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Der Arztvertrag, insbesondere die Haftung des Arztes

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Wolfgang Wiegand<br />

Dr. iur., Professor an der Universität Bern<br />

<strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>,<br />

<strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Unverkäuflicher Sonderdruck aus<br />

Arzt und Recht<br />

Berner Tage für <strong>die</strong> juristische Praxis 1984,<br />

veranstaltet von der Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Bern<br />

Verlag Stämpfli & Cie AG Bern • 1985


gl<br />

Prof. Dr. WOLFGANG WIEGAND<br />

<strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> *<br />

Übersicht<br />

/. <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong><br />

A. Das Verhältnis Patient/Arzt als Rechtsverhältnis<br />

1. Schwierigkeiten der juristischen Qualifizierung ärztlichen Handelns<br />

2. Die spezielle Problematik der «freien Berufe»<br />

3. <strong>Arztvertrag</strong> als Auftrag<br />

B. Abschluss und Inhalt <strong>des</strong> <strong>Arztvertrag</strong>es<br />

1. Die Besonderheiten beim Vertragsschiuss zwischen Arzt und Patient<br />

2. Ermittlung und Konkretisierung <strong>des</strong> Vertragsinhaltes<br />

a) Berufsrechtlich bestimmter Vertragsinhalt<br />

b) Individuelle Vereinbarungen<br />

c) Auftragsrechtliche Pflichten<br />

3. Exkurs: Dokumentationspflicht und Einsichtsrecht<br />

4. Zusammenfassung<br />

//. Die <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

A. Die Problematik ärztlicher <strong>Haftung</strong><br />

1. Die Sorge der Mediziner<br />

2. Die Ratlosigkeit der Juristen<br />

3. Anforderungen an ein konsensfähiges <strong>Haftung</strong>skonzept<br />

B. <strong>Haftung</strong>sgrundlagen<br />

1. <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht<br />

2. <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Aufklärungspflicht<br />

3. Die ausservertragliche <strong>Haftung</strong><br />

4. Weitere <strong>Haftung</strong>sgrundlagen<br />

5. Die öffentlich-rechtliche <strong>Haftung</strong><br />

C. Schadensersatz wegen Sorgfaltsverstosses<br />

1. Schaden<br />

2. Vertragsverletzung<br />

a) Nichtbeachtung der gebotenen und geschuldeten Sorgfalt<br />

b) Die Frage nach dem medizinisch «Richtigen»<br />

* Die Vortragsform wurde im wesentlichen beibehalten, um <strong>die</strong> Verständlichkeit für Mediziner<br />

und andere Nicht-Juristen zu wahren. Die wichtigste Judikatur und Literalur ist am Ende<br />

zusammengestellt: dort aufgeführte Titel werden nur in Kurzform zitiert, <strong>die</strong> Nachweise sind im<br />

übrigen auf das Notwendigste beschränkt. - Meiner Assistentin. Fürsprecherin F. Buchli-Schneider.<br />

schulde ich Dank für <strong>die</strong> Unterstützung bei der Vorbereitung und Ausarbeitung.


82 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

c) Objektive Beurteilung <strong>des</strong> Sorgfaltsverstosses<br />

d) Fazit<br />

3. Kausalität und Beweislast<br />

a) Eingetretene Schädigung als Folge einer Pflichtverletzung<br />

b) Nachweis der Kausalität<br />

c) Zusammenfassung<br />

d) Fazit<br />

4. Verschulden und Beweislast<br />

D. Schadenersatz wegen fehlender oder ungenügender Aufklärung<br />

1. Tendenz in Richtung eines Ausweich- und Auffangtatbestan<strong>des</strong><br />

2. Die Aufklärungspflicht als Ausfluss <strong>des</strong> allgemeinen Persönlichkeitsrechtes oder<br />

<strong>des</strong> Deliktsrechtes<br />

3. <strong>Der</strong> Rechtswidrigkeitszusammenhang und <strong>die</strong> Beweislast<br />

a) Mündliche Aufklärung oder Aufklärung durch Formulare<br />

b) Angemessene Verteilung der Beweislast<br />

IV. Resümee und Ausblick<br />

I. <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong><br />

A. Das Verhältnis Patient/Arzt als Rechtsverhältnis<br />

1. Schwierigkeiten der juristischen Qualifizierung ärztlichen Handelns<br />

Die Beziehungen zwischen Arzt und Patient lassen sich - das haben <strong>die</strong> bisherigen<br />

Vorträge und Diskussionen mit aller Deutlichkeit gezeigt 1 - nur<br />

schwer mit rechtlichen Kategorien erfassen. Dies verwundert nicht; denn das<br />

Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist nicht in erster Linie ein rechtliches.<br />

Im Vordergrund stehen vielmehr ganz andere Aspekte und Motive. In<strong>des</strong>sen<br />

ist eine derartige Situation für Juristen nicht völlig ungewöhnlich. Auch bei<br />

der Gründung einer Gesellschaft überlagern wirtschaftliche Gesichtspunkte<br />

und <strong>die</strong> menschlichen Beziehungen der Beteiligten <strong>die</strong> rechtlichen Elemente<br />

sehr häufig. Es gibt aber wohl nur ein Rechtsverhältnis, das im Hinblick auf<br />

<strong>die</strong> Intensität der menschlichen Beziehungen und in seiner Komplexität dem<br />

Arzt/Patienten-Verhältnis vergleichbar ist, nämlich <strong>die</strong> Ehe; bekanntlich sind<br />

wir Juristen auch dort in einer unglücklichen Lage: Wenn <strong>die</strong> Ehe funktioniert,<br />

braucht man keine Rechtsregeln; wenn sie nicht funktioniert, können<br />

Rechtsregeln nicht viel helfen. Vor einer ganz ähnlichen Situation stehen wir<br />

im Arztrecht: Zum Rückgriff auf das Recht kommt es immer erst dann, wenn<br />

1 Vgl. <strong>insbesondere</strong> ZINK in <strong>die</strong>sem Buch S. 17ff sowie <strong>die</strong> Diskussion zum Referat von ARZT.<br />

S. 73 ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 83<br />

das Verhältnis zwischen Arzt und Patient gestört ist - und dann zeigt sich<br />

auch hier <strong>die</strong> Unvollkommenheit der rechtlichen Regelungsmechanismen.<br />

Das darf freilich nicht dazu führen, dass wir resignieren. Denn ebenso wie<br />

bei einer gescheiterten Ehe <strong>die</strong> gesetzlichen Regeln ein unzulängliches, aber<br />

unverzichtbares Hilfsmittel sind, müssen gesetzliche und vertragliche Regeln<br />

über das Verhältnis Arzt/Patient als Hilfsregeln für einen Krisenfall betrachtet<br />

werden. Als solche sind sie allerdings wichtig und unentbehrlich, und gerade<br />

weil sie so wichtig sind, muss der Versuch unternommen werden, <strong>die</strong>se<br />

Regeln so auszugestalten, dass sie dem komplexen und von menschlichen Beziehungen<br />

beherrschten Rechtsverhältnis Arzt/Patient möglichst gerecht werden.<br />

2. Die spezielle Problematik der «freien Berufe» 2<br />

Ein erstes und zentrales Problem liegt darin, dass es bereits grosse Schwierigkeiten<br />

bereitet, mit traditionellen juristischen Kategorien <strong>die</strong> vom Arzt zu erbringende<br />

Leistung zu erfassen. Denn der Arzt handelt ja nicht primär, um<br />

eine vertragliche Schuld zu erfüllen, sondern in Erfüllung seiner beruflichen<br />

(und ethischen) Pflicht, den Kranken zu helfen. Dabei handelt es sich um<br />

eine generelle und meta juristisch begründete Pflicht. Hinter ihr und gewissermassen<br />

durch sie verdeckt besteht aber gegenüber jedem einzelnen Patienten,<br />

mit dem ein Behandlungsvertrag zustande kommt, eine konkrete Pflicht,<br />

dem individuellen Kranken zu helfen. Bei der Einordnung <strong>die</strong>ser Vertragspflicht<br />

ergeben sich ähnliche Probleme wie bei andern traditionellerweise sogenannten<br />

«freien» Berufen. Auch beim Rechtsanwalt, Treuhänder oder<br />

Steuerberater liegt <strong>die</strong> Schwierigkeit darin, dass sich das Erscheinungsbild<br />

der beruflichen Tätigkeit von den üblichen Vertragsleistungen unterscheidet.<br />

So wird normalerweise ein Vertrag geschlossen, um ein bestimmtes Ergebnis<br />

zu erreichen, das wir als <strong>die</strong> «geschuldete Leistung» bezeichnen. In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne schuldet der Verkäufer <strong>die</strong> Verschaffung von Eigentum, der Vermieter<br />

<strong>die</strong> Überlassung <strong>des</strong> Mietobjekts und <strong>die</strong> andere Vertragspartei <strong>die</strong> Zahlung<br />

<strong>des</strong> Kaufpreises oder <strong>des</strong> Mietzinses. Während der Klient <strong>des</strong> Anwalts oder<br />

der Patient <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> sich in bezug auf das Entgelt in einer dem Mieter oder<br />

Käufer vergleichbaren Situation befindet, unterscheidet sich <strong>die</strong> Leistung seines<br />

Vertragspartners in grundsätzlicher Weise von den sogenannten Austauschverträgen.<br />

<strong>Der</strong> Arzt, Anwalt oder Treuhänder verspricht nicht ein bestimmtes Ergebnis<br />

oder einen Erfolg, sondern allein <strong>die</strong> ordnungsgemässe Ausführung einer<br />

Tätigkeit. Die Leistung besteht hier also in einem bestimmten Verhalten, und<br />

1 Vgl. etwa GAUTSCHI. N 27ff. zu OR 394.


84 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

zwar - unjuristisch ausgedrückt - in einem Verhalten nach bestem Wissen<br />

und Gewissen. Das bedeutet nichts anderes als dass derjenige, der einen <strong>die</strong>ser<br />

Berufe ausübt, gewissermassen garantiert, dass er über <strong>die</strong> nötige Sachkunde<br />

verfügt, <strong>die</strong> beruflichen Standards gewährleisten und <strong>die</strong> Berufspflichten<br />

beachten wird. In Anbetracht <strong>des</strong> spezifischen Erscheinungsbilds <strong>die</strong>ser<br />

freien Berufe fällt es nicht leicht, ein Rechtsverhältnis zu finden, das den Besonderheiten<br />

<strong>die</strong>ser verhaltensorientierten Verträge gerecht wird. Dasjenige<br />

Vertragsverhältnis <strong>des</strong> Obligationenrechts, das <strong>die</strong>sen Anforderungen am<br />

ehesten zu genügen vermag, ist das Auftragsrecht, das <strong>des</strong>halb zum eigentlichen<br />

Recht der freien Berufe geworden ist.<br />

3. <strong>Arztvertrag</strong> als Auftrag 3<br />

Die besondere Eignung <strong>des</strong> Auftragsrechts für <strong>die</strong>se Funktion ergibt sich aus<br />

den geschichtlichen Grundlagen <strong>die</strong>ses Rechtsinstituts. Ich verzichte auf <strong>die</strong><br />

verlockende Perspektive eines rechtshistorischen Exkurses und halte nur einige<br />

wenige Punkte fest, <strong>die</strong> für das Verständnis und <strong>die</strong> Interpretation der<br />

Regelung im schweizerischen Obligationenrecht unentbehrlich sind: Das geltende<br />

Auftragsrecht basiert auf dem mandatum <strong>des</strong> römischen Rechts, das in<br />

seiner ursprünglichen Form <strong>die</strong> Erledigung von Dienstleistungen aller Art<br />

betraf. Das Rechtsinstitut hatte seine Wurzeln nicht so sehr im rechtlichen<br />

Bereich, es basierte vielmehr auf ausserrechtlichen Beziehungen, <strong>die</strong> ihre<br />

Grundlage wiederum in sozialen Bindungen verschiedenster Art hatten. Hieraus<br />

erklären sich <strong>die</strong> wesentlichen Merkmale <strong>des</strong> tra<strong>die</strong>rten Auftragsrechts,<br />

nämlich <strong>des</strong>sen grundsätzliche Unentgeltlichkeit und <strong>die</strong> freie Widerrufbarkeit.<br />

Nur vor <strong>die</strong>sem Hintergrund ist auch <strong>die</strong> besondere Hervorhebung der<br />

Treue- und Sorgfaltspflichten in Art. 398 OR verständlich. Indem der schweizerische<br />

Gesetzgeber von dem überkommenen Modell <strong>des</strong> unentgeltlichen<br />

Auftrags abgewichen ist und gemäss Art. 394 Abs. 3 prinzipiell von der Entgeltlichkeit<br />

ausgeht, ist dem historisch vorgeprägten Inhalt <strong>des</strong> Rechtsinstituts<br />

weitgehend der Boden entzogen worden. Für einen entgeltlichen Auftrag<br />

versteht sich <strong>die</strong> Sorgfaltspflicht von selbst, und ob der Treuepflicht eine gegenüber<br />

anderen Rechtsverhältnissen gesteigerte Bedeutung zukommt, kann<br />

sich nur aus dem Inhalt <strong>des</strong> konkreten Rechtsverhältnisses, nicht aber aus<br />

seiner Zuordnung zum Auftragsrecht schlechthin ergeben 4 .<br />

Dies vorausgeschickt, kann man versuchen, auf der Grundlage <strong>des</strong> Auftragsrechts<br />

den <strong>Arztvertrag</strong> rechtlich zu erfassen. Schwierigkeiten bereitet<br />

aber nicht nur <strong>die</strong> Einordnung der Arzt/Patient-Beziehung in das Vertragssy-<br />

J Vgl. GAUTSCHI. N 40a ZU OR 394: LOEFFLER. S. 5 ff.: OTT. S. 23 ff.<br />

• Dazu mit Nachweisen KOLLER-TUMLER. recht 1984. S.49ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 85<br />

stem; vielmehr ergeben sich aus der Besonderheit <strong>die</strong>ser Beziehung auch Probleme<br />

bei der Frage, wie das Vertragsverhältnis zustande kommt und wie sein<br />

Inhalt zu bestimmen ist.<br />

B. Abschluss und Inhalt <strong>des</strong> <strong>Arztvertrag</strong>es<br />

1. Die Besonderheiten beim Vertragsschluss zwischen Arzt und Patient 5<br />

Nach der Modellvorstellung unseres Obligationenrechts kommt ein Vertrag<br />

dadurch zustande, dass sich <strong>die</strong> Parteien über alle wesentlichen Punkte einigen.<br />

Diesen sogenannten Konsens erzielen sie nach der Konzeption <strong>des</strong> Gesetzes<br />

dadurch, dass der eine eine Offerte unterbreitet und der andere sie annimmt.<br />

Dieses Bild entspricht jedoch weder der Theorie noch der Praxis.<br />

Theoretisch betrachtet beurteilt sich das Zustandekommen eines Vertrages<br />

ausschliesslich danach, ob <strong>die</strong> Parteien untereinander Einverständnis und damit<br />

Konsens über ihre wechselseitigen Verpflichtungen erzielt haben. Die Art<br />

und Weise der Einigung zwischen den Parteien tritt hinter <strong>die</strong> Tatsache <strong>die</strong>ses<br />

Einverständnisses selbst zurück. So lässt sich denn auch bei vielen Geschäften<br />

<strong>des</strong> Alltags nicht feststellen, von wem <strong>die</strong> Offerte kam und wer <strong>die</strong><br />

Annahmeerklärung abgegeben hat oder ob überhaupt derartige Erklärungen<br />

ausgetauscht wurden. Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass zwischen<br />

den Parteien der notwendige Konsens erzielt wurde.<br />

Entspricht also schon bei vielen Erscheinungen der alltäglichen Vertragspraxis<br />

das traditionelle Leitbild nicht der Realität, so gilt <strong>die</strong>s um so mehr<br />

beim <strong>Arztvertrag</strong>. Gewiss ist es denkbar, dass auch hier ein Vertragsschluss in<br />

ganz formaler Weise erfolgt, etwa wenn jemand einen Spezialisten aufsucht,<br />

um sich wegen einer kosmetischen Operation beraten zu lassen, und nach erfolgter<br />

Konsultation den Auftrag zur Durchführung der Operation erteilt. In<strong>des</strong>sen<br />

wird sich der Normalfall ganz anders abspielen. <strong>Der</strong> Patient kommt<br />

nicht zum Arzt und sagt: «Hiermit offeriere ich Ihnen einen Vertragsschluss<br />

zur Entfernung meines Blinddarms.» Vielmehr begibt er sich zum Arzt und<br />

schildert ihm seine Beschwerden. Man spricht nicht darüber, dass man einen<br />

Vertrag schliessen will, sondern darüber, wie man <strong>die</strong>se Beschwerden beseitigen<br />

oder lindern kann. Nun ist es für uns Juristen eine geläufige Erscheinung,<br />

dass Verträge ohne ausdrückliche Absprache geschlossen werden;<br />

denn das Gesetz sieht sogar in Art. 1 Abs. 2 OR <strong>die</strong> Möglichkeit vor, dass sich<br />

der Vertragsschluss ohne ausdrückliche Erklärungen aus dem Verhalten der<br />

Patienten ergeben kann, sofern <strong>die</strong>ses den Willen zum Vertragsschluss deut-<br />

5 Vgl. GAUTSCHI, N 2e zu OR 396; OTT. S.27; SCHROEDER. S.30.


86 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

lieh erkennen lässt. Ein solches «schlüssiges Verhalten» dürfte bei der Begründung<br />

<strong>des</strong> Rechtsverhältnisses zwischen Arzt und Patient <strong>die</strong> Regel sein.<br />

Das eigentliche Problem derartiger Vertragsschlüsse durch konkludentes Verhalten<br />

liegt jedoch nicht im Zustandekommen <strong>des</strong> Vertrages selber, sondern<br />

in der Bestimmung seines Inhalts. Nimmt etwa der Kunde im Selbstbe<strong>die</strong>nungsladen<br />

Waren aus dem Regal und legt sie auf das Förderband an der<br />

Kasse, so ist er sich mit der Verkäuferin ohne jeden Wortwechsel darüber einig,<br />

dass Übereignung der Ware und Bezahlung <strong>des</strong> Kaufpreises Inhalt <strong>des</strong><br />

Vertrages sind. Ganz ähnlich verläuft äusserlich der Vertragsschluss beim<br />

Arzt, jedoch ergibt sich hier der Vertragsinhalt nicht ohne weiteres. Zwar<br />

werden Worte gewechselt, <strong>die</strong>se betreffen jedoch kaum den eigentlichen Vertragsinhalt.<br />

Dieser muss <strong>des</strong>halb häufig erst im Wege der Interpretation festgestellt<br />

werden.<br />

2. Ermittlung und Konkretisierung <strong>des</strong> Vertragsinhaltes<br />

a) Berufsrechtlich bestimmter Vertragsinhalt<br />

Einen ersten Anhaltspunkt gibt das Auftragsrecht selbst. Da das Fehlen näherer<br />

Absprachen über <strong>die</strong> Durchführung <strong>des</strong> Auftrags für <strong>die</strong>ses Rechtsinstitut<br />

typisch ist, enthält das Gesetz in Art.396 OR eine AUslegungsregel: «Ist<br />

der Umfang <strong>des</strong> Auftrags nicht ausdrücklich bezeichnet worden, so bestimmt<br />

er sich nach der Natur <strong>des</strong> zu besorgenden Geschäftes.» Zwar bezieht sich<br />

<strong>die</strong> Vorschrift primär auf den Umfang der zu erledigenden Geschäfte, <strong>die</strong>ser<br />

lässt sich aber weder begrifflich noch tatsächlich vom Inhalt <strong>des</strong> übertragenen<br />

Geschäftes trennen. <strong>Der</strong> Sinn der Auslegungsregel ist darin zu sehen, <strong>die</strong><br />

von den Parteien nicht näher spezifizierten, vom Beauftragten durchzuführenden<br />

Handlungen zu konkretisieren. Das soll dadurch geschehen, dass<br />

man auf «<strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> zu besorgenden Geschäftes» abstellt. In<strong>des</strong>sen stellt<br />

sich sogleich <strong>die</strong> Frage, was als «Natur» <strong>des</strong> ärztlichen Handelns gelten soll.<br />

