15.11.2012 Aufrufe

141-165 (4839 KB) - Wolfgang Wiegand

141-165 (4839 KB) - Wolfgang Wiegand

141-165 (4839 KB) - Wolfgang Wiegand

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

zum Codex-Titel „De iuris et facti ignorantia", und audi die Bezugnahme<br />

auf die lex omnes populi, aus der er den Einwand hauptsächlich<br />

ableitet, unterstreicht die wechselseitige Beeinflussung.<br />

Zu einer vollkommenen Durchdringung kommt es dann wenig später<br />

bei Dominicus de Sancto Geminiano, „cuius commentarium est magni<br />

momenti" 243 . Er beginnt mit einer etwas anderen Fragestellung 244 , die<br />

sich aber rasch als ein nur geringfügig veränderter Aspekt derselben<br />

Thematik erweist:<br />

„Nota quod non existens de loco praesumitur ignorare consuetudinem<br />

et statuta loci 245 . . . Et ex isto nota quod positiones possint fieri super<br />

iure consuetudinario et ille sunt admittende: quia talia sunt probanda.<br />

Ad istud est dictum Bartoli in l. 2 si contra ius . . . 246 Item ibi notât<br />

Bartolus per hunc textum, quod statuta, quae sunt alibi facientia ad<br />

causam, qua agiteretur hie, debent hie product in causa sicut alia instrumenta<br />

privata ad causam facientia, cum talium praesumatur ignorantia<br />

et vide per eum l. omnes populi..." 247 .<br />

das factum-Problem in eine ganz andere Dimension gerückt und die Faktizität zum<br />

durchgehenden Ausgangspunkt jeglichen Rechts gemacht, wodurch das Argument ,consistit<br />

in facto' als besonderes Kennzeichen des Statutar- und Gewohnheitsrechts praktisch<br />

wertlos wird. Diese Gedanken führt dann GEMINIANUS (ZU ihm sofort im Text)<br />

weiter, ohne daß er sich auf die Diskussion um die Beweisbedürftigkeit unmittelbar<br />

auswirkt. Dies geschieht erst viel später, wenn die gesamten hier geschilderten Grundpositionen<br />

revisibel werden. Vgl. dazu unten Kap. VII. Eine Argumentation, die sich<br />

gerade auf dieser Ebene bewegt, findet sich bei BALDUS in der Erläuterung der consuetudo-Doktrin<br />

zu C. 8.52.1 n. 3. Dort heißt es: „Et nota quod licet consuetudo sit<br />

ius, tarnen hoc ius, non scriptum, debet probari. Et per hoc, si fit positio de aliqua<br />

consuetudine, debet tali positioni responderi. Non obstat 1. ornamentorum ... quod<br />

positioni iuris non est respondendum, quia id verum in iure scripto, quod non pendet<br />

ex facto partium: sed ex sola legis autoritate, sed consuetudo pendet ex facto quod<br />

est probandum. Ut hic." Die Unterscheidung beruht auf dem unterschiedlichen Autoritätsgehalt<br />

der Regelungen. BALDUS wendet sich allerdings mit diesem Gedankengang<br />

wohl kaum gegen Überlegungen, wie sie bei ANTONIUS DE BUTRIO im Anschluß an<br />

JOHANNES DE LIGNANO angeklungen sind.<br />

243<br />

) VAN HOVE, Prolegomena, S. 501; zur Bedeutung MAFFEI, Donazione, S. 227<br />

N. 1.<br />

"*) Text aus n. 5, der weitere Text aus n. 9-10.<br />

245<br />

) Gestützt auf INNOZENZ zu X 1.4 (De consuetudine). Dort ist dieser Grundsatz<br />

(rubrica n. 5) allerdings nur für die consuetudo entwickelt: „(contra) quia neseivit nee<br />

scire debuit, cum in aliéna consuetudine probabilis sit error sicut in facto alieno." Hier<br />

findet sich zugleich ein Beispiel für die wohl im 13. Jahrhundert vorherrschende Ansicht,<br />

daß nur ein error in facto alieno entschuldbar ist. S. oben N. 239. Die Gleichsetzung<br />

von consuetudo und factum ist andererseits eine vollkommen selbstverständliche<br />

Argumentationsvoraussetzung.<br />

"•) BARTOLUS zur 1. praescriptione (C. 1.22.1, s. Kap. III mit N. 83 ff. und oben<br />

bei N. 178).<br />

2<br />

") Vgl. den Bartolus-Text oben bei N. 170.<br />

<strong>141</strong>


Hier zeichnet sich die wechselseitige Beeinflussung ganz klar ab. Geminianus<br />

zieht zur Verdeutlichung die positio-iuris-Lehre heran, indem er<br />

auf die Bartolus-Kommentierung der lex praescriptione verweist. Das<br />

bringt ihn zur Frage der Behandlung von Statuten, wobei er Bartolus<br />

von der lex praescriptione zur lex omnes populi folgt. Andererseits<br />

macht er selbst auf die Rückkoppelung aufmerksam, indem er darauf<br />

hinweist, daß Bartolus ,per hunc textum' zu der Annahme gelangt, daß<br />

fremde Statuten vorzulegen seien.<br />

Anschließend setzt er sich dann mit dem seit Guido de Baysio geläufigen<br />

Einwand auseinander, „quod textus male dicat: quia dicit quod<br />

consuetudo et statutum sunt facti et sic innuit quod non sint ius. Sed<br />

hoc falsum: Quia consuetudo appellatur ius . . . et etiam statutum . ..<br />

die sie considerantur actus ex quibus indueuntur tunc bene sunt facti . ..<br />

sed post ipsorum induetionem tunc sunt ius et ita praecedunt contraria.<br />

Et cum ista sunt localia, immo in papa praesumitur ignorantia .. .".<br />

Geminianus wiederholt hier nur Gedankengänge, die aus der consuetudo-Lehie<br />

geläufig sind. Er erstreckt die Aussagen jedoch durchgehend<br />

auf die Statuten, so daß die Begründungen für beide gelten. Gerade<br />

darauf kommt es an: statutum und consuetudo werden mit den gleichen<br />

Argumenten von der allgemeinen Rechtskenntnis des Papstes ausgenommen.<br />

Bei genauer Betrachtung bildet vielleicht die Spezialität {cum ista<br />

sunt localia) den eigentlich tragenden Gesichtspunkt; denn dem factum-<br />

Aspekt steht Geminianus sehr skeptisch gegenüber. Im Anschluß an Antonius<br />

de Butrio 248 zeigt er, daß dieses Argument nicht nur für consuetudo<br />

und Statuten, sondern ganz allgemein gilt: „Item eodem modo<br />

possumus dicere de iure communi, quod habito respectu ad factum super<br />

quo editur ius, est facti et sic non esset differentia inter ius commune,<br />

statutum et consuetudinem contra istum textum, qui fach hanc differentiam."<br />

Wenn man sich anhand der früheren Befunde 249 die Bedeutung vor<br />

Augen hält, die der factum-Aspekt zumindest für die prozessuale Differenzierung<br />

verschiedener Rechte hatte, so hat der von Geminianus entwickelte<br />

Gedankengang ähnliche Tragweite und Sprengwirkung wie die<br />

extremen französischen Thesen in der consuetudo-Doktr'm 25 °. Es ver-<br />

848 ) S. oben N. 242.<br />

"•) S. z. B. Kap. III a. E., Kap. IV insgesamt und auch oben Kap. V/I.<br />

"°) S. oben Kap. V/I bei N. 67 ff.; der Wegfall des factum-Arguments hätte<br />

ziemlich sicher zu einer generellen Rechtsermittlungspflicht des Richters geführt, wie<br />

dies auch die konsequente Befolgung der französischen Ansicht in der consuetudo-<br />

Frage bewirkt hätte. Die spätere Entwicklung geht denn audi gerade diesen Weg:<br />

Der Wegfall des factum-Gedankens geht Hand in Hand mit einer korrespondierenden<br />

Ausdehnung der Rechtsermittlungspflicht des Richters. Dazu unten Kap. VII a. E.<br />

142


wundert deshalb nicht, daß Geminianus nach einer allerdings recht langwierigen<br />

Argumentation zu dem Ergebnis gelangt, daß man die Benennung<br />

als „facti et in facto consistens" aus verschiedenen Gründen 251<br />

rechtfertigen könne.<br />

Ungeachtet aller Vorbehalte erscheint das Gesamtbild unverändert.<br />

Das factum-Argument bleibt verwendbar und die Differenzierung des<br />

Rechts, auch wenn im Kern andere Gründe maßgeblich geworden sind 252 ,<br />

mit dieser Argumentation verbunden.<br />

Noch einen Schritt weiter führt schließlich die Darstellung bei Philippus<br />

Franchus 253 , die um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist.<br />

In ihr vollzieht sich jene Integration der an verschiedenen Punkten entwickelten<br />

Argumentationen, die in den früheren Analysen etwa zu der<br />

gleichen Zeit zu beobachten war 254 . Der breit angelegte Gedankengang<br />

muß schrittweise 255 , aber möglichst vollständig wiedergegeben werden,<br />

weil nur dadurch die Verflechtung verschiedenster Faktoren und die<br />

wechselseitige Durchdringung der Gesichtspunkte evident gemacht werden<br />

kann. Im Anschluß an die Feststellung, „quod licet leges et canones<br />

ut générales in omni loco sunt ab omnibus observandi", wendet sich<br />

Franchus den consuetudines und statuta zu:<br />

„Cum sint facti et ita allegatur quod statuta et consuetudines dicuntur<br />

esse quid facti et in facto consistere . . . probabiliter ignorari quod, qui<br />

non est de loco, praesumitur ignorare statuta et consuetines illius loci 25a<br />

251 ) Er berichtet über den Gedankengang bei ANTONIUS DE BUTRIO (s. oben N. 242),<br />

greift auf JOHANNES DE IMOLA zurück und kommt dann endlich zum Standpunkt von<br />

PAULUS DE CASTRO, deren Ansichten er sämtlich ohne erkennbare eigene Stellungnahme<br />

referiert.<br />

2M ) Insbesondere der Gedanke der Spezialität, den ANTONIUS DE BUTRIO mit dem<br />

factum-Argument verbunden hat. In der Schilderung des GEMINIANUS (an der soeben<br />

N. 251 besprochenen Stelle, wo er über die oben N. 242 teilweise wiedergegebene<br />

Ansicht des ANTONIUS DE BUTRIO berichtet) ergibt sich das folgende Bild: „Antonius<br />

de Butrio dicit, quod si consideretur lex et statutum et consuetudo pro ut sunt in<br />

fieri, quodlibet est facti: tarnen consuetudo habet plus facti in hoc: quia plures actus<br />

factae requirentur ut illam constituendam. Lex autem unico momento expeditur . . .<br />

sed si consideretur consuetudo, statutum et lex communis post quam sunt inducta:<br />

quod libet est ius, sed discrepant in hoc: quia consuetudo et statutum est ius privatum<br />

loci ... quod secus est de iure communi, quod est publicum ubicumque et hoc respectu<br />

concludit ratio hoc posita: quia ius, quod est ubilibet scitur, vel scire praesumitur:<br />

immo revocat. Sed particulare non, et hoc quia factum est et in facto consistit id<br />

est quia particulare."<br />

2M ) PHILIPPUS FRANCHUS DE FRANCHIS (gest. 1471, VAN HOVE, S. 501).<br />

2M ) Vgl. etwa bei ALEXANDER TARTAGNUS zur Suppletionsfrage oben Kap. IV bei<br />

