Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...
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<strong>Essay</strong><br />
<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> (1812–1870) mutet seinen Leserinnen und Lesern ganz<br />
viel Kitsch zu, schreibt aber so unvergesslich wie kein zweiter Autor.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> hat mit dessen Werk einige Lesewochen verbracht<br />
Verliebt in<br />
die Romane eines<br />
200-Jährigen<br />
Alle, soweit sie Klassiker lesen, halten es mit<br />
Stendhal, Flaubert und, etwas seltener vielleicht,<br />
mit Balzac. Alle lesen Jane Austen und<br />
George Eliot. Aber <strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong>? Er ist eher<br />
eine Angelegenheit des gehobenen (und gekürzten)<br />
Jugendbuches, ferner ein englischer<br />
Nationalsport. Aber wirklich gelesen wird er,<br />
einer repräsentativen Langzeitbeobachtung<br />
meines Lesefreundeskreises zufolge, kaum.<br />
«Mit <strong>Dickens</strong> hatte ich immer Mühe» – keinen<br />
Satz habe ich in den zurückliegenden Wochen<br />
meiner <strong>Dickens</strong>-Lektüre häufiger gehört.<br />
Dabei ist es kinderleicht, sich in den alten <strong>Dickens</strong><br />
zu verlieben. Meine todsichere <strong>Dickens</strong>-<br />
Verführungsanthologie besteht aus den ersten<br />
dreissig Seiten seiner drei besten Romane. Wer<br />
die Anfangskapitel <strong>von</strong> «Bleakhaus», <strong>von</strong> «Grosse<br />
Erwartungen» und <strong>von</strong> «Unser gemeinsamer<br />
Freund» liest, um den ist es geschehen. Es wer-<br />
<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong><br />
Vor 200 Jahren, am 7. Februar 1812, kam<br />
<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> zur Welt, am 9. Juni 1870 ist er<br />
gestorben. Wer sein produktives Leben verfolgen<br />
will, findet in Hans-Dieter Gelferts Biografie<br />
einen verlässlichen Begleiter, der auch die<br />
wichtigsten Werke vorstellt (C. H. Beck, 380<br />
Seiten, Fr. 40.90). Hinreissend geschrieben ist<br />
Claire Tomalins englischsprachige Biografie mit<br />
fabelhaften Bildern (Penguin, 530 S., Fr. 29.50).<br />
Wie der Jüngling <strong>Dickens</strong> sich über Nacht in<br />
einen Literaturstar verwandelte, zeigt Robert<br />
Douglas-Fairhurst in «Becoming <strong>Dickens</strong>»<br />
(Harvard University Press, 390 S., Fr. 39.90).<br />
Die feinsten Neuübersetzungen stammen <strong>von</strong><br />
Melanie Walz: Sie hat den späten Roman<br />
«Grosse Erwartungen» herausgegeben (Hanser,<br />
830 S., Fr. 46.90) und die teils erstmals<br />
übersetzten Reportagen «Reisender ohne<br />
Gewerbe» (C. H. Beck, 128 S., Fr. 21.90).<br />
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />
den in seinem imaginären Lesermuseum einige<br />
Szenen, Figuren und Stimmungen auf ewig mit<br />
einer Kraft strahlen, wie sie bei den oben genannten<br />
Klassikern eher selten vorkommt.<br />
Nehmen wir die Ouvertüre der «Grossen Erwartungen»,<br />
die Hanser in einer fabelhaft kommentierten<br />
Übersetzung neu herausgebracht<br />
hat. <strong>Dickens</strong> war 48 Jahre alt, als er das Buch<br />
begann, neben «David Copperfield» sein einziger<br />
durchgängig in der ersten Person erzählter<br />
Roman. Und wie «Copperfield» und «Oliver<br />
Twist» beginnt er in der Welt eines Kindes.<br />
Pip, wie der Held heisst, mag sechs, sieben<br />
