Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde - Filmportal.de
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eigene Findigkeit, ehe sie im nächsten Bild in einer Rauchwolke durch <strong>de</strong>n Kamin<br />
himmelwärts schiesst.<br />
Schließlich ist die galante Verbeugung in die Kamera Zeichen eines beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Verhältnis zu <strong>de</strong>n imaginierten Zuschauern. Oft zu fin<strong>de</strong>n bei Méliès; selbst wenn es sich<br />
nicht ausdrücklich um Zaubertricks und magische Verwandlungen han<strong>de</strong>lt, imitiert sie die<br />
Theaterbühne. In Anlehnung daran, aber fast noch makabrer als "Mary Jane's Mishap",<br />
taucht sie in einem Messter-<strong>Film</strong> ohne Titel aus <strong>de</strong>m Jahre 1901 auf: wir sehen ein<br />
Lazarett o<strong><strong>de</strong>r</strong> Krankenhausbett. Umringt von Personal führt <strong><strong>de</strong>r</strong> Chefarzt fachgerecht mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> chirurgischen Säge eine Beinamputation aus. Der Patient wird von zwei Helfern<br />
nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gehalten. Wir sehen das unterhalb <strong>de</strong>s Knies abgetrennte Bein, <strong><strong>de</strong>r</strong> Chirurg legt<br />
<strong>de</strong>n blutstillen<strong>de</strong>n Verband an und bin<strong>de</strong>t eine Schleife, worauf er sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamera<br />
zuwen<strong>de</strong>t, zufrie<strong>de</strong>n lächelt, während sein Oberkörper sich leicht nach vorn beugt, als ob<br />
es sich tatsächlich um ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s gelungenes Kunststück im Zirkus han<strong>de</strong>lte o<strong><strong>de</strong>r</strong> als<br />
ob er <strong>de</strong>n imaginierten Beifall seiner Stu<strong>de</strong>nten gnädigst in Empfang nähme. 25<br />
Die Fremdheit solcher Momente im <strong>frühe</strong>n <strong>Film</strong> hat Archivare und <strong>Film</strong>wissenschaftler<br />
manchmal in Verlegenheit gebracht. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach <strong>de</strong>n 'Vätern' <strong>de</strong>s richtigen<br />
<strong>Erzählkino</strong>s <strong>wur<strong>de</strong></strong>n abweichen<strong>de</strong> Beispiele entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> als 'primitiv' in die Vorgeschichte<br />
verlegt o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Sinne einer zielgerichteten Entwicklung zurechtgebogen. Einer <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
bekanntesten Fälle solcher bestimmt unbeabsichtigten und <strong>de</strong>shalb beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
aufschlußreichen Geschichtskorrektur ist Edwin S. Porters "The Life of an American<br />
Fireman" (1903), <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Film</strong>geschichte lange als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s 'mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes' Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Parallel-Montage und <strong>de</strong>s Schnitts (d.h. <strong>de</strong>s klassischen continuity editing) galt, bis sich<br />
in <strong>de</strong>n siebziger Jahren eine ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Fassung <strong>de</strong>s <strong>Film</strong>s fand und man feststellte,<br />
daß <strong><strong>de</strong>r</strong> damalige Curator <strong>de</strong>s Museum of Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>n Art in New York, Lewis Jacobs, <strong>de</strong>n<br />
<strong>Film</strong> in <strong>de</strong>n späten dreißiger Jahren ummontiert und einige Einstellungen, die ihm für das<br />
Verständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Handlung überflüssig erschienen – weil sie die gleiche Handlung<br />
zweimal zeigen, einmal von innen und dann noch einmal von außen –<br />
'herausgeschnitten' hatte. 26 Aber damit hat er we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Regisseur noch <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachwelt<br />
einen Dienst erwiesen. Gera<strong>de</strong> die ursprüngliche Fassung stellte sich als äußerst<br />
aufschlußreich heraus, allerdings für ein Auge, das seine Sehgewohnheiten an einem<br />
ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Medium geschult hatte.<br />
Paradoxerweise war es nämlich das Fernsehens, insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e die Sportschau, die uns<br />
<strong>de</strong>n Sinn und die Eigenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Porterschen Sehweise wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verständlich gemacht<br />
haben. Denn er hat sein 'Leben <strong>de</strong>s Feuerwehrmanns' nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s actionreplay,<br />
also <strong><strong>de</strong>r</strong> kommentierten <strong>Wie</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>holung <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhepunkte z.B. eines Fußballspiels<br />
(<strong><strong>de</strong>r</strong> Torchancen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Treffer) inszeniert: Porter konnte davon ausgehen, daß sein <strong>Film</strong><br />
unter Vorführbedingungen gezeigt wür<strong>de</strong>, die die Anwesenheit eines Kino-Erklärers<br />
einbegriff: <strong>de</strong>ssen Kommentar zu <strong><strong>de</strong>r</strong> erfolgreichen Rettungsaktion einer Frau und ihrem<br />
Kind aus einem brennen<strong>de</strong>n Haus lieferte Porters <strong>Film</strong> die Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>!<br />
Aus vielen ähnlichen Beispielen kann geschlossen wer<strong>de</strong>n, daß die <strong>frühe</strong>n <strong>Film</strong>e<br />
Geschehnisse und Handlungen erst einmal 'darstellen'. Das 'Erzählen' überließen sie<br />
<strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st teilweise <strong>de</strong>n externen Faktoren <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorführung, wie <strong>de</strong>m Erklärer o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Programmierung durch <strong>de</strong>n Kinobetreiber. Ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s bekanntes Beispiel fin<strong>de</strong>t sich<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um bei Porter. Dessen "The Great Train Robbery" (1903), bei <strong>de</strong>m das Bild <strong>de</strong>s<br />
direkt in die Kamera feuern<strong>de</strong>n Banditen am Anfang, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte und am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>Film</strong>s<br />
gezeigt wer<strong>de</strong>n konnte, hat auch in dieser Hinsicht Berühmtheit erlangt. 27<br />
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