N. 22 ff. oder bei ROCHUS CURTIUS, „De consuetudine", oben I bei N. 91 und 123.<br />

255 ) Die Kommentierung ähnelt in Aufbau und Art der Argumentation stark der<br />

von ANTONIUS DE BUTRIO und GEMINIANUS. Texte aus n. 2-4 und n. 14.<br />

2H ) Verweisung auf INNOZENZ, vgl. oben in N. 245.<br />

143


unde probat iste textus quod in statutis et consuetudinibus quod est<br />

cadere probabilis ignorantia et sic facit, quod positiones et articuli possint<br />

fieri super iure consuetudinario vel statuti eo casu quo talia sunt<br />

probanda, quia omne quod est probabile est ponibile et articulandum"<br />

257 .<br />

Mit diesem Kernsatz der posifio-Doktrin 258 schließt Franchus seine<br />

erste Folgerung, in der er — wie schon Geminianus 259 — die Verbindung<br />

von der probabilis ignorantia bei Statuten und consuetudo zur<br />

positio-iuris-Lehre aufzeigt. Er zieht jedoch noch weitere Konsequenzen:<br />

„Et idem in extravagantibus in quibus cadit probabilis ignorantia 260 . . .<br />

secus in iure communi: quia positionibus et articulis iuris non est respondendum.<br />

Cum iura sint certa et notoria ut l. ornamentorum 261 unde<br />

probari non debeant 262 . . .".<br />

Franchus behandelt dann die Problematik, die sich für die Urteilslehre<br />

aus diesen Ausführungen ergibt, und zwar anhand der lex cum prolatis<br />

und des cap. pastoralis, die ihrerseits wiederum zu den Schlüsselpunkten<br />

bei der Abgrenzung von beweisbedürftigem und nicht-beweisbedürftigem<br />

Recht gehören 263 . Nach einige Zwischenstationen kehrt Franchus zu<br />

diesem Komplex zurück, um die Argumentation zu vertiefen:<br />

„In glossa in verbis ,cum sint' conclude ex dictis Archidiaconi 264 et<br />

aliorum doctorum quod ius commune dicitur publicum quo ad omnes<br />

et omnes scire et observare tenentur . . . 1. leges sacratissimae et I. leges<br />

ut générales 265 et ideo est quod per secundam constitutionem contrariam<br />

prime intellegitur prima revocata: quia superior praesumitur scire iura<br />

communia et publica 266 ut hie in textu. Secus est in statuta vel consuetudine<br />

que dieuntur ius privatum ipsius loci 2a7 et sie sunt facti et in facto<br />

2<br />

") Folgt Hinweis auf die Glosse zu VI 2.9. S. dazu Kap. Ill N. 108.<br />

258<br />

) S. oben Kap. III bei N. 3 u. ö.<br />

**) S. oben bei N. 246.<br />

26<br />

°) Folgt Hinweis auf den § sane in Proömium zum Liber Sextus. Vgl. dazu schon<br />

oben in der positio-Lehre.<br />

261<br />

) Zu dieser Allegation s. oben Kap. III bei N. 96.<br />

282<br />

) Wiederum ein Hinweis auf die Glosse zu VI 2.9. S. oben N. 257.<br />

2M<br />

) S. oben Kap. II bei N. 77 ff., Kap. IV bei N. 26 ff. und oben vor I.<br />

2M<br />

) GUIDO DE BAYSIO, Text oben bei N. 209 ff.<br />

* 65 ) C. 1.14.3 und 9, vgl. dazu oben Kap. IV bei N. 30. Aus dem kanonischen<br />

Recht führt er an X 1.2.1, das schon früher mehrfach in diesem Zusammenhang allegiert<br />

wurde: „Canonum statuta custodiantur ab omnibus. Et nemo in actionibus vel<br />

iudieiis ecclesiasticis suo sensu, sed eorum auetoritate ducatur."<br />

2M<br />

) Damit hat auch die Formel ,habere iura in scrinio pectoris' schärfere Konturen<br />

gewonnen. Durch die beigefügten Adjektive communia et publica ist der Bereich des<br />

ex officio zu kennenden Rechts präzisiert worden.<br />

287<br />

) Folgt das Allegat D. 11 c. 8, das sich schon bei GUIDO DE BAYSIO findet,<br />

s. oben N. 211.<br />

144


consistunt, quatenus respicient certum locum ex quo non sunt universalia,<br />

ideo superior praesumitur ignorare."<br />

Auffällig ist zunächst jene auf Guido de Baysio zurückgeführte Gleichsetzung<br />

von ius commune und ius publicum 268 ; die Annahme, daß diese<br />

Rechte allgemein bekannt und verbindlich seien, wird auf jene Texte<br />

aus dem Codex-Titel „De legibus" gestützt, die schon bei der Suppletionsfrage<br />

eine wichtige Rolle spielten 269 . Bei dem Gegenpol — consuetudo<br />

und statutum — verschmilzt Franchus nun endgültig den factum-<br />

Aspekt mit dem Gedanken der Spezialität, die gemeinsam die probabilis<br />

ignorantia rechtfertigen. Im Anschluß daran führt er diese Ansätze<br />

weiter in Bereiche, die seine Vorgänger nicht berührt hatten:<br />

„Sed quo ad subditos statuta et consuetudines dicuntur esse iuris ex<br />

quo eos ligant 27 ° ... /. omnes populi et l. de quibus . . . unde locales<br />

consuetudines quo ad ipsum locum dicuntur ius commune 271 ratio est<br />

quia a iure communi confirmantur ut dicta l. omnes populi."<br />

Im Anschluß an diese Feststellung vollzieht sich ein Umschwung;<br />

Franchus wendet sich endgültig von der Frage nach der Rechtskenntnis<br />

des ,superior' ab: „Ex quibus omnibus dictis et isto textu infertur . . .<br />

quod subditi non possunt allegare ignorantiam statuti vel consuetudinis<br />

ipsius loci quae quo ad eos dicuntur esse iura unde ignorantia non excusat"<br />

272 .<br />

Hier gewinnt jene schon mehrfach erwähnte Sentenz ,statuta et<br />

consuetudines sunt ius (commune) in loco' 273 allmählich Konturen. Die<br />

damit verbundene und immer wieder vorgetragene Unterscheidung von<br />

ius eiusdem und alterius civitatis 274 wird vollends klar, wenn Franchus<br />

fortfährt:<br />

„quod iudex loci non possit allegare ignorantiam statuti ipsius loci:<br />

quia sicut iudex non debet ignorare iura communia 275 ita nee statuta<br />

loci, que quo ad subditos dicuntur esse iura communia ut supra. Unde<br />

dicebat Baldus . . . C. ut quae desunt. . . 276 Quod licet statutum non<br />

2M<br />

) S. oben Kap. Ill N. 72 (FULGOSIUS), dort aber mit ganz anderem Hintergrund.<br />

S. auch Kap. VI N. 8.<br />

2M<br />

) S. oben Kap. IV bei N. 30 und 36 (BALDUS).<br />

27<br />

°) Neben den zentralen legistisdien Allegationen wird auch auf D. 1 c. 8 (ius<br />

civile, s. oben N. 241) verwiesen.<br />

271<br />

) Damit umfaßt ius commune auch das lokale Gewohnheitsrecht; zu dieser<br />

weiteren Ausdehnung s. unten Kap. VI.<br />

27!<br />

) Gestützt auf VI de regulis iuris, s. oben in N. 239.<br />

27S ) S. z. B. oben Kap. IV (N. 22 ff.) bei ALEXANDER TARTAGNUS.<br />

274 ) S. oben bei N. 172 und 182 ff.<br />

275 ) D. 2.2.2, s. dazu schon oben I.<br />

"«) S. dazu oben Kap. IV N. 23 und N. 61.<br />

145


fuerit allegatum vel productum in causa coram indice tarnen iudex tenetur<br />

iudicare et servare statutum sicut iura quia sicut iura communia non<br />

est necesse quod allegentur, quia quilibet praesumitur scire ut supra, nee<br />

etiam quod probentur quia iura sunt certa ut I. 2 (in omni) de iuris et<br />

facti ignorantia et nota in l. ornamentorum 277 et ab omnibus debent<br />

observari absque eo quod allegentur vel probentur ut in dictu c. 1 supra<br />

de constitutionibus 278 . ha et idem est in ipsis statutis que dicunter esse<br />

iuris communis quo ad subditos et quo ad iudicem . . . Bartolus in dicta<br />

l. omnes populi. . . 279 ; quod tarnen limita esse verum nisi essent statuta<br />

non publice nota. Puta reformationes non incorporatas in volumine<br />

statutorum: quia deberent allegari et probari coram iudice argumentum<br />

textus hie et in cap. pastoralis et l. cum prolatis ... et ibi per Bartolum<br />

280 secus si talia essent publice nota in loco quia tunc iudicaretur de<br />

eis prout et de ipsis statutis . . . idem limitât Bartolus in dicta l. omnes<br />

populi procedere in statutis eiusdem civitatis vel loci: secus in statutis<br />

alterius civitatis vel loci: quia tunc ilia dieuntur esse facti et in eis cadit<br />

probabilis ignorantia ut hie in textu et deberent produci et probari coram<br />

iudice . . . et per doctores in cap. pastoralis" 281 .<br />

Der Gedankengang und vor allem die geläufigen Allegate 282 unterstreichen<br />

die vollkommene Verflechtung der bisher behandelten Punkte,<br />

wobei sich immer deutlicher die Verbindungslinien abzeichnen. Stufenweise<br />

wird hier jenes Segment des Rechts ausgegliedert, über dessen Anwendung<br />

der Richter unabhängig von der Mitwirkung der Parteien<br />

«") S. oben N. 261.<br />

27e<br />

) Folgt Verweisung auf das soeben N. 265 angeführte cap. canonum (X 1.2.1).<br />

279<br />

) S. oben bei N. 171 ff.<br />

sso) vgl. dazu oben Kap. II bei N. 90.<br />

2si) Neben dem gewöhnlichen Verweis auf das cap. pastoralis wird hier noch auf<br />

eine selten erwähnte Kommentierung des BARTOLUS ZU D. 39.1 (rubrica zu De operis<br />

novi nuntiatione) verwiesen. Dort wird in n. 7 als selbstverständlich vorausgesetzt,<br />

daß auswärtige Statuten zu produzieren sind; es geht allein um die Spezialfrage, ob<br />

sie vollständig vorzulegen sind oder ob es genügt, die angeführte Bestimmung vorzulegen.<br />

Diese Frage wird überwiegend dahin beantwortet, daß das gesamte Statut<br />

vorzulegen sei. Ausgangspunkt ist D. 1.3.24: „In civile est nisi tota lege perspeeta<br />

una aliqua particula eius proposita iudicare vel respondere". Die mittelalterliche<br />

Doktrin interpretiert folgendermaßen (BARTOLUS): „Quaero quid in statuto. An totum<br />

debeat extrahi an illa particula quae pro me facit. Et videtur quod particula in<br />

contrarium est Veritas per hanc legem .. . sed statuta sunt toti civitati communia.<br />

Ergo tota sunt producenda et haec est vera opinio." Ebenso BALDUS ZU dieser 1. in<br />

civile.<br />

28s<br />

) Die in den vorhergehenden Noten gegebenen Hinweise betreffen nur einige<br />

zentrale Punkte, an denen diese Allegate vorgekommen sind. Sie sollen ausschließlich<br />

verdeutlichen, daß es sich um immer wiederkehrende Textstellen bzw. Gesichtspunkte<br />

handelt.<br />

146


entscheidet; dabei hebt Franchus immer wieder die Bedeutung des cap.<br />

licet Romanus für die dargestellten Abgrenzungen hervor. Einen letzten<br />

interessanten Aspekt bringt der abschließende Punkt, den er in diesem<br />

Zusammenhang behandelt: „Infertur ex predictis, quod licet subditi non<br />

possint allegare ignorantiam consuetudinis loci ut supra tarnen iudex<br />

potest quia dicitur esse quid facti ut hie in textu. Ideo debet consuetudo<br />

allegari et probari: unde qui allegat consuetudinem earn probare debet<br />

. . . 283 hoc tarnen limita primo nisi consuetudo esset scripta quia<br />

tunc iudicatur de ea tamquam de ipso statuto in loco . . . 284 secundo limita<br />

nisi ipsa consuetudo esset publica et notoria in Mo loco . . .". Franchus<br />

bestätigt nochmal die in der consuetudo-Lehre vorgefundenen Differenzierungen,<br />

wobei insbesondere auffällt, daß er zwar von den Einwohnern<br />

die Beachtung der örtlichen consuetudo verlangt, ihre Beachtung durch<br />

den Richter aber von der Allegation und dem Beweis abhängig macht 285 .<br />

Die Differenzierungen innerhalb der consuetudo-Lehre unterstreichen<br />

aber darüberhinaus nicht nur die Vielfalt der Aspekte, sie weisen auch<br />

auf den Punkt hin, in dem die entscheidende Bedeutung der Kommentierung<br />

des Philippus Franchus überhaupt liegt. Er leitet — wie Bartolus<br />

bei der lex praescriptione 286 — von der Frage der Rechtskenntnis des<br />

Papstes bzw. Imperators über zu der allgemeineren Fragestellung nach<br />

der Rechtskenntnis des Richters. Hierdurch werden all jene Überlegungen,<br />

die unter verschiedenen Aspekten diese Rechtskenntnis betreffen,<br />

auch für die Erörterung des cap. licet Romanus relevant, so daß sich mit<br />

diesen letzten Mosaiksteinen das Bild einer aus vielen Partikeln zusammengesetzten<br />