Jahre alt sein, als er am Tag vor Weihnachten,<br />
«an einem denkwürdigen nasskalten Nachmittag,<br />
der sich zum Abend neigte», seine «erste<br />
und eindringliche Vorstellung <strong>von</strong> der wahren<br />
Beschaffenheit der Dinge» erhält. Erst begreift<br />
er auf dem Friedhof vor den Grabsteinen seiner<br />
Eltern und Geschwister aufs mal, was er und<br />
seine Welt sind: dass er ein Waise ist, dass das<br />
feuchte, <strong>von</strong> Gräben und Schleusen durchzogene<br />
Marschland seine Heimatgegend ist und<br />
«dass das kleine Espenlaubbündel, das sich vor<br />
alledem zu fürchten und zu weinen begann, Pip<br />
war». Im gleichen Augenblick begreift er auch,<br />
wie diese Welt ist: finster und brutal. Ein<br />
schrecklich aussehender Mann mit einem grossen<br />
Eisen am Bein, ein Sträfling, wie sich zeigen<br />
wird, springt zwischen den Gräbern hervor,<br />
herrscht ihn an, hält ihn an den Füssen in die<br />
Luft und fordert ihn unter brutalsten Todesandrohungen<br />
auf, ihm am andern Morgen Esswaren<br />
und eine Feile zu bringen.<br />
Es liesse sich nun lange weiter resümieren,<br />
wie Pip nach Hause geht, unter Qualen stiehlt,<br />
sich im Frühnebel rausschleicht und wie<br />
schliesslich mitten im Weihnachtsmahl, gerade<br />
als sein Diebstahl aufzufliegen droht, Soldaten<br />
auf der Suche nach entflohenen Sträflingen ins<br />
Haus dringen. Zum Schluss ist Pip auf dem Rücken<br />
seines Pflegevaters in einfallender Nacht<br />
und im eisigen Graupelschauer dabei, als die<br />
Sträflinge wie in einer BBC-News-Sendung <strong>von</strong><br />
heute unter Geschrei, Schüssen, Fackellicht<br />
blutend aus einem Schlammgraben gezogen<br />
und in Handschellen gelegt werden.<br />
Aber Literatur lässt sich nicht zusammenfassen,<br />
und <strong>Dickens</strong> am wenigsten. Man muss sein<br />
erzählerisches Grossgenie haben, um auf dreissig,<br />
vierzig Seiten eine so dichte, tiefe, stim-<br />
Es ist bekannt, dass <strong>Dickens</strong><br />
aus dem Schicksal <strong>von</strong><br />
Kindern in seelischem und<br />
körperlichem Elend<br />
literweise sentimentalen<br />
Kitsch-Sirup gepresst hat.<br />
mungsstarke und komplexe Welt zu erzeugen,<br />
wie sie uns in den Eröffnungen <strong>von</strong> seinen grossen<br />
Romanen begegnet. Im Vergleich zu diesem<br />
Vollkorn sind nicht wenige andere Klassiker<br />
bleiches Toastbrot. Kommt dazu, dass in <strong>Dickens</strong><br />
dichter Ouvertüre der «Grossen Erwartungen»<br />
zugleich der ganze <strong>Dickens</strong>-Kosmos<br />
symbolisch drinsteckt.<br />
Lebenstrauma des Autors<br />
Welches sind die Elemente des <strong>Dickens</strong>-Kosmos?<br />
Zuallererst sind es Kinder in seelischem<br />
und körperlichem Elend. Zur Arbeit gezwungene<br />
Kinder wie Oliver Twist. Geschlagene Kinder<br />
wie Pip, Waisen- und Heimkinder, Kinder<br />
mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme, Familie,<br />
Aufgehobenheit. Dass <strong>Dickens</strong> aus dem<br />
Schicksal dieser Kinder literweise sentimentalen<br />
Kitsch-Sirup gepresst hat, ist bekannt. Man<br />
«müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little<br />
Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen», geht<br />
ein böses Wort Oscar Wildes zur Heldin des<br />
Romans «Der Raritätenladen»; <strong>Dickens</strong> hat es<br />
sich redlich verdient. Aber die Menge, die im