Programmheft - Münchner Stadtmuseum
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Katrin Seybold nimmt zum Sommersemester 1964 ein<br />
Studium der Kunstgeschichte an der Technischen<br />
Hochschule in Stuttgart auf und schreibt sich zum Wintersemester<br />
1964/65 in der Universität Tübingen ein.<br />
Sie engagiert sich im Experimentalfilmkreis des Studium<br />
generale in Stuttgart bei Professor Max Bense<br />
und arbeitet an dem Kurzfilmprojekt DER KNOTEN mit.<br />
Seybold: »Drehbuch und Regie, Ausstattung, Technik<br />
machten die Männer. Fertig wurde der Film auch<br />
nicht.« In Tübingen engagiert sie sich im ASTA-Film -<br />
referat, in einem Straßentheaterprojekt und im SDS.<br />
Die Unterhaltszahlungen ihres Vaters bessert sie durch<br />
Gelegenheitsjobs in Museen, Galerien und in der Fabrik<br />
auf. »1967 habe ich für den Tübinger SDS in Esslingen<br />
Flugblätter verteilt gegen die NPD, die damals, so wie<br />
ich mich erinnere, 27% der Stimmen erhielt. Dabei<br />
wurde ich von Altnazis geschlagen, die Polizei schaute<br />
zu, das war der Anfang meiner politischen ›Lebensschule‹,<br />
auf die ich noch heute stolz bin.« (Seybold)<br />
Seybold bricht 1968 das Studium in Stuttgart ab, lebt<br />
zeitweise in Berlin in der Kommune I, und zieht im<br />
November 1968 nach München, wo sie das große Latinum<br />
nachmachen will, das sie für ihre Doktorarbeit<br />
braucht. Doch dazu kommt es nicht, sie wird nach dem<br />
Wintersemester 1968/69 auch in Tübingen exmatrikuliert.<br />
»Durch den langwierigen Bewusstseinsprozess,<br />
den ich durch die Arbeit in politischen Gruppen an der<br />
Universität begonnen hatte, wurde mir mein Studium<br />
immer suspekter. Denn ich identifizierte mich nicht mit<br />
den metaphysischen, positivistischen Methoden der<br />
Kunstgeschichte. Mir war nicht mehr einsichtig, warum<br />
ich mich der bürgerlichen Ideologie unterwerfen sollte<br />
und mit akademischem Grad eine Institution wie z. B.<br />
das Fernsehen wirksam bekämpfen konnte. Außerdem<br />
hatte ich kein Interesse, auch noch einen Tag länger<br />
theoriehaft, eine von der Praxis losgelöste Überbaufunktion<br />
innezuhaben.«<br />
Seybold beteiligt sich aktiv an Studentenprotesten, Besetzungsaktionen,<br />
Rechtshilfeinitiativen und der Gründung<br />
eines antiautoritären Kindergartens. Sie lernt<br />
Gerd Conradt kennen, einen der 18 von der Deutschen<br />
Film- und Fernsehakademie relegierten Studenten, der<br />
mit Holger Meins und anderen als Kameramann an<br />
Filmprojekten von Studenten und Initiativen in Berlin,<br />
Frankfurt und München mitwirkt. Im Juni 1969 zieht<br />
sie zu Gaby Ferch, Gertraud Göschel, Adelheid Schuster-Opfermann,<br />
Mona Winter in die Frauenkommune in<br />
der Türkenstraße. »Die Frauenkommune war die Reaktion<br />
auf die Doppelmoral der 50er Jahre, dieses unpolitische<br />
›Schaffe, schaffe, Häusle baue‹ und die Reste<br />
der faschistischen Kleinfamilienideologie: Frau zuhause,<br />
gebiert, ist folgsam, Mann hat in der Welt was<br />
zu tun.« Rückblickend stellt Seybold fest: »Ich glaube,<br />
dass ich durch die Zeit um 68 und die Frauenkommune<br />
die Kraft gekriegt hab’ oder sie entwickelt hab’, gegen<br />
den Strom zu schwimmen. Die Kraft, anders zu sein,<br />
gegen Herrschaftsideologien anzugehen, seinen eigenen<br />
Kopf zu haben, nach den eigenen Gefühlen zu<br />
gehen und zu wissen, dass das, was man tut, richtig<br />
ist. Auch wenn es keinen schnellen Erfolg verspricht.«<br />
Für die Rechtshilfe München dokumentieren Seybold<br />
und Conradt die »Rote Knastwoche Ebrach«. Gedreht<br />
wird auf überlagertem Filmmaterial, das sie gespendet<br />
bekommen, und mit einer geliehenen Kamera, geschnitten<br />
und fertig gestellt wird der Film im Ulmer<br />
Institut für Filmgestaltung. Dort lernt Katrin Seybold<br />
Marion Zeman und Oimel Mai kennen, in dessen Film<br />
ELITETRUPPE »FLEUR DE MARIE« sie auch mitspielt.<br />
Zusammen mit Zeman, Mai und Conradt zieht Seybold<br />
1970 nach Berlin in die Kommune II und gründet das<br />
Westberliner Filmkollektiv. Von den vielen Plänen für<br />
politische Filme werden nur zwei von allen vier Beteiligten<br />
fertiggestellt: Ein kurzer Beitrag für den WDR über<br />
Filmförderung und der von der Stadt Dortmund in Auftrag<br />
gegebene Film AKKORDARBEITERIN BEIM OSRAM-<br />
KONZERN, der wegen seines agitatorischen Endes<br />
nicht abgenommen wird. Über den Zerfall des Kollektivs<br />
erinnert sich Seybold später: »Wir haben mit der<br />
Zusammenarbeit begonnen, doch wurde es mir dann<br />
auf die Dauer zu dumm, dass die Männer immer fremdgegangen<br />
sind. Ich habe dem Gerd Conradt ein Ultimatum<br />
gestellt, auch die Marion ihrem Freund Oimel Mai.<br />
Doch der Oimel hat die Marion in der Nacht ›umgedreht‹,<br />
und so waren drei gegen mich und ich allein.<br />
Gerd Conradt hat dann mit den beiden weitergemacht,<br />
und ich war draußen. Ich bin dann aus der Wohngemeinschaft<br />
ausgezogen.«<br />
1971 bewirbt sich Katrin Seybold als Studentin an der<br />
Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, wird<br />
aber nicht angenommen. Sie hält sich mit Katalogisierungsarbeiten<br />
und Filmbeschaffung in der Stiftung<br />
Deutsche Kinemathek, als Gastdozentin an der Gesamthochschule<br />
Kassel (»Prinzipien und Methoden des<br />
Sozialistischen Realismus im Film«) und an der TU<br />
Berlin (»Analyse von Kunstfilmen und Filmen von Künstlern«),<br />
mit Auftritten als Schauspielerin (u. a. in Filmen<br />
von Ingemo Engström, Edgar Reitz, Ula Stöckl und<br />
Volker Koch) und mit Assistenzen bei Filmprojekten von<br />
Adolf Winkelmann, Gloria Behrens, Hans-Rolf Strobel<br />
und Thomas Mauch über Wasser. Gleichzeitig kann sie<br />
Zuspielfilme für Sendungen des Bayerischen Rundfunks<br />
u. a. über das Gesundheitssystem drehen. Als<br />
Katrin Seybold<br />
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