Rechtsanwendungslehre vervollständigt.<br />

Ehe dieses Bild zusammenfassend beschrieben wird, sind als Voraussetzung<br />

dafür folgende Gesichtspunkte festzuhalten: Die Untersuchung<br />

einiger zentraler Texte der Rechtsquellenlehre hat ergeben, daß die in<br />

früheren Befunden aufgezeigten Kriterien für die Unterscheidung von<br />

beweisbedürftigem und nicht-beweisbedürftigem Recht auch hier ihren<br />

Niederschlag gefunden haben. Umgekehrt hat sich erwiesen, daß von<br />

diesen Texten — wie zuletzt bei dem cap. licet Romanus, aber auch<br />

schon bei den co«s#et«*/o-Quellen oder der lex omnes populi — entscheidende<br />

Impulse auf die früher analysierten Komplexe ausgingen. Gerade<br />

dies war zu zeigen, damit die im folgenden vorgenommene Zusammenfügung<br />

einzelner Befunde nicht willkürlich oder spekulativ erscheint.<br />

tei ) Folgt Hinweis auf X 1.4.8 und C. 8.52.1.<br />

!M ) Gestützt auf BALDUS, C. 2.10, s. dazu oben I N. 112, 113 u. ö.<br />

M5 ) S. dazu auch Kap. VI.<br />

*») S. oben bei N. 189 ff.<br />

147


VI. KAPITEL<br />

DAS NICHT-BEWEISBEDÜRFTIGE RECHT<br />

Bei der Beschreibung des einleitend dargestellten Consiliums von<br />

Matthäus Wesenbeck x hatte sich gezeigt, daß er über ein außerordentlich<br />

effektives Instrumentarium verfügte, um den Konflikt verschiedener,<br />

einander überlagernder Normenkomplexe zu lösen. Dabei erwies sich<br />

die Aufteilung des Rechts in einen beweisbedürftigen und einen nichtbeweisbedürftigen<br />

Teil als die entscheidende Weichenstellung, durch die<br />

alle Konsequenzen und Ergebnisse bereits programmiert erschienen. Die<br />

Grundlagen dieser von Wesenbeck mit großer Selbstverständlichkeit gehandhabten<br />

Rechtsanwendungslehre lagen nicht offen zutage. Der Eigenart<br />

mittelalterlicher Jurisprudenz entsprechend war sie nicht als geschlossenes<br />

Theorem formuliert, sondern an verschiedenen Texten orientiert,<br />

unter wechselnden Aspekten und in unterschiedlichen Problemzusammenhängen<br />

entwickelt und tradiert worden. Um zu diesen Grundlagen<br />

vorzudringen, war es deshalb notwendig, durch punktuelle Analysen<br />

die bestimmenden Faktoren und die übergreifenden Prinzipien<br />

zu ermitteln. Im Verlaufe dieser Einzeluntersuchungen sind die Konturen,<br />

die sich am Anfang nur schemenhaft abzeichneten, immer schärfer<br />

hervorgetreten und haben das Bild einer trotz mancher Differenzierung<br />

oder Nunancierung einheitlichen Doktrin entstehen lassen, die — so<br />

kann man ohne Übertreibung sagen — zu den faszinierendsten und zugleich<br />

signifikantesten Phänomenen des gelehrten Rechts gehört.<br />

Im Zentrum steht die Aufteilung des Rechts 2 in zwei Blöcke, die im<br />

Prozeß unterschiedlich behandelt werden. Während der eine Teil vom<br />

Richter ex officio anzuwenden ist, kommt der andere nur zur Anwendung,<br />

wenn eine Partei dieses Recht in den Prozeß einführt und seine<br />

Geltung, sofern sie bestritten wird, beweist s . Es hat sich gezeigt, daß für<br />

die Abgrenzung nicht ein einzelnes Kriterium zum Maßstab wurde,<br />

sondern eine ganze Reihe von Faktoren, deren wechselseitige Beeinflus-<br />

') Kap. I.<br />

*) Dabei geht es immer nur um das „objektive Redit", das ius disponens im Sinne<br />

von PETRUS DE BELLAPERTICA und BARTOLUS, S. dazu Kap. Ill N. 69, 70 und 72,<br />

und Kap. V/I N. 138, 139, 157.<br />

3 ) Zur Sonderstellung der consuetudo notoria s. Kap. V/I bei N. 70 ff., unten bei<br />

N. 50 ff. und für Deutschland Kap. VII vor und in N. 48.<br />

148


sung, Abhängigkeit und Verflechtung immer wieder hervorgetreten ist 4 .<br />

Daraus ergibt sich zugleich, daß sich nicht ein isolierter Faktor als der<br />

für die Aufspaltung ausschlaggebende Grund bezeichnen läßt, daß vielmehr<br />

jeder eine bestimmte, aber durch die anderen begrenzte Funktion<br />

hat.<br />

All diese Gesichtspunkte sind derart ineinander verwoben, daß ihr<br />

Zusammenwirken in einer resümierenden Skizze nicht dargestellt werden<br />

kann, ohne die Gedankengänge in unzulässiger Weise zu vergröbern.<br />

Es geht aber auch nicht darum, diese Gedankengänge nochmals nachzuzeichnen,<br />

sondern darum, jene Linien, die die verschiedenen untersuchten<br />

Komplexe verbinden, zu verdeutlichen und die Ergebnisse der diese<br />

Linien verfolgenden Analysen zu fixieren.<br />

Als der wichtigste Befund erscheint mir die Feststellung, daß der Teil<br />

des Rechts, der keines Beweises bedarf, nicht eine feste, überall gleiche<br />

Größe ist, sondern ein aus konstanten und variablen Teilen zusammengesetzter<br />

Komplex. Den überwiegenden Teil bildet der feste Kern. Es ist<br />

jener Bereich, den Philippus Franchus 5 mit dem folgenden Satz beschreibt:<br />

„Leges et canones ut générales in omni loco sunt ab omnibus<br />

observandi" 6 ; es ist dies das ius commune scriptum, das Pacian als Block<br />

dem ius speciale gegenüberstellt 7 und von dem Franchus sagt: „quod ius<br />

commune dicitur publicum quo ad omnes et omnes scire et observare<br />

tenentur" 8 . Dieses Recht muß natürlich auch der Richter kennen und<br />

beachten, d. h. gegebenenfalls supplieren. Immerhin denkbare Unkenntnis<br />

oder Zweifel 9 konnte der Richter aber durch inspectio libri oder<br />

apertura librorum 10 beseitigen. Diese Möglichkeit der Vergewisserung,<br />

die das ius in jenen stets wiederkehrenden Termini als certum, finitum<br />

4<br />

) Vgl. die Hinweise in Kap. II a. E., Kap. Ill a. E., Kap. IV (ius/factum) sowie<br />

Kap. V/I.<br />

5<br />

) Dazu eben Kap. V/II bei N. 253 ff. Die dort ausführlich behandelte Darstellung<br />

enthält alle wesentlichen Gesichtspunkte, die hier nochmals zusammengefaßt werden<br />

sollen. Texte aus VI 1.2.1 n. 14.<br />

•) Aus dem kanonischen Recht nennt er X 1.2.1: „Canonum statuta custodiantur<br />

ab omnibus" (s. oben Kap. V/II N. 265), daneben verweist er auf C. 1.14.3: „Leges ut<br />

générales ab omnibus aequabiliter in posterum observerentur", vgl. auch hierzu oben<br />

Kap. V/II bei N. 265.<br />

') S. oben Kap. II bei N. 76 und 107.<br />

8<br />

) Außer den in N. 6 erwähnten Allegaten nennt er die 1. leges sacratissimae<br />

(C. 2.14.9), dazu ausführlich Kap. IV bei N. 36 ff. (BALDUS). Zur Gleichsetzung<br />

von ius commune und ius publicum s. schon oben Kap. V/II N. 268, aber auch Kap.<br />

Ill N. 69 ff., wo diese Terminologie einen ganz anderen Sinn hat; vgl. außerdem<br />

BALDUS Kap. III bei N. 130 ff. und vor allem die Beispiele in N. 133.<br />

») Beispiel Kap. V/I, CrNUS-Text in N. 140.<br />

10<br />

) S. oben Kap. V/I bei N. 57 u. ö., s. auch schon Kap. II bei N. 61 und Kap. III<br />

beiN. 122 ff.<br />

149


oder notorium erscheinen läßt u , schließt es aus, daß der Richter sidi auf<br />

eine entschuldbare Unkenntnis beruft.<br />

Daraus ergibt sich praktisch von selbst, in welchen Fällen die allgemeine<br />

Kenntnis nicht unterstellt 12 und infolgedessen dem Richter probabilis<br />

ignorantia zugebilligt werden kann: wenn Zweifel an der Authentizität<br />

bestehen, weil es sich um „extravagantes" handelt, die nicht in den<br />

autorisierten Sammlungen erscheinen 13 . Derartiges Recht hat der Richter<br />

nicht ex officio in den Prozeß einzuführen, vielmehr muß diejenige<br />

Partei, die es allegiert, seine Anwendbarkeit, observantia et esse ins 14 ,<br />

beweisen. Die Beweisbedürftigkeit ergibt sich aus der Zweifelhaftigkeit,<br />

die Zulässigkeit dieses Beweises daraus, daß man die Geltungsfrage als<br />

quaestio facti 15 qualifiziert. Diese Begrenzung der allgemeinen Rechtskenntnis<br />

und die korrespondierende Beschränkung der richterlichen<br />

Rechtsermittlungspflicht — entwickelt anhand der D. 19 c. 1 des cap.<br />

pastoralis und vor allem ausgehend von der auch für diese beiden Vorschriften<br />

grundlegenden lex cum prolatis 16 — spielen nach dem Eindruck,<br />

den die Kommentierungen dieser Vorschriften vermitteln, vor allem im<br />

partikularen Recht eine wichtige Rolle; sie sind aber keineswegs auf dieses<br />

") Dazu Kap. IV insgesamt (1. in omni); zum notorium in diesem Sinne PAULUS<br />

DE CASTRO Kap. III in N. 133, SICHARD Kap. IV bei N. 53, BALDUS Kap. Ill N. 124<br />

und Kap. IV N. 36 und 65 (zur 1. leges sacratissimae, vgl. oben N. 8).<br />

18 ) Daß es sich dabei um eine Fiktion handelt, war allen Beteiligten klar. Zwei<br />

Gesichtspunkte belegen das deutlich: Gerade das Abstellen auf die Möglichkeit der<br />

Vergewisserung durch „inspectio/apertura librorum" setzt Unkenntnis oder Zweifel<br />

voraus. Zum andern impliziert der Hinweis, der sich sowohl in den Kommentierungen<br />

zur 1. praescriptione als auch zum cap. licet Romanus findet, wonach Papst und<br />

Kaiser sich stets in Begleitung von „iurisperiti" befänden (z. B. Text der Glosse zur<br />