Immerhin könnte man - wie bei anderen Berufen auch - annehmen, dass bei<br />

einer fehlenden Absprache der Beauftragte <strong>die</strong>jenigen Massnahmen und<br />

Handlungen vornehmen darf und muss, <strong>die</strong> bei einer Erkrankung <strong>die</strong>ser Art<br />

üblich und geboten sind. Was aber üblich, notwendig oder tunlich ist, bestimmt<br />

sich nicht nach juristischen, sondern nach medizinischen Kriterien.<br />

Auch <strong>die</strong>se Erscheinung beschränkt sich jedoch nicht auf das Arztrecht, sie<br />

taucht vielmehr bei allen denjenigen Verträgen auf, deren Inhalt durch besondere<br />

berufsspezifische Merkmale geprägt ist: Immer dann und überall<br />

dort, wo der eine Vertragspartner <strong>die</strong> Sachkunde <strong>des</strong> anderen, seine speziellen<br />

Kenntnisse und damit berufstypische Leistungen in Anspruch nimmt, lässt sich<br />

der Vertragsinhalt nur abstrakt beschreiben; geschuldet ist dann das Vorgehen


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 87<br />

nach den Standards <strong>die</strong>ses Berufs. Bei <strong>die</strong>ser - auch im nicht-medizinischen<br />

Bereich häufig vorzufindenden - Konstellation spricht man <strong>des</strong>halb von «berufsrechtlich<br />

vorgeprägtem Vertragsinhalt» - eine Formel, mit der der Tatbestand<br />

umschrieben werden soll, dass beim Abschluss eines Vertrages <strong>die</strong>ser<br />

Art <strong>die</strong> berufsspezifischen Elemente auch ohne ausdrückliche Abrede Vertragsinhalt<br />

werden 6 . In<strong>des</strong>sen beschränken sich <strong>die</strong> Konsequenzen nicht auf den<br />

Vertragsinhalt allein, sondern darüber hinaus «wird dem Umstand, dass der<br />

Vertrag von einem Berufsangehörigen geschlossen worden ist, von den Gerichten<br />

in vielfältiger Weise Rechnung getragen, bei der Bestimmung der<br />

Rechte und Pflichten aus dem Vertrag, bei der Zuweisung von Risiken und<br />

Verantwortungsbereichen ... bei der Bemessung <strong>des</strong> Verschuldens, bei der<br />

Verteilung der Beweislast». Das bedeutet jedoch nichts anderes, als dass das<br />

gesamte Rechtsverhältnis durch <strong>die</strong> berufsrechtliche Stellung <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> in<br />

allen wesentlichen Punkten entscheidend beeinflusst wird.<br />

Beschränkt man sich zunächst auf <strong>die</strong> hier interessierende Frage <strong>des</strong> Vertragsinhalts,<br />

so ergibt sich daraus folgen<strong>des</strong>: Auch ohne besondere Abreden<br />

schuldet der Arzt also ein Vorgehen nach den Regeln der ärztlichen Kunst.<br />

Diese beziehen sich jedoch nur auf <strong>die</strong> eigentlich medizinische Leistung, sie<br />

werden ergänzt durch <strong>die</strong> allgemeinen auftragsrechtlichen Pflichten, <strong>die</strong> jeden<br />

Beauftragten treffen und ebenfalls ohne besondere Abrede Vertragsinhalt<br />

werden; das heisst, der Arzt muss nicht nur nach den Standards seines<br />

Berufes handeln, sondern er muss wie jeder andere Beauftragte alle Sorgfalts-<br />

und Treuepflichten beachten. Noch anders ausgedrückt: er schuldet neben<br />

dem Handeln als Arzt auch das Verhalten eines sorgfältig handelnden<br />

Beauftragten (s.u. c).<br />

b) Individuelle Vereinbarungen<br />

Versucht man nun <strong>die</strong>se sehr abstrakten Betrachtungen zu konkretisieren, so<br />

ergibt sich im Einzelfalle etwa folgen<strong>des</strong> Bild: <strong>Der</strong> Patient erscheint beim<br />

Arzt und schildert seine gesundheitlichen Probleme und Beschwerden. Daraufhin<br />

leitet der Arzt <strong>die</strong> für geboten gehaltenen Massnahmen ein. Auf <strong>die</strong>se<br />

Weise kommt zwischen Arzt und Patient ein Behandlungsvertrag zustande.<br />

Die vom Arzt vorzunehmenden Massnahmen bestimmen sich nach den zuvor<br />

entwickelten Grundsätzen, wobei jedoch hervorzuheben ist, dass an allererster<br />

Stelle selbstverständlich individuelle Weisungen und Wünsche <strong>des</strong> Patienten<br />

stehen. Kommt z. B. ein Patient zu einem Arzt mit der ausdrücklichen<br />

Bitte, einen Heuschnupfen im Wege der Akupunktur zu behandeln, so kann<br />

und sollte der Arzt möglicherweise vorhandene eigene Bedenken gegen <strong>die</strong>-<br />

* HOFT. Nichtvertragliche <strong>Haftung</strong> ... Zur Theorie und Dogmatik <strong>des</strong> Berufsrechts und zur Berufshaftung,<br />

Archiv für <strong>die</strong> civilistische Praxis. AcP 183 (1983) 608. Zitat 684.


88 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

sen Weg vortragen, er ist jedoch nicht verpflichtet, dem Patienten statt der gewünschten<br />

Behandlung eine traditionelle Behandlung, z.B. durch Verabreichung<br />

von Cortison-Präparaten, aufzudrängen. In<strong>des</strong>sen werden derart spezifische<br />

Wünsche eines Patienten <strong>die</strong> Ausnahme bilden. Fehlen solche Instruktionen<br />

oder beschränkt sich der Patient auf ganz allgemeine Hinweise,<br />

so entsteht das in der Literatur neuerdings sogenannte «Behandlungsprogramm»<br />

in der oben dargestellten Weise. Zu den unverzichtbaren Bestandteilen<br />

rechnet man etwa <strong>die</strong> Anamnese, <strong>die</strong> Diagnose und den Therapieentscheid.<br />

Vor der Durchführung der Therapie kommt als nächster Schritt <strong>die</strong> -<br />

im Laufe der Tagung schon heftig diskutierte - Aufklärung und nach erfolgter<br />

Aufklärung <strong>die</strong> Durchführung der Therapie. Ein wesentliches Element einer<br />

sorgfältigen Behandlung stellt schliesslich <strong>die</strong> Kontrolle dar, <strong>die</strong> <strong>insbesondere</strong><br />

auch bei ambulanter Behandlung zu den vertraglichen Verpflichtungen<br />

<strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> gehört 7 .<br />

Sämtliche <strong>die</strong>ser Massnahmen sind mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen.<br />

Dies ergibt sich sowohl aus der ärztlichen Berufsethik als auch aus<br />

der Tatsache, dass es bei all <strong>die</strong>sen Massnahmen um <strong>die</strong> ordnungsgemässe<br />

Erfüllung eines obligationenrechtlichen Auftragsverhältnisses geht.<br />

c) Auftragsrechtliche Pflichten<br />

Aus <strong>die</strong>sem Auftragsverhältnis ergibt sich nun noch eine dritte Gruppe von<br />

Pflichten, <strong>die</strong> nach den individuellen Weisungen <strong>des</strong> Patienten und den berufstypischen<br />

ärztlichen Pflichten folgt: <strong>die</strong> vertragstypischen Pflichten <strong>des</strong><br />

Beauftragten, wie etwa <strong>die</strong> Pflichten zur Verschwiegenheit oder zur Rechenschaftslegung.<br />

Im Zusammenhang mit der Arzthaftung kommt letzterer besondere<br />

Bedeutung zu. Schon aus ärztlicher Sicht ist <strong>die</strong> sorgfältige Führung<br />

der sogenannten Krankengeschichte eine Selbstverständlichkeit. Aus obligationenrechtlicher<br />

Sicht ergibt sie sich gemäss Art. 400 OR aus dem Auftragsrecht:<br />

denn jeder Beauftragte schuldet seinem Auftraggeber Rechenschaft.<br />

Diese Rechenschaftspflicht betrifft nicht nur <strong>die</strong> schlichte Rechnungslegung,<br />

sondern <strong>die</strong> ordnungsgemässe Aufzeichnung aller wesentlichen Massnahmen<br />

<strong>des</strong> Bauftragten und ihr korrespon<strong>die</strong>rt ein Kontrollrecht <strong>des</strong> Auftraggebers.<br />

Wann und in welchem Umfang der Patient als Auftraggeber <strong>die</strong>ses Recht<br />

ausüben kann, ist umstritten. Gerade im Hinblick auf <strong>die</strong> darüber im Verlaufe<br />

der Tagung entbrannte Diskussion möchte ich schon an <strong>die</strong>ser Stelle<br />

meine persönliche Auffassung dazu äussern, um später nicht darauf zurückkommen<br />

zu müssen.<br />

' Siehe dazu im einzelnen OTT. S. 26 ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 89<br />

3. Exkurs: Dokumentatiunspflicht und Einsichtsrecht 8<br />

Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass Unterlagen über <strong>die</strong> Behandlung<br />

als Ganzes geführt werden müssen. Diese Pflicht ist soeben durch das neue<br />

bernische Gesundheitsgesetz als öffentlich-rechtliche Verpflichtung 9 konstituiert<br />

worden, sie besteht aber unabhängig davon aufgrund <strong>des</strong> Obligationenrechts.<br />

Unvollständigkeit oder gänzliches Fehlen einer Krankengeschichte stellen<br />

infolge<strong>des</strong>sen eine Vertragsverletzung dar. Das ist <strong>des</strong>halb besonders wichtig,<br />

weil sich hieraus Konsequenzen für <strong>die</strong> Beweislage ergeben. Wenn nämlich<br />

der Arzt keine oder keine ausreichende Krankengeschichte aufgezeichnet<br />

hat, kann <strong>die</strong>s für <strong>die</strong> Verteilung der Beweislast nicht ohne Folgen bleiben;<br />

ein Punkt, auf den ich später zurückkommen werde' 0 .<br />

Die zweite Frage ist <strong>die</strong> nach dem Einsichtsrecht. Aus der obligationenrechtlichen<br />

Grundlage <strong>des</strong> Art. 400 OR ergibt sich mit Selbstverständlichkeit,<br />

dass der Auftraggeber ein Kontrollrecht hat, welches ihn auch befugt, Einsicht<br />

in <strong>die</strong> Unterlagen <strong>des</strong> Bauftragten zu nehmen. Zum bernischen Gesundheitsgesetz<br />

soll ein Dekret über <strong>die</strong> Patientenrechte erlassen werden, in dem<br />

nach Presseberichten ebenfalls ein Einsichtsrecht der Patienten enthalten<br />

sein soll. Die eigentliche Frage scheint mir auch nicht darin zu liegen, ob ein<br />

Einsichtsrecht überhaupt, sondern nur wann und in welchem Umfang <strong>die</strong>ses<br />

Einsichtsrecht besteht.<br />

Nach meiner Meinung ist bezüglich <strong>des</strong> Einsichtsrechts zwischen zwei Phasen<br />

zu unterscheiden, nämlich der Behandlungsphase und der Zeit nach abgeschlossener<br />

Behandlung. Während der Behandlungsphase hat der Patient<br />

kein Einsichtsrecht in <strong>die</strong> Krankengeschichte und <strong>die</strong> sonstigen Unterlagen.<br />

Diese Auffassung beruht nicht auf einer Geringschätzung der Rechte <strong>des</strong> Patienten,<br />

sondern auf praktischen Erwägungen. Ein jederzeitiges Einsichtsrecht<br />

<strong>des</strong> Patienten würde nur dazu führen, dass eine Art doppelte Krankengeschichte<br />

geführt würde. Eine für den Patienten und eine für den Arzt; man<br />

könnte auch sagen eine externe und eine interne Krankengeschichte. Persönliche<br />

Eindrücke und kritische Bemerkungen würden dann automatisch in <strong>die</strong><br />

nicht für den Patienten bestimmten Aufzeichnungen eingeordnet. Denn welcher<br />

Arzt möchte oder könnte es riskieren, dass der Patient noch während er<br />

• Vgl. BUCHER, Diss. S. 190ff; OTT, S.43ff.; SCHROEDER, S.38ff.<br />

'Siehe Art. 20 <strong>des</strong> bernischen Gesundheitsgesetzes vom 16. Februar 1984:<br />

«4.2 Aufzeichnungspflicht<br />

Art.20 'Die Ärzte. Zahnärzte, Apotheker, Hebammen. Chiropraktoren und Psychotherapeuten<br />

haben über ihre Berufstätigkeit fortlaufend Aufzeichnungen zu führen. Die Aufzeichnungen<br />

müssen das Wesentliche über ihre Feststellungen und Massnahmen enthalten.<br />

2 Die Aufzeichnungen sind während min<strong>des</strong>tens 10 Jahren, in öffentlichen Institutionen während<br />

min<strong>des</strong>tens 20 Jahren aufzubewahren.<br />

J <strong>Der</strong> Regierungsrat kann weitere Berufe der Aufzeichnungspflicht unterstellen.»<br />

'»Siehe unten S. 102.


90 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

sich Notizen macht, bereits Einblick in <strong>die</strong>se verlangt. Schon eine Bemerkung<br />

wie «<strong>Der</strong> Patient wirkt gereizt und übernervös» könnte dann zum Stein <strong>des</strong><br />

Anstosses werden.<br />

Mir scheint es <strong>des</strong>halb vernünftiger, ein Einsichtsrecht erst nach Abschluss<br />

der Behandlung zu gewähren. Das bedeutet keine Verkürzung der Rechte <strong>des</strong><br />

Patienten; denn ein solches Einsichtsrecht wird er sowieso nur dann ausüben<br />

wollen, wenn sein Vertrauen zum Arzt durch irgendwelche Umstände erschüttert<br />

worden ist. Verweigert der Arzt daraufhin <strong>die</strong> Einsichtsnahme, so<br />

dürfte das gegenseitige Vertrauen dadurch endgültig zerstört werden. Unter<br />

<strong>die</strong>sen Umständen haben beide Parteien <strong>die</strong> Möglichkeit, den gemäss<br />

Art. 404 OR frei widerrufbaren Vertrag zu beenden. Jetzt muss der Arzt im<br />

Sinne <strong>des</strong> Art. 400 OR Rechenschaft über <strong>die</strong> Behandlung ablegen, und dem<br />

Patienten Einblick in <strong>die</strong> Krankengeschichte gewähren. Er hat jedoch das<br />

meines Erachtens selbstverständliche Recht, Aufzeichnungen persönlicher<br />

Art und subjektive Eindrücke, <strong>die</strong> notgedrungen in <strong>die</strong> Krankengeschichte<br />

einfliessen, entfallen zu lassen. Besteht ein derartiger Wunsch auf Seiten <strong>des</strong><br />

<strong>Arztes</strong>, so ist er zu respektieren". Kommt es über <strong>die</strong> ausgelassenen Teile der<br />

Krankengeschichte zum Streit, so ist sie einer unbeteiligten Drittperson, sei<br />

es einem medizinischen oder juristischen Sachverständigen vorzulegen. Nur<br />

ein derart kompliziertes Vorgehen ermöglicht es, <strong>die</strong> Persönlichkeitsrechte<br />

sowohl <strong>des</strong> Patienten als auch <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> zu berücksichtigen und <strong>die</strong> vertraglichen<br />

Verpflichtungen bezüglich der Aufzeichnungen Und der Rechenschaftspflicht<br />

<strong>des</strong> Beauftragten in angemessener Weise zu erfüllen.<br />

Zur Dokumentationspflicht <strong>des</strong> Beauftragten gehört jedoch nicht nur <strong>die</strong><br />

Aufzeichnung der Krankengeschichte, sondern auch <strong>die</strong> Aufbewahrung sämtlicher<br />

Untersuchungsergehnisse, wie z. B. Röntgenbilder, EKG, Blutbilder<br />

oder sonstiger Laborbefunde. Auch <strong>die</strong>se Pflicht ist heute weitgehend auch<br />

im öffentlichen Recht verankert. So enthält der Art. 20 <strong>des</strong> neuen bernischen<br />

Gesundheitsgesetzes ausdrücklich <strong>die</strong> Verpflichtung der Ärzte fest, <strong>die</strong> Behandlungsunterlagen<br />

min<strong>des</strong>tens zehn, in vielen Fällen bis zu zwanzig Jahren<br />

aufzubewahren' 2 . <strong>Der</strong> Patient hat selbstverständlich das Recht, <strong>die</strong>se Unterlagen<br />

einzusehen, und er kann sie - auch <strong>die</strong>s ist meines Erachtens zweifelsfrei<br />

- herausverlangen. Daraus ergeben sich jedoch zwei Probleme: Einmal<br />

stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob mit einer eventuellen Herausgabe der Unterlagen an<br />

den Patienten <strong>die</strong> Aufbewahrungspflicht <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> erlischt. Nach obligationenrechtlichen<br />

Grundsätzen wäre <strong>die</strong>s meines Erachtens zu bejahen. Soweit<br />

aber öffentlich-rechtliche Vorschriften eine Aufbewahrung vorschreiben,<br />

kann <strong>die</strong> Herausgabe an den Patienten <strong>die</strong>se Pflicht nicht beeinträchtigen<br />

11 Ob und inwieweit der Arzt insoweit Schutz beanspruchen kann, ist sehr umstritten, dazu etwa<br />

Ort, S.45.<br />

1! Vgl. Text in Anm.9.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 91<br />

oder aufheben. Unter <strong>die</strong>sen Umständen erscheint es mir angemessen, wie<br />

folgt vorzugehen: <strong>Der</strong> aufbewahrungspflichtige Arzt muss von den Unterlagen<br />

Fotokopien oder sonstige Duplikate erstellen und <strong>die</strong>se dem Patienten<br />

herausgeben. Die Kosten hat der Patient, gegebenenfalls <strong>die</strong> Krankenkasse<br />

zu tragen. Dieses Vorgehen halte ich für <strong>die</strong> einzige Möglichkeit, den Konflikt<br />

zu lösen, der sich aus der Aufbewahrungspflicht <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> einerseits<br />

und dem Herausgaberecht <strong>des</strong> Patienten andererseits ergibt.<br />

Dadurch entschärft sich auch <strong>die</strong> heikle sachenrechtliche Problematik, wer<br />

Eigentümer der Unterlagen sei. Es ist nämlich zumin<strong>des</strong>t fraglich, ob <strong>die</strong> verbreitete<br />

Praxis grosser Spitäler und medizinischer Institute einer Überprüfung<br />

standhält, wonach etwa durch den Aufdruck auf Röntgenaufnahmen<br />

«Eigentum <strong>des</strong> X-Spitals» <strong>die</strong> sachenrechtliche Lage geklärt werden soll.<br />

Eine eigentliche Lösung <strong>des</strong> Problems kann auch gar nicht von einem sachenrechtlichen<br />

Ansatz her erfolgen. Vielmehr ist nach dem hier skizzierten<br />

Modell vorzugehen.<br />

4. Zusammenfassung<br />

Ich komme damit zu dem eigentlichen Hauptpunkt, nämlich dem Inhalt <strong>des</strong><br />

<strong>Arztvertrag</strong>es, zurück und fasse wie folgt zusammen: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong> ist als<br />

Auftrag im Sinne <strong>des</strong> Obligationenrechts mit allen damit verbundenen Konsequenzen<br />

zu qualifizieren. Im Mittelpunkt <strong>die</strong>ses Rechtsverhältnisses steht<br />

der Behandlungsauftrag <strong>des</strong> Patienten an den Arzt. Dieser ist, sofern er nicht<br />

ganz individuell konkretisiert wird, gemäss den berufsspezifischen Standards<br />

auszuführen. Das heisst nichts anderes, als dass <strong>die</strong> ärztlichen Handlungen<br />

nach medizinischen Regeln und Massstäben zu erfolgen haben, dass darüber<br />

hinaus aber <strong>die</strong> allgemeine Sorgfaltspflicht und <strong>die</strong> vertragstypischen Pflichten<br />

