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Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde - Filmportal.de

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So <strong>wur<strong>de</strong></strong> er von feministischen Kritikerinnen aufgenommen, um die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Formen <strong>de</strong>s exhibitionistischen Bil<strong>de</strong>s als geschlechterspezifisches Merkmal zu <strong>de</strong>uten. 14<br />

Aber auch Theoretiker <strong>de</strong>s postklassischen Hollywoodkinos, <strong>de</strong>nen – wie schon erwähnt<br />

– das geän<strong><strong>de</strong>r</strong>te Verhältnis von Geschichten-Erzählen zu <strong>de</strong>n special effects in <strong>de</strong>n<br />

Superspektakeln <strong><strong>de</strong>r</strong> neunziger Jahre aufgefallen ist, glauben im <strong>frühe</strong>n 'Kino <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Attraktionen' eine historische Parallele ent<strong>de</strong>ckt zu haben. 15 So liefert die 'neue<br />

<strong>Film</strong>geschichte' (new film history) eine Reihe – vielleicht schon wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu viele –<br />

hauptsächlich formal bestimmter Gegensatzpaare, die sich jedoch ebenso vom<br />

Zuschauer her, d.h. vom Kino als Erfahrungsort aus, konkretisieren lassen, wobei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hintergrund dieser Unterschie<strong>de</strong> auch für die heutige Situation zu neuen Einsichten<br />

führen könnte.<br />

Man hat es nämlich im Kino letztlich mit zwei ihrem Wesen nach entgegengesetzt<br />

konstituierten Räumen zu tun, <strong>de</strong>m Bild- und Projektionsraum (screen-space) und <strong>de</strong>m<br />

Zuschauer-Raum (auditorium-space). Während beim Theater das Auditorum<br />

architektonisch und physisch mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne eine Einheit bil<strong>de</strong>t, die erst durch szenische<br />

Mittel (Vorhang, Rampe, Schnürbo<strong>de</strong>n, Orchester-Graben usw.) vom Zuschauer getrennt<br />

wird, sind die bei<strong>de</strong>n Räume im Kino grundsätzlich voneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> getrennt – und gera<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>shalb wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um eng auf einan<strong><strong>de</strong>r</strong> bezogen, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Ten<strong>de</strong>nz, sie immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

illusionistisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnstimulierung, Wahrnehmungslenkung<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> kognitiven Manipulation im Kopf o<strong><strong>de</strong>r</strong> Körper <strong>de</strong>s Zuschauers verschmelzen zu<br />

lassen. Zu <strong>de</strong>nken wäre hier beim heutigen Kino weniger an die Erweiterung <strong>de</strong>s<br />

Blickfelds durch Breitwand, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n an die Art, wie sich das Raumgefühl seit Einführung<br />

<strong>de</strong>s Dolby-Stereo und <strong>de</strong>s Multi-Kanal-Soundtracks verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t hat: man soll die Illusion<br />

haben, 'im Bild drin' o<strong><strong>de</strong>r</strong> vom Bild selbst umgeben zu sein.<br />

Aus dieser Perspektive erscheint das <strong>frühe</strong> Kino zwar nicht als Vorwegnahme solcher<br />

Sehgewohnheiten, <strong>de</strong>nnoch klingt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorführpraxis <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Dezennien die später<br />

bei Kracauer und Benjamin geführte Diskussion über <strong>de</strong>n 'Kult <strong><strong>de</strong>r</strong> Zerstreuung' schon<br />

an. Man könnte fast sagen, ehe das Kino <strong>de</strong>m Zuschauer das Greifen nach <strong>de</strong>n Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

hat abgewöhnen können, hat es seinem Publikum erst beibringen müssen, auf Stühlen<br />

sitzen zu bleiben und <strong>de</strong>n Blick auf die Leinwand zu konzentrieren. Die ersten<br />

La<strong>de</strong>nkinos waren Ausschank-Kinos und hatten oft gar keine Stuhlreihen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

Tische und Stühle, so daß die uns heute geläufige Kinobestuhlung nicht nur im Zeichen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Imitation <strong>de</strong>s Theaters durch seinen anrüchigen Neffen, <strong>de</strong>n Kintopp, stand, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

auch auf eine Art Reglementierung <strong>de</strong>s Publikums hinwies, das mit <strong>de</strong>n festen Sitzreihen<br />

zu einer gewissen Ordnung gezwungen <strong>wur<strong>de</strong></strong>. Es gibt hierzu ein recht aufschlußreiches<br />

Dokument <strong>zum</strong> <strong>frühe</strong>n Kino als polymorphem Erlebnis-Ort, <strong>de</strong>n 1907 veröffentlichten<br />

Bericht <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommission für 'Leben<strong>de</strong> Photographien', in Auftrag gegeben von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu<br />

Hamburg. In ihren Bemühungen, die Öffentlichkeit von <strong><strong>de</strong>r</strong> Schädlichkeit <strong>de</strong>s Kinos für<br />

die Jugend zu überzeugen, hat die Kommission einen sehr ins Anschauliche und Detail<br />

gehen<strong>de</strong>n Bericht über die konkreten Zustän<strong>de</strong> überliefert. So <strong>wur<strong>de</strong></strong> z.B. in <strong>de</strong>n Kinos<br />

geraucht, Bier getrunken, in Schmöker-Heften gelesen, Süßigkeiten verzehrt: "In<br />

allerletzter Zeit sah ich, wie 6 höhere Schüler aus einem Theater <strong><strong>de</strong>r</strong> leben<strong>de</strong>n<br />

Photographien durch <strong>de</strong>n Kellner hinausgewiesen <strong>wur<strong>de</strong></strong>n, weil sie die Vorstellung durch<br />

allerlei Ulk störten. Auch [macht sich] <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkauf von Näschereien, sowie das<br />

Zigarettenrauchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Knaben und ihr Lesen <strong><strong>de</strong>r</strong> bekannten bunten Schundbücher in<br />

<strong>de</strong>n Pausen [unangenehm bemerkbar]." 16<br />

www.filmportal.<strong>de</strong> 5

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