1. praescriptione oben Kap. Ill N. 84), die Annahme, daß sie eben nicht das Recht<br />

präsent im „Schreine ihres Herzens" tragen. Deshalb verformt sich ja die Sentenz<br />

von den ,omnia iura in scrinio pectoris' mehr und mehr zu einer unterstellten Rechtskenntnis,<br />

bis es dann in VI 1.2.1 heißt: „iura omnia in scrinio perctoris sui censetur<br />

habere", dazu oben Kap. V/II N. 217.<br />

1S ) Einzelheiten oben Kap. II bei N. 77 ff. Auf die Verbindung zwischen den verschiedenen<br />

Komplexen ist verschiedentlich hingewiesen worden, und zwar immer da,<br />

wo diese Begrenzung auftrat, vgl. etwa Kap. IV N. 27/32. Daraus ergibt sich im<br />

übrigen, daß nidit etwa die Schriftlichkeit als solche, sondern die Gewißheit des Rechts,<br />

die z. B. auch bei der consuetudo notoria vorhanden sein konnte, den entscheidenden<br />

Gesichtspunkt bildet (dazu Kap. IV und V/I).<br />

14<br />

) S. oben Kap. II, PACIAN im Anschluß an GUIDO DE BAYSIO ZU D. 19 c. 1<br />

(N. 113 ff.).<br />

,5<br />

) a. a. O. Gelegentlich schlägt auch hier die Terminologie der consuetudo-Lehre<br />

und des cap. licet Romanus durch. So heißt es bei JOHANNES A SANCTO GREGORIO<br />

zu D. 19 c. 1 (ausführlich in Kap. III N. 108): „... sed si positio contineret id quod<br />

extravagans, cum illud sit facti, ut volunt doctores et allegans artetur probandum ..."<br />

»•) D. 19 c. 1, X 2.22.8, D. 42.1.32, s. oben N. 13.<br />

150


allein zugeschnitten, sondern gelten in gleicher Weise für das ius commune<br />

extravagans 17 .<br />

Dies führt zu dem zweiten Komplex des nicht-beweisbedürftigen<br />

Rechts, der zugleich der erste variable ist. Nicht allein die geschilderte<br />

Begrenzung, sondern alle übrigen zur Charakterisierung des ius commune<br />

verwendeten Kriterien treffen auch auf das partikulare ius scriptum<br />

18 , das Statutarrecht, zu, mit einer Modifikation, die auf der prinzipiellen<br />

Differenz beider Rechtskreise beruht: Statutum est ius commune<br />

in loco 19 . Mit dieser Einschränkung, die sich aus dem gegenüber der<br />

Universalität des ius commune begrenzten Geltungsanspruch des ius<br />

speciale 20 ergibt, gilt alles, was für das ius commune galt, auch hier gewissermaßen<br />

in verkleinertem Maßstab, bezogen auf den regionalen<br />

oder lokalen Geltungsbereich und den dafür zuständigen Richter. Philippus<br />

Franchus 21 hat dies, alle früheren Argumente aufgreifend, so beschrieben<br />

:<br />

„iudex loci non possit allegare ignorantiam statuti ipsius loci: quia<br />

sicut iudex non debet ignorare iura communia, ita nee statuta loci, quae<br />

quo ad subditos dieuntur esse iure communia .. . licet statutum non<br />

fuerit allegatum, vel produetum in causa coram iudice tarnen iudex tenetur<br />

iudicare et servare statutum, sicut iura, quia sicut iura communia,<br />

non est necesse, quod allegentur quia quilibet praesumitur scire ... et<br />

") BARTOLUS n. 13 zu D. 42.2.2 (1. non fatetur, oben Kap. Ill N. 71, dort auch<br />

zu möglichen Einwänden): „Sed si est iuris consuetudinarii non scripti tunc deberet<br />

responderi, quia est probandum ergo potest fieri positio. Idem puto de iure municipali<br />

scripto alterius civitatis... Idem etiam puto in iure communi extravaganti<br />

ut dixi 1. cum prolatis." Dort steht allerdings die Statutenproblematik im Vordergrund<br />

(vgl. oben Kap. II N. 90 sowie dort die Nachweise zum cap. pastoralis).<br />

18 ) Im Prinzip gilt das folgende auch für die consuetudo, aber doch mit so erheblichen<br />

Abweichungen, daß eine gesonderte Darstellung erforderlich ist.<br />

") Die zahlreichen Belege sollen nicht alle wiederholt werden, vgl. z. B. Kap. IV<br />

bei N. 24 (ALEXANDER TARTAGNUS).<br />

20 ) Die Unterschiede zwischen beiden Komplexen kommen schon in den zu ihrer<br />

Kennzeichnung verwendeten Termini zum Ausdruck: Dem ius commune, generale,<br />

universale oder publicum steht das ius particulare, speciale, proprium oder locale<br />

gegenüber. Zum ius commune sofort im Text, zu ius universale und generale s. die<br />

Texte oben Kap. V/II bei N. 210 ff. (ARCHIDIACONUS) sowie N. 265 ff. (FRANCHUS).<br />

Dort auch zu ius publicum und privatum. Publicum dient hier als Kennzeichnung des<br />

Rechts, das für alle gilt, während privatum das Recht mit einem begrenzten Wirkungskreis<br />

bezeichnet (s. auch oben N. 10). In den früher behandelten legistischen<br />

Texten (Kap. Ill N. 72 (FULGOSIUS) und Kap. Ill N. 120 (BALDUS)) geht es dagegen<br />

um den Gegensatz, der auch mit ius disponens und ius dispositum umschrieben wird.<br />

Vgl. dazu Kap. III bei N. 69, 70 ff. und Kap. V/I bei N. 138.<br />

**) Ausführlicher Text schon oben Kap. V/II bei N. 274 ff.; dort auch zu den hier<br />

ausgelassenen Allegationen (1. omnes populi, cap. licet Romanus, 1. in omni und<br />

Ut quae desunt).<br />

151


omnibus debent observari absque eo, quod allegentur vel probentur .. .<br />

et idem est in ipsis statuas, quae dicuntur esse iuris communis, quo ad<br />

subditos et quo ad iudicem ..."<br />

Im lokalen Rahmen gilt also das Statutarrecht in gleicher Weise wie<br />

das ius commune universell gilt; ob man es als ius commune in loco bezeichnet<br />

oder dem ius commune durch Formeln gleichstellt, wie sie Franchus<br />

verwendet 22 , ist eine rein terminologische Frage und ändert an der<br />

Sache nichts. Die Übereinstimmung besteht bei der Begrenzung der Rechtskenntnis<br />

und der Rechtsermittlungspflicht des Richters auch insoweit, als<br />

die aus der lex cum prolatis z3 entwickelte Beschränkung auch hier zur<br />

Anwendung kommt, ja in besonderem Maße auf die Statuten zugeschnitten<br />

ist 24 . Statuten oder reformationes 25 , die nicht im volumen<br />

statutorum aufgezeichnet oder registriert sind, müssen allegiert und bewiesen<br />

werden, „quia iudex potest ea probaliter ignorare sicut dicimus<br />

in consuetudine quam debet iudici probari" 26 . Diese Einschränkung<br />

gilt aber nur, wie auch der Hinweis auf die consuetudo andeutet, solange<br />

und sofern derartige extravagantes nicht publice nota sind. Dann sind sie,<br />

„quia tunc cessât ratio incertitudinis et ignorantiae" 27 , vom Richter ex<br />

officio anzuwenden. Durch diese Begründung wird auch die „ratio" jener<br />

Begrenzung nochmals hervorgehoben.<br />

Die gleichen Gründe sind auch für die zweite Begrenzung maßgebend,<br />

obwohl diese nun im Gegensatz zu den übrigen Gesichtspunkten gerade<br />

auf der Andersartigkeit des partikularen Rechts beruht. Während es bei<br />

den „extravagantes" um die Frage der Berücksichtigung innerörtlichen<br />

Rechts ging, entspringt die zweite Begrenzung der regionalen/lokalen<br />

Gebundenheit und der Spezialität des partikularen Rechts. Dem iudex<br />

M ) Vielfach findet sich auch die Wendung .habere pro iure communi', aber auch<br />

einfach der Hinweis ,est ius' oder ,ius civile', was jedoch in diesem Zusammenhang<br />

dieselbe Bedeutung hat wie ius commune.<br />

23 ) Hier liegt für das Statutarrecht der Ansatzpunkt, später tritt das cap. pastoralis<br />

ergänzend hinzu. Vgl. zu 1. cum prolatis BARTOLUS oben Kap. II bei N. 90, PAULUS<br />

DE CASTRO Kap. IV N. 27, JASON Kap. V/II N. 179, wo die früheren Belegstellen<br />

nochmals zusammengefaßt sind; daneben die Kommentierung zur 1. praescriptione<br />

und 1. omnes populi (dazu etwa BARTOLUS Kap. V/II bei N. 169 ff.).<br />

24 ) Zum folgenden vgl. schon oben Kap. V/II bei N. 176 ff.<br />

,s ) Hier liegt der sprachliche und gedankliche Anknüpfungspunkt für die deutschen<br />

Stadtrechtsre/ormarj'oHen des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts.<br />

'•) JASON n. 6 zu D. 42.1.32 (1. cum prolatis), s. oben Kap. V/II N. 179; zu den<br />

im übrigen fast überall gleichlautenden Texten s. die Nachweise soeben in N. 23<br />

und außerdem ALEXANDER TARTAGNUS oben Kap. IV bei N. 22 ff.<br />

") JASON a. a. O., FRANCHUS im Anschluß an BARTOLUS oben Kap. V/II vor N. 280.<br />

Diese Frage ist streng von derjenigen zu trennen, ob bei entsprechender Allegation und<br />

(soweit bestritten) entsprechendem Beweis ortsfremde Statuten nach den Regeln des<br />

Kollisionsrechts anwendbar sind; vgl. dazu NEUMEYER, Geschichtliche Entwicklung, II.<br />

152


loci ist — neben dem ius commune — nur das ius loci bekannt, dem<br />

„ortsintern" die Qualität eines ius commune zukommt. Dieses Redit muß<br />

er ex officio anwenden und supplieren. Das ius alterius civitatis 2 « dagegen<br />

müssen die Parteien allegieren und produzieren 29 , „quia iudex<br />

potest ilia probabiliter ignorare" 30 . Die Beweisbedürftigkeit folgt auch<br />

hier aus der Ungewißheit über Inhalt und Geltung ortsfremder Statuten.<br />

Warum aber der Richter dieses ortsfremde Recht nicht kennen oder doch<br />

ermitteln muß, ergibt sich erst aus der Begründung. Für die Argumentation<br />

bildet das cap. licet Romanus die maßgebliche Stütze, in dem der<br />

Grundsatz statutum est facti und seine Ableitung aus dem Gesichtspunkt<br />

der Spezialität niedergelegt ist 31 . Der tragende Gesichtspunkt ist sicher<br />

die Ortsbezogenheit und -gebundenheit. Sichard 32 formuliert es so:<br />

„Ut si ponam statutum esse Norinbergae, quia hoc non habet hie suum<br />

vigorem, quia est locale et adhaeret territorio, ideo extra territorium est<br />

probandum, cap. 1 de constitutionibus lib. 6". Der Schwerpunkt der Begründung<br />

liegt indessen auf dem factum-Gedanken; denn damit lassen<br />

sich auf Grund der geschilderten Wechselbeziehungen 33 sowohl die probabilis<br />

ignorantia des Richters und die Beweisbedürftigkeit rechtfertigen,<br />

zugleich werden aber auch mögliche Bedenken hinsichtlich des Beweisgegenstandes<br />

ausgeschaltet.<br />

Damit ist der zweite Teilbereich des vom Richter ex officio anzuwendenden,<br />

gegebenenfalls zu supplierenden und nicht-beweisbedürftigen<br />

Rechts umrissen 34 : Es ist derjenige Teil des ius scriptum, den man<br />

ius commune in loco nennt 35 . Die Besonderheit besteht nun darin, daß<br />

M<br />

) Vgl. hierzu BARTOLUS Kap. V/II N. 171, N. 181 ff., außerdem Kap. Ill N. 53 ff.<br />

sowie die Texte Kap. Ill N. 108/133.<br />

") Dabei handelt es sich um einen Urkundenbeweis durch Vorlegung des Statutenbuchs,<br />

vgl. dazu oben Kap. V/II, vor allem N. 281.<br />

30<br />

) BARTOLUS (1. praescriptione, oben Kap. V/II bei N. 190). Unerörtert bleibt die<br />

nur bei der consuetudo behandelte Frage (vgl. Kap. V/I), ob der Richter ihm bekannte<br />