<strong>die</strong> vom Arzt geschuldete vertragsgemässe Leistung umreissen; weicht er<br />

in irgendeinem Punkt von <strong>die</strong>sen Pflichten ab, so stellt sich <strong>die</strong> Frage seiner<br />

<strong>Haftung</strong>, der ich mich nunmehr zuwende.<br />

II. Die <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

A. Die Problematik ärztlicher <strong>Haftung</strong><br />

Die Frage nach der <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> erweist sich als überaus komplex.<br />

Diese Komplexität hat ihre Ursache in der immer wieder hervorgehobenen<br />

Besonderheit <strong>des</strong> Arzt/Patienten-Verhältnisses und der unterschiedlichen<br />

Perspektive, aus der Juristen und Mediziner <strong>die</strong>ses Verhältnis betrachten. In-


92 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

folge<strong>des</strong>sen löst <strong>die</strong> Problematik der ärztlichen <strong>Haftung</strong> bei Medizinern und<br />

Juristen ganz unterschiedliche Reaktionen aus.<br />

1. Die Sorge der Mediziner<br />

Ärzte betrachten ihr Verhältnis zum Patienten in erster Linie als ein Vertrauensverhältnis.<br />

Sie befürchten, dass <strong>die</strong> Arzt/Patienten-Beziehung in zunehmendem<br />

Masse in den Hintergrund tritt und durch rechtliche Gesichtspunkte<br />

überlagert wird. Es geht bei <strong>die</strong>sen Befürchtungen nicht nur um <strong>die</strong><br />

Verrechtlichung <strong>des</strong> Vertrauensverhältnisses, sondern auch darum, dass der<br />

Arzt <strong>die</strong> Gefahr der <strong>Haftung</strong> wie ein Damoklesschwert über sich spürt und<br />

sein Verhalten gewollt oder ungewollt dadurch beeinflusst wird. Das kann<br />

dazu führen, dass sich der Arzt aus Angst vor Fehlern und ihren möglichen<br />

Folgen nicht mehr für <strong>die</strong>jenigen Massnahmen entscheidet, <strong>die</strong> er an sich für<br />

geboten hält. Diesen Zusammenhang umschreibt man üblicherweise mit dem<br />

(heute verbreiteten) Schlagwort von der defensiven Medizin. Eine derartige<br />

Zurückhaltung der Ärzte kann aber weder im Interesse <strong>des</strong> individuellen Patienten<br />

noch im Interesse der Allgemeinheit liegen, da sie sowohl <strong>die</strong> Risikobereitschaft<br />

<strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> bei der Heilung <strong>des</strong> einzelnen Patienten als auch <strong>die</strong><br />

Entwicklung der medizinischen Wissenschaft als Ganzes beeinträchtigt.<br />

Diese Bedenken bedürfen jedoch ihrerseits wiederum der Relativierung. Es<br />

gehört nämlich zu den selbstverständlichen und gerade beabsichtigten Konsequenzen<br />

von <strong>Haftung</strong>sregeln, dass <strong>die</strong> davon Betroffenen ihr Verhalten entsprechend<br />

regulieren. <strong>Haftung</strong>sregeln haben im juristischen System zumin<strong>des</strong>t<br />

auch <strong>die</strong> Funktion, <strong>die</strong> Betroffenen zur Beachtung der gebotenen Sorgfalt<br />

anzuhalten 13 . Infolge<strong>des</strong>sen stellt <strong>die</strong> Reaktion der Ärzte für den Juristen<br />

an sich keine Überraschung dar; sie ist vielmehr typisch und anderen Reaktionen<br />

ähnlich, <strong>die</strong> in vergleichbaren Situationen entstehen. Es ist bereits darauf<br />

hingewiesen worden, dass <strong>die</strong> Arzthaftung im Zusammenhang mit der generellen<br />

Ausbreitung <strong>des</strong> Konsumentenschutzes gesehen werden muss l4 . Gewissermassen<br />

als Symbol <strong>die</strong>ses Konsumentenschutzes gilt <strong>die</strong> Produktehaftpflicht.<br />

Die zunehmende Anerkennung und Ausdehnung der Produktehaftpflicht<br />

hat bei der Industrie Reaktionen ausgelöst, <strong>die</strong> denen der Ärzte<br />

durchaus gleichen. Auch hier wurde <strong>die</strong> Besorgnis geäussert, dass <strong>die</strong> sich<br />

ständig verschärfende Produktehaftpflicht <strong>die</strong> Risikobereitschaft hemmen<br />

und <strong>die</strong> Innovation praktisch ersticken würde. Die rasante Entwicklung gerade<br />

der amerikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren hat jedoch derar-<br />

" Vgl. dazu mit umfassenden Nachweisen: ADAMS. Ökonomische Analyse der Gefährdungsund<br />

Verschuldenshaftung. (Heidelberg 1985). S. 1 ff.<br />

14 Vgl. Tagungseröffnung. oben S. 14.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 93<br />

tige Bedenken auf schlagende Weise widerlegt oder zumin<strong>des</strong>t relativiert;<br />

denn obwohl <strong>die</strong> USA dasjenige Land mit der nach wie vor schärfsten Produktehaftpflicht<br />

sind, haben <strong>die</strong>se <strong>Haftung</strong>sregeln Innovation und Entwicklung<br />

nicht zu behindern vermocht. Dieses Beispiel unterstreicht vielmehr,<br />

dass <strong>Haftung</strong>sregeln zwar verhaltenssteuernd wirken, dass aber <strong>die</strong> Betroffenen<br />

sich letztlich in angemessener Weise auf <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong>sregeln einstellen.<br />

Für <strong>die</strong> Ärztehaftung ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Die<br />

Besorgnis der Mediziner ist verständlich; sie bedarf jedoch einer gewissen<br />

Relativierung aufgrund der Erfahrungen, <strong>die</strong> in angrenzenden und vergleichbaren<br />

Gebieten gemacht wurden. Die mit dem Schlagwort von der defensiven<br />

Medizin bezeichnete Gefahr darf <strong>des</strong>halb nicht überschätzt werden. Grösseres<br />

Gewicht haben meines Erachtens <strong>die</strong> Befürchtungen, dass eine zunehmende<br />

Verrechtlichung das Arzt/Patienten-Verhältnis belasten könne 15 .<br />

So verständlich und zum Teil sicher auch berechtigt <strong>die</strong> Sorgen der Ärzte<br />

also sind, sie entbinden den Juristen nicht davon, rechtliche Massstäbe an<br />

das ärztliche Handeln anzulegen. Das eigentliche Problem der Juristen liegt<br />

aber gerade darin, wie das ärztliche Handeln mit rechtlichen Massstäben<br />

gemessen werden kann.<br />

2. Die Ratlosigkeit der Juristen<br />

Die Schwierigkeiten, denen der Jurist bei der Beurteilung von Arzthaftungsfragen<br />

gegenübersteht, will ich an einem Beispiel verdeutlichen, das in letzter<br />

Zeit mehrfach <strong>die</strong> deutschen Gerichte beschäftigt hat; schlagwortartig spricht<br />

man von der nicht ermöglichten Abtreibung. Dabei handelt es sich um Fälle, in<br />

denen <strong>die</strong> Kläger dem Arzt vorhalten, dass er in der entscheidenden Phase<br />

der Schwangerschaft massgebliche Untersuchungen fehlerhaft oder überhaupt<br />

nicht durchgeführt und dadurch eine drohende Schädigung der Leibesfrucht<br />

nicht erkannt habe. So war in dem einen Fall 16 der behandelnde<br />

Arzt einem Verdacht auf Röteln-Erkrankung nicht mit der notwendigen Intensität<br />

nachgegangen, und das Kind kam schwerstgeschädigt zur Weit. In einem<br />

zweiten Fall 17 hatte der Arzt einer 39jährigen Schwangeren keinen Hinweis<br />

auf <strong>die</strong> Möglichkeit einer Fruchtwasseruntersuchung gegeben, <strong>die</strong> zur<br />

Entdeckung der mongoloiden Veranlagung der Leibesfrucht hätte führen<br />

können.<br />

Is Vgl. dazu SALADIN, in <strong>die</strong>sem Buch S. 147ff.<br />

14 Entscheidung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtshofs vom 18Januar 1983, (deutsche) Juristenzeitung (JZ)<br />

1983. S.447ff.. mit Anmerkung von DEUTSCH.<br />

"Entscheidung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtshofes vom 22.November 1983. JZ 1984. S.886. mit Anmerkung<br />

von DEUTSCH.


94 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Verstoss <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> den Eltern <strong>die</strong> Möglichkeit einer Abtreibung verwehrt<br />

habe. Dies impliziert einen zunächst verdeckten Vorwurf, der den Gerichten<br />

jedoch erhebliche Schwierigkeiten bereitete: Eine <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> kommt<br />

nämlich nur dann in Betracht, wenn man ihn für verpflichtet hält, Untersuchungen<br />

durchzuführen und über Möglichkeiten aufzuklären, deren Endergebnis<br />

eine Abtreibung darstellt. Verallgemeinert kann man <strong>die</strong> Frage dahin<br />

formulieren, ob überhaupt eine vertragliche Verpflichtung zur Aufklärung<br />

über <strong>die</strong> Möglichkeit, zur Vorbereitung, Mitwirkung oder Durchführung einer<br />

Abtreibung wirksam begründet werden kann. <strong>Der</strong> deutsche Bun<strong>des</strong>gerichtshof<br />

hat <strong>die</strong> Frage bejaht - nicht zuletzt <strong>des</strong>halb, weil andernfalls zwischen<br />

Arzt und Patient ein vertragsloser Zustand bestünde und damit Regelungen<br />

<strong>des</strong> Deliktsrechts zur Anwendung kommen könnten. Für <strong>die</strong> Schweiz<br />

wird man im Ergebnis <strong>die</strong>ser Auffassung zustimmen müssen 18 .<br />

<strong>Der</strong> deutsche Bun<strong>des</strong>gerichtshof ist jedoch nicht dabei stehengeblieben,<br />

sondern einen Schritt weitergegangen: Als nächstes ergibt sich nämlich <strong>die</strong><br />

Frage, ob bei anderem Verhalten <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> eine Abtreibung überhaupt<br />

durchgeführt worden wäre. <strong>Der</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtshof auferlegt dem Arzt <strong>die</strong> Beweislast<br />

dafür, dass <strong>die</strong> Patientin auch bei rechtzeitiger Information über <strong>die</strong><br />

Fehlentwicklung der Leibesfrucht keine Abtreibung hätte vornehmen lassen 1 ' 1 .<br />

Es geht hier nicht darum, <strong>die</strong>se Wertungen wiederum zu bewerten oder zu<br />

kritisieren, sodern darum aufzuzeigen, dass es sich um Wertungen handelt,<br />

noch dazu um Wertungen, <strong>die</strong> den Grenzbereich der Jurisprudenz berühren<br />

oder gar überschreiten.<br />

Noch deutlicher wird <strong>die</strong>se Problematik, wenn man nach Bejahung der<br />

vorausgegangenen Schritte zum eigentlichen Kernpunkt gelangt: der Frage<br />

nach dem Schaden. Wer ist durch <strong>die</strong> Geburt eines kranken Kin<strong>des</strong> geschädigt?<br />

In Betracht kommen <strong>die</strong> Eltern und das Kind selbst. Für <strong>die</strong> Eltern<br />

kann man <strong>die</strong> Frage noch relativ leicht beantworten. Das Aufziehen eines<br />

Kin<strong>des</strong> wird auch in anderen Lebensbereichen, etwa bei Scheidungen und<br />

Unterhaltsverfahren, in Franken und Rappen berechnet und damit kommerzialisiert.<br />

Infolge<strong>des</strong>sen ist es nichts Ungewöhnliches, wenn <strong>die</strong> Gerichte in<br />

den hier zur Diskussion stehenden Fällen etwa einen Schadensersatz in Höhe<br />

<strong>des</strong> Unterhalts oder wenigstens <strong>des</strong> Mehraufwands zubilligen. <strong>Der</strong> Schadensersatzanspruch<br />

<strong>des</strong> missgebildeten Kin<strong>des</strong> selbst macht dagegen mit aller<br />

Deutlichkeit <strong>die</strong> Ratlosigkeit der Juristen in <strong>die</strong>sen Grenzbereichen sichtbar.<br />

Es geht hier nicht darum, <strong>die</strong> weltweit geführte Diskussion um das soge-<br />

18 Das bedeutet nur. dass ein entsprechender Vertrag nicht gemäss Art. 20 OR {wegen Sittenoder<br />

Rechtswidrigkeit) nichtig ist. so dass aus <strong>die</strong>sem Vertrag Pflichten zur Abklärung. Vorbereitung<br />

oder Durchführung einer Abtreibung entstehen. Selbstverständlich kann der Arzt (aus ethischen<br />

oder sonstigen Motiven) das Auftragsverhältnis gemäss Art.404 OR durch Widerruf auflösen<br />

oder von vornherein je<strong>des</strong> Tätigwerden im Hinblick auf eine Abtreibung verweigern.<br />

" Siehe dazu unten S. 113 ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 95<br />

nannte «wrongful life» 20 nachzuzeichnen, sondern nur darum, zu verdeutlichen,<br />

dass <strong>die</strong> traditionellen juristischen Kategorien nicht ausreichen, um<br />

derartigen Situationen gerecht zu werden. <strong>Der</strong> deutsche Bun<strong>des</strong>gerichtshof 21<br />

formuliert <strong>die</strong>se Aporie folgendermassen: «Es entzieht sich den Möglichkeiten<br />

einer allgemein verbindlichen Beurteilung, ob Leben mit schweren Behinderungen<br />

gegenüber der Alternative <strong>des</strong> Nichtlebens überhaupt im Rechtssinne<br />

einen Schaden oder aber immer noch eine günstigere Lage darstellt».<br />

Die hier deutlich werdende Verlegenheit, man könnte auch sagen Hilflosigkeit<br />

der Juristen beschränkt sich in<strong>des</strong>sen nicht auf derartige Extremfälle. Sie<br />

begegnet vielmehr auch in alltäglichen Arzthaftungsfragen, weil es sich um<br />

Grundprobleme <strong>des</strong> Schadenersatzrechtes handelt. Dies gilt sowohl für <strong>die</strong> Bestimmung<br />

<strong>des</strong> Schadens selbst als auch für seine Bemessung, für <strong>die</strong> Verteilung<br />

der Beweislast ebenso wie für <strong>die</strong> Konkretisierung der ärztlichen Vertragspflichten.<br />

In <strong>die</strong>ser Situation drängt es sich auf, zunächst einmal <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Gesichtspunkte festzuhalten, <strong>die</strong> in einem Konzept der Arzthaftung<br />

berücksichtigt werden müssen.<br />

3. Anforderungen an ein konsensfähiges <strong>Haftung</strong>skonzept<br />

Die Vielschichtigkeit der hier aufgezeigten Problematik macht deutlich, dass<br />

Mediziner und Juristen gemeinsam nach einem <strong>Haftung</strong>skonzept suchen<br />

müssen, das den Belangen <strong>des</strong> ärztlichen Berufes Rechnung trägt und zugleich<br />

juristischen Anforderungen genügt. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings<br />

<strong>die</strong> Gefahr, dass Juristen und Mediziner sich verständigen und der Patient<br />

auf der Strecke bleibt. Infolge<strong>des</strong>sen muss das angestrebte <strong>Haftung</strong>skonzept<br />

so angelegt sein, dass es den berechtigten Interessen aller Beteiligten<br />

Rechnung trägt. Nun kann auch hier <strong>die</strong> Quadratur <strong>des</strong> Zirkels nicht gelingen.<br />

Dennoch scheint es mir wichtig, einige unabdingbare Positionen festzuhalten:<br />

Die Persönlichkeit <strong>des</strong> Patienten, sein Selbstbestimmungsrecht und<br />

seine körperliche Integrität müssen geschützt werden. Patientenrechte und<br />

potentielle <strong>Haftung</strong> dürfen jedoch nicht dazu führen, dass der zweifellos erforderliche<br />

Handlungsspielraum <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> zu stark eingeengt wird. Andererseits<br />

ist aber eine gewisse Angst <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> vor dem - in den früheren Referaten<br />

und Diskussionen immer wieder erwähnten 22 - «Polizeiwagen» <strong>des</strong>halb<br />

unentbehrlich, weil <strong>die</strong> Beseitigung der Angst vor der persönlichen <strong>Haftung</strong><br />

M In Amerika hat sich eine differenzierende Terminologie durchgesetzt: Mit Krontful binh bezeichnet<br />

man den Anspruch der Eltern bei Geburt eines ungewollten gesunden Kin<strong>des</strong> und Nichtabtreibung<br />

einer geschädigten Leibesfrucht; wrongful life steht nunmehr für den Anspruch <strong>des</strong> geschädigten<br />

Kin<strong>des</strong> gegen den Arzt. Vgl. dazu DEUTSCH in JZ 1984, S.890.<br />

" BGHZ 86. 240, 253; dort auch Nachweise zum Stand der Diskussion.<br />

"Siehe oben S.28. 32.


96 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

unausweichlich <strong>die</strong> Nachlässigkeit zur Folge hat. Infolge<strong>des</strong>sen geht es bei<br />

der Arzthaftung, um es auf eine Kurzformel zu bringen, um eine sachgerechte<br />

Risikoverteilung zwischen Arzt und Patient.<br />

B. <strong>Haftung</strong>sgrundlagen 23<br />

1. <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht 24<br />

Die primäre Anspruchsgrundlage für einen <strong>Haftung</strong>sfall bildet <strong>die</strong> Verletzung<br />

der vertraglichen Sorgfaltspflicht. Rechtstechnisch betrachtet handelt es<br />

sich dabei um eine nicht gehörige Erfüllung <strong>des</strong> Vertrages im Sinne <strong>des</strong> Art.97<br />

OR 25 . In der Literatur und Rechtsprechung hat man lange Zeit in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

von der <strong>Haftung</strong> für Kunstfehler gesprochen. Neuerdings ersetzt<br />

man <strong>die</strong>sen Begriff durch das Wort Behandlungsfehler. Damit will man<br />

deutlich machen, dass eine <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> nicht nur in Betracht kommt,<br />

wenn er von den Regeln ärztlicher Kunst in vorwerfbarer Weise abweicht,<br />

sondern dass jede Form eines Fehlverhaltens bei der Behandlung Schadensersatzpflichten<br />

auslösen kann. Ob man nun <strong>die</strong> eine oder andere Begriffsbildung<br />

bevorzugt, erscheint mir nicht so wesentlich. Entscheidend ist vielmehr,<br />

dass man sich über Grund und Rechtsnatur <strong>die</strong>ses <strong>Haftung</strong>statbestan<strong>des</strong> im<br />

klaren ist: Es handelt sich um <strong>die</strong> Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung,<br />

<strong>die</strong> von den praktisch kaum denkbaren Fällen der vollkommenen Nichterfüllung<br />

abgesehen darin besteht, dass der Arzt <strong>die</strong> von ihm zu erwartende und gebotene<br />

Sorgfalt nicht beachtet hat. Auf eine Kurzform gebracht, kann man<br />

<strong>des</strong>halb von der <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht<br />

sprechen.<br />

2. <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Aufklärungspflicht<br />

Neben <strong>die</strong> traditionelle <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> wegen eines Behandlungsfehlers<br />

ist in zunehmendem Ausmass - international und nun auch in der Schweiz -<br />

<strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Aufklärungspflicht getreten. Dabei ist zunächst<br />

festzuhalten, dass es sich bei Vorliegen eines Behandlungsvertrages<br />

auch hier um <strong>die</strong> Nichteinhaltung einer vertraglichen Verpflichtung handelt.<br />

21 Vgl. zum folgenden <strong>die</strong> umfassende Übersicht bei HAUSHEER/GEISER, Arztrecht in der<br />

Schweiz, und rechtsvergieichend GIESEN.<br />

»Vgl. dazu z.B. GAUTSCHI, N 21 äff., N 23a zu OR 398; LOEFFLER. S.62; OTT. S. 103; STEYERT.<br />

SJZ 1981. S. 125.<br />

" Dazu WIEGAND. recht 1983. S. I ff. und 118ff.. und 1984 S. 13ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 97<br />

