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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...

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Sachbuch<br />

Aufklärung Gedankenfreiheit und Mündigkeit sind nicht<br />

allein europäische, sondern universelle Werte<br />

Locke, Voltaire,<br />

Kant und andere<br />

Provokateure<br />

Manfred Geier: Aufklärung – Das<br />

europäische Projekt. Rowohlt,<br />

Reinbek 2012. 352 Seiten, Fr. 35.50.<br />

Von Katja Gentinetta<br />

Der Sprach- und Literaturwissenschafter<br />

Manfred Geier legt eine umfangreiche<br />

und wohldokumentierte Geschichte<br />

der Aufklärung vor. Mit der Charakterisierung<br />

der Aufklärung als «europäisches<br />

Projekt» fragt er gleich zu Beginn:<br />

Ist die Aufklärung abgeschlossen? Und:<br />

ist sie universell? Der Ausflug in die Geschichte<br />

lohnt sich.<br />

Anhand der zentralen Figuren John<br />

Locke und dem Third Earl of Shaftesbury<br />

(Anthony Ashley Cooper war ein Philosoph<br />

des frühen 18. Jahrhunderts),<br />

Voltaire und Jean-Jacques Rousseau,<br />

Moses Mendelssohn, Olympe de<br />

Gouges, Wilhelm <strong>von</strong> Humboldt und natürlich<br />

Immanuel Kant, zeichnet der<br />

Autor die philosophische Dynamik des<br />

18. Jahrhunderts nach und füllt die Aufklärung<br />

mit Leben.<br />

Die Geschichte beginnt in England,<br />

und sie beginnt mit einem Abenteuer:<br />

mit Lockes umfangreichen Schriften,<br />

die er bei seiner Rückkehr aus dem holländischen<br />

Exil nach England verpackt<br />

und verschifft hatte – ohne freilich eine<br />

Kopie derselben zu haben. Die Texte<br />

kamen heil an, und mit seinem Plädoyer<br />

für «life, liberty and estate» – der These,<br />

dass sich die Menschen «zum gegenseitigen<br />

Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten<br />

und ihres Vermögens» zusammengeschlossen<br />

hätten – wird Locke zum<br />

Philosophen der «Glorious Revolution»,<br />

jenes friedlichen Übergangs zur<br />

konstitutionellen Monarchie.<br />

Unter Einsatz des Lebens<br />

Überhaupt ruft das Buch <strong>von</strong> Manfred<br />

Geier in Erinnerung, dass die Gedanken<br />

der Aufklärung nicht einfach in häuslicher<br />

Abgeschiedenheit entwickelt wurden,<br />

um dann ihren natürlichen und ungehinderten<br />

Weg an die Öffentlichkeit<br />

zu finden. Im Gegenteil: Unter teilweisem<br />

Einsatz ihres Lebens entschlossen<br />

sich die Aufklärer, ihre provozierenden<br />

Erkenntnisse zu publizieren. So flüchtet<br />

Locke 1683 ins holländische Exil, um<br />

seine «Discourses Concerning Government»<br />

fertig zu stellen. Voltaires «Lettres<br />

philosophiques», ein Loblied auf die<br />

politische, wirtschaftliche und geistige<br />

18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Freiheit Englands, werden 1734 in Frankreich<br />