Statuten anwenden oder allegierte selbst ermitteln darf. Da aber auch für die Statuten<br />

das factum-Argument verwendet wird (dazu sofort im Text), gelten wohl die<br />

gleichen Überlegungen wie bei der consuetudo.<br />

31<br />

) S. oben Kap. V/II.<br />

32<br />

) Aus dem schon bei der positio-Doktrin<br />

s. oben Kap. Ill N. 133.<br />

M<br />

) Kap. IV ab N. 50 ff.<br />

behandelten Text C. 2.58.2.2 n. 19,<br />

34<br />

) Im Rahmen der Kommentierung zum cap. pastoralis werden noch einige weitere<br />

schriftliche Regelungen genannt, für die diese Grundsätze entsprechend gelten sollen.<br />

Übersicht dazu bei FELIN ZU X 2.22.8 n. 8-11. Vgl. außerdem die darauf<br />

Zusammenfassung bei PACIAN, Kap. II vor N. 77 und bei N. 107.<br />

beruhende<br />

35<br />

) Das ganze gilt auch für die consuetudo; s. dazu sofort im Text. Den hier<br />

skizzierten Bereich des ius scriptum beschreibt zusammenfassend und besond e rs anschaulich<br />

ZABARELLA, X 1.4 (de consuetudine), trigesimo septimo, vgl. oben Kap. V/I<br />

N. 94.<br />

153


dieser Teilbereich im Gegensatz zu der übergreifenden Oberschicht, dem<br />

ius universale, nicht überall gleich ist, sondern überall anders. Das nichtbeweisbedürftige<br />

Recht von Pisa deckt sich nicht mit dem von Mailand,<br />

das von Nürnberg nicht mit dem von Tübingen, wie Sichard lehrt.<br />

All diese Überlegungen gelten an sich auch für das Gewohnheitsrecht,<br />

den dritten Teilbereich, in dem sich aber andererseits auch eine Reihe<br />

gravierender Abweichungen findet.<br />

Geht man zunächst von der consuetudo aus, die, wie das Statut,<br />

partikulare Geltung hat und sich von diesem nur durch die fehlende<br />

Schriftlichkeit unterscheidet 36 , so trifft mit den gleichen Modifikationen<br />

zu, was auch vom Statut gesagt wurde. Dies wird wiederum bei Philippus<br />

Franchus besonders deutlich: „Sed quo ad subditos statuta et consuetudines<br />

dicuntur esse iuris, ex quo eo ligant 37 unde locales consuetudines<br />

quod ad ipsum locum dicuntur ius commune . . . ratio est, quia a iure<br />

communi confirmantur, ut . . . I. omnes populi" 38 . Es ergeben sich nur<br />

zwei Abweichungen, die beide auf der Eigenart der consuetudo beruhen.<br />

Die erste leuchtet unmittelbar ein. Die aus der lex cum prolatis und dem<br />

cap. pastoralis abgeleiteten Überlegungen kommen nicht in Betracht, da<br />

sie Schriftlichkeit voraussetzen. Schwieriger dagegen ist die zweite Frage<br />

zu beantworten, ob die Qualifizierung der consuetudo localis als ius commune<br />

in loco auch die gleichen prozessualen Folgen hat wie bei den<br />

Statuten. Hier ergibt sich eine Differenzierung, die nur auf den ersten<br />

Blick überrascht. Während nämlich bezüglich der Bindungswirkung<br />

statuta und consuetudines vollkommen gleichgesetzt werden 39 , gilt dies<br />

nicht für die Berücksichtigung im Verfahren: „Licet subditi non possint<br />

allegare ignorantiam consuetudinis loci, ut supra. .. 40 tarnen iudex<br />

potest, quia dicitur esse quid facti . . . ideo debet consuetudo allegari et<br />

probari . . . unde qui allegat consuetudinem earn probare debet.. .".<br />

S6 ) Zu den überregionalen Gewohnheitsrechten alsbald im Text bei N. 52 ff. Zur<br />

im wesentlichen gleichen Behandlung und Gleichstellung von statutum und consuetudo<br />

vgl. schon das einleitende Gutachten von WESENBECK, oben Kap. I, oder WESENBECK,<br />

Consilium 220 n. 15: „Statuta et consuetudines . . . qui sunt de eadem", oder Consilium<br />

133 n. 32: „Idemque est de statutis .. . nam statuta et consuetudo a pari procedunt",<br />

mit zahlreichen Nachweisen.<br />

") Gestützt auf D. 1 c. 8 (ius civile) und 1. omnes populi und 1. de quibus, dazu<br />

oben Kap. V/II bei und in N. 270.<br />

38 ) Anhand der 1. omnes wird die Befugnis der civitates begründet, sich selbst<br />

Recht (ius proprium) zu schaffen, wobei dieses ius scriptum und ius non scriptum sein<br />

kann, vgl. dazu grundlegend BARTOLUS ZU dieser lex und zusammenfassend für die<br />

Spätzeit mit der gesamten terminologischen Vielfalt JASON zu 1. omnes populi.<br />

">) FRANCHUS, soeben im Text und in dem folgenden Zitat; s. schon oben Kap. V/II<br />

bei N. 283. Don auch zu den hier ausgelassenen Allegaten.<br />

40 ) Bezieht sich auf den soeben wiedergegebenen Text.<br />

154


Es handelt sich dabei um die ganz geläufige und audi entsprediend begründete<br />

41 Allegations- und Beweispflidit für die consuetudo. Dieser<br />

Beweis ist erforderlidi, weil es sich bei der consuetudo ungeachtet ihrer<br />

„Allgemeinverbindlichkeit" als ius commune in loco um ein factum<br />

handelt, das der Richter nicht von sich aus einführen oder supplieren<br />

darf 42 . Allerdings gibt es zwei Ausnahmen 43 : „Hoc tarnen limita primo<br />

nisi consuetudo esset scripta, quia tunc iudicatur de ea tamquam de ipso<br />

statuto in loco 44 . . . secundo limita nisi ipsa consuetudo esset publica<br />

et notoria in Mo loco 45 . Iudex ita debet servare consuetudinem sicut<br />

statutum." In diesen Fällen muß der Richter die consuetudo loci wie die<br />

lokalen Statuten 46 anwenden. Der Grund liegt auf der Hand: Die Beweisbedürftigkeit<br />

ist weggefallen, weil ihre Voraussetzung, die Zweifelhaftigkeit<br />

und Ungewißheit der consuetudo, im konkreten Fall beseitigt<br />

ist. Bei der consuetudo scripta bewirkt dies die Aufzeichnung, weil sie<br />

sich damit vom Statut nur noch durch die Art der Entstehung unterscheidet<br />

47 . Bei der consuetudo notoria entfällt die Ungewißheit, aber<br />

wohl nicht deshalb, weil sie nun, wie anderes Recht, certum et finitum<br />

ist, sondern weil, wie bei jedem anderen factum, die Notorietät 48 den<br />

Beweis erübrigt. Gerade das Festhalten an der Allegationspflicht bei der<br />

nicht-beweisbedürftigen consuetudo 49 unterstreicht, daß die consuetudo<br />

trotz ihrer Notorietät nicht dem übrigen Recht gleichgestellt und ex officio<br />

anzuwenden war.<br />

Betrachtet man die Sache mehr vom Ergebnis her, so fallen die Unterschiede<br />

nicht so sehr ins Gewicht. Die consuetudo notoria bedarf wie das<br />

«) Gestützt auf VI 1.2.1; X 1.4.8; C. 8.52.<br />

**) Daß der Richter selbst nicht subditus und damit nicht gebunden ist, läßt sich<br />

aus der Praxis erklären, ortsfremde Richter zu verwenden (dazu ENGELMANN, Rechtskultur,<br />

s. oben Kap. V/I N. 156), denen zwar die aufgezeichneten Statuten, aber<br />

naturgemäß nicht das Gewohnheitsrecht übergeben wurde: „Cum iuret ipsa statuta<br />

servare, qua traduntur sibi" (PAULUS DE CASTRO, oben Kap. IV N. 45). Dies bedeutet<br />

aber, daß die Parteien selbst durch Allegation und Beweis über die Anwendung dieses<br />

Rechts entscheiden konnten und bestätigt die in Kap. V/I gewonnenen Ergebnisse.<br />

4S<br />

) Text immer noch aus FRANCHUS n. 14 zu VI 1.2.1; s. auch oben Kap. V/I bei<br />

N. 116.<br />

**) Zur consuetudo in scriptis redacta s. oben Kap. V/I N. 60 ff.<br />

*») Einzelheiten oben Kap. V/I N. 67 ff.<br />

u<br />

) Ansonsten setzt er sich der Gefahr eines Syndikatsprozesses aus, vgl. hierzu auch<br />

unten N. 61 sowie Kap. VII N. 19 ff.<br />

") S. dazu schon oben Kap. V/I bei N. 60 ff.<br />

,s<br />

) Vgl. dazu schon oben Kap. V/I N. 159, wo auf die Ambivalenz der Verwendung<br />

des Kriteriums notorium hingewiesen wurde, vgl. etwa SICHARD ZU C. 2.10 n. 3<br />

(s. schon oben Kap. IV bei N. 50 ff.) : „Quae sunt in iure posita, illa sunt certa atque<br />

notoria, ex quibus iudici est pronunciandum nolenti volenti."<br />

*•) S. oben Kap. V/I bei N. 100 ff. FRANCHUS geht auf diese Frage nicht ein.<br />

155


statutum keines Beweises, der Richter kennt ihren Inhalt und darf ihn<br />

im Zweifelsfalle ermitteln 50 , sofern sich eine Partei darauf beruft. Da<br />

außerdem die Allegationspflicht nicht unumstritten war und jedenfalls<br />

großzügig gehandhabt wurde 51 , stand die consuetudo notoria dem statutum<br />

vielfach gleich. Ein Unterschied ist jedoch noch hervorzuheben: Zwar<br />

hatte die consuetudo in aller Regel lokalen Charakter, aber eine consuetudo<br />

konnte natürlich in größeren Bereichen oder gar universal 52 verbreitet<br />

sein. Gerade bei derartigem Gewohnheitsrecht 53 lag die Annahme<br />

der Notorietät nahe.<br />

Auf Grund dieser Besonderheit ist der dritte Teil des nicht-beweisbedürftigen<br />

Rechts der problematischste. Zwar bedarf die consuetudo<br />

notoria keines Beweises, andererseits ist sie aber auch nicht ex officio,<br />

sondern nur nach Anführung durch eine Partei anzuwenden; sie liegt also<br />

an der Grenze des umrissenen Bereiches. Die consuetudo notoria sprengt<br />

diesen Rahmen auch insofern, als sie nicht, wie das Statut, ein in verkleinertem<br />

Maßstab nach unten transponiertes Modell des ius commune<br />

wiederholt, sie ist nicht notwendig partikular, sondern kann überregional<br />

oder sogar universal sein. Nimmt man hinzu, daß die Frage, was, wo und<br />

von wem als notorisch angesehen wurde, mit Sicherheit nicht immer<br />

einheitlich zu beantworten war 54 , so ergibt sich hier eine weitgehende<br />

50 ) Diese Frage, die praktisch zwischen den beiden oben Kap. V/I geschilderten<br />

Debatten um die Allegations- und Informationspflicht des Richters liegt, berührt<br />

ausdrücklich nur SALICETUS, vgl. den Text dort bei N. 52 und nochmals bei N. 150.<br />