Die Aufklärungshaftung weicht jedoch von der <strong>Haftung</strong> wegen eines Behandlungsfehlers<br />

sowohl in den Voraussetzungen wie in den Rechtsfolgen in<br />

verschiedener Hinsicht ab. Diese Besonderheiten und <strong>die</strong> neuerdings zu beobachtende<br />

Tendenz, <strong>die</strong> Aufklärungshaftung gewissermassen zu einem Auffangtatbestand<br />

auszuweiten, erfordern eine gesonderte Behandlung".<br />

3. Die ausservertragliche <strong>Haftung</strong><br />

Sowohl bei der <strong>Haftung</strong> wegen eines Behandlungsfehlers als auch bei der<br />

Verletzung der Aufklärungspflicht stellt sich in der Regel zusätzlich <strong>die</strong><br />

Frage, ob auch der Tatbestand einer unerlaubten Handlung im Sinne <strong>des</strong><br />

Art. 41 OR vorliegt. Normalerweise spielt in<strong>des</strong>sen <strong>die</strong>se deliktische <strong>Haftung</strong><br />

keine grosse Rolle, da der Kläger sich in aller Regel zunächst auf vertragliche<br />

Anspruchsgrundlagen stützt. Festzuhalten bleibt immerhin, dass ein deliktischer<br />

Schadensersatzanspruch in Form der sogenannten Anspruchskonkurrenz<br />

neben dem vertraglichen Anspruch bestehen kann.<br />

4. Weitere <strong>Haftung</strong>sgrundlagen<br />

Neben den skizzierten <strong>Haftung</strong>sformen kommen eine ganze Reihe von weiteren<br />

<strong>Haftung</strong>sgrundlagen in Betracht, auf <strong>die</strong> ich nur stichwortartig hinweisen<br />

möchte. Für Schäden, <strong>die</strong> von Hilfspersonen verursacht werden, haftet der<br />

Arzt nach den Grundsätzen <strong>des</strong> Art. 101 OR und im Bereich der ausservertraglichen<br />

<strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> Art. 55 OR. Von grosser praktischer Bedeutung ist das<br />

Zusammenwirken mehrerer Ärzte bei der Behandlung eines Patienten. Hier<br />

kann es nicht Sache <strong>des</strong> Patienten sein, den letztlich Schuldigen herauszufinden,<br />

wenn es zu einem Behandlungsfehler kommt. Vielmehr haften <strong>die</strong> beteiligten<br />

Ärzte gegenüber dem Patienten solidarisch im Sinne der Art. 143 ff.<br />

OR.<br />

Schliesslich kommt eine <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> in Betracht für Schäden, <strong>die</strong><br />

durch den Einsatz medizinischer Apparate ausgelöst werden. Umstritten ist<br />

hier allenfalls <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong>sgrundlage. Häufig wird eine fehlerhafte Verwendung<br />

<strong>des</strong> Gerätes vorliegen, dann handelt es sich um eine gewöhnliche Vertragshaftung<br />

<strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, gegebenenfalls kombiniert mit einer Hilfspersonenhaftung.<br />

In Betracht kommt aber auch eine Werkeigentümerhaftung nach<br />

Art. 58 OR. Diese <strong>Haftung</strong>sgrundlage hat für den Geschädigten den Vorteil,<br />

dass er den Verschuldensnachweis nicht zu führen braucht, da es sich um<br />

eine Kausalhaftung handelt.<br />

Siehe unten (II D) S 113ff.


98 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

5. Die öffentlich-rechtliche <strong>Haftung</strong> 27<br />

In allen vorausgenannten <strong>Haftung</strong>sfällen kann bei Behandlung in einem öffentlich-rechtlich<br />

geführten Spital oder bei Untersuchung durch einen amtlich<br />

bestellten Arzt eine öffentlich-rechtliche <strong>Haftung</strong> in Betracht kommen.<br />

Die <strong>Haftung</strong>sgrundlagen im Bereich <strong>des</strong> öffentlichen Rechts sind schwer<br />

durchschaubar, weil neben sehr alten Staatshaftungsgesetzen moderne bestehen,<br />

<strong>die</strong> eine weitgehende Kausalhaftung kennen, während <strong>die</strong> traditionellen<br />

Gesetze wiederum auf <strong>die</strong> zivilrechtlichen <strong>Haftung</strong>svoraussetzungen zurückverweisen.<br />

Auf <strong>die</strong>se zivilrechtliche <strong>Haftung</strong> beschränke ich mich im folgenden,<br />

und dabei stehen <strong>die</strong> traditionelle <strong>Haftung</strong> wegen Behandlungsfehlern<br />

und <strong>die</strong> zunehmend bedeutsame <strong>Haftung</strong> wegen Verletzung der Aufklärungspflicht<br />

im Mittelpunkt.<br />

C. Schadensersatz wegen Sorgfaltsverstosses<br />

Im Mittelpunkt der meisten Arzthaftungsverfahren steht der Vorwurf <strong>des</strong> Patienten,<br />

der Arzt habe ihn nicht «richtig» behandelt und ihm dadurch Schaden<br />

zugefügt. Es ist oben 28 dargelegt worden, dass <strong>die</strong>ser Vorwurf in juristischen<br />

Kategorien ausgedrückt nichts anderes bedeutet, als dass der Arzt im<br />

Sinne <strong>des</strong> Art. 97 OR den Vertrag nicht richtig erfüllt und sich dadurch schadensersatzpflichtig<br />

gemacht habe. <strong>Der</strong> Tatbestand der nicht gehörigen Erfüllung<br />

29 liegt dann vor, wenn dem Gläubiger ein Schaden entstanden ist, der<br />

auf einer Pflichtverletzung beruht, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser zu verantworten hat. In Schlagworten<br />

ausgedrückt sprechen wir von vier Tatbestandsmerkmalen, deren Vorliegen<br />

bei Feststellung eines Schadensersatzanspruches überprüft werden<br />

muss: Schaden, Vertragsverletzung, Kausalität und Verschulden. Die Anwendung<br />

<strong>die</strong>ser Kriterien bereitet schon in normalen <strong>Haftung</strong>sfällen gelegentlich<br />

Schwierigkeiten. Im Bereich der Arzthaftung verstärkt sich <strong>die</strong> Problematik<br />

im Hinblick auf <strong>die</strong> mehrfach hervorgehobene Besonderheit <strong>des</strong> Rechtsverhältnisses<br />

und <strong>des</strong> «Leistungsobjekts» (Behandlung und Heilung eines Menschen)<br />

in erheblichem Masse. Dieser Umstand führt nicht selten in der Literatur<br />

und in der Judikatur zu einer Vermischung oder auch Verwechslung<br />

einzelner <strong>Haftung</strong>selemente. Gewiss ist <strong>die</strong> Interdependenz der verschiedenen<br />

Tatbestandsmerkmale und <strong>Haftung</strong>svoraussetzungen nicht zu verkennen;<br />

das entbindet den Juristen jedoch nicht von der Verpflichtung, <strong>die</strong>se<br />

r<br />

Übersicht bei HAUSHEER/GEISER. Vgl. auch BOLLIGER. <strong>Der</strong> Spilalarzt im Arbeitsverhältnis.<br />

Diss. Bern 1976.<br />

- 8 Siehe oben S.96.<br />

"Zum folgenden allgemein WIEGAND (Anm.25) mit Nachweisen.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 99<br />

Elemente zunächst gesondert zu betrachten und klar gegeneinander abzugrenzen.<br />

Erst auf <strong>die</strong>ser Basis kann man <strong>die</strong> Frage stellen, welcher Stellenwert<br />

und welche Funktion den einzelnen <strong>Haftung</strong>selementen zukommt.<br />

1. Schaden<br />

Primäre Voraussetzung jeglichen Schadensersatzes bildet das Bestehen eines<br />

Schadens. Das schweizerische Recht kennt wie <strong>die</strong> meisten ausländischen<br />

Rechte keinen eigentlichen Schadensbegriff 30 . Vielmehr knüpft <strong>die</strong> Rechtsordnung<br />

zunächst an <strong>die</strong> natürliche Anschauung an: «Unter Schaden im allgemeinen<br />

Wortsinn ist jede Einbusse an Lebensgütern irgendwelcher Art zu<br />

verstehen, <strong>die</strong> jemand erleidet, an seiner Gesundheit, seiner körperlichen Integrität,<br />

seinen Erwerbsaussichten, seinen Vermögensgütern.» Damit ist freilich<br />

noch keine Grundlage für einen justitiablen Schadensersatzanspruch gelegt.<br />

Dieser muss vielmehr erst durch eine Schadenbemessungsmethode ermittelt<br />

werden. Dabei verwendet man <strong>die</strong> sogenannte Differenzmethode oder<br />

Differenzhypothese. Sie besteht darin, «dass <strong>die</strong> Differenz zwischen dem gegenwärtigen<br />

Stand <strong>des</strong> Vermögens <strong>des</strong> Geschädigten nach Eintritt <strong>des</strong> schädigenden<br />

Ereignisses und dem Vermögensstand festgestellt wird, wie er sich<br />

ohne Schadensereignis ergeben hätte». Es liegt auf der Hand, dass <strong>die</strong>se Methode<br />

nicht nur hier, aber hier in ganz besonderem Masse, problematisch ist;<br />

denn sie reduziert Schaden und Schadensersatz auf eine scheinbar wertneutrale,<br />

rechnerisch zu ermittelnde Vermögensdifferenz.<br />

Gerade bei der Anwendung <strong>des</strong> Schadensersatzrechtes im Bereich der<br />

Arzthaftung erweist es sich als überaus schwierig, mit <strong>die</strong>sen Denkmodellen<br />

Schäden der menschlichen Gesundheit zu erfassen und auszugleichen. Die<br />

Schwierigkeiten beginnen schon bei der Frage, wann eine Beeinträchtigung<br />

der Gesundheit bzw. der körperlichen Integrität vorliegt. So hat etwa <strong>die</strong><br />

Weltgesundheitsorganisation folgende Definition vorgeschlagen: «Die Gesundheit<br />

ist der Zustand <strong>des</strong> vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen<br />

Wohlbefindens und nicht nur <strong>des</strong> Freiseins von Krankheit und Gebrechen.»<br />

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei nicht um eine Definition,<br />

sondern um ein in <strong>die</strong> Form einer Definition gekleidetes Postulat<br />

handelt. Gleichwohl ist es sehr geeignet, <strong>die</strong> Schwierigkeiten aufzuzeigen, <strong>die</strong><br />

bei der Rechtsanwendung auftreten. Während es relativ leicht ist, Verletzungen<br />

der körperlichen Integrität durch fehlerhafte Operation - etwa beim<br />

Durchtrennen eines Nervs - oder durch unsachgemässe Strahlenbehandlung<br />

festzustellen, fällt es überaus schwer, eine Verschlechterung <strong>des</strong> Gesundheitszustan<strong>des</strong><br />

juristisch zu erfassen.<br />

10 MERZ, Schweizerisches Privatrecht. VI/1, Obligalionenrecht, (Basel 1984). § 17, Zitate S. 185 f.


100 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Geradezu exemplarisch ist der im Verlauf der Tagung mehrfach erwähnte<br />

Fall 31 , den das Bun<strong>des</strong>gericht zu entscheiden hatte: <strong>Der</strong> Patient beklagt sich<br />

nach Entfernung eines gutartigen Tumors und zwei Metern Darms über eine<br />

allgemeine Mattigkeit und den Verlust der «Belastbarkeit». Wie soll man einen<br />

solchen Schaden ermessen oder gar beziffern? Noch schwieriger erscheint<br />

es, <strong>die</strong> Verschlimmerung von bestehenden Beschwerden mit derartigen<br />

Massstäben zu erfassen. Angesichts <strong>die</strong>ser Situation hat man sich auf folgende<br />

Formel verständigt: <strong>Der</strong> Schadensersatz erfasst primär <strong>die</strong> Kosten, <strong>die</strong><br />

zur Wiedergutmachung <strong>des</strong> Schadens, d. h. zur Behebung oder Linderung von<br />

Beschwerden oder sonstigen Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität,<br />

aufgewendet werden müssen". Das bedeutet allerdings, dass ein Schadensersatz<br />

dann entfällt, wenn ein irreversibler Schaden oder nicht zu lindernde Beschwerden<br />

eingetreten sind. Dann kommt allenfalls <strong>die</strong> Zusprechung einer<br />

Genugtuung zur Abgeltung <strong>des</strong> immateriellen Schadens in Betracht. Zusammenfassend<br />

kann man also sagen, dass <strong>die</strong> Feststellung und Bemessung <strong>des</strong><br />

Schadens den Juristen aussergewöhnliche Schwierigkeiten bereitet, weil <strong>die</strong><br />

menschliche Gesundheit und deren Beeinträchtigung mit rechtlichen Massstäben<br />

nur schwer zu erfassen sind. Insoweit handelt es sich hier um ein allgemeines<br />

haftpflichtrechtliches Problem, das immer auftritt, wenn es um<br />

Schadensersatzansprüche - sei es vertraglicher, ausservertraglicher oder öffentlich-rechtlicher<br />

Natur - geht, <strong>die</strong> auf «Körperverletzung» 33 gestützt werden.<br />

Die besondere Problematik der Arzthaftung liegt also nicht in <strong>die</strong>sem<br />

Punkt, sondern in der im folgenden zu behandelnden Frage: Hat <strong>die</strong> eingetretene<br />

Gesundheitsentwicklung irgendwie mit dem Eingreifen <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> zu<br />

tun oder war sie unabwendbar? Diese Frage umfasst zwei der obengenannten<br />

Tatbestandsmerkmale eines vertraglichen Schadensersatzanspruches, nämlich<br />

<strong>die</strong> Vertragsverletzung und deren Kausalität für den eingetretenen Schaden.<br />

Während das Ineinandergreifen <strong>die</strong>ser beiden Merkmale in den Fällen,<br />

<strong>die</strong> dem Gesetzgeber gewissermassen als Modell vorschwebten, kein Problem<br />

darstellt, ergeben sich hier im Hinblick auf das ärztliche Handeln und <strong>die</strong><br />

Gesundheitsbeeinträchtigung ausserordentliche Schwierigkeiten. Auf anschauliche<br />

Weise und in schöner Offenheit hat nämlich ZINK 34 dargelegt,<br />

dass <strong>die</strong> Gesundheitsentwicklung eines Menschen auch den Medizinern in<br />

vielen Fällen ein Rätsel bleibt - manchmal können sie sie erklären, oft aber<br />

auch nicht. Daraus ergeben sich für den Juristen Konsequenzen: Er wird sich<br />

11 BGE 105 II 284ff. = Pra 69 Nr. 135; siehe dazu auch ARZT, in <strong>die</strong>sem Buch S.5I.<br />

J:<br />

Vgl. etwa NARR. SÄZ 1981. S.24f. und 27; allgemein MERZ (Anm.30). S. 199ff., dort auch zu<br />

den Folgekosten wie Ver<strong>die</strong>nstausfall und Beeinträchtigung der Erwerbsaussichten.<br />

" Dazu etwa MERZ. a.a.O.<br />

"Siehe oben S. 19ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 101<br />

oft mit Wahrscheinlichkeitsurteilen begnügen und auf Sicherheit in den Urteilsgrundlagen<br />

verzichten müssen. Dass <strong>die</strong>ser Umstand für <strong>die</strong> Beweiserhebung<br />

und Beweiswürdigung nicht ohne Auswirkungen bleiben kann, wird<br />

noch näher darzulegen sein. Gerade weil sich hier alle auf unsicherem Grund<br />

bewegen, kann der Jurist nicht darauf verzichten, Schritt für Schritt vorzugehen<br />

und zunächst <strong>die</strong> Frage zu prüfen, ob der Arzt pflichtgemäss gehandelt<br />

oder ob er sich vertragswidrig verhalten hat.<br />

2. Vertragsverletzung<br />

a) Nichtbeachtung der gebotenen und geschuldeten Sorgfalt<br />

Von einer Vertragsverletzung sprechen wir, wenn der Schuldner <strong>die</strong> ihm obliegende<br />

Leistungspflicht nicht oder nicht in gehöriger Weise erfüllt. Im Bereich<br />

der Arzthaftung kommt - wie schon hervorgehoben - nur der Tatbestand<br />

der nicht gehörigen Erfüllung in Betracht. Ganz allgemein kann man<br />

<strong>die</strong>sen <strong>Haftung</strong>sgrund dahin umschreiben, dass <strong>die</strong> vom Schuldner erbrachte<br />

Leistung nicht in der vertragsmässig vereinbarten und damit geschuldeten<br />

Weise erfolgte". Bei der Anwendung <strong>des</strong> generell konzipierten Störungstatbestan<strong>des</strong><br />

zeigen sich nun <strong>die</strong> Auswirkungen derjenigen Besonderheiten, <strong>die</strong><br />

bei der Einordnung in das Vertragssystem und der Konkretisierung <strong>des</strong> Vertragsinhalts<br />

festgestellt wurden. Es ist nochmals in Erinnerung zu rufen, dass<br />

bei <strong>die</strong>ser Art von Verträgen zwar bestimmte Tätigkeiten geschuldet und bestimmte<br />

Erfolge erwartet werden, das eigentliche Hauptgewicht jedoch nicht<br />

darauf liegt. Vielmehr bildet den Kern <strong>des</strong> Vertrages das Versprechen <strong>des</strong><br />

Schuldners und <strong>die</strong> darauf basierende Erwartung <strong>des</strong> Gläubigers, dass der<br />

Arzt, Anwalt, Steuerberater oder Treuhänder <strong>die</strong> ihm übertragene Aufgabe<br />

aufgrund seiner berufsspezifischen Sachkunde mit der gebotenen und vertragsmässig<br />

geschuldeten Sorgfalt ausführen werde. Das Schwergewicht aller<br />

Vertragsverletzungen in <strong>die</strong>sen Bereichen liegt also bei der Feststellung, ob<br />

ein Verstoss gegen <strong>die</strong>se Sorgfaltspflichten vorlag. Insoweit handelt es sich<br />

auch hier noch nicht um ein typisch arztrechtliches Problem, sondern um<br />

eine Erscheinung, <strong>die</strong> sich bei allen Verträgen stellt, in denen das sorgfältige<br />

Tätigwerden den eigentlichen Kern der Leistungspflicht bildet. Bei <strong>die</strong>sen auch<br />

als Verhaltensverträgen 36 zu bezeichnenden Schuldverhältnissen taucht nun<br />

eine Schwierigkeit auf, <strong>die</strong> zunächst kurz dargelegt werden muss, ehe ich auf<br />

<strong>die</strong> speziell arztrechtliche Fragestellung eingehen kann. Die vertragsmässig<br />

"Zum folgenden spezieil WIEGAND (Anm.25). recht 1984. S. 16ff. mit ausführlichen Nachweisen.<br />

" Siehe WIEGAND, a.a.O.. S. 17.


