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Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde - Filmportal.de

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so verfährt ein Alfred Hitchcock, wenn er eine suspense-Szene montiert, und nicht<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s ein Steven Spielberg beim sogenannten 'Kino <strong><strong>de</strong>r</strong> special effects', beispielsweise<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> inzwischen schon kanonisch gewor<strong>de</strong>nen suspense-Szene am Sicherheitszaun in<br />

"Jurassic Park".<br />

Choreographie <strong><strong>de</strong>r</strong> Blicke im <strong>frühe</strong>n <strong>de</strong>utschen <strong>Film</strong><br />

Ein bemerkenswertes, wenn auch gewiß nicht einmaliges Beispiel im <strong>frühe</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

<strong>Film</strong> für diesen Prozeß <strong><strong>de</strong>r</strong> Verinnerlichung, Subjektivierung und Psychologisierung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zuschauerperspektive stellt <strong><strong>de</strong>r</strong> Henny Porten-<strong>Film</strong> "Des Pfarrers Töchterlein" aus <strong>de</strong>m<br />

Jahre 1912 dar, bei <strong>de</strong>m die Heldin zusehen muß, wie ihr Vater <strong>de</strong>n untreuen Verlobten<br />

mit einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Frau vor seinem Altar in die Ehe treten läßt.<br />

Vielleicht hat Adolf Gärtner <strong>de</strong>n <strong>Film</strong> nach einem Bild von John Everett Millais aus <strong>de</strong>m<br />

Jahre 1853 gedreht, obwohl das Thema <strong><strong>de</strong>r</strong> 'Geldhochzeit' o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Treuebruchs wohl in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gebrauchsliteratur <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts gang und gäbe war. Dazu eine Passage von<br />

Wolfgang Kemp, die auf Millais' Bild Bezug nimmt:<br />

„Eine in Schwarz geklei<strong>de</strong>te Frau wohnt auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Galerie einer Kirche einer Trauung bei.<br />

Die Zeremonie ist vollzogen, die Brautleute haben sich umgedreht und wen<strong>de</strong>n sich ihren<br />

Trauzeugen bzw. Familien zu. Diesen Moment nutzt die Frau und erhebt sich, um einen<br />

besseren Blick auf das Paar zu haben. Ihr eigentliches Interesse gilt wohl <strong>de</strong>m<br />

Bräutigam, <strong><strong>de</strong>r</strong> einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Frau und vielleicht auch einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en gesellschaftlichen<br />

Stellung <strong>de</strong>n Vorzug gegeben hat. Wir ergänzen die Komposition in dieser Hinsicht nicht<br />

nur, weil so viele viktorianische Romane und spätere <strong>Film</strong>e (ich erinnere an die<br />

Schlußszene von "The Graduate") uns dies nahelegen. Es gibt durchaus bildimmanente<br />

Indizien für diese Nacherzählung. [...] Die schwarze Frau wirkt wie ein negativer<br />

Scheinwerfer, auf das Geschehen ausgerichtet, aber dunkel in sich selbst und Schatten<br />

und Düsternis verbreitend. Daß wir uns so bereitwillig in die Beobachterin und ihre Sicht<br />

auf das Geschehen 'hineinversetzen', hat mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Heimlichkeit ihrer/unserer Position zu<br />

tun, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> unüberwindlichen Trennung in eine Zone <strong>de</strong>s Geschehens und in eine Zone<br />

<strong>de</strong>s Sehens, die als Ursprungsort das Übergewicht hat, <strong>de</strong>nn das ganze Bild ist auf<br />

diesen Moment und diese Richtung <strong>de</strong>s Sehens hin angelegt, das nicht erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t wird,<br />

nicht erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n darf. Das macht uns psychologisch <strong>zum</strong> Komplizen, narratologisch<br />

<strong>zum</strong> Mit-und Besserwisser. 35<br />

Kemp, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Heny Porten-<strong>Film</strong> wahrscheinlich nicht kennt, beschreibt hier eine<br />

Situation, die "Des Pfarrers Töchterlein" auf anschauliche Weise in einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Medium reproduziert. Im Gegensatz <strong>zum</strong> gemalten Bild als Tableau sieht man im <strong>Film</strong>,<br />

wie hier eine veritable Dramaturgie, wenn nicht sogar Choreographie <strong><strong>de</strong>r</strong> Blicke<br />

entwickelt wird, erst zwischen <strong>de</strong>n Hauptfiguren <strong>de</strong>s Dramas, unterbrochen vom<br />

verzweifeln<strong>de</strong>n Blickwechsel zwischen Vater und Tochter, dann beim Verlassen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kirche die übrigen Anwesen<strong>de</strong>n miteinbeziehend, bis dann, ganz am En<strong>de</strong>, die Kamera<br />

sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Barmherzigkeit anheimgibt, in<strong>de</strong>m sie vom Blickpunkt <strong>de</strong>s Allmächtigen aus, die<br />

nun tot zusammengebrochenen Protagonistin zu sich nimmt. Diese Choreographie und<br />

Alternation, von Henny Porten bis hin zu Gott, staffelt sich rhythmisch geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t,<br />

verschie<strong>de</strong>n kadriert und montiert nach <strong>de</strong>m klassischen Schuß-Gegenschuß-Verfahren,<br />

das wir hier quasi in statu nascendi erleben können, allerdings in einer fast schon wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nt-barocken Form.<br />

www.filmportal.<strong>de</strong> 12

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