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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...

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Belletristik<br />

Autobiografischer Roman Ein niederländischer Autor setzt seinem Sohn ein Denkmal<br />

Wenn Literatur<br />

zur Trösterin wird<br />

A. F. Th. van der Heijden: Tonio.<br />

Ein Requiemroman. Aus dem<br />

Niederländischen <strong>von</strong> Helga <strong>von</strong><br />

Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2011.<br />

671 Seiten, Fr. 26.90.<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

Von der Trauer um einen geliebten<br />

Menschen bleibt niemand verschont,<br />

auch nicht die Schriftsteller. Mit<br />

«Tonio» hat der niederländische Autor<br />

A. F. Th. van der Heijden seinem Sohn<br />

ein Denkmal gesetzt: Am frühen Morgen<br />

des 23. Mai 2010 verunfallte Tonio in<br />

Amsterdam mit dem Velo, am gleichen<br />

Tag starb er, noch nicht 22-jährig. «Solange<br />

die Literatur den Tod nicht zu<br />

überwinden vermag, hat sie nach meiner<br />

Auffassung die Rolle (Funktion)<br />

einer Trösterin bei allen Todesängsten.»<br />

Diese Zeilen <strong>von</strong> 1981 stammen aus<br />

einem Band mit Notizen aus dem Alltag.<br />

Nun stellt van der Heijdens «Requiemroman»<br />

die Rolle der Literatur als Trösterin<br />

auf die Probe.<br />

Diffuse Lichtgestalt<br />

«Wenn ich es (…) jetzt schreibe, schon<br />

in diesem Sommer, wird es ein Bericht<br />

<strong>von</strong> innen (…), direkt aus der Gefühlsverwirrung<br />

heraus … Das Schreiben<br />

wird dann zu einem Teil des Ringens,<br />

und umgekehrt.» Ende Mai, eine Woche<br />

nach Tonios Tod, hat van der Heijden<br />

mit dem Buch begonnen, so erfährt man<br />

gegen Ende der 671 Seiten. Er habe seinem<br />

Gedächtnis freien Lauf gelassen<br />

und dieses Material dann «in einer<br />

Struktur untergebracht, die in etwa der<br />

eines Romans gleicht» – mit dem Ziel,<br />

seinen Sohn «in Prosa lebendig zu erhalten».<br />

Die strenge äussere Form, in der<br />

die Aufzeichnungen komponiert sind,<br />

erweckt den Eindruck, das Chaos der<br />

Gefühlsverwirrung lasse sich in eine<br />

Ordnung bannen – als wäre das eigene<br />

Leben, der eigene Schmerz ein Romanstoff,<br />

über den der Autor verfügen könnte,<br />

der am «Schwarzen Pfingstsonntag»<br />

aus seiner Ruhe gerissen wurde. Zwei<br />

Polizisten melden, Tonio liege «in kritischem<br />

Zustand» im Operationssaal. Der<br />

Bericht über die folgenden quälenden<br />

Stunden wird nun mit weiteren Zeitebenen<br />

verflochten: mit Erinnerungen an<br />

das Kind Tonio, Gesprächen mit seinen<br />

Freunden über den letzten Tag, Versuchen,<br />

den Unfall zu rekonstruieren, Reflexionen<br />

über Schuldgefühle.<br />

Stolz signiert der achtjährige Tonio<br />

bei Lesungen die Bücher seines Vaters.<br />

Später macht er sich über dessen Arbeitswut<br />

lustig: «Bist du schon bei zehn<br />

Seiten pro Tag?» – «Fünf sind das Minimum<br />

(…). Sechs, sieben sind machbar.<br />

Acht ist ein Supertag», so die Antwort.<br />

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

A. F. Th. van der<br />

Heijden verarbeitet<br />

seine Trauernotizen<br />

