strong>. Die heraufbeschworene<br />

Harmonie stören jedoch ab etwa <strong>der</strong> Mitte <strong>des</strong> Gedichts verne<strong>in</strong>ende Vokabeln:<br />

ke<strong>in</strong>es (2x), Nichts, nicht vergeben, nichts berühren, Nirgendh<strong>in</strong>. Und wie das kunstvoll<br />

verschränkte Reimschema ab Vers 20 abbricht, wird <strong>der</strong> fünfhebige Jambus unterbrochen,<br />

teilen sich die beiden Sprecher bis zu vierfach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Vers. Geradezu hektisch,<br />

hastig wirkt die zum Ende h<strong>in</strong> gesteigerte Dynamik von Rede und Gegenrede <strong>in</strong> immer<br />

63 Michael Hamburger: Die Dialektik <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Konkreten Poesie. München<br />

1972, S. 250<br />

64 a.a.O., S. 255<br />

23

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