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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...

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Nr. 1 | 29. Januar 2012<br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> <strong>Essay</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Karl-Heinz Ott über<br />

Rousseau | Friedrich II. <strong>Neue</strong> Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld |<br />

Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer Uno-<br />

Diplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton,<br />

Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | <strong>Charles</strong> Lewinsky Zitatenlese


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Lesetipp


Inhalt<br />

Der Ruf der<br />

Aufklärung ist<br />

nicht verhallt<br />

Belletristik<br />

4 Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht<br />

aufhörte zu schlafen<br />

Von Christoph Plate<br />

6 Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson<br />

River<br />

Von Pia Horlacher<br />

François Villon: Das Kleine und das Grosse<br />

Testament<br />

Von Stefana Sabin<br />

7 Karl-Heinz Ott: Wintzenried<br />

Von Martin Zingg<br />

8 Youssef Ziedan: Azazel<br />

Von Susanne Schanda<br />

9 «Jede Freundschaft mit mir ist verderblich».<br />

Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel<br />

1927–1938<br />

Von Arnaldo Benini<br />

Markus Brüderlin: Die Kunst der<br />

Entschleunigung<br />

Von Gerhard Mack<br />

10 A. F. Th. van der Heijden: Tonio<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

11 Stewart O’Nan: Emily, allein<br />

Von Simone <strong>von</strong> Büren<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

11 Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte<br />

Von Regula Freuler<br />

Iren Baumann: Noch während die Pendler<br />

heimfahren<br />

Von Manfred Papst<br />

Friedrich Achleitner: Iwahaubbt<br />

Von Manfred Papst<br />

Nancy Mitford: Landpartie mit drei Damen<br />

Von Regula Freuler<br />

<strong>Essay</strong><br />

Nr. 1 | 29. Januar 2012<br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> <strong>Essay</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Karl-Heinz Ott über<br />

Rousseau | Friedrich II. <strong>Neue</strong> Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld |<br />

Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer Uno-<br />

Diplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton,<br />

Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | <strong>Charles</strong> Lewinsky Zitatenlese<br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong><br />

(Seite 12).<br />

Illustration <strong>von</strong><br />

André Carrilho<br />

12 <strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong>, Schriftsteller<br />

Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen<br />

Von <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong><br />

Der Kampf um Gedankenfreiheit ist ein aufregendes, ja gefährliches<br />

Unterfangen. John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses<br />

Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires Schriften wurden<br />

verboten, Diderots Werke verbrannt, die «Encyclopédie» auf den Index<br />

gesetzt. Im 18. Jahrhundert wurden Philosophen oft gejagt, geächtet,<br />

inhaftiert. Auch heute erfordert der Ausbruch aus der Unmündigkeit<br />

Courage, wie Manfred Geier in seinem neuen Buch «Aufklärung – Das<br />

europäische Projekt» beschreibt (Seite 18). Vom turbulenten Leben des<br />

Genfer Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, dem wichtigen Wegbereiter<br />

der Französischen Revolution, und seiner pädagogisch-erotischen<br />

Lehrmeisterin Madame de Warens erzählt anderseits Karl-Heinz Ott in<br />

seinem grandiosen Roman «Wintzenried» (S. 7).<br />

Einer, der Toleranz hochhielt und verfolgten Autoren Asyl gewährte,<br />

war Preussenkönig Friedrich der Grosse. Das historische Urteil über<br />

ihn fällt heute, im Jahr seines 300. Geburtstages, differenzierter aus, so<br />

zeigt unsere Rezension der neusten Publikationen (S. 16).<br />

Botschafter Paul Widmer bespricht das «gescheite und mutige Buch»<br />

seines Kollegen Johannes B. Kunz: ein Plädoyer gegen den drohenden<br />

Souveränitätsverlust und eine kritische Bilanz humanitärer Uno-<br />

Einsätze (S. 20). Dies und auch Leichteres finden Sie, liebe Leserinnen<br />

und Leser, auf den folgenden Seiten. Urs Rauber<br />

Kolumne<br />

Malik Ambar aus Sudan (1550–1626).<br />

Aus Michael Mann: Sahibs, Sklaven<br />

und Soldaten (S. 24).<br />

15 <strong>Charles</strong> Lewinsky<br />

Das Zitat <strong>von</strong> Ludwig Börne<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Esther Girsberger: Eveline Widmer-Schlumpf<br />

Von Urs Rauber<br />

Otto Stich: Ich blieb einfach einfach<br />

Von Urs Rauber<br />

Philipp Blom: Angelo Soliman<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Sachbuch<br />