über den bei<br />

einem Velounfall<br />

verstorbenen Sohn zu<br />

einem Requiem.<br />

Zum Streit kam es nie, auch später nicht.<br />

Tonio erscheint als eine Lichtgestalt, die<br />

undeutlich bleibt, ebenso wie seine<br />

Mutter Mirjam.<br />

Wie privat ist dieser Requiemroman?<br />

Bisweilen blättert man in einem literarischen<br />

Familienalbum, das einen nichts<br />

anzugehen scheint, doch in der nächsten<br />

Szene ist man unmittelbar berührt.<br />

Mit den Eltern stehen wir am Spitalbett<br />

des sterbenden Sohns. «Er schlief nicht,<br />

und er war auch noch nicht aus dem<br />

Traum erwacht, der das Leben war.»<br />

Wenn van der Heijden nicht nur seinen<br />

eigenen Schmerz erforscht, sondern das<br />

Wesen der Trauer überhaupt, ist nichts<br />

mehr privat. «Ich lief umher wie ein bis<br />

ins Mark betrogener Liebhaber, in dem<br />

die Liebe immer noch wächst und<br />

wächst.» «Wir liessen den Nerv frei liegen<br />

und erzwangen so den Schmerz, der<br />

uns mit Tonio verband.»<br />

Neben solchen Sätzen begegnet man<br />

in diesem offenbar schnell geschriebenen<br />

Buch allerdings auch Phrasen aus<br />

dem Allgemeinwortschatz des Trauerns.<br />

«In Tonios Tod kann ich keinerlei<br />

Ziel, keinerlei Sinn entdecken.» Auch<br />

Mirjam findet keine eigenen Worte für<br />

den Schmerz: «So schrecklich … so<br />

schrecklich, dass ich ihn nie mehr sehen<br />

werde.» Das sind Sätze, wie sie jeder<br />

sagen könnte, und deshalb bleiben sie in<br />

der Literatur ohne Wirkung. Der sprachliche<br />

Übermut wiederum, der in den<br />

ausgreifenden Romanzyklen van der<br />

Heijdens so kraftvoll daherkommt, erzeugt<br />

hier, wo es um sein eigenes Leid<br />

geht, grell verunglückte Sätze. «Der gestorbene<br />

Tonio ruht unausweichlich<br />

schwer und reglos in der wimmernden<br />

Hängematte meiner Aufmerksamkeit.»<br />

Berührend ehrlich<br />

Welchen Massstab soll man an diese<br />

Tagebuch-Notizen in Romanform anlegen?<br />

Man ist berührt <strong>von</strong> der Ehrlichkeit,<br />

mit der van der Heijden seine Trauer<br />

mitteilt – umso mehr jedoch schmerzen<br />

die vielen Sätze, die dem Floskelhaften,<br />

Alltäglichen verhaftet sind. «Diese<br />

Notizen haben KEINEN LITERARI-<br />

SCHEN ANSPRUCH, die jetzigen nicht<br />

und auch nicht die zurückliegenden», so<br />

hiess es in der Notiz-Sammlung «Engelsdreck».<br />

Auch «Tonio» besteht aus<br />

Alltagsnotizen, allerdings aus einem<br />

Alltag im Ausnahmezustand. Es sei ihm<br />

nicht gelungen, zum Kern dessen vorzudringen,<br />

was wirklich passiert sei, notiert<br />

van der Heijden nach einem Besuch<br />

bei seinem Bruder. Diesen Eindruck hat<br />

man auch nach der Lektüre: Der Plauderton,<br />

der über weite Strecken herrscht,<br />

nimmt den Ereignissen ihr Gewicht.<br />

Man hat dieses dicke Buch nicht nur<br />

überraschend schnell gelesen, man hat<br />

es auch «gern» gelesen. Doch dies ist<br />

das falsche Kompliment. Was fehlt, ist<br />

jener Trost, den Literatur zu geben vermag,<br />

wenn sie den Schmerz durch Sprache<br />

verwandelt. ●<br />

ROBERT RIZZO / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF

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