102 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

geschuldete und gebotene Sorgfalt ist nach objektiven Massstäben zu beurteilen;<br />

es geht mit anderen Worten nicht um <strong>die</strong> dem individuellen Arzt zumutbare<br />

Sorgfalt, <strong>die</strong> ich als Problem <strong>des</strong> Verschuldens später behandeln werde.<br />

Diese Differenzierung ist ausserordentlich wesentlich, man kann sie auch mit<br />

anderen Begriffen umschreiben, etwa indem man von abstraktem und konkretem<br />

oder objektivem und subjektivem Sorgfaltsmassstab spricht. In<strong>des</strong>sen<br />

hat gerade <strong>die</strong> letzte Unterscheidung zu Verwirrungen geführt, und es wäre<br />

sach<strong>die</strong>nlich, wenn man sich auf <strong>die</strong> hier vorgeschlagene Bezeichnung verständigen<br />

würde. Jedenfalls aber ist zwischen der geschuldeten und gebotenen<br />

Sorgfalt einerseits und der zumutbaren und konkret möglichen Sorgfalt<br />

andererseits scharf zu unterscheiden. Diese Unterscheidung fällt aus Gründen,<br />

auf <strong>die</strong> ich nochmals zurückkommen werde, nicht leicht, aber sie ist sowohl<br />

für den Tatbestand der Verletzung selbst wie für <strong>die</strong> gewichtige Frage<br />

der Beweislastverteilung von zentraler Bedeutung.<br />

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass eine Vertragsverletzung <strong>des</strong><br />

<strong>Arztes</strong> vorliegt, wenn er <strong>die</strong> gebotene und geschuldete Sorgfalt nicht beachtet.<br />

Ein solcher Sorgfaltsverstoss kann sich auf zwei Pflichtenkreise beziehen, <strong>die</strong><br />

bei der Ermittlung <strong>des</strong> Vertragsinhalts bereits herausgearbeitet wurden 37 .<br />

Einmal kann der Arzt unsorgfältig vorgehen wie jeder andere Schuldner<br />

auch, indem er etwa aus Nachlässigkeit ein Gerät falsch be<strong>die</strong>nt oder aus<br />

Unachtsamkeit fehlerhafte Notizen in der Krankengeschichte anfertigt. Führt<br />

er etwa <strong>die</strong> Krankengeschichte unvollkommen, so handelt es sich ebenfalls<br />

noch um eine Pflichtverletzung, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> allgemeinen Pflichten eines<br />

Schuldners bezieht, denn ihn trifft - wie oben dargelegt - eine Aufzeichnungspflicht<br />

gemäss Art. 400 OR. Diese Pflichtverletzung liegt nun aber<br />

schon an der Grenze zu der eigentlichen Problematik der Arzthaftung, nämlich<br />

der Frage, wann der Arzt seine Pflicht durch medizinisch unsorgfältiges<br />

Vorgehen und Verhalten verletzt.<br />

b) Die Frage nach dem medizinisch «Richtigen»<br />

Erst an <strong>die</strong>sem Punkt stellt sich <strong>die</strong> zentrale Frage, ob der Arzt in der gegebenen<br />

Situation das medizinisch «Richtige» getan hat. Es liegt auf der Hand,<br />

dass der Jurist mit <strong>die</strong>ser Fragestellung überfordert ist. Er kann nur <strong>die</strong> Massstäbe<br />

umreissen, <strong>die</strong> zur Beantwortung der Frage herangezogen werden sollen,<br />

während er <strong>die</strong> Antwort selbst dem sachverständigen Gutachter überlassen<br />

muss. Das Bun<strong>des</strong>gericht hat in einer vielfach als richtungsweisend empfundenen<br />

Entscheidung 38 <strong>die</strong>se Massstäbe folgendermassen zu konkretisieren<br />

versucht: «Als Beauftragter haftet der Arzt für <strong>die</strong> gleiche Sorgfalt wie<br />

J 'Siehe oben S.86f.<br />

"Zitat aus Pra 1980 Nr. 135 = BGE 105 II 284ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 103<br />

der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis... 1391 ; er hat somit grundsätzlich für je<strong>des</strong><br />

Verschulden einzustehen. Die Anwendung <strong>die</strong>ses Grundsatzes mit voller<br />

Strenge wäre jedoch mit einer normalen Ausübung <strong>des</strong> ärztlichen Berufes,<br />

zum Nachteil <strong>des</strong> Kranken wie auch <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, unvereinbar. Die Rechtsprechung<br />

hat denn auch seine Strenge gemildert, um der Unvollkommenheit der<br />

Wissenschaft und der menschlichen Fehlbarkeit Rechnung zu tragen. <strong>Der</strong><br />

Arzt haftet nicht für einfache Fehlgriffe, <strong>die</strong> bis zu einem gewissen Grad in<br />

der Natur seines Berufes liegen, bei dem <strong>die</strong> Ansichten dermassen vielfältig<br />

und widersprüchlich sein können. Er haftet dagegen für einen offenkundigen<br />

Irrtum, für eine offensichtlich fehlerhafte Behandlung, für einen klaren<br />

Kunstfehler oder <strong>die</strong> Unkenntnis von allgemein bekannten Grundlagen der<br />

ärztlichen Wissenschaft ... Eine unrichtige Diagnose vermag für sich allein<br />

noch keine <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> zu begründen ... Auf dem Gebiete der Chirurgie<br />

ist ganz besondere Zurückhaltung geboten. Die Chirurgie setzt notwendigerweise<br />

eine gewisse Kühnheit, eine gewisse Inkaufnahme von Risiken voraus.<br />

Wollte man einen Chirurgen schon <strong>des</strong>halb verurteilen, weil er sich zur<br />

Operation entschlossen hat, obwohl der Eingriff vielleicht nicht unerlässlich<br />

gewesen wäre, oder weil ihm ein operationstechnischer Fehler unterlaufen<br />

ist, könnte <strong>die</strong>s zur Folge haben, dass <strong>die</strong> Chirurgen sich in zweifelhaften<br />

Fällen von der Operation abhalten Hessen, selbst wenn <strong>die</strong>s für den Patienten<br />

verhängnisvolle Folgen haben könnte.»<br />

Dieser neue Entscheid <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichts knüpft teilweise wörtlich an ältere<br />

Urteile 40 an und unternimmt den Versuch, <strong>die</strong> Kontinuität der Rechtsprechung<br />

zu wahren. Das ver<strong>die</strong>nt ebenso Anerkennung wie <strong>die</strong> im Urteil<br />

zum Ausdruck kommenden Überlegungen <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichts schlechthin,<br />

von denen vor allem <strong>die</strong> Passagen am Ende <strong>des</strong> Zitats deutlich <strong>die</strong> Tendenz<br />

erkennen lassen, den Sorgen um <strong>die</strong> «defensive Medizin» Rechnung zu tragen.<br />

Gleichwohl kann <strong>die</strong> Rechtsprechung in <strong>die</strong>ser Form nicht akzeptiert<br />

werden. Das Bun<strong>des</strong>gericht unterscheidet nicht hinreichend zwischen der Vertragsverletzung<br />

und dem Verschulden, sondern vermengt beide Elemente so<br />

sehr, dass daraus notwendigerweise Missverständnisse entstehen müssen.<br />

Dabei geht es weniger um <strong>die</strong> dogmatische Richtigkeit der Einordnung, sondern<br />

um <strong>die</strong> gravierenden Konsequenzen, <strong>die</strong> sich aus der mangelnden Differenzierung<br />

ergeben. Exemplarisch in <strong>die</strong>ser Hinsicht ist ein Entscheid <strong>des</strong><br />

Obergerichts Zürich aus dem Jahre 1979, der Aufsehen erregt und Verwirrung<br />

ausgelöst hat 41 . Zwar hat das Obergericht an der tra<strong>die</strong>rten Aufteilung<br />

der Beweislast im Rahmen <strong>des</strong> Auftragsrechts festgehalten, aber zwischen<br />

Vertragsverletzung und Verschulden praktisch nicht unterschieden und dem<br />

"Dazu unten S. 11 Off.<br />

40 Vgl. BGE 64 II 205; 70 II 209.<br />

41 SJZ 1980. S.383; dazu STEVERT. SJZ 1981. S. 109. und ILERI. SJZ 1981. S.333.


104 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Arzt den gesamten Exkulpationsbeweis für beide Tatbestandselemente auferlegt.<br />

Zu Recht hat das Bezirksgericht Dielsdorf 42 hierzu folgen<strong>des</strong> klargestellt:<br />

«<strong>Der</strong> obergerichtliche Entscheid ist in<strong>des</strong>sen in der Begründung irreführend,<br />

indem nicht zwischen der eigentlichen Vertragsverletzung und dem<br />

Verschulden unterschieden wird. Die Sorgfaltspflichtverletzung bei der Arzthaftung<br />

wird nämlich allgemein und ausschliesslich als Thema <strong>des</strong> Verschuldens<br />

behandelt, was nicht zutreffend sein kann. Vielmehr ist auch hier zunächst<br />

<strong>die</strong> Frage der Vertragsverletzung - entsprechend der Widerrechtlichkeit<br />

im ausservertraglichen Schadensersatzrecht - zu klären, bevor auf ein<br />

allfälliges Verschulden einzugehen ist.» Damit ist in aller Deutlichkeit hervorgehoben,<br />

wo auch <strong>die</strong> Mängel der bun<strong>des</strong>gerichtlichen Rechtsprechung<br />

liegen. Zwar führt das Bun<strong>des</strong>gericht im zitierten Entscheid 43 wenig später<br />

selbst aus: «Im Haftpflichtprozess gegen einen Arzt hat der Geschädigte einen<br />

Kunstfehler nachzuweisen sowie das Bestehen eines Schadens und eines<br />

adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Kunstfehler und dem Schaden<br />

darzutun. Beim Vorliegen <strong>die</strong>ser Voraussetzungen kann sich der Arzt von<br />

seiner <strong>Haftung</strong> nur befreien, wenn er seinerseits nachweist, dass ihm der begangene<br />

Kunstfehler unter den besonderen Umständen <strong>des</strong> Falles nicht zum<br />

Verschulden angerechnet werden kann.» Die Problematik der bun<strong>des</strong>gerichtlichen<br />

Rechtsprechung liegt aber gerade darin, dass in dem zuvor entwickelten<br />

Kunstfehlerbegriff eine ganze Fülle von Verschuldenselementen enthalten<br />

sind - so etwa <strong>die</strong> folgenden Floskeln: «<strong>Der</strong> Arzt haftet nicht für einfache<br />

Fehlgriffe ... er haftet dagegen für einen offenkundigen Irrtum.» Gewiss ist<br />

jeder <strong>die</strong>ser Gedanken diskussionswürdig und bei der Bewertung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Verhaltens durchaus heranzuziehen, <strong>die</strong>s darf jedoch nicht auf der<br />

Ebene <strong>des</strong> Sorgfaltsverstosses geschehen. Gerade das aber tut das Bun<strong>des</strong>gericht,<br />

indem es derartige Gesichtspunkte bereits in der Umschreibung <strong>des</strong><br />

Kunstfehlerbegriffs berücksichtigt.<br />

c) Objektive Beurteilung <strong>des</strong> Sorgfaltsverstosses<br />

Demgegenüber ist daran festzuhalten, dass <strong>die</strong> Frage <strong>des</strong> ärztlichen Sorgfaltsverstosses<br />

frei von Verschuldenselementen überprüft werden muss. Sie ist in<br />

dem Sinne objektiv zu beurteilen, wie das oben 44 schon entwickelt wurde: Es<br />

geht nicht um <strong>die</strong> konkret mögliche, zumutbare, sondern um <strong>die</strong> nach medizinischen<br />

Gesichtspunkten gebotene und aufgrund <strong>des</strong> Vertragsverhältnisses geschuldete<br />

Sorgfalt. Dieser letzte Gesichtspunkt muss noch einmal hervorgehoben<br />

werden, weil daran zu erinnern ist, dass selbstverständlich der Vertrag<br />

4: SJZ 1983. S.376; dazu WIEGAND, recht 1984. S. 17.<br />

43 Siehe oben Anm.38.<br />

44 Siehe oben S 10! f.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> Arzlvertrag, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 105<br />

gewissermassen <strong>die</strong> Rahmenbedingungen absteckt. Die im folgenden darzulegenden<br />

objektiven Massstäbe gelten nur insoweit, als der Patient nicht<br />

durch individuelle Weisungen (etwa Nichteinwilligung in eine notwendige<br />

Operation) oder durch spezielle Wünsche (etwa Heilbehandlung nach alternativen<br />

Methoden) ein Abweichen von den medizinischen Standards selbst<br />

veranlasst hat. Dies vorausgeschickt, könnte man sich auf eine Formel verständigen<br />

45 , <strong>die</strong> in Amerika zur Beschreibung der an den Arzt zu richtenden<br />

Anforderungen verwendet wird, sie lautet: «A doctor is required to use that<br />

degree of skill and diligence employed by an ordinary, prudent practitioner<br />

in his Field and Community or in similar communities at this time.» Konkret<br />

bedeutet <strong>die</strong>s, dass wir von jedem Arzt erwarten können und müssen, dass er<br />

in dem von ihm ausgeübten Tätigkeitsbereich über den notwendigen, das<br />

heisst den neuesten ihm zugänglichen Wissensstand verfügt. Des weiteren genügen<br />

nicht seine individuellen Fähigkeiten, sondern den Massstab bildet der<br />

durchschnittliche, mit der gebotenen Umsicht handelnde Arzt der jeweiligen<br />

Berufssparte. Soweit und sobald ein Fall seine Möglichkeiten überschreitet,<br />

muss der Arzt den Patienten an einen geeigneteren Arzt weiterweisen. Je<strong>des</strong><br />

Fehlverhalten in <strong>die</strong>ser Beziehung bedeutet eine Vertragsverletzung, von der<br />

sich der Arzt allenfalls unter Hinweis auf <strong>die</strong> besondere Situation durch den<br />

Nachweis fehlenden Verschuldens exkulpieren kann - darauf komme ich zurück<br />

46 .<br />

d) Fazit<br />

Damit sind <strong>die</strong> juristischen Kriterien oder Rahmenbedingungen für <strong>die</strong> Feststellung<br />

eines Sorgfaltsverstosses umrissen. Die eigentliche Feststellung <strong>des</strong><br />

Verstosses muss der Jurist dem medizinischen Gutachter überlassen. In<strong>des</strong>sen<br />

zeigt sich sehr rasch, dass mit <strong>die</strong>sen juristischen Vorgaben nur sehr dürftige<br />

Anhaltspunkte für den Gutachter gegeben sind, dass häufig schon fraglich<br />

ist, unter welcher Perspektive der Gutachter auszuwählen ist und worüber<br />

er zu befinden hat. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Ein Gynäkologe<br />

entfernt eine Gebärmutter, <strong>die</strong> Verwachsungen hat. Dabei wird unbemerkt<br />

ein Harnleiter durchschnitten, weshalb nach mehreren Jahren eine Niere entfernt<br />

werden muss.<br />

<strong>Der</strong> gynäkologische Gutachter stellt fest, dass das Durchschneiden <strong>des</strong><br />

Harnleiters nur hätte verhindert werden können, wenn ein Urologe beigezogen<br />

worden wäre. Die Frage läuft letzten En<strong>des</strong> darauf hinaus, ob in jedem<br />

derartigen Fall ein Urologe beigezogen werden sollte oder nicht. Es geht hier<br />

nicht darum, <strong>die</strong> Frage zu entscheiden - vielmehr soll aufgezeigt werden,<br />

" Dazu STÜRNER. SJZ 1984. S. 124.<br />

"Siehe unten S. llOff.


106 WOLFGANG WIEGAN D: <strong>Der</strong> Arztverlrag, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

worüber überhaupt der medizinische Gutachter zu befinden hat. Er muss beurteilen,<br />

ob der handelnde Arzt sich in einer Weise verhalten hat, wie man sie<br />

im konkreten Fall von einem Gynäkologen in <strong>die</strong>ser Situation erwarten<br />

durfte. Entspricht <strong>die</strong> Hinzuziehung eines Urologen nicht dem medizinischen<br />

Standard und lagen keine besonderen Indizien für eine Ausnahmesituation<br />

vor, so wäre es vertretbar, hier bereits den Verstoss gegen <strong>die</strong> Sorgfaltspflicht<br />

abzulehnen.<br />

Mit <strong>die</strong>sen Formulierungen ist schliesslich <strong>die</strong> letzte Schwierigkeit angedeutet,<br />

<strong>die</strong> sich bei der Beurteilung <strong>des</strong> Sorgfaltsverstosses bietet: Es geht<br />

darum, aus welcher Perspektive zu entscheiden ist. Im Schadensersatzrecht<br />

kennen wir in <strong>die</strong>sem Zusammenhang das Schlagwort von der objektiv nachträglichen<br />

Prognose. Damit will man eine gedankliche Operation beschreiben,<br />

in der der später urteilende Richter hier mit Hilfe <strong>des</strong> Gutachters im<br />

nachhinein und unter objektiven Kriterien zu beurteilen versucht, wie man sich<br />

angesichts aller erkennbaren Umstände vor der schadensauslösenden Handlung<br />

hätte verhalten müssen. So schwierig <strong>die</strong>s klingt, so erscheint es doch möglich,<br />

eine derartige Beurteilung im Zusammenwirken von Richtern und medizinischen<br />

Sachverständigen zu erreichen.<br />

Zusammenfassend lässt sich also zur Frage der Vertragsverletzung folgen<strong>des</strong><br />

festhalten: Die gebotene und geschuldete Sorgfalt, welche der Arzt bei seinem<br />

Handeln anzuwenden hat, ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen.<br />

Grundlage der <strong>Haftung</strong> bildet <strong>die</strong> vertragliche Leistungspflicht. Sie lässt sich<br />

in zwei Teilbereiche gliedern, nämlich <strong>die</strong> allgemeinen, auch jeden andern Beauftragten<br />

als Schuldner treffenden Verpflichtungen sowie <strong>die</strong> berufsspezifischen<br />

Verpflichtungen. Den Verstoss gegen <strong>die</strong> medizinischen Sorgfaltsregeln<br />

kann der Jurist nur mit Hilfe <strong>des</strong> Gutachters feststellen. Dieser hat zu überprüfen,<br />

ob der Arzt, sofern der Patient keine besonderen Wünsche oder Weisungen<br />

geäussert hat, aus medizinischer Sicht vertretbare Entscheidungen getroffen<br />

und bei der Durchführung der Behandlung <strong>die</strong> erforderliche Sorgfalt<br />

aufgewendet hat. Sein Verhalten ist dann als akzeptabel anzusehen, wenn es<br />

dem derzeit üblichen Standard im konkreten Tätigkeitsfeld <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> entspricht.<br />

Auch wenn das Gutachten in <strong>die</strong>sem Sinne ein Fehlverhalten feststellt, den<br />

der Jurist in eigener rechtlicher Wertung als Vertragsverletzung beurteilt, so<br />

sind damit längst nicht alle Schwierigkeiten ausgeräumt. Als noch komplexer<br />

erweist sich nämlich <strong>die</strong> Überprüfung <strong>des</strong> nächsten Tatbestandsmerkmals -<br />

<strong>die</strong> Frage nach der Ursächlichkeit <strong>des</strong> Sorgfaltsverstosses für <strong>die</strong> eingetretene<br />

Gesundheitsschädigung.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 107<br />

3. Kausalität und Beweislast<br />

a) Eingetretene Schädigung als Folge einer Pflichtverletzung<br />

Das Tatbestandsmerkmal der Kausalität hat bei allen Arten von Schadensersatzansprüchen<br />

<strong>die</strong> gleiche, zentrale Funktion: Es begründet und begrenzt<br />

<strong>die</strong> Zurechnung von Handlungsfolgen. Zur Bejahung <strong>die</strong>ser Zurechnung ist<br />

zunächst erforderlich, dass sich eine eingetretene Schädigung als Folge einer<br />

Pflichtverletzung erweist. Diesen primären Aspekt bezeichnet man als naturwissenschaftliche<br />

oder natürliche Kausalität; sie ist immer dann gegeben,<br />

wenn <strong>die</strong> dem Schädiger vorgeworfene Verhaltensweise eine «conditio sine<br />

qua non» bildet, also nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass damit<br />

auch der eingetretene Schaden entfällt. Steht <strong>die</strong>ser Zusammenhang fest, so<br />

<strong>die</strong>nt <strong>die</strong> Kausalitätsprüfung in einem zweiten Schritt der Begrenzung der<br />

<strong>Haftung</strong>sfolgen. Da Kausalketten praktisch endlos und damit zugleich auch<br />

<strong>die</strong> Folgen unüberschaubar sind, muss <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong>sbegrenzung durch ein<br />

Abschneiden der Kausalkette erfolgen. Zu <strong>die</strong>sem Zwecke verwenden wir<br />

das Kriterium der Adäquanz: «Das Bun<strong>des</strong>gericht betrachtet den festgestellten<br />

natürlichen Kausalzusammenhang dann als adäquat und damit als<br />

rechtserheblich, wenn <strong>die</strong> Ursache nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge<br />

und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, einen Erfolg von der Art<br />

<strong>des</strong> eingetretenen herbeizuführen oder ihn jedenfalls zu begünstigen, wobei<br />

es durchaus auch ein ungewöhnlicher Zusammenhang sein kann.» 47<br />

Im Hinblick auf <strong>die</strong> Arzthaftung kommen beide Aspekte der Kausalität in<br />

Betracht, wobei das Hauptgewicht allerdings auf der Feststellung der natürlichen<br />

Kausalität liegt. Gerade das bereitet nun - wie oben unter Hinweis auf<br />

<strong>die</strong> Ausführungen von Zink schon hervorgehoben - ausserordentliche<br />

Schwierigkeiten; denn nur in einem Teil der Fälle wird der medizinische<br />

Gutachter einen Ursachenzusammenhang eindeutig bescheinigen können.<br />

Häufiger dürften <strong>die</strong> Fälle sein, in denen nicht ausgeschlossen werden kann,<br />

dass der fatale Verlauf der Ereignisse auch dann eingetreten wäre, wenn der<br />

Arzt sich richtig verhalten hätte.<br />

b) Nachweis der Kausalität<br />

Aus <strong>die</strong>ser Situation müssen juristische Konsequenzen gezogen werden. Sie<br />

liegen weniger auf dem Gebiet <strong>des</strong> Begriffs der Kausalität als bei deren<br />

Nachweis. Auszugehen ist von folgenden Grundvoraussetzungen: Bei der sogenannten<br />

natürlichen Kausalität handelt es sich um Tatsachen; sie müssen<br />

47 BGE 107 II 243; zum Ganzen: STARK. Ausservertragliches Haftpflichtrecht. (Zürich 1982).<br />

N 197 ff.