16 Christian <strong>von</strong> Krockow: Friedrich der Grosse<br />

Ute Frevert: Gefühlspolitik<br />

Johannes Bronisch: Der Kampf um Kronprinz<br />

Friedrich<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

18 Manfred Geier: Aufklärung – Das europäische<br />

Projekt<br />

Von Katja Gentinetta<br />

19 Peter Michael Keller: Cabaret Cornichon<br />

Von Urs Bitterli<br />

Bernd Brunner: Der Mond<br />

Von Thomas Köster<br />

20 Johannes B. Kunz: Der letzte Souverän und<br />

das Ende der Freiheit<br />

Von Paul Widmer<br />

Amy Stewart: Gemeine Gewächse<br />

Von André Behr<br />

21 Wolfgang Ruge: Gelobtes Land<br />

Von Urs Rauber<br />

22 Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnislücken<br />

Von Gerd Kolbe<br />

Ian Kershaw: Das Ende<br />

Von Markus Schär<br />

23 Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz:<br />

Grimmelshausen<br />

Von Manfred Koch<br />

24 Michael Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Emanuel Ammon: 70er<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

25 Thomas Buomberger, Peter Pfrunder:<br />

Schöner leben, mehr haben<br />

Von Martin Walder<br />

26 Klaus Töpfer, Ranga Yogeshwar: Unsere<br />

Zukunft<br />

Von Patrick Imhasly<br />

Das amerikanische Buch<br />

Derek Chollet, Samantha Power: The Quiet<br />

American. Richard Holbrooke in the World<br />

Von <strong>Andreas</strong> Mink<br />

Agenda<br />

27 Olivia Harrison: George Harrison<br />

Von Manfred Papst<br />

Bestseller Januar 2012<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda Februar 2012<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />

Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong>, Manfred Koch, Gunhild Kübler, <strong>Charles</strong> Lewinsky, Beatrix Mesmer, <strong>Andreas</strong> Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />

Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG<br />

Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3


Belletristik<br />

Roman Zum 80. Geburtstag Aharon Appelfelds erscheint sein neues autobiografisches<br />

Buch. Darin beschwört er die jüdische Vergangenheit und Israels Gegenwart<br />

<strong>Neue</strong> Melodien in<br />

einer alten Sprache<br />

Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht<br />

aufhörte zu schlafen. Aus dem<br />

Hebräischen <strong>von</strong> Mirijam Pressler.<br />

Rowohlt, Berlin 2012. 285 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Von Christoph Plate<br />

Als Hebräisch zu seiner neuen Muttersprache<br />

wurde, wäre er fast verstummt.<br />

Weil er immer noch auf Deutsch und<br />

Jiddisch dachte und weil sie ihn zwangen,<br />

die neue Sprache zu benutzen.<br />

Heute, 66 Jahre nach seiner Ankunft in<br />

diesem Land, mag er Hebräisch. Die<br />

Sprache ist alt, voller Bilder, und sie lebt,<br />

auch wenn geschwiegen wird.<br />

Es ist laut. Wir sitzen im Restaurant<br />

des Tichu-House, einer Galerie im Zentrum<br />

Jerusalems. Die jungen Frauen am<br />

Nachbartisch, leicht übergewichtig und<br />

etwas zu stark geschminkt, sind so lärmig,<br />

dass Aharon Appelfeld immer wieder<br />

einmal sanft strafend hinüberschaut.<br />

Dann essen wir weiter, schauen uns an,<br />

reden, bis die Frauen nebenan wieder<br />

laut werden. Vor über 50 Jahren war der<br />

heute 80-Jährige zum ersten Mal hier.<br />

Der Philosoph Martin Buber brachte ihn<br />

ins Haus <strong>von</strong> Anna Tichu, der malenden<br />

Frau eines Wiener Augenarztes. «Freitags<br />

gab es Apfelstrudel mit Sahne und<br />

Kaffee, zwei Dutzend Intellektuelle<br />

waren da, ich war zu schüchtern, um<br />

auch nur etwas zu sagen», erklärt Appelfeld.<br />

Er zeigt die breiten Ledersessel,<br />

in denen sie damals sassen.<br />

Kandidat für den Nobelpreis<br />

Heute gehört das Haus der Museumsgesellschaft,<br />

Appelfeld kommt gern<br />

hierher, plaudert mit den Sicherheitsleuten<br />

am Eingang, und die Serviertöchter<br />

begegnen ihm mit einer Ehrfurcht,<br />

als wüssten sie, dass dieser Mann mit<br />

der blauen Schiebermütze auf dem kahlen<br />

Schädel immer wieder ein Kandidat<br />

für den Literaturnobelpreis ist.<br />

Sein neues, bei Rowohlt auf Deutsch<br />

erschienenes Buch «Der Mann, der<br />

nicht aufhörte zu schlafen» ist eine<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Eloge auf das Leben, eine Danksagung<br />