51 ) S. dazu etwa MATTHIAS COLER, unten Kap. VII bei N. 50 ff.<br />

52 ) Schon HOSTIENSIS unterscheidet (X 1.4 — de consuetudine — n. 11): „Species<br />

consuetudinis sunt autem quatuor: generalissima, generalis, specialis, specialissima;<br />

generalissima: ut est consuetudo inter omnes catholicos..., generalis vero est: quando<br />

nedum una civitas : sed tota provincia sic observât ... sed speciale, quando in una<br />

civitate vel in alio loco specialiter obtinet. .."<br />

53 ) Man vgl. etwa das im Anschluß an JACOBUS DE RAVANIS immer wieder genannte<br />

Beispiel einer in England und Frankreich verbreiteten consuetudo, wonach der Erstgeborene<br />

allein erbt, s. dazu oben Kap. V/I sowie die Formulierung bei GAIL, wo es<br />

zum Wegfall der Beweispflicht heißt: „Fallit in generali et notoria consuetudine" (Kap.<br />

VII bei N. 25).<br />

M ) S. dazu etwa den Hinweis von WESENBECK in dem eingangs (Kap. I) dargestellten<br />

Gutachten, daß die Notorietät einer consuetudo allenthalben behauptet werde.<br />

Er verweist dafür auf CRAVETTA, Consilium 137 n. 1, wo es heißt: „Multa tarnen<br />

dieuntur notoria quae non sunt." Für diesen Fall sieht WESENBECK (in dem genannten<br />

Consilium 205 n. 36) zwei Möglichkeiten: „Quando nemo negat consuetudinem esse<br />

notoriam, non opus sit eius probatione ... tarnen quoties ab adversa parte illa negatur<br />

. . . toties statutum vel consuetudo nedum alleganda sed etiam probanda sunt." S. dazu<br />

auch unten Kap. VII N. 52 und 86. Ganz beiläufig wird in diesem Text außerdem<br />

nochmals hervorgehoben, daß die gesamte Doktrin überhaupt nur dann relevant wird,<br />

wenn das behauptete partikulare Recht von der Gegenseite bestritten wird. Vgl. dazu<br />

oben Kap. II (negatio iuris) insgesamt.<br />

156


Lenkbarkeit 55 bei der Berücksichtigung des Gewohnheitsrechtes. Das bedeutet<br />

zugleich, daß dieser Komplex des nicht-beweisbedürftigen Rechts<br />

der variabelste und in seinen Grenzen fließendste war.<br />

Faßt man nochmals die in großen Linien nachgezeichneten Grundmuster<br />

zusammen, so ergeben sich drei Segmente, die einander überlagern,<br />

aber nicht deckungsgleich sind:<br />

lus commune umfaßt das ins commune in einem engeren, oben geschilderten<br />

Sinne 56 als ius universale oder generale, daneben aber auch das<br />

ius commune in loco, zu dem sowohl Statuten wie örtliches Gewohnheitsrecht<br />

zählen.<br />

Das vom Richter anzuwendende Recht setzt sich zusammen aus dem<br />

ius commune im engeren Sinne und dem ihm gleichgestellten örtlichen<br />

Statutarrecht, beide begrenzt durch die gemeinsame Ausnahme bei zweifelhaften<br />

„extravagantes".<br />

Das nicht-beweisbedürftige Recht umfaßt außer diesen beiden Bereichen<br />

noch die consuetudo notoria und, sofern man sie nicht zu den Statuten<br />

rechnet, die consuetudo scripta.<br />

Alle drei 57 Ausschnitte stimmen in zwei Punkten überein: das ius commune<br />

im engeren Sinne ist ihnen gemeinsam, und es ist der einzig konstante<br />

Teil. Im übrigen aber sind die anderen Teilbereiche variabel, insbesondere<br />

von Ort zu Ort verschieden.<br />

Dies ist für den Sprachgebrauch und für die Bedeutung von ius commune<br />

sehr wichtig; denn es hatte sich gezeigt, daß bei den Fragen der<br />

negatio iuris, der positio iuris, aber auch bei der suppletio de iure vielfach<br />

von ius commune die Rede war, ohne daß Doppeldeutigkeit und<br />

wechselnder Inhalt gleich auf den ersten Blick sichtbar geworden wären 58 .<br />

Wichtiger noch als für das Verständnis des Terminus ius commune sind<br />

diese Beobachtungen für die beiden anderen Punkte: Auch das ex officio<br />

anzuwendende und das nicht-beweisbedürftige Recht sind von Ort zu<br />

Ort verschieden. Hieraus folgt ein letzter wichtiger Gesichtspunkt: Das<br />

Gesagte gilt aus der Sicht des iudex loci, der das ius eiusdem civitatis<br />

oder die ihm bekannte consuetudo localis von Amts wegen anwenden<br />

kann und sogar muß 59 . Dies ändert sich, wenn der Rechtsstreit vom ört-<br />

**) S. schon oben Kap. I vor N. 41.<br />

**) S. am Anfang dieses Kap. bei N. 10 ff.<br />

57 ) Der Unterschied zwischen dem nicht-beweisbedürftigen und dem vom Richter ex<br />

officio anzuwendenden Recht besteht nur dann, wenn man bei der consuetudo notoria<br />

an der Allegationspflicht festhält.<br />

58 ) Hinweise auf die Vieldeutigkeit und Unscharfe dieser Wortverwendung sind von<br />

Anfang an gegeben worden, s. schon oben Kap. I nach N. 41.<br />

M ) Für den folgenden Gesichtspunkt spielt die Frage der Allegation einer consuetudo<br />

157


lichen Richter an ein Gericht höherer Instanz verlagert wird. Dann fehlt<br />

die örtliche Bindung, die das Ortsrecht zum ius commune in loco macht.<br />

Deshalb ist für den Richter höherer Instanz das ius municipale scriptum<br />

wie non scriptum gleichermaßen beweisbedürftig. Allenfalls das Provinzialrecht<br />

oder, wenn man an Deutschland denkt, das in einem Territorium<br />

geltende Landrecht hat für ihn den Charakter eines ius commune,<br />

wie ihn das ius locale für den iudex loci hat. Setzt man diesen Weg nach<br />

oben fort, so kommt man zur lex praescriptione und zum cap. licet Romanus<br />

in ihrer ursprünglichen Konstellation zurück. Für Papst und<br />

Kaiser ist jegliches nicht-universelle Recht nicht ius commune und deshalb,<br />

sei es aus dem Grunde der Spezialität, sei es als factum, beweisbedürftig<br />

60 .<br />

Damit verschieben sich auch noch innerhalb des Instanzenzuges die<br />

Grenzen des beweisbedürftigen und des ex officio anzuwendenden Rechts;<br />

ebenso wandelt sich der Begriff des ius commune ständig. Das nichtbeweisbedürftige<br />

Recht 61 ist also ein sich stets verändernder Komplex,<br />

der neben einem festen Kern vielfach und vielfältig veränderbare Teil-<br />

notoria, also die Differenzierung zwischen ex officio anzuwendendem und nicht-beweisbedürftigem<br />

Recht (s. oben N. 57), keine Rolle; zur Anwendungspflicht sofort im Text.<br />

90 ) S. dazu oben Kap. V/II. Inwieweit Papst und Kaiser freilich an diese Regeln gebunden<br />

waren, ist eine andere Frage.<br />

**) Gleiches gilt für das ius commune und das vom Richter ex officio anzuwendende<br />

Recht. In den Vorschriften, die die Rechtsanwendungspflicht des Richters regeln, findet<br />

dieser Befund in vollem Umfang Bestätigung, vgl. z. B. die Erläuterungen zum Institutionentitel<br />

„De officio iudicis" (I. 4.17), wo es im principium heißt: „In primis illud<br />

observare debet iudex, ne aliter iudicet, quam legibus aut constitutionibus aut moribus<br />

proditum est." Hierzu schreibt ANGELUS DE GAMBILIONIBUS (n. 7/8): „Quid si est una<br />

constitutio, sive unum statutum extravagans, quod non sit inclusum in volumine statutorum,<br />

... 1. cum prolatis .. . Bartolus .. . nota ergo quod sicut sententia lata contra<br />

ius scriptum . . . ita etiam lata contra consuetudinem, quia ista iudicantur a pari<br />

In contrarium videtur 1. 1 C. quae sit longa consuetudo ... quod comprobatur, quia<br />

non est eadetn ratio de iure et consuetudine, quia ius certum est ut 1. ornamentorum ...<br />

et consequenter non requiritur quod articuletur, vel probetur, vel ponatur. Ut ibi<br />

Bartolus. Sed consuetudo, cum consistât in facto, opus est, quod extrinsecus probetur<br />

Bartolus 1. de quibus ... Baldus § quod observari, Salicetus ... sed potest distingui ...<br />

aut consuetudo est notoria et tunc sententia lata contra earn est ipso iure nulla, sicut<br />

si contra legem scriptam lata esset.. .". Zu den entsprechenden Regelungen des kanonischen<br />

Rechts s. unten Kap. VII N. 20. Ähnliches gilt für die Regelungen über die<br />

Auswirkung auf die Urteile, also neben der lex cum prolatis, auf die immer wieder<br />

hingewiesen wurde, auch C. 7.64.2 (s. oben Kap. II N. 82). Dort heißt es bei CYNUS<br />

n. 3 : „Tertio quaeritur, si sententia lata sit contra ius consuetudinis, an valeat? Videtur<br />

quod non ut 1. de quibus. Dicit idem Jacobus de Ravanis, quod si feratur contra legem<br />

non valet, sed secus, si contra consuetudinem. Ratio, quia lex est certa, sed consuetudo<br />

est factum, quod prudentissimos fallit ... D. 22.6.2 (1. in omni)." Vgl. außerdem<br />

FRANCHUS, oben Kap. V/II.<br />

158


ereidie enthält. Die Art seiner Begrenzung führt zu einem zweiten wichtigen<br />

Punkt.<br />

Wo immer die Grenze zwischen beweisbedürftigem und nicht-beweisbedürftigem<br />

Recht verläuft, erfolgt die Grenzziehung durch jene zwei<br />

Kriterien, deren Wechselbeziehung schon ausführlich 62 behandelt wurde:<br />

Dem Richter wird probabilis ignorantia zugebilligt, und das, was er nicht<br />

zu kennen braucht, wird durchgehend als factum behandelt: die „extravagantes",<br />

die ortsfremden Statuten und das Gewohnheitsrecht. Dieses<br />

Modell funktioniert auch, wenn es um die Rechtskenntnis höherer, nicht<br />

ortsgebundener Richter geht: Für sie gilt jene Begründung, die Franchus<br />

63 in seiner Kommentierung zum cap. licet Romanus, zunächst zugeschnitten<br />

auf den Papst, dann aber verallgemeinernd, gegeben hat:<br />

„. . . quia superior praesumitur scire iura communia et publica ut hic<br />

in textu. Secus est in statuto vel consuetudine que dicuntur ius privatum<br />

ipsius loci et sie sunt facti et in facto consistunt, quatenus respicient<br />

certum locum ex quo non sunt universalia. ideo superior praesumitur<br />

ignorare."<br />

Die Argumentation beruht — wie betont 64 — letztlich vielleicht auf<br />

dem Spezialitätsgedanken, der aber von dem factum-Argument nicht zu<br />

trennen ist. Gerade diese beiden Elemente spielen wiederum eine entscheidende<br />

Rolle, wenn es darum geht, dieses Modell in die prozessuale<br />

Praxis umzusetzen.<br />

Die Aufteilung des Rechts in zwei große Bereiche, die sich durch ihre<br />

Anwendungsvoraussetzungen unterscheiden, war die Leitlinie der einzelnen<br />

Analysen gewesen: Die Aufspaltung in einen beweisbedürftigen Teil<br />

und einen zweiten Teil, der dieses Beweises nicht bedarf, hatte sich in der<br />