108 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

an sich zur Überzeugung <strong>des</strong> Gerichts feststehen 48 . Verfährt man im Bereich<br />

der Arzthaftung nach <strong>die</strong>sen Grundsätzen, so müsste in einem grossen Teil<br />

der Fälle <strong>die</strong> Kausalität verneint werden. Denn der dem Patienten obliegende<br />

positive Nachweis der Ursächlichkeit <strong>des</strong> ärztlichen Verhaltens für den eingetretenen<br />

Schaden würde nur selten erbracht werden können. Infolge<strong>des</strong>sen<br />

hat das Bun<strong>des</strong>gericht zu Recht schon früh eine Reduzierung der Anforderungen<br />

vorgenommen. In einem berühmt gewordenen Entscheid aus dem<br />

Jahre 1931 ging es um folgenden Fall 49 : Fünf Kinder einer Familie waren an<br />

Diphtherie erkrankt, zwei von ihnen sind gestorben. <strong>Der</strong> Arzt war von allem<br />

Anfang an vom Vorliegen einer Angina ausgegangen und hatte weitere,<br />

durchaus mögliche Abklärungen im Hinblick auf eine Diphtherie unterlassen.<br />

Das Urteil basiert auf der Annahme, dass <strong>die</strong> rechtzeitige Untersuchung<br />

zur richtigen Diagnose und zur Verabreichung eines Antidiphtherieserums<br />

geführt hätte. Das Bun<strong>des</strong>gericht bejaht «<strong>die</strong> überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />

einer Heilung beider Fälle bei Anwendung <strong>des</strong> Serums». Es stützt sich<br />

dabei auf <strong>die</strong> Aussagen <strong>des</strong> Experten, der «anhand seiner und anderer Erfahrung<br />

in anderen Fällen, deren Bedingungen dem gegebenen ungefähr entsprechen,<br />

und anhand der zahlenmässigen Erfassung der Erfahrung durch<br />

eine zuverlässige und ausgedehnte Statistik sich wenigstens für eine überwiegende<br />

Wahrscheinlichkeit, abgeleitet eben aus der allgemeinen Erfahrung,<br />

entschied». Demgegenüber erachtet das Bun<strong>des</strong>gericht es als unschädlich,<br />

wenn der Experte nicht ausschliessen wollte, dass «möglicherweise auch<br />

ohne <strong>die</strong> Fehler von Dr. X <strong>die</strong> Fälle ... tödlich verlaufen» wären.<br />

c) Zusammenfassung<br />

Zusammenfassend kann man also festhalten, dass <strong>die</strong> Rechtsprechung nicht<br />

den tatsächlichen Nachweis verlangt, dass ein anderer Kausalverlauf völlig<br />

ausgeschlossen sei. Vielmehr lässt sie es genügen, wenn <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit<br />

<strong>des</strong> behaupteten Kausalverlaufs so plausibel gemacht wird, dass das Gericht<br />

sich eine Überzeugung bilden kann. Allgemein gefasst formuliert das<br />

Bun<strong>des</strong>gericht <strong>die</strong>sen Standpunkt dahin, «dass dem Geschädigten nicht zugemutet<br />

werden könne, den Kausalitätsbeweis stets in zwingender Weise zu<br />

erbringen, vielmehr in der Regel den Nachweis, dass nach dem ordentlichen<br />

Gang der Dinge der Schaden aller Wahrscheinlichkeit nach auf <strong>die</strong> betreffende<br />

Ursache zurückzuführen sei, als hinreichend angesehen werden<br />

müsse» 50 . Die Schlussformulierung zeigt sehr deutlich, dass <strong>die</strong> in der Theo-<br />

41 Zum Beweis von Tatsachen: VOGEL, Grundriss <strong>des</strong> Zivilprozessrechts, (Bern 1984), §41<br />

N6-26.<br />

« BGE 57\\ 196ff.. Zitate S.206-212, unter Bezugnahme auf weitere Entscheide z.B. BGE 53 II<br />

426.<br />

50 BGE 57 II 209.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 109<br />

rie ganz klare Trennung zwischen der natürlichen und der adäquaten Kausalität<br />

bei der praktischen Rechtsanwendung verschwimmt. Dies verwundert<br />

nicht, wenn man sich den zuvor hervorgehobenen Gesichtspunkt in Erinnerung<br />

ruft, dass der Gesamtkomplex nichts anderes darstellt als ein aus faktischen<br />

und wertenden Elementen zusammengesetztes Zurechnungskriterium.<br />

Im Rahmen einer Zurechnung, <strong>die</strong> ein richterliches Ermessen beinhaltet und<br />

damit eine Wertung <strong>des</strong> Richters voraussetzt, ist es infolge<strong>des</strong>sen auch möglich,<br />

unter dem Gesichtspunkt der Adäquanz ganz atypische Kausalverläufe<br />

als nicht ursächlich zu qualifizieren.<br />

d) Fazit<br />

Damit erweist sich insgesamt das Kriterium der Kausalität als ein Steuerungselement<br />

im Haftpflichtsystem, das <strong>insbesondere</strong> im Bereich der Arzthaftung flexibel<br />

gehandhabt werden muss. Während einerseits gewisse extreme Kausalverläufe<br />

mit Hilfe der Adäquanztheorie ausgeschaltet werden können, ist andererseits<br />

festzuhalten, dass <strong>die</strong> schon generell zu beobachtenden «Beweiserleichterungen<br />

im Schadenersatzprozess» 51 im Bereich der Arzthaftung besondere<br />

Bedeutung erlangen. Ihre Funktion besteht darin, den Beweisnotstand<br />

<strong>des</strong> Patienten hinsichtlich der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für <strong>die</strong><br />

eingetretene Gesundheitsschädigung abzumildern. Ob man allerdings über<br />

<strong>die</strong>se abgewogene und durchaus praktikable Rechtsprechung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichts<br />

hinausgehen sollte, erscheint sehr zweifelhaft. So hat etwa der deutsche<br />

Bun<strong>des</strong>gerichtshof 52 eine Umkehr der Beweislast zugunsten <strong>des</strong> Patienten<br />

angenommen, wenn ein schwerer Kunstfehler <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> vorliegt. In<strong>des</strong>sen<br />

verlagert sich das Problem dadurch nur auf ein anderes Tatbestandsmerkmal;<br />

denn nunmehr hat der Patient nachzuweisen, dass es sich um einen besonders<br />

schweren Kunstfehler handelt. Häufig aber steht <strong>die</strong> Grösse der erlittenen<br />

Schäden in gar keiner Beziehung zur Schwere <strong>des</strong> Kunstfehlers und gerade<br />

bei einer Fülle von kleinen, in ihrem Zusammenwirken aber gravierenden<br />

Fehlern kann eine erhebliche Schädigung eintreten, welche dann wieder<br />

der Patient zu beweisen hätte. Infolge<strong>des</strong>sen sollte es in bezug auf den Beweis<br />

der Kausalität bei denjenigen Beweiserleichterungen bleiben, <strong>die</strong> sich<br />

schon in den Formeln <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtes andeuten. Es kommt weniger darauf<br />

an, theoretisch festzustellen, ob es sich dabei um Vermutungen oder um<br />

einen Anscheinsbeweis handelt, als darauf, dass den Gerichten eine gewisse<br />

Freiheit bei der Überzeugungsbildung eingeräumt und nicht allzu strenge<br />

Anforderungen an den Nachweis der Ursächlichkeit gestellt werden.<br />

M So der Titel einer richtungweisenden Untersuchung von J.PRÖLLS (München 1966); zusammenfassend<br />

STOLL, <strong>Haftung</strong>sverlagerung durch beweisrechtliche Mittel. AcP 176 (1976). S. 146ff.<br />

"Dazu LAUFS. N360ff. mit Nachweisen.


110 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Versucht man <strong>die</strong>se Gesichtspunkte zusammenzufassen, so lässt sich folgen<strong>des</strong><br />

festhalten: <strong>Der</strong> Patient muss eine Gesundheitsbeeinträchtigung behaupten,<br />

<strong>die</strong> in einer Verschlechterung oder einer unterbliebenen Verbesserung<br />

seines Zustan<strong>des</strong> bestehen kann. Diese muss ihrerseits darauf zurückzuführen<br />

sein, dass der behandelnde Arzt nicht <strong>die</strong> objektiv gebotene und nach<br />

dem Vertrag geschuldete Sorgfalt aufgewendet hat. Den Nachweis für all<br />

<strong>die</strong>se Merkmale kann der Patient praktisch nur durch Vorlage eines medizinischen<br />

Gutachtens führen; dabei genügt es, wenn <strong>die</strong>ses Gutachten bestätigt,<br />

dass der Gesundheitszustand schlechter ist, als er - vermutlich, wahrscheinlich,<br />

höchstwahrscheinlich - wäre, wenn der Arzt sich «richtig» verhalten<br />

hätte. Unter <strong>die</strong>sen Voraussetzungen kann ein Schadensersatzanspruch nur<br />

noch daran scheitern, dass das Fehlverhalten dem Arzt nicht vorgeworfen<br />

werden kann.<br />

4. Verschulden und Beweislast<br />

In aller Regel bereitet <strong>die</strong> Überprüfung <strong>des</strong> Verschuldens bei Vertragsverletzungen<br />

keine besonderen Schwierigkeiten. Das beruht auf zweierlei Umständen:<br />

Zunächst einmal wird - wie oben bereits dargelegt - aufgrund <strong>des</strong> letzten<br />

Halbsatzes in Art. 97 OR das Verschulden <strong>des</strong> Schuldners vermutet. Diese<br />

Regelung" beruht auf der Annahme <strong>des</strong> Gesetzgebers, dass ein Schuldner,<br />

der ein bestimmtes Leistungsverhalten versprochen hat, bei <strong>des</strong>sen Nichterfüllung<br />

<strong>die</strong> Gründe darlegen muss, <strong>die</strong> ihn an der Erbringung der geschuldeten<br />

Leistung verhindert haben. Diesen Nachweis kann der Schuldner bei der<br />

wirklichen Nichterfüllung eines Vertrages etwa dadurch führen, dass das<br />

Ausbleiben der Leistung - z. B. Lieferung einer Sache - auf Verschulden eines<br />

Dritten oder sonstige von ihm nicht zu beeinflussende Umstände wie<br />

Blitzschlag oder ähnliche unabwendbare Ereignisse zurückzuführen ist. Geht<br />

es dagegen - wie bei der Arzthaftung praktisch immer - um <strong>die</strong> nicht gehörige<br />

Erfüllung, also um einen Sorgfaltsmangel, so fällt der Entlastungsbeweis<br />

wesentlich schwerer. Er wird zusätzlich dadurch erschwert, dass im Bereich<br />

<strong>des</strong> Zivilrechts bei der Frage <strong>des</strong> Verschuldens grundsätzlich nicht auf <strong>die</strong> individuellen<br />

Eigenschaften <strong>des</strong> Handelnden abzustellen ist, sondern auf <strong>die</strong><br />

üblicherweise zu erwartenden Fähigkeiten eines durchschnittlichen Schuldners.<br />

Diesen Massstab bezeichnet man als den objektivierten Fahrlässigkeitsbegriff.<br />

Er findet seine Begründung darin, dass bei privatrechtlichen <strong>Haftung</strong>sansprüchen<br />

<strong>die</strong> individuellen Schwächen <strong>des</strong> jeweiligen Schuldners, <strong>die</strong><br />

dem Gläubiger bei Abschluss eines gewöhnlichen Schuldvertrages nur<br />

schwer oder gar nicht erkenntlich sind, keine Berücksichtigung finden dür-<br />

" Zum folgenden WIEGAND, a.a.O. (Anm.25).


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 111<br />

fen. Dies <strong>des</strong>halb, weil ansonsten <strong>die</strong> Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen<br />

von der zufälligen physischen, psychischen oder sonstigen Konstitution<br />

oder Leistungsfähigkeit <strong>des</strong> Schuldners abhinge.<br />

Gerade <strong>die</strong>se Gedankengänge zeigen jedoch, dass im Arztrecht der objektivierte<br />

Fahrlässigkeitsmassstab nicht ohne weiteres Anwendung finden kann.<br />

Aus den Ausführungen 54 über den Vertragsschluss und <strong>die</strong> dadurch konkretisierten<br />

Vertragsinhalte ergibt sich deutlich, dass beim <strong>Arztvertrag</strong> <strong>die</strong> persönlichen<br />

Merkmale <strong>des</strong> behandelnden <strong>Arztes</strong> in der Regel eine grössere Rolle<br />

spielen als bei anderen Verträgen. Ein zweiter Ansatzpunkt zur Abweichung<br />

von den traditionellen Kategorien findet sich in einem vom Gesetzgeber in<br />

<strong>die</strong>ser Weise nicht gemeinten, gleichwohl aber wichtigen Tatbestand <strong>des</strong> Auftragsrechts.<br />

Gemäss Art. 398 Abs. 1 haftet der Beauftragte nämlich «für <strong>die</strong><br />

gleiche Sorgfalt wie der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis». Diese Verweisung,<br />

<strong>die</strong> sich in allen auf Arbeitsleistung gerichteten Schuldverhältnissen<br />

findet, ist in ihrer Berechtigung ebenso umstritten wie in ihrer Tragweite 55 .<br />

Für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch von Bedeutung, dass gerade<br />

im Bereich der <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> Arbeitnehmers inzwischen eine Sondernorm geschaffen<br />

worden ist, <strong>die</strong> den objektivierten Fahrlässigkeitsbegriff weitgehend<br />

modifiziert. Es handelt sich um Art.321 e OR, der folgenden Wortlaut hat:<br />

«Das Mass der Sorgfalt, für <strong>die</strong> der Arbeitnehmer einzustehen hat, bestimmt sich<br />

nach dem einzelnen Arbeitsverhältnis, unter Berücksichtigung <strong>des</strong> Berufsrisikos, <strong>des</strong><br />

Bildungsgra<strong>des</strong> oder der Fachkenntnisse, <strong>die</strong> zu der Arbeit verlangt werden, sowie der<br />

Fähigkeiten und Eigenschaften <strong>des</strong> Arbeitnehmers, <strong>die</strong> der Arbeitgeber gekannt hat<br />

oder hätte kennen sollen.»<br />

Mit <strong>die</strong>ser Regelung 56 versucht der Gesetzgeber der besonderen Situation<br />

<strong>des</strong> Arbeitnehmers Rechnung zu tragen. Die Vorschrift wurde formuliert im<br />

Anschluss an eine in Deutschland entwickelte Doktrin, <strong>die</strong> mit den Schlagworten<br />

von der schadensgeneigten Arbeit und dem Berufsrisiko gekennzeichnet<br />

wird. Ziel der damit verbundenen theoretischen Bemühungen ist es, einen<br />

interessengerechten Risikoausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />

herbeizuführen. In der Schweiz ist <strong>die</strong> Interpretation <strong>die</strong>ser 1971 ins Gesetz<br />

eingefügten Regelung noch nicht gefestigt. Vielfach wird sie dahin verstanden,<br />

dass Art.321e OR <strong>die</strong> vom Arbeitnehmer geschuldete Sorgfalt modifiziere.<br />

Dieser Deutung kann sowohl angesichts <strong>des</strong> dogmatischen Hintergrunds<br />

und ihrer Entstehungsgeschichte, wie auch im Hinblick auf <strong>die</strong> Systematik<br />

<strong>des</strong> Vertragsrechts nicht zugestimmt werden. In Art. 321 e werden <strong>die</strong><br />

vertraglichen Pflichten <strong>des</strong> Arbeitnehmers nicht modifiziert, vielmehr wird<br />

" Siehe oben S. 101 ff.<br />

" Dazu HOFSTETTER. S.95ff.. insbes. S.97.<br />

"• Vgl. dazu MEIER. Die Berücksichtigung <strong>des</strong> Berufsrisikos bei der <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> Arbeitnehmers.<br />

Diss. Zürich. 1978.


112 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

der Fahrlässigkeitsbegriff und damit das Tatbestandsmerkmal <strong>des</strong> Verschuldens<br />

den besonderen Bedingungen <strong>des</strong> Arbeitsrechts angepasst. Auch im Arbeitsrecht<br />

ist <strong>die</strong> Sorgfaltspflichtverletzung nach objektiven Massstäben zu<br />

beurteilen, dagegen sind bei der Frage <strong>des</strong> konkreten Verschuldens <strong>des</strong> individuellen<br />

Arbeitnehmers <strong>die</strong> in Art. 321 e aufgeführten Kriterien zu berücksichtigen.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Massgabe kann Art. 321 e im Zusammenhang mit der<br />

Bezugnahme in 398 Abs. 1 OR auch für <strong>die</strong> Beurteilung <strong>des</strong> ärztlichen Verschuldens<br />

herangezogen werden.<br />

Daraus ergibt sich, dass bei der Frage, ob der Arzt fahrlässig gehandelt hat,<br />

anders als bei einer gewöhnlichen Vertragsverletzung <strong>die</strong> individuelle Leistungsfähigkeit<br />

und <strong>insbesondere</strong> das Berufsrisiko zu berücksichtigen sind. Auf<br />

<strong>die</strong>se Weise lassen sich gerade jene Aspekte erfassen, <strong>die</strong> in dem oben zitierten<br />

Bun<strong>des</strong>gerichtsentscheid anklingen: So kann es in der Tat sein, dass<br />

durch ein geringfügiges Versehen bei einer Operation ein aussergewöhnhcher<br />

Schaden eintritt, oder es kann sich ein typisches Risiko verwirklichen, das<br />

zwar vermeidbar ist, statistisch aber doch nicht ausgeschlossen werden kann.<br />

Mit dem Übergang zu einer derart individuellen Betrachtungsweise ist es<br />

auch möglich, Situationen zu erfassen, <strong>die</strong> im ärztlichen Leben alltäglich<br />

sind, so <strong>die</strong> Notwendigkeit einer raschen Entscheidung bei Dringlichkeit, <strong>die</strong><br />

Arbeit unter extrem ungünstigen Bedingungen - etwa an einem Unfallort. In<br />

all <strong>die</strong>sen Fällen genügt der Arzt der ihm obliegenden Behauptungs- und Beweislast,<br />

wenn er Umstände vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er in der<br />

konkreten Situation zwar nicht <strong>die</strong> objektiv mögliche Sorgfalt, wohl aber <strong>die</strong> zumutbare<br />

und ihm konkret mögliche Sorgfalt angewendet hat. Die Frage, ob unter<br />

<strong>die</strong>sen Umständen Fahrlässigkeit anzunehmen ist oder nicht, bleibt<br />

Rechtsfrage - sie ist vom Richter zu entscheiden.<br />

Die zuvor dargelegte Modifizierung <strong>des</strong> Fahrlässigkeitsmassstabes darf<br />

freilich nicht dazu führen, dass der Arzt in einer für den Patienten unzumutbaren<br />