verurteilt, und gegen ihn ergeht<br />

ein Haftbefehl. Diderots «Pensées philosophiques»<br />

werden verbrannt, er<br />

selbst 1749 ins Gefängnis <strong>von</strong> Vincennes<br />

gesteckt. Weil er seine Autorschaft gesteht,<br />

und weil die Verleger der Enzyklopädie<br />

intervenieren, werden ihm<br />

schliesslich Schriftverkehr und Besuche<br />

doch erlaubt.<br />

Die «Encyclopédie» wird später nicht<br />

nur in Frankreich verboten, sondern<br />

auch vom Papst auf den Index gesetzt;<br />

katholischen Besitzern droht die Exkommunikation.<br />

Die Einschätzung dieses<br />

28 Bände umfassenden, in 25 Jahren<br />

<strong>von</strong> mehreren hundert Autoren verfassten<br />

Werks durch die Obrigkeit hätte unmissverständlicher<br />

nicht sein können:<br />

«Die Vorteile eines solchen Werks für<br />

Künste und Wissenschaften können den<br />

irreparablen Schaden für Glauben und<br />

Sittlichkeit niemals aufwiegen.»<br />

Gleichberechtigung für alle<br />

Welche Rolle der Glaube und die Religionszugehörigkeit<br />

– immerhin 150 Jahre<br />

nach der Reformation – noch spielten,<br />

beschreibt Manfred Geier anhand des<br />

Schicksals <strong>von</strong> Moses Mendelssohn.<br />

Dieser Unternehmer und Philosoph, der<br />

in Berlin vom «sans papier» zum angesehenen<br />

Bürger aufstieg, musste sich,<br />

aufgefordert vom <strong>Zürcher</strong> Theologen<br />

Johann Caspar Lavater, öffentlich zu seinem<br />

Judentum bekennen, ohne freilich<br />

das Christentum angreifen zu dürfen.<br />

Lavaters Fehdehandschuh war nichts<br />

weniger als die Rückkehr hinter die <strong>von</strong><br />

John Locke postulierte Gewissensfreiheit<br />

in Glaubensangelegenheiten. Für<br />

diesen war zwar eine Moral ohne Gott<br />

nicht vorstellbar, wohl aber eine ohne<br />

kirchliche Unterweisung, womit er die<br />

Autorität der Institution Kirche untergrub.<br />

Dass die Gedankenfreiheit auch für<br />

Frauen galt, war beileibe keine Selbstverständlichkeit.<br />

So liessen die Enzyklopädisten<br />

keine Frauen als Autoren zu,<br />

und für Rousseau war, wie für Sophie in<br />

seinem Roman «Emile», jede Frau «dazu<br />

geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen».<br />

Geier illustriert diese ungleiche<br />

Aufklärung mit einem «Requiem<br />

auf eine mutige Frau», nämlich<br />

Olympe de Gouges, die 1793 in Paris<br />

guillotiniert wurde. Nur Kant hegte<br />

diesbezüglich keine Zweifel: Selbst<br />

wenn er die Frauen dem «schönen Ge-<br />

«Die Freiheit für das<br />

Volk»: Besucher<br />

vor dem bekannten<br />

Gemälde <strong>von</strong> Eugène<br />

Delacroix (1830) im<br />

Louvre in Paris.<br />

schlecht» zuordnete und die Männer<br />

dem «erhabenen»: Er ging <strong>von</strong> der<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

aus. Den Schritt in die Mündigkeit sah er<br />

genauso für das «ganze schöne Geschlecht».<br />

Dem grossen Aufklärer Kant nähert<br />

sich Geier aus der Gegenwart, genauer,<br />

dem 11. September 2001 und der folgenden<br />

Auseinandersetzung, die sich um<br />

die Frage drehte, ob die europäische<br />

Aufklärung gescheitert sei. Jenseits des<br />

Atlantiks beschuldigte Robert Kagan die<br />

Europäer des falschen Glaubens an ein<br />

posthistorisches Paradies. Unter Bezugnahme<br />

auf Kants kurze Abhandlung<br />

«Vom ewigen Frieden» hielten Derrida,<br />

Habermas und Sloterdijk dagegen.<br />

Ralph Dahrendorf und Timothy Garton<br />

Ash versuchten zu vermitteln, indem sie<br />

Kant <strong>von</strong> Rousseau abgrenzten. Ein<br />

wahrer Philosophenstreit, der noch weitere<br />

Kreise zog – und mit dem Geier zuletzt<br />

illustriert, wie alltagsnah und notwendig<br />

Philosophie sein kann.<br />

Die Antwort auf die eingangs gestellten<br />

Fragen liefert das Buch explizit und<br />

implizit: Die historische Aufklärung war<br />

eine europäische; das Streben nach<br />

Mündigkeit aber ist universell und immerwährend.<br />

Gerade heute wieder erstreckt<br />

sich der Ruf der Aufklärung über<br />

den Globus. Und er verlangt, wie damals,<br />

Klarheit und vor allem Mut. ●<br />

Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte<br />

der Hochschule St. Gallen und<br />

Gesprächsleiterin «Sternstunde<br />

Philosophie» am Schweizer Fernsehen.<br />

BERTHOLD STEINHILBER / LAIF

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