Weise, wie sie hier nochmals zusammenfassend geschildert wurde, allenthalben<br />

wiedergefunden. Dabei war an verschiedenen Punkten vor allem<br />

durch Belege aus dem Codex-Kommentar von Johann Sichard, aber auch<br />

von Nicolaus Everhardus und Andreas Gail bereits darauf hingewiesen<br />

worden, daß die einzelnen Elemente, in denen sich diese Zweiteilung des<br />

Rechtes manifestiert — wie etwa die positio-iuris-Lehre oder die Gewohnheitsrechtstheorie<br />

65 — in Deutschland als Bestandteile des gelehrten<br />

Rechts aufgenommen waren. Ehe dieser Rezeptionsprozeß weiter verfolgt<br />

wird, ist das Bild der Rechtsanwendungslehre durch einen letzten,<br />

schon angedeuteten Aspekt zu ergänzen.<br />

«) Kap. IV nach N. 55.<br />

•») Zu VI 1.2.1 n. 14 s. auch schon oben Kap. V/II.<br />

M ) S. oben Kap. V/II bei N. 235 ff., 248.<br />

•») SICHARD, Kap. III N. 133, Kap. IV N. 50 ff., Kap. V/I N. 46 ff.; GAIL, Kap.<br />

III N. 133; EVERHARDUS, Kap. II und Kap. Ill N. 18, 133.<br />

159


Ungeachtet einzelner Regeln, nach denen die Beweislast im römischkanonischen<br />

Prozeß verteilt wurde 66 , basiert die Lehre vom onus probandi<br />

auf dem Vermutungsgedanken 67 , der diese Doktrin bis weit in das<br />

19.Jahrhundert hinein 68 , ja vielleicht noch darüber hinaus geprägt hat 69 .<br />

In seiner extremsten Ausprägung führte er zu Konsequenzen, die Burkkard<br />

so beschrieben hat: „Es gab eine Zeit, wo man die Praesumtionen<br />

als das die ganze Frage vom onus probandi principaliter Normierende<br />

ansah, indem man sagte: Derjenige muß beweisen, gegen den eine Praesumtion<br />

streitet... Die notwendige Folge dieser Auffassung, die sich<br />

schon bei den Glossatoren findet, war, daß man überall da, wo in den<br />

Quellen eine Bestimmung über die Beweislast in einem konkreten Fall<br />

enthalten ist, eine Praesumtion für das Gegentheil dessen, was danach<br />

zu beweisen war, annahm. Statt zu sagen: Alles, was praesumiert wird,<br />

braucht nicht bewiesen zu werden, kehrte man das Verhältnis um und<br />

stellte den Satz auf: Alles, was nicht bewiesen zu werden braucht, wird<br />

praesumiert" 70 . Selbst wenn man davon ausgeht, daß es sich hier um<br />

eine Überspitzung handelt, bleibt der Kern der Aussage richtig: Die<br />

mittelalterlichen Juristen denken, wenn sie den Streitfall vor Augen<br />

haben, in Vermutungen. Daraus lassen sich mehrere Folgerungen ableiten.<br />

Da das Funktionieren der in ihren Grundelementen geschilderten<br />

Rechtsanwendungslehre, das Ineinandergreifen einzelner Elemente erst<br />

relevant wird, wenn ein wirklicher Kollisionsfall vorliegt, ist es nur<br />

folgerichtig, daß die Umsetzung des Grundkonzepts in die Prozeßsituation<br />

sich in der forensisch-kasuistischen Literatur findet, in Consilien und<br />

Urteilen, die sich mit Fragen der Anwendbarkeit verschiedener Rechte<br />

auseinandersetzen. In dem dafür einleitend angeführten Beispiel aus<br />

den Consilien des Matthäus Wesenbeck war dieser Umsetzungsprozeß<br />

bereits vollzogen und die Grundaussage der Rechtsanwendungslehre in<br />

66<br />

) S. vor allem oben Kap. II bei N. 6, vgl. audi mit zusammenfassenden Nachweisen<br />

MUSIELAK, Beweislast, S. 259 ff.<br />

• 7 ) Zusammenfassende Darstellung bei MOTZENBÄCKER, Vermutungen. Weiterführend<br />

die Untersudiungen von KIEFNER, Semel malus semper praesumitur esse malus (ZRG<br />

Rom. 78 (1961) S. 308 ff.) sowie DERS., Qui possidet dominus esse praesumitur (ZRG<br />

Rom. 79 (1962) S. 239 ff.). Zu einzelnen Aspekten auch WIEGAND, fundata intentio,<br />

insbesondere bei und in N. 36. Umfassende Darstellung der Theorie des 15. und 16.<br />

Jahrhunderts bei MENOCHIUS, De praesumptionibus.<br />

° 8 ) Grundlegende Kritik dieser Theorie bei WEBER, Beweisführung, S. 80 ff., und<br />

zusammenfassende Darstellung bei BURCKARD, S. 125 ff.<br />

* 8 ) Vgl. neben HEDEMANN, Die Vermutung (1904) vor allem ROSENBERG, Beweislast,<br />

S. 199 ff., wo ROSENBERG ausdrücklidi darauf hinweist, daß die Vermutungstheorie<br />

noch immer nidit völlig überwunden sei. Vgl. zum derzeitigen Stand der Lehre LEIPOLD,<br />

Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen (1966).<br />

70<br />

) BURCKARD, S. 127 mit weiteren Nachweisen.<br />

160


die Form einer Vermutung gekleidet. Dafür gibt es zwei weitere Gründe,<br />

die sich aus einer Einwirkung des Vermutungsgedankens erklären lassen.<br />

Der nicht ex officio anzuwendende Teil des Rechts wurde als factum<br />

behandelt und war deshalb beweisbedürftig. Gelegentlich wurde dafür<br />

eine Sentenz angeführt, die ebenfalls vom Vermutungsgedanken geprägt<br />

ist: „Facta non praesumuntur sed probantur" 71 . Diese Feststellung provoziert<br />

in einer von Praesumtionen bestimmten Beweislasttheorie geradezu<br />

die Annahme einer praesumptio für das nicht-beweisbedürftige<br />

Recht, so wie es Burckard, wenn vielleicht auch etwas überzeichnet, beschrieben<br />

hat. Die gleiche Wirkung hat auch das zweite, mit dem factum-<br />

Gedanken verwobene Element, das ebenfalls die Beweisbedürftigkeit des<br />

partikularen Rechtes trägt: der Gedanke der Spezialität. Mit diesem Gedanken<br />

ist, wie mehrfach hervorgehoben wurde 72 , die Vermutungslehre<br />

eng verknüpft, und zwar über die lex ab ea parte, in der sich, wenn man<br />

es verkürzt ausdrücken will, der Gedanke der Spezialität oder allgemeiner<br />

das Regel-Ausnahme-Schema und das Vermutungsprinzip verbinden<br />

73 . Auf dieser Basis kommt Wesenbeck 74 zu der Schlußfolgerung:<br />

„Nam qui habet regulam iuris communis pro se, habet intentionem fundatam<br />

. . . secundum quam est pronunciandum, et obtinet donec contra<br />

specialitas iam excepta, vel consuetudo aut statutum contrarium probetur,<br />

in casu obtinere de quo agitur." Die Einreihung des Statuts und der<br />

consuetudo in die beweisbedürftigen Ausnahmen, die unter dem Aspekt<br />

der Spezialität erfolgt, erscheint nun als eine konsequente Kombination<br />

des diesen Rechten und deren Beweisbedürftigkeit zugrunde liegenden<br />

Spezialitätsgedankens mit dem Vermutungsprinzip, das hier in der Wendung<br />

.habere fundatam intentionem' zum Ausdruck kommt 75 . In Wesenbecks<br />

Gedankengang sind also einzelne Elemente aufgenommen und zu<br />

einem Argumentationsmodell zusammengefügt, das vor dem geschilderten<br />

Hintergrund verständlicher geworden ist. Damit kehren wir zum<br />

Ausgangspunkt zurück: der Rezeption dieser Rechtsanwendungslehre in<br />

Deutschland.<br />

71<br />

) S. oben Kap. II N. 100 u. ö. und Kap. V/I N. 97 (ZABARELLA). Vgl. hierzu<br />

allgemein mit ausführlichen Nachweisen MENOCHIUS, De praesumptionibus II 2 n. 3<br />

und IV 1 n. 2: „ea autem quae facti sunt non praesumuntur", jeweils gestützt auf die<br />

1. in bello § factae (D. 49.15.12.2, richtig: facti autem causae infectae nulla constitutione<br />

fieri possunt).<br />

7!<br />

) Kap. I bei WESENBECK, Kap. II zur 1. ab ea parte.<br />

) Ebda.<br />

74<br />

) Consilium 205, s. oben Kap. I N. 20 und N. 37.<br />

,6<br />

) Vgl. WIEGAND, fundata intentio, S. 136 ff. sowie oben Kap. I und Kap. II;<br />

auch die Gedankenführung bei PACIAN beruht auf dem Spezialitätsgedanken und ist<br />

zugleich mit der fundata intentio verknüpft.<br />

161


VII. KAPITEL<br />

,ZU RICHTEN<br />

NACH DES REICHS GEMAINEN RECHTEN'<br />

Am Ende einer Reihe von Einzelanalysen hat sich gezeigt, daß die<br />

Wesenbecks Argumentation zugrunde liegende Rechtsanwendungslehre<br />

zwei Komponenten aufweist. Zunächst beruht sie auf einer Grundprämisse,<br />

die, wie wir gesehen haben, an verschiedenen Punkten und in<br />

unterschiedlicher Ausprägung immer wiederkehrt: der Aufteilung des<br />

Rechts in beweisbedürftiges und nicht-beweisbedürftiges Recht. Eine besondere<br />

Akzentuierung erfährt diese Konzeption durch die auf dem Vermutungsgedanken<br />

basierende Umformung in einen Beweislastsatz, was<br />

bei Wesenbeck mit Hilfe der Formel von der fundata intentio oder<br />

auch bei Pacian ' auf ähnliche Art und Weise geschieht.<br />

Für die Rezeption in Deutschland geht es natürlich vor allem darum,<br />

die Aufnahme der einzelnen Grundelemente 2 und punktuellen Ausdrucksformen<br />

zu dokumentieren, wie dies gelegentlich schon geschehen<br />

ist 3 ; daneben sollen auch Entstehung und Bedeutung des zweiten Aspektes<br />

durch weitere Beispiele vertieft werden. Als Quellen kommen neben<br />

den die italienische Tradition weiterführenden Kommentaren und Traktaten<br />

4 vor allem die ebenfalls an italienische und französische Vorbilder<br />

anknüpfende forensisch-kasuistische Literatur, die besonders für die<br />

') PACIAN, der wie WESENBECK auf der 1. ab ea parte und dem Vermutungsgedanken<br />

aufbaut, behandelt ebenfalls die Frage der Beweisbedürftigkeit des speziellen<br />

Rechts, allerdings unter dem besonderen Aspekt seiner Negation. Auch er setzt die<br />

vorhandenen Grundelemente in Beweislastregeln um. Wer derartiges Recht leugnet,<br />

braucht entgegen der sonstigen Regel keinen Beweis zu führen, vgl. zu den Einzelheiten<br />

oben Kap. II.<br />

2 ) Die wichtigsten Quellen und bedeutsame Beobachtungen zu einer Vielzahl der im<br />

folgenden behandelten Punkte enthält die vorzügliche Abhandlung von BRIE, Die<br />