Weise von der <strong>Haftung</strong> entlastet wird. Es ist <strong>des</strong>halb darauf hinzuweisen,<br />

dass eine Entlastung nicht in Betracht kommt, wenn der Arzt aufgrund<br />

mangelnder Weiterbildung nicht über den allgemein zugänglichen neuesten<br />

Wissensstand verfügte oder wenn er eine Tätigkeit übernommen hat, zu der<br />

ihm <strong>die</strong> entsprechende Ausbildung fehlte, obwohl <strong>die</strong> Zuziehung eines Spezialisten<br />

möglich gewesen wäre. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang spricht man vom<br />

sogenannten Übernahmeverschulden. Ein derartiges Übernahmeverschulden<br />

liegt auch bei Durchführung von Operationen und sonstigen Heilbehandlungen<br />

im Zustand der Erschöpfung und Übermüdung vor, auch wenn der<br />

Dienstplan eines Spitals das vorsehen sollte. Denn ebensowenig wie wir den<br />

übermüdeten Kraftfahrer von der <strong>Haftung</strong> für eventuelle Unfallfolgen entlasten<br />

können, darf <strong>die</strong>s beim Arzt geschehen - den Notfall immer vorbehalten.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 113<br />

D. Schadenersatz wegen fehlender oder ungenügender Aufklärung 57<br />

1. Tendenz in Richtung eines Ausweich- und Auffangtatbestan<strong>des</strong><br />

Wenn ich in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch auf <strong>Haftung</strong>sansprüche wegen<br />

Verletzung der Aufklärungspflicht eingehe, so geschieht das vor allem <strong>des</strong>halb,<br />

weil mit Hilfe <strong>die</strong>ser juristischen Konstruktion vielfach versucht wird,<br />

den schwierigen Nachweis eines ärztlichen Sorgfaltsverstosses zu umgehen.<br />

In der internationalen Entwicklung zeichnet sich <strong>des</strong>halb eine Tendenz in<br />

Richtung eines Ausweich- oder Auffangtatbestan<strong>des</strong> ab. Das schweizerische<br />

Bun<strong>des</strong>gericht 58 ist <strong>die</strong>ser Tendenz gefolgt und hat <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> bei unzureichender<br />

Zustimmung <strong>des</strong> Patienten aufgrund mangelhafter Aufklärung folgendermassen<br />

begründet:<br />

«3. - L'exigence d'un consentement eclaire se deduit directement du droit du patient<br />

ä la liberte personnelle et ä l'integrite corporelle: eile est liee ä l'existence d'un risque<br />

inherent ä tout acte medical, risque qui ne peut etre assume que par celui qui y est expose.<br />

Le medecin donc qui fait une Operation sans informer son patient ni en obtenir<br />

l'accord commet un acte contraire au droit et repond du dommage cause, que Ton voie<br />

dans son attitude la violation de ses obligations de mandataire ou une atteinte ä <strong>des</strong><br />

droits absolus et, partant, un delit civil. L'illiceite d'un tel comportement affecte l'ensemble<br />

de l'intervention et rejaillit de la sorte sur chacun <strong>des</strong> gestes qu'elle comporte.<br />

meme correctement executes du point de vue medical. Le medecin doit donc reparation<br />

pour tout dommage decoulant de l'echec total ou partiel de l'operation, lors meme<br />

qu'il n'aurait viole aucune <strong>des</strong> regles de l'art (HINDERUNG, Die ärztliche Aufklärungspflicht,<br />

p.74; LOEFFLER, Die <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> aus ärztlicher Behandlung, p. 16 et<br />

96s.; SAVATIER, La responsabilite civile, 2 e ed., n°782: SAVATIER/AUBY/SAVATIER/PE-<br />

QUIGNOT, Traite de droit medical, p.229 et 259; LALFS, Arztrecht, 2 e ed., n°69; STAL-<br />

DINGER, Kommentar zum BGB, 10/1 l e ed. n° 398 ad par.823). Le risque de l'acte medical,<br />

normalement Supporte par le patient, passe au praticien qui intervient sans obtenir<br />

le consentement eclaire qu'il aurait pu et du solliciter (KORNPROBST, Responsabilites du<br />

medecin, p.438; NEY, La responsabilite <strong>des</strong> medecins, these Lausanne 1979, p. 106s.).»<br />

In der ausführlich wiedergegebenen Begründung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtes<br />

fliessen dogmatische Elemente aus verschiedenen Rechtsordnungen ineinander,<br />

wie es sich sowohl aus den Literaturnachweisen im Urteil als auch aus<br />

der verwendeten Terminologie ergibt. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> für den sogenannten Aufklärungsschaden'''' als solche<br />

systemwidrig ist, weil sie den im Zusammenhang mit dem Sorgfaltsverstoss<br />

dargelegten Grundvoraussetzungen einer jeden Schadensersatzhaftung in we-<br />

17 Zum folgenden insbes. STÜRNER, SJZ 1984. S. 127 f.<br />

SS BGE 108 U 59 ff., Zitat S. 62.<br />

" Die Begriffsbildung ist uneinheitlich, vielfach wird darunter auch der Schaden verslanden,<br />

der durch Aufklärung (z.B. Schock) entsteht.


114 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

sentlichen Punkten nicht gerecht wird 60 . Dies allein wäre noch kein Grund,<br />

von der eingeschlagenen Richtung wieder abzugehen, wenn sich nicht aus<br />

dem verfehlten dogmatischen Ansatz weitere inakzeptable Konsequenzen ergäben.<br />

2. Die Aufklärungspflicht als Ausfluss <strong>des</strong> allgemeinen Persönlichkeitsrechtes<br />

oder <strong>des</strong> Deliktsrechtes<br />

Ansatzpunkt der Rechtsprechung ist <strong>die</strong> Aufklärungspflicht <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>. Diese<br />

lässt sich sowohl aus dem Vertrag wie auch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht<br />

wie schliesslich aus dem Deliktsrecht begründen, wie in den verschiedenen<br />

vorausgehenden Referaten bereits dargelegt wurde 61 . Infolge<strong>des</strong>sen<br />

kommt es hier auch nicht mehr auf <strong>die</strong> problematische Frage <strong>des</strong> erforderlichen<br />

Umfangs der Aufklärung an, sondern auf den für das Schadensersatzrecht<br />

zentralen Aspekt, welches Rechtsgut <strong>die</strong> Aufklärungspflicht schützen<br />

soll. Aus den vorausgehenden Beiträgen ergibt sich, dass <strong>die</strong> Aufklärung dem<br />

Patienten <strong>die</strong> Möglichkeit eröffnen soll, in Kenntnis aller Umstände <strong>die</strong> Vorund<br />

Nachteile einer Behandlung abzuwägen und auf <strong>die</strong>ser Basis seine Entscheidung<br />

zu treffen. Die Zustimmung <strong>des</strong> aufgeklärten Patienten zur Heilbehandlung<br />

ergibt sich also aus <strong>des</strong>sen Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrecht.<br />

Die Pflicht zur Aufklärung stellt sich unter <strong>die</strong>sem Aspekt als eine<br />

korrespon<strong>die</strong>rende Verpflichtung dar - mag sie nun deliktisch oder vertraglich<br />

betrachtet werden. Daraus ergibt sich aber, dass <strong>die</strong>se Verpflichtung<br />

nicht dem Schutz der körperlichen Integrität <strong>des</strong> Patienten, sondern ausschliesslich<br />

dem Schutz seiner freien Willensbildung <strong>die</strong>nt. Verfolgt man <strong>die</strong>sen<br />

Gedanken konsequent, so kommt eine <strong>Haftung</strong> allenfalls in Form einer<br />

Genugtuung in Betracht, <strong>die</strong> darauf beschränkt wäre, einen immateriellen<br />

Ausgleich für <strong>die</strong> Beeinträchtigung eines Teils <strong>des</strong> Persönlichkeitsrechts zu<br />

gewähren. Wäre sie auf <strong>die</strong>se Funktion beschränkt, hätte <strong>die</strong> Aufklärungshaftung<br />

im praktischen Rechtsleben vermutlich geringe Bedeutung. Tatsächlich<br />

wird sie nämlich - wie <strong>die</strong> Zitate aus dem Bun<strong>des</strong>gerichtsentscheid zeigen -<br />

erst dadurch für den Patienten wirklich interessant, dass es mit Hilfe <strong>die</strong>ser<br />

<strong>Haftung</strong> möglich ist, typische Behandlungsrisiken als Schäden geltend zu<br />

machen, selbst wenn weder ein Sorgfaltsverstoss noch ein Verschulden nach<br />

den oben entwickelten Massstäben vorliegt.<br />

»Statt aller: LAUFS. N 115ff.<br />

" Vgl. ARZT, in <strong>die</strong>sem Buch S.49ff.: BUCHER. in <strong>die</strong>sem Buch S.39ff.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 115<br />

3. <strong>Der</strong> Rechtswidrigkeitszusammenhang und <strong>die</strong> Beweislast<br />

Die Systemwidrigkeit <strong>die</strong>ses Vorgehens ergibt sich nun daraus, dass <strong>die</strong> Aufklärungspflicht<br />

- wie schon hervorgehoben wurde - <strong>die</strong> körperliche Integrität<br />

als solche gar nicht schützt. Eine Pflicht- oder Rechtswidrigkeit im Sinne <strong>des</strong><br />

<strong>Haftung</strong>srechts ist aber grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn ein sogenannter<br />

Rechtswidrigkeitszusammenhang besteht, das heisst nichts anderes,<br />

als dass <strong>die</strong> nicht beachtete Pflicht gerade <strong>die</strong> Funktion gehabt haben muss,<br />

das verletzte Rechtsgut zu schützen. Das Fehlen <strong>die</strong>ses in seiner grundsätzlichen<br />

Berechtigung an sich nicht umstrittenen Kriteriums zeigt sich nun deutlich<br />

in den weiteren Überlegungen, <strong>die</strong> den Kausalzusammenhang betreffen.<br />

Das Bun<strong>des</strong>gericht a führt in <strong>die</strong>sem Zusammenhang folgen<strong>des</strong> aus:<br />

«La cour cantonale a nie qu'un lien de causalite füt etabli entre l'attitude du defendeur<br />

et le prejudice de la demanderesse, faute pour celle-lä d'avoir prouve qu'elle n'eüt<br />

pas consenti ä l'operation si eile en avait connu la nature exacte et les risques. Cette<br />

exigence supplementaire en matiere de preuve repose sur une conception erronee du<br />

fait generateur de l'obligation de reparer. Ce fait, l'acte contraire au droit, est l'operation<br />

faite sans consentement eclaire, consideree comme un tout indivisible. Le patient<br />

peut donc se contenter de demontrer qu'il n'aurait vraisemblablement pas ete lese dans<br />

son integrite corporelle si son medecin s'etait abstenu de l'intervention consideree, que<br />

l'operation lui a <strong>des</strong> lors fait perdre une chance de conserver la sante. II n'a pas ä prouver<br />

l'attitude qu'il aurait adoptee par hypothese dans <strong>des</strong> circonstances qui ne se sont<br />

pas produites.»<br />

Es ist ganz offenkundig, dass bei <strong>die</strong>ser Betrachtungsweise <strong>die</strong> anerkannten<br />

Grundsätze <strong>des</strong> Schadensersatzrechts bewusst umgangen werden. Vollkommen<br />

zu Recht hatte <strong>die</strong> vom Bun<strong>des</strong>gericht gerügte Vorinstanz <strong>die</strong> Frage<br />

<strong>des</strong> Kausalzusammenhangs anders betrachtet. Es geht nämlich nicht um den<br />

ganz unbestreitbaren Zusammenhang zwischen dem ärztlichen Heileingriff<br />

und der Gesundheitsverschlechterung, sondern ausschliesslich darum, ob<br />

<strong>die</strong>ser Eingriff unterblieben wäre, wenn der Patient besser aufgeklärt worden<br />

wäre. Nur dann nämlich kann man davon sprechen, dass er «eine Chance<br />

verloren hat, seine Gesundheit zu behalten» 63 . Gerade <strong>die</strong>ser letzte Aspekt<br />

zeigt aber sehr deutlich, dass <strong>die</strong> gesamte Aufklärungshaftung schon vom<br />

Ausgangspunkt her überaus problematisch ist; denn sie betrifft praktisch nur<br />

Fälle, in denen der Patient eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Behandlungsalternativen<br />

oder gar über das «ob» einer Behandlung hat. Da es sich<br />

bei der vom Bun<strong>des</strong>gericht zu beurteilenden Operation um einen derartigen<br />

Fall handelt, ist <strong>die</strong> vom Entscheid eingeschlagene Richtung noch einmal zu<br />

überdenken. Dabei sind weniger <strong>die</strong> oben skizzierten dogmatischen Vorbe-<br />

«BGE WSW 63<br />

"Zu <strong>die</strong>sem der französischen Doktrin entnommenen Argument insbes. STOLL (Anm.51).<br />

S. 127.


116 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

halte massgebend, als <strong>die</strong> im folgenden darzulegenden Gesichtspunkte. Aus<br />

der Konzeption <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichts ergeben sich nämlich gravierende Folgen<br />

für <strong>die</strong> Verteilung der Beweislast, <strong>die</strong> aus den wiedergegebenen Passagen<br />

schon ersichtlich sind. Während es nämlich sowohl nach Vertragsrecht wie<br />

nach Deliktsrecht ganz selbstverständlich wäre, dass der auf Schadensersatz<br />

klagende Patient <strong>die</strong> Voraussetzung der Pflichtverletzung und deren Kausalität<br />

für den eingetretenen Schaden nachweisen müsste, genügt hier der Beweis<br />

nicht erfolgter oder nicht hinreichender Aufklärung. Hinsichtlich <strong>die</strong>ses Beweises<br />

sind zwei Punkte zu unterscheiden: Zunächst einmal geht es um <strong>die</strong><br />

Frage, wodurch der Nachweis der Aufklärung erfolgen kann, sodann um <strong>die</strong><br />

Beweislastverteilung.<br />

a) Mündliche Aufklärung oder Aufklärung durch Formulare<br />

Im Hinblick auf <strong>die</strong> allgemeine Bedeutung der Aufklärung ist man von nur<br />

mündlicher Information <strong>des</strong> Patienten vielfach abgekommen. Die inzwischen<br />

weitverbreitete Verwendung von Formularen stellt allerdings kein Allheilmittel<br />

dar. Theoretisch betrachtet handelt es sich dabei um nichts anderes als<br />

eine Sonderform von allgemeinen Geschäftsbedingungen, so dass <strong>die</strong> von der<br />

Rechtsprechung entwickelten Kriterien über <strong>die</strong> Wirksamkeit derartiger vorformulierten<br />

Vertragsbedingungen entsprechend heranzuziehen sind 64 . Sind<br />

<strong>die</strong> Formulare zu allgemein gehalten, so wird man <strong>die</strong> Judikatur über <strong>Haftung</strong>sausschlüsse<br />

" heranziehen müssen, <strong>die</strong> besagt, dass ein allgemeiner <strong>Haftung</strong>sverzicht<br />

spezifische und spezielle <strong>Haftung</strong>sgründe nicht ergreift. Überträgt<br />

man <strong>die</strong>sen Gedankengang auf das Arztrecht, so ergibt sich daraus, dass<br />

gerade <strong>die</strong>jenigen Punkte, <strong>die</strong> Gegenstand der Aufklärung sein sollten, nämlich<br />

typische Operationsverläufe und statistische Risiken von einer solchen<br />

globalen Klausel nicht erfasst würden. Geht <strong>die</strong> Aufklärung zu sehr ins Detail,<br />

so besteht <strong>die</strong> Gefahr, dass <strong>die</strong> Formulierungen dem nicht sachverständigen<br />

Patienten nichts sagen, so dass auch hier Zweifel an der Wirksamkeit der<br />

Aufklärung begründet wären 66 .<br />

Erfolgt <strong>die</strong> Aufklärung nur mündlich, so ist unbedingt ein Vermerk in den<br />

Krankenunterlagen zu machen. Wird <strong>die</strong> Krankengeschichte insoweit unvollständig<br />

geführt, gilt das als ein Tatbestand der Beweisvereitelung, der in jedem<br />

Fall zu einer Umkehr der Beweislast zu Ungunsten <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> führt, sofern<br />

<strong>die</strong>ser nicht schon überhaupt <strong>die</strong> Beweislast für <strong>die</strong> erfolgte Aufklärung<br />

trägt.<br />

"Vgl. dazu A. KRAMER. Berner Kommentar. Band VI. l.Abt., l.Teilbd.. Lieferung 1, N 173 ff.<br />

zu Art I OR.<br />

"Vgl. z.B. BGE 107 U 161 ff.<br />

M Dazu ZINK, oben S. 26ff.. 34f.


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 117<br />

b) Angemessene Verteilung der Beweislast<br />

Eine derartige Beweislastverteilung ist im deutschen Recht allgemein anerkannt,<br />

sie wird in der Literatur auch für das schweizerische Recht angenommen.<br />

<strong>Der</strong> oben zitierte Bun<strong>des</strong>gerichtsentscheid lässt <strong>die</strong> Stellung der Rechtsprechung<br />

nicht eindeutig erkennen, ist aber wohl in <strong>die</strong>sem Sinne zu verstehen<br />

67 .<br />

In jedem Fall sollte <strong>die</strong>se Position noch einmal in Erwägung gezogen werden<br />

im Hinblick auf <strong>die</strong> rechts- bzw. gesundheitspolitischen Folgen. Eine<br />

Überspannung der Aufklärungsanforderungen führt nicht nur zu den mehrfach<br />

erwähnten Unzuträglichkeiten im Verhältnis Arzt/Patient, sie bringt<br />

auch ausserordentliche Rechtsanwendungsprobleme mit sich. Besondere Beachtung<br />

ver<strong>die</strong>nt <strong>des</strong>halb der Umstand, dass im amerikanischen Recht, das<br />

im Hinblick auf den Sorgfaltsverstoss <strong>die</strong> Beweissituation für den Patienten<br />

günstig gestaltet und damit <strong>die</strong> bekannt strenge <strong>Haftung</strong> ermöglicht, <strong>die</strong> Aufklärungshaftung<br />

gänzlich anders gehandhabt wird. Hier hat der Patient den<br />

Beweis dafür zu führen, dass der Arzt ihn nicht hinreichend aufgeklärt habe.<br />

<strong>Der</strong> Patient hat weiter zu beweisen, dass <strong>die</strong> fehlende Aufklärung ursächlich<br />

für den eingetretenen Schaden war. Das ist nur dann anzunehmen, wenn<br />

nachgewiesen wird, dass ein vernünftiger und besonnener Patient nach erfolgter<br />

Aufklärung seine Zustimmung zur Behandlung oder Operation verweigert<br />

hätte.<br />

Sofern man sich nicht dazu bereitfinden kann, auf eine <strong>Haftung</strong> wegen<br />

Verletzung der Aufklärungspflicht im Sinne eines Auffangtatbestan<strong>des</strong> gänzlich<br />

zu verzichten, sollte man <strong>die</strong> Beweislast im hier geschilderten Sinne verteilen<br />

oder allenfalls eine Art «Arbeitsteilung» vorsehen: <strong>Der</strong> Patient muss<br />

<strong>die</strong> mangelhafte Aufklärung beweisen, womit dann zugleich <strong>die</strong> Kausalität<br />

indiziert wäre. <strong>Der</strong> Arzt hätte dann nachzuweisen, dass ein «vernünftiger und<br />

besonnener» Patient bei erfolgter richtiger Aufklärung zugestimmt hätte.<br />

IV. Resümee und Ausblick<br />

Dies führt mich zu einigen abschliessenden Bemerkungen, <strong>die</strong> nicht nur für<br />

<strong>die</strong> Aufklärungshaftung, sondern für <strong>die</strong> Arzthaftung generell gelten. Die<br />

Frage der Beweislast erweist sich als der zentrale Angelpunkt in der Verteilung<br />

<strong>des</strong> Risikos zwischen Arzt und Patient. So ist es nur konsequent, wenn<br />

in der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland ein geschädigter Patient das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht<br />

mit der Begründung angerufen hat, dass <strong>die</strong> im Arztprozess<br />

" So etwa STÜRNER, SJZ 1984. S. 122. dort (S. 125) auch Nachweise zum amerikanischen Recht:<br />

kritisch aber NEY, S.95 und VON DER MÜHLL.


118 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

übliche Beweislastverteilung seine Grundrechte verletze 68 . Und es ist symptomatisch,<br />

dass das deutsche Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht <strong>die</strong>se Beschwerde bei<br />

vier zu vier Stimmen nur <strong>des</strong>halb verworfen hat, weil zur Annahme einer Verfassungsbeschwerde<br />

eine Stimmenmehrheit erforderlich ist und ein Stichentscheid<br />

durch den Präsidenten, der ebenfalls für <strong>die</strong> Annahme votiert hatte,<br />

nicht in Betracht kommt. Ich erwähne <strong>die</strong>s <strong>des</strong>halb, um hervorzuheben, dass<br />

<strong>die</strong> Fragen der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozess eminente rechtsund<br />

darüber hinaus, wenn man so will, gesundheits- und sozialpolitische Bedeutung<br />

hat. Auch <strong>die</strong>s ist in<strong>des</strong>sen keine auf das Arztrecht beschränkte Beobachtung.<br />

Vielmehr habe ich wiederholt hervorgehoben, dass auch im Bereich<br />

der dem Arztrecht verwandten Produktehaftpflicht sowie im Bereich<br />

<strong>des</strong> Umweltschutzrechtes <strong>die</strong> Gerichte eine Neuverteilung der Beweislast<br />

vorgenommen haben, um veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen. Ich<br />

glaube allerdings, dass <strong>die</strong> hier dargelegte Konzeption bezüglich der Sorgfaltshaftung<br />

wie der Aufklärungspflichtverletzung einen ausgewogenen Kompromiss<br />

darstellt, der es dem Patienten erlaubt, seine Rechte in angemessener<br />

Weise wahrzunehmen und den Arzt, ohne ihn unnötig zu schonen, vor übermässiger<br />

Einengung beschützt. Wollte man <strong>die</strong> Beweislast hinsichtlich <strong>des</strong><br />

Sorgfaltsverstosses zu Lasten <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> umkehren, muss man immerhin <strong>die</strong><br />

Konsequenz sehen, dass <strong>die</strong>s im Ergebnis auf eine Kausalhaftung hinausläuft.<br />

Über deren Nützlichkeit wird man sowohl unter juristischen wie ökonomischen<br />

Gesichtspunkten nachzudenken haben. Dagegen erscheint es mir<br />

geboten, im Bereich der Aufklärungspflicht <strong>die</strong> Schadensersatzhaftung gänzlich<br />

aufzugeben, wenigstens aber <strong>die</strong> Beweislast in dem hier vorgeschlagenen<br />

Sinne zu verteilen.<br />

Anhang<br />

1. Zusammenstellung der wichtigsten Bun<strong>des</strong>gerichtsentscheide betreffend das<br />

Arzthaftungsrecht:<br />

BGE 108 II 59ff. = Pra 71 Nr. 122; 105 II 248ff. = Pra 69 Nr. 135; 93 II<br />

19ff.; 9/II438ff; 70 II 207; 67 II 22 ff.; 66 II 34 ff.; 64 II 200; 62 II 274; 57<br />

II 196 ff; 53 II 419; 34 II 32; 18 860.<br />

2. Einige allgemeine Literaturhinweise zum Arzthaftungsrecht:<br />

BUCHER E., Die Ausübung der Persönlichkeitsrechte, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> Persönlichkeitsrechte<br />

<strong>des</strong> Patienten als Schranke der ärztlichen Tätigkeit, Diss. Zürich 1956.<br />

GALTSCHI G., Berner Kommentar, Bd. VI, 4.Teilbd.: <strong>Der</strong> einfache Auftrag, 3. Aufl.,<br />

Bern 1971.<br />

" BVerfGE 52. 131. Dazu NIEBLER. in: KAUFMANN. Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen<br />

und Vertrauen. Düsseldorf 1984. S. 23 ff..


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 119<br />

GIESEN D., Arzthaftungsrecht, Bielefeld 1981.<br />

GROSS J., Die persönliche Freiheit <strong>des</strong> Patienten, Diss. Bern 1977.<br />

HAUSHEER H. in: Medical Responsibility in Western Europe, Research Study of the<br />

European Science Foundation, Hrsg. Prof. E. Deutsch und H.-L.Schreiber, Göttingen<br />

1985 (wird Ende Mai 1985 erscheinen).<br />

HOFSTETTER J., <strong>Der</strong> Auftrag und <strong>die</strong> Geschäftsführung ohne Auftrag, bei: F.VISCHER,<br />

Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII, 2.Halbbd., Basel/Stuttgart 1979, S. 1 ff.<br />

LAUFS A., Arztrecht, 3. Aufl., München 1984.<br />

LOEFFLER W., Die <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> aus ärztlicher Behandlung, Diss. Zürich 1945.<br />

LOTZ A., Zur Frage der rechtlichen Verantwortlichkeit <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, BJM 1968, S. 107 ff.<br />

VON DER MÜHLL M., Etüde pratique sur la responsabilite professionnelle du medecin,<br />

ZSR 100(1981), S. 289 ff.<br />

NARR H., <strong>Der</strong> ärztliche Kunstfehler, Schweiz. Ärztezeitung, 62 (1981), S.24ff.<br />

NEY M., La responsabilite <strong>des</strong> medecins et de leurs auciliaires notamment ä raison de<br />

l'acte operatoire, Diss. Lausanne 1979.<br />

OTT W. E., Voraussetzungen der zivilrechtlichen <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, Diss. Zürich 1978.<br />

Patient - Patientenrecht, collection volk + recht, Bern 1984.<br />

SCHROEDER K., Probleme der zivilrechtlichen <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> freipraktizierenden Zahnarztes,<br />

Diss. Zürich 1982.<br />

STARK E., Die Bemessung <strong>des</strong> Verschuldens in Arzt-Haftpflicht-Fällen, in Festgabe<br />

Fritz Schwarz, Bern 1968.<br />

STEYERT R. H., Zur <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, SJZ 77 (1981), S. 109 f.<br />

STÜRNER R., Die schweizerische Arzthaftung im internationalen Vergleich, SJZ 80<br />

(1984), S. 121 ff.<br />

Diskussion zum Referat von Prof. Dr. W. Wiegand<br />

R. MORGENTHALER-JÖRIN, Unterseen: Seit einiger Zeit bin ich Patientin bei einem<br />

Arzt, der mir gesagt hat, <strong>die</strong> Behandlung sei für ihn abgeschlossen, da<br />

ich seiner Meinung nach gesund sei; ich allerdings fühle mich krank. Ich<br />

wollte <strong>des</strong>halb wissen, wie mein Arzt zu seinem Schluss gekommen ist. Die<br />

Einsicht in meine Krankenakten wurde mir jedoch verweigert.<br />

Deshalb meine Frage: auf welchem Wege kann ich Einsicht in meine Anamnese<br />

und meine Befunde erlangen?<br />

REFERENT: Nach meiner persönlichen Meinung haben Sie einen vertraglichen<br />

Anspruch auf Offenlegung der Dokumentation, der auch durch das<br />

neue bernische Gesundheitsgesetz geschützt werden wird. Dabei handelt es<br />

sich um einen zusätzlichen öffentlich-rechtlichen Anspruch. Nach meiner<br />

Meinung können Sie Ihrem Arzt erklären, Sie würden den <strong>Arztvertrag</strong> als<br />

beendet betrachten und wollten nun Auskunft über <strong>die</strong> durchgeführten Untersuchungen,<br />

<strong>die</strong> Behandlung und deren Beurteilung; <strong>die</strong>ser Anspruch unterscheidet<br />

sich m.E. nicht von dem Anspruch gegen einen Treuhänder oder<br />

Steuerberater auf Rechnungslegung.


120 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Dabei ist der Arzt selbstverständlich berechtigt, subjektive Eintragungen<br />

und persönliche Werturteile, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> Krankheit betreffen, Ihnen vorzuenthalten;<br />

<strong>die</strong>s kann z.B. durch Überkleben vor dem Fotokopieren oder<br />

durch eine beglaubigte Abschrift geschehen.<br />

T.JÄGGI, Dr.iur., Bern: Dürfte ich Herrn Prof.Wiegand darum bitten, zu<br />

erläutern, weshalb er eine Kausalhaftung der Ärzte für bedenklich hält.<br />

REFERENT: Wir können uns in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auf einen internationalen<br />

Vergleich beziehen; Länder wie Neuseeland und Schweden haben<br />

Kausalhaftungen eingeführt. Zudem kennen wir <strong>die</strong> Zusammenhänge zwischen<br />

Versicherung und Rechtsprechung sowie <strong>die</strong> ökonomischen Zusammenhänge<br />

zwischen Versicherung und Verhalten <strong>des</strong> Versicherungsnehmers.<br />

Alle <strong>die</strong>se Erkenntnisse führen - aus ökonomischer Sicht - zu dem Schluss,<br />

dass bei hoher Versicherung der Anreiz zu einem sorgfältigen Verhalten geringer<br />

wird. Diese Aspekte dürfen trotz <strong>des</strong> hohen Berufsethos der Ärzte<br />

nicht vernachlässigt werden.<br />

Wenn der - an <strong>die</strong>ser Tagung mehrfach erwähnte - Polizeiwagen weg ist,<br />

wenn eine Kausalhaftung besteht, <strong>die</strong> dazu führt, dass man auf jeden Fall<br />

haftet, ob man sich nun Mühe gegeben hat oder nicht -, dann wird das meiner<br />

Ansicht nach Auswirkungen auf das ärztliche Verhalten haben.<br />

Ein weiterer Punkt: Es gibt zahlreiche Untersuchungen, <strong>die</strong> beweisen, dass<br />

<strong>die</strong> Rechtsprechung Schadensersatzansprüche dann leichter gewährt, wenn<br />

der Betroffene versichert ist. Diese Veränderung <strong>des</strong> Privatrechtes durch das<br />

Versicherungsrecht ist heute ein allgemein anerkanntes Faktum. Folglich<br />

würde <strong>die</strong> Einführung einer Kausalhaftung zu einem enormen Anschwellen<br />

der Fälle führen, in denen eine ärztliche <strong>Haftung</strong> bejaht würde.<br />

R.STEYERT, Dr.iur., Basel: Ich frage mich, ob sich aus der Einführung einer<br />

Kausalhaftung tatsächlich derart gravierende Folgen ergeben würden;<br />

denn schon heute wird ja in den kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzen, <strong>die</strong><br />

das Verhältnis zwischen dem Patienten und dem öffentlichen Spital regeln,<br />

eine Kausalhaftung statuiert; <strong>die</strong>s ist zumin<strong>des</strong>t bei moderneren Gesetzen der<br />

Fall.<br />

Kausalhaftung bedeutet ja nur <strong>Haftung</strong> ohne Verschulden, nicht aber <strong>Haftung</strong><br />

ohne objektiven Regelverstoss. Das heisst: Auch bei der Kausalhaftung<br />

bleibt <strong>die</strong> Notwendigkeit erhalten, den objektiven Regelverstoss und damit<br />

<strong>die</strong> mangelhafte Vertragserfüllung nachzuweisen.<br />

REFERENT: Das ist mir durchaus bekannt; es darf jedoch nicht ausser acht<br />

gelassen werden, dass <strong>die</strong> Einführung von Kausalhaftungen langfristig zu<br />

Verlagerungen führt. Dies ist in anderen Bereichen - z. B. in dem der Produk-


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 121<br />

tehaftpflicht - aus dem internationalen Vergleich eindeutig nachweisbar.<br />

Letztlich handelt es sich hier um eine rechtspolitische Fragestellung. Die<br />

schweizerischen Kausalhaftungen scheinen mir zu jung zu sein, um aus ihnen<br />

schlüssige Ergebnisse herzuleiten. Ich bleibe <strong>des</strong>halb bei meiner Meinung,<br />

dass <strong>die</strong> Einführung der Kausalhaftung ein Schritt in <strong>die</strong> falsche Richtung<br />

wäre.<br />

A. ILERI, Dr.iur., Zürich: Ich kann mich Ihrer Auffassung nicht anschliessen,<br />

dass sich aus einer Kausalhaftung der Ärzte eine weniger sorgfältige Arbeitsweise<br />

ergeben würde. Zuerst einmal gibt es auch das strafrechtliche Verfahren;<br />

sodann kann der Arzt versicherungstechnisch an den Kosten beteiligt<br />

werden. Schliesslich wird <strong>die</strong> Frage <strong>des</strong> Verschuldens mit Bezug auf Genugtuungsforderungen<br />

erhalten bleiben; <strong>die</strong> Summen der Genugtuungsleistungen<br />

werden ja in letzter Zeit - erfreulicherweise - etwas höher angesetzt. Aus<br />

<strong>die</strong>sen Gründen sind <strong>die</strong> Folgen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Einführung einer Kausalhaftung auf<br />

<strong>die</strong> aufgewendete Sorgfalt hätte, wohl nicht so bedeutend.<br />

Noch eine weitere Bemerkung: Die Zahl der Patienten, <strong>die</strong> in öffentlichen<br />

Spitälern behandelt werden, dürfte einiges höher sein als <strong>die</strong> der Patienten,<br />

<strong>die</strong> in Privatpraxen behandelt werden. Auch <strong>die</strong>ser Gesichtspunkt lässt <strong>die</strong><br />

ökonomische Bedeutung <strong>des</strong> Problemes der Kausalhaftung als geringer erscheinen.<br />

REFERENT: Meiner Meinung nach ist <strong>die</strong>ses ökonomische Problem existent.<br />

Denn eine Erhöhung der Versicherungsleistungen führt zu einer Erhöhung<br />

der Prämien, <strong>die</strong>se wiederum zu einer Erhöhung der Honorarforderungen,<br />

was sich in den Kosten für <strong>die</strong> Krankenkasse niederschlägt. Erst wenn man<br />

<strong>die</strong>se gesamte Kette übersieht, kann man über <strong>die</strong> Frage der Kausalhaftung<br />

diskutieren, und zwar vom rechtspolitischen Standpunkt aus.<br />

R. BERCHTOLD, Prof. Dr.med., Bern: Als Mediziner bin ich erstaunt, Voten<br />

zugunsten der Kausalhaftung zu hören. Es wird zwar von rechtspolitischen<br />

Gründen, von ökonomischen Gründen, nicht aber von den gesundheitspolitischen<br />

Gründen gesprochen. Und gerade hier habe ich Bedenken: Denn das<br />

Verhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt würde doch erheblich beeinträchtigt,<br />

wenn der Arzt im Patienten immer schon den zukünftigen Kläger<br />

sehen würde. Zudem würden sich aus einer Erhöhung der Zahl der Klagen<br />

beträchtliche Umtriebe ergeben; einen Vorteil der Einführung einer Kausalhaftung<br />

könnte man <strong>des</strong>halb allenfalls darin sehen, dass der Juristenüberschuss<br />

beschäftigt werden könnte...<br />

B.GLAUS, Journalist, Zürich: Es wurde das Übernahmeverschulden angesprochen;<br />

tatsächlich ist in den letzten drei wichtigen Anästhesieprozessen in


122 WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong><br />

Zürich immer wieder von den Arbeitsbedingungen der Anästhesiten <strong>die</strong> Rede<br />

gewesen. In einem sehr bekannten Fall hat man auch interne Dokumente<br />

herangezogen, in denen der Chefarzt selbst <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen gegenüber<br />

der Erziehungsdirektion beanstandet hat: Nach seiner Meinung sei ein<br />

sicherer Operationsbetrieb aus der Sicht der Anästhesie praktisch nicht mehr<br />

gewährleistet.<br />

Ich möchte an Prof. Wiegand <strong>des</strong>halb <strong>die</strong> Frage richten, ob der für den<br />

Operationsbetrieb verantwortliche Chefarzt - also nicht der Operateur oder<br />

der einzelne Assistenzarzt - unter dem Aspekt <strong>des</strong> Kunstfehlers belangt werden<br />

kann, und zwar mit Bezug auf <strong>die</strong> von ihm mitzuverantwortenden Arbeitsbedingungen<br />

im Spital.<br />

REFERENT: In theoretischer Hinsicht ist <strong>die</strong>se Frage zu bejahen. Dabei ist<br />

der Begriff <strong>des</strong> Organisationsverschuldens heranzuziehen, ein Begriff aus<br />

dem Bereich der Produktehaftung. Von einem Organisationsverschulden<br />

sprechen wir immer dann, wenn jemand einen Organisationsablauf plant und<br />

beherrscht; wer <strong>die</strong>s tut, trägt <strong>die</strong> Verantwortung dafür, dass der Fehler nicht<br />

«vorprogrammiert» ist.<br />

In <strong>die</strong>sem Fall handelt es sich jedoch nicht um einen ärztlichen Kunstfehler,<br />

sondern um eine normale Vertragsverletzung. Dies gilt jedoch nur dann,<br />

wenn ein privatrechtlicher Vertrag besteht; zu den Verhältnissen, <strong>die</strong> im Bereiche<br />

<strong>des</strong> öffentlich-rechtlichen <strong>Haftung</strong>srechts bestehen, kann ich mich hier<br />

nicht äussern.<br />

Ganz allgemein ist zu berücksichtigen, dass der Begriff <strong>des</strong> «Kunstfehlers»<br />

in der juristischen Terminologie überholt ist, wenn er sich auch in der Umgangssprache<br />

eingebürgert hat. Es gibt zahlreiche denkbare Sorgfaltsverstösse<br />

<strong>des</strong> <strong>Arztes</strong>, und nur einige bestehen darin, dass von den anerkannten<br />

Regeln der ärztlichen Kunst abgewichen wird.<br />

Wichtig ist <strong>die</strong> Tatsache, dass jede Sorgfaltspflichtverletzung innerhalb eines<br />

<strong>Arztvertrag</strong>es eine Pflicht zur Schadensersatzleistung nach sich ziehen<br />

kann.<br />

W. GRESSLY, Dr. iur., Solothurn: Ich möchte an Prof. Berchtold eine Gegenfrage<br />

richten: Sie haben für den Fall der Einführung einer Kausalhaftung auf<br />

schwarze Perspektiven hingewiesen. Aus dem Referat von Prof. Wiegand hat<br />

sich klar ergeben, dass eine sehr weitgehende kausale <strong>Haftung</strong> dort besteht,<br />

wo eine öffentlich-rechtliche Haftbarkeit vorliegt; anders dagegen im privaten<br />

Verhältnis, in dem das Verschulden massgebend ist. Ich glaube aber<br />

nicht, dass heute das Verhältnis zwischen Arzt und Patient im öffentlichen<br />

Spital so viel schlechter ist als dort, wo keine Kausalhaftung besteht. Oder<br />

glauben Sie, dass eine solche Verschlechterung sich abzeichnet und dass entsprechende<br />

Befürchtungen berechtigt sind?


WOLFGANG WIEGAND: <strong>Der</strong> <strong>Arztvertrag</strong>, <strong>insbesondere</strong> <strong>die</strong> <strong>Haftung</strong> <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> 123<br />

Prof. BERCHTOLD: In Bern besteht eine derartige <strong>Haftung</strong> noch nicht, so<br />

dass ich nicht aus Erfahrung sprechen kann; ich möchte aber daran festhalten,<br />

dass ich <strong>die</strong> Kausalhaftung nicht für eine gute Lösung halte.<br />

F. LANZ, Fürsprecher, Bremgarten: Um <strong>die</strong> Diskussion bezüglich der Kausalhaftung<br />

etwas zu relativieren, möchte ich auf ein Problem aus dem Rechtsalltag<br />

hinweisen. Dieses Problem ergibt sich aus der Objektivierung <strong>des</strong> Verschuldensbegriffes;<br />

trägt man hier keine Sorge, dass das gesunde Mass nicht<br />

verlorengehe, dann kann sich aus der Objektivierung <strong>des</strong> Verschuldensbegriffes<br />

eine <strong>Haftung</strong> ergeben, <strong>die</strong> sich von einer Kausalhaftung kaum unterscheidet.<br />

Dieses Problem ist allerdings nicht so sehr aus dem Bereich der Ärztehaftung,<br />

sondern aus anderen Rechtsbereichen bekannt.<br />

REFERENT: Gerade um der besonderen Stellung <strong>des</strong> <strong>Arztes</strong> willen halte ich<br />

es für notwendig, von der objektivierten Fahrlässigkeit abzugehen.

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