Stellung der deutschen Rechtsgelehnen der Rezeptionszeit zum Gewohnheitsrecht (im<br />

folgenden Brie, Rezeptionszeit). Hierauf baut die bereits mehrfach erwähnte Untersuchung<br />

von TRUSEN, Römisches Recht und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit,<br />

auf. Beide Autoren verfolgen einzelne Aspekte, die auch hier wesentlich sind. Für uns<br />

geht es jedoch um eine Darstellung vor dem Hintergrund der geschilderten Rechtsanwendungslehre,<br />

auf die sowohl BRIE als auch TRUSEN nur in einzelnen Punkten, nicht<br />

aber in ihrer Gesamtheit eingehen.<br />

s ) S. Kap. VI bei N. 65.<br />

4 ) Vgl. die schon erwähnten Werke von SICHARD und EVERHARDUS, s. soeben N. 3<br />

bzw. Kap. VI N. 65.<br />

162


zweite Komponente wichtig ist, die praxisorientierten, vielfach schon<br />

deutsch geschriebenen Handbücher sowie nicht zuletzt die zahlreichen<br />

Kodifikationen des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts in Betracht,<br />

die zugleich Ausdruck und Träger der Rezeption sind 5 .<br />

Aus dem letzten Quellenbereich stammt das wohl berühmteste Beispiel<br />

für die Rezeption der italienischen Theorie, die als Kapitelüberschrift<br />

vorangestellte Formel des Richtereides aus der RKGO von 1495: „Item<br />

die alle sollen zuvor Unser Königlicher oder Kaiserlicher Majestät geloben<br />

und zu den Hailigen swern: Unserm Königlichen oder Kaiserlichen<br />

Camergericht getrewlich und mit Vleis ob sein und nach des Reichs<br />

gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen,<br />

Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht,<br />

die für sy pracht werden, dem Hohen und dem Nidern nach seinem<br />

besten Verstentnus gleich zu richten" 6 . In dieser knappen Bestimmung<br />

sind wesentliche Elemente der Rechtsanwendungslehre in dem hier zugrunde<br />

gelegten Sinne, aber auch Elemente der allgemeinen Statutentheorie<br />

in dem früher beschriebenen Sinne 7 enthalten. Die Vorschrift, die in<br />

zahlreichen partikularen Kodifikationen Nachahmung gefunden hat 8 ,<br />

soll hier nicht in ihrer grundsätzlichen Bedeutung 9 diskutiert, sondern<br />

nur vor dem Hintergrund der durchgeführten Analysen behandelt werden.<br />

Zunächst ist eine Bemerkung zur Terminologie zu machen, die aber<br />

rasch in weitere Zusammenhänge führt. Aus der Wendung „die für sy<br />

pracht werden" hat man allgemein die Beweisbedürftigkeit des Partiku-<br />

6 ) Zur forensisch-kasuistischen Literatur vgl. schon oben Einleitung bei N. 8; zur<br />

pragmatischen Literatur des 16. Jahrhunderts, die man früher im Anschluß an STINT-<br />

ZING zu Unrecht auch als „populäre" Literatur bezeichnete, und zur Stellung der Rezeptionsgesetze<br />

vgl. die Hinweise bei WIEGAND, Plus Petitio, §§ 4-7.<br />

6 ) Text der Reichskammergerichtsordnung von 1495, § 3 nach ZEUMER, Quellen<br />

(S- 285); fast wörtlich übereinstimmend schon im Ständischen Entwurf von 1486<br />

(ZEUMER, S. 276) und noch in der Kammergerichtsordnung von 1555 I, Tit. 13 § 1<br />

und 57.<br />

7 ) S. oben Kap. I N. 22. Die Bedeutung der Kriterien ,redlich, ehrbar' und .leidlich',<br />

die der Inhaltskontrolle dienen und sämtlich aus dem vor allem in der kanonistischen<br />

Theorie entwickelten Kriterium ,rationabilis' (dazu BRIE, Gewohnheitsrecht, S. 24 ff.,<br />

67 ff., 177ff.; L'âge classique (LEFEBVRÏ), S. 551 ff.) abgeleitet sind, haben BRIE,<br />

Rezeptionszeit, S. 148 ff., insbesondere S. 150, und TRUSEN, Partikuläres Recht,<br />

S. 103 ff., 110 ff. dargelegt.<br />

e ) Nachweise bei BRIE, Rezeptionszeit, S. 150 N. 107, S. 160 N. 151; TRUSEN,<br />

Partikuläres Recht, S. 104; s. auch unten bei N. 66 ff.<br />

•) Die Regelung galt vor allem, als unter „Germanisten" und „Romanisten" noch<br />

um die Berechtigung der Rezeption gestritten wurde, als eine der Schlüsselstellen und<br />

erschien den Rezeptionsgegnern als „Sündenfall", vgl. etwa SCHVARTZ, Zivilprozeßgesetzgebung,<br />

S. 72 ff.<br />

163


larrechts abgeleitet 10 . Dies ist nur im Ergebnis richtig; denn der Wonlaut<br />

bedeutet, was vor dem Hintergrund der italienischen Texte keiner<br />

näheren Begründung mehr bedarf, sicher nur, daß die Richter des Reichskammergerichts<br />

nicht verpflichtet sein sollten, von sich aus Nachforschungen<br />

über Existenz und Inhalt partikularen Rechts anzustellen. Sie sollen<br />

nur dann nach Statuten und consuetudo urteilen, wenn die Parteien<br />

diese in den Prozeß eingeführt hatten. Die Vorschrift legt einfach fest,<br />

daß die Allegation solchen Rechts Anwendungsvoraussetzung ist. Daß<br />

eine solche Regelung ebenso notwendig wie sinnvoll war, erscheint evident;<br />

denn die Kenntnis zahlloser partikularer Rechte und Gewohnheiten<br />

war schlechthin unmöglich. Die Klausel besagt also zunächst nichts<br />

anderes, als daß der Richter „nach des Reichs gemainen Rechten" urteilen<br />

soll, sofern nicht wenigstens eine der Parteien durch Allegation n<br />

eines spezielleren Rechts die Unanwendbarkeit des gemeinen Rechts behauptet<br />

und damit die Anwendung des spezielleren Rechts fordert.<br />

Erst an diesem Punkt stellt sich die Frage weiteren Prozedierens. Die<br />

rezipierte Theorie enthielt — wie wir gesehen haben 12 — Ansätze für<br />

verschiedene Möglichkeiten. Sieht man einmal von einem uneingeschränkten<br />

Ermittlungsrecht, wie es die französischen Juristen gefordert hatten<br />

13 , ab, dem ja auch, wie schon betont, eine faktisch undurchführbare<br />

Ermittlungspflicht entsprochen hätte, so hätte das Gericht nach der<br />

Allegation durch die Parteien sich selbständig über die Existenz und Geltung<br />

des allegierten Rechts informieren können. Aber auch dieser Weg<br />

scheint, selbst bei geschriebenen Partikularrechten, praktisch kaum durchführbar.<br />

Dieser Lösung stehen zusätzlich zwei weitere Gründe entgegen.<br />

Einmal war sie in der Theorie in dieser Form nicht diskutiert, sondern<br />

allenfalls am Rande berührt worden 14 , zum anderen war die deutsche<br />

Literatur der ,communis opinio' in der Form gefolgt, wie sie als Ergebnis<br />

der Kommentatorenliteratur geschildert wurde 15 .<br />

10 ) BRIE, Rezeptionszeit, S. 160 N. 151, wörtlich folgend TRUSEN, S. 112 N. 61.<br />

") Diese Deutung entsprach auch durchaus dem Verständnis der Zeitgenossen, vgl.<br />

BLUMEN, Processus cameralis II, 16, wo es — allerdings für einen späteren, aber inhaltlich<br />

unveränderten Zusammenhang — heißt: „Modo allegentur ... die für sie bracht<br />

werden. Atque id facturos esse Assessores in ingressu sui officii iurare tenentur ...<br />

Gail (dazu unten bei N. 17 ff.) ista statuta consuetudines vero cum sicut Facti probari<br />

debent..." (folgt Hinweis auf zahlreiche kammergerichtliche Entscheidungen).<br />

") Kap. V/I.<br />

") Vgl. hierzu Kap. V/I bei N. 133 ff.<br />

14 ) Sie steht zwischen der Allegationsdebatte und der Diskussion um ein uneingeschränktes<br />

Informationsrecht des Richters. S. dazu oben Kap. V/I und Kap. VI N. 50.<br />

") Vgl. vor allem die Darstellungen bei ZABARELLA und CURTIUS oben Kap. V/I.<br />

Man darf aber nicht übersehen, daß diese eben — nicht anders als heute — nur die<br />

164


Ein Beispiel hierfür gibt die Darstellung bei Andreas Gail, der in<br />

seinen ,Observationes' die kamerale Praxis mit der Theorie des rezipierten<br />

Rechts verbindet. In der observatio 36 des ersten Budies 16 befaßt<br />

sich Gail mit der These, „quod iudex secundum consuetudinem et<br />

statuta iudicare debeat". Nach einigen Vorüberlegungen kommt er zum<br />

Thema: „Proinde, ut ad institutum redeam, vera conclusio est, consuetudines<br />

et statuta rationi atque naturali iuri plane non repugnantia, in<br />

iudiciis accurate attendenda et observanda esse, ad eo ut iudex contra<br />

consuetudinem vel statuta iudicans, litem suam perinde faciat, ac si<br />

contra ius commune pronunciasset 17 . Ratio in promptu, quia consuetudo<br />

est ius et appellatione consuetudinis venit ius: statutum enim vel consuetudo<br />

alicuius loci pro iure communi in eodem loco habetur, vocaturque<br />

ius commune illius civitatis. I. omnes populi" 18 . Nach dieser Grundlegung<br />

im rezipierten Recht kommt er auf die Regelung im Reichskammergerichtsprozeß<br />

zu sprechen: „Hinc est, quod Assessores Camerae<br />

Imperialis, quando in numerum Assessorum recipiuntur, iurare debeant:<br />

quod secundum Imperii constitutiones, secundum ius commune, et laudabiles<br />

locorum consuetudines iudicare velint, quod regulariter in omnibus<br />

omnium locorum iudicibus receptum est."<br />

vorherrschende Meinung war, neben der eine Vielfalt von anderen Standpunkten<br />

vertreten wurde, vgl. etwa die Nachweise Kap. V/I in N. 131.<br />

18 ) I. Observatio 36, Texte aus n. 12-16.<br />

") Auf die Folgen richterlicher Pflichtverletzung ist bereits mehrfach hingewiesen<br />

worden, vgl. zuletzt Kap. VI in N. 61; vgl. auch oben Kap. IV N. 34, wo PAULUS DE<br />

CASTRO mit einem Beispiel dafür zitiert ist, daß dem Richter der Syndikatsprozeß<br />

droht, wenn er in unzulässiger Weise ein von den Parteien nicht allegiertes Recht<br />

einführt, das nach der Theorie allegationsbedürftig ist. Hier geht es nun gerade um das<br />

Gegenteil, nämlich darum, daß der Richter Recht, das er von Amts wegen zu berücksichtigen<br />

hat, nicht anwendet. GAIL führt dazu zwei Texte an, die in diesem Zusammenhang<br />

immer wieder auftauchen: einmal das c. venientes (X 2.23 — de iureiurando<br />

— 29: „Quia vero non minus iudices secundum leges, quam consules vestri secundum<br />

consuetudinem vestrae civitatis iudicare iurarunt...") und c. venissent (X 2.15.3:<br />

„Secundum ius et bonam terrae consuetudinem terminandam ..."). Daneben nennt er<br />

JASON zu 1. de quibus (D. 1.3.32). Dort heißt es in n. 7: „Iudex pronuncians contra<br />

consuetudinem ita facit litem suam, sicut si iudicaret contra legem scriptam", gestützt<br />

wiederum auf BALDUS zur authentica ,iubemus' des Codex-Titels „De iudiciis", Text<br />

oben Kap. V/I N. 113. An gleicher Stelle (n. 7) bestätigt ALEXANDER TARTAGNUS<br />

diese Darstellung, schränkt sie aber dadurch ein, daß er auf seine Darstellung zum<br />

Titel „Ut quae desunt" (s. dazu oben Kap. IV bei N. 22 ff.) verweist und gleichzeitig<br />

andeutet, daß dies nur für die consuetudo notoria gelten könne.<br />

18 ) Vgl. hierzu oben Kap. V/II, insbesondere bei N. 171 ff. Außerdem verweist<br />

GAIL noch auf den sehr einflußreichen Kommentar von CHASSAGNE, Les coustumes ...<br />

de Bourgongne (!), der vor allem in der consuetudo-Lehre in Deutschland im Laufe<br />

des 16. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt, wie wir an einzelnen Beispielen noch<br />

sehen werden.<br />

<strong>165</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!