an seine Eltern und ein Zeugnis da<strong>von</strong>,<br />

wie jemand sich eine neue Sprache erkämpfen<br />

muss. Zuhause in Czernowitz<br />

sprach man in der assimilierten jüdischen<br />

Familie Deutsch. Paul Celan<br />

wohnte in der gleichen Strasse. Damals<br />

war Czernowitz Schnittstelle zwischen<br />

Ost und West, heute liegt es vergessen<br />

im Südwesten der Ukraine, nahe der<br />

Grenze zu Rumänien.<br />

Träumt Appelfeld <strong>von</strong> seinen Eltern<br />

– die Mutter wurde <strong>von</strong> rumänischen<br />

Faschisten erschossen, der Vater überlebte<br />

den Holocaust und emigrierte<br />

nach Jahren in der Sowjetunion nach Israel<br />

–, dann spricht er das Deutsch eines<br />

8-Jährigen. Im Traum ist Aharon aber<br />

schon erwachsen, und der Vater macht<br />

sich lustig über dessen Kinderdeutsch.<br />

Zur Mutter sagt er: «Mama, ich habe<br />

eine neue Sprache.» Appelfeld teilt sein<br />

Aharon Appelfeld<br />

Geboren wurde Aharon Appelfeld am<br />

16.2.1932 in der Nähe <strong>von</strong> Czernowitz<br />

(damals Rumänien, heute Ukraine). Er<br />

wuchs in einem gut bürgerlichen Haushalt<br />

auf. Damals hiess er noch Erwin. Erst<br />

der Holocaust habe ihn zum Juden gemacht,<br />

sagt er. Er musste den Mord an<br />

seiner Mutter miterleben, wurde mit dem<br />

Vater zusammen ins Ghetto gesperrt und<br />

schlug sich später alleine bis nach Italien<br />

durch. Von dort gelang er 1946 nach Palästina.<br />

Diese traumatischen Erlebnisse<br />

sind die Triebfeder seines Schaffens.<br />

Seine Muttersprache war Deutsch, heute<br />

ist die für ihn wichtigste Sprache Hebräisch.<br />

Er arbeitete <strong>von</strong> 1975 bis 2001 als<br />

Literaturprofessor an der Ben Gurion<br />

Universität in Beerscheba. Zu seinen<br />

gros sen Romanen gehören: «Blumen der<br />

Finsternis», «Bis der Tag anbricht» und<br />

«Elternland». Für «Der eiserne Pfad»<br />

wurde er 1999 mit dem National Jewish<br />

Book Award ausgezeichnet.<br />

Croissant und strahlt zufrieden. Er<br />

trinkt koffeinfreien Kaffee, der aus<br />

einem altmodischen Tassenfilter tröpfelt.<br />

Dann bestellt er eine Gemüsesuppe,<br />

Osteuropäer liebten doch Suppen, obwohl<br />

diese hier längst nicht so gut sei,<br />

wie die im Café Sprüngli am Paradeplatz<br />

in Zürich.<br />

In «Der Mann, der nicht aufhörte zu<br />

schlafen» geht es um vieles. Um die<br />

Suche nach einer Melodie in der Sprache,<br />

um das Bewusstsein für die eigene<br />

Geschichte und die Bedeutung des Sich-<br />

Erinnerns, um die eigene Position in der<br />

Gegenwart zu bestimmen. Seit einigen<br />

Jahren bekommt Appelfeld Briefe <strong>von</strong><br />

israelischen Lesern, die schreiben, sie<br />

hätten ihre Eltern oder Grosseltern nie<br />

nach dem jüdischen Leben in Osteuropa<br />

und nach dem Holocaust gefragt.<br />

«Meine Bücher würden ihnen diese untergegangene<br />

Welt des Judentums, ihre<br />

Gerüche und Schönheit nahe bringen.»<br />

Liest er diese Briefe, zittert er manchmal<br />

vor Aufregung und Last. Ihm wird da<br />

eine Rolle zugedacht, die er gar nicht<br />

annehmen mag. Lange wurde Appelfeld<br />

vom literarischen Establishment gescholten,<br />

weil er keinen Agitprop<br />

schrieb, sondern die Geschichte jener<br />

erzählte, die nach dem Holocaust aus<br />

Europa nach Palästina gekommen<br />

waren. Das passte nicht nach Israel.<br />

Appelfeld hat damals festgestellt, dass<br />

«man als assimilierter Jude Weltbürger<br />

ist, während man als Israeli schnell provinziell<br />

wird».<br />

«Der Mann, der nicht aufhörte zu<br />

schlafen» ist ein autobiografischer<br />

Roman, wobei jedes seiner Bücher auch<br />

den Aharon Appelfeld zu enthalten<br />

scheint, der früher Erwin hiess. Aharon<br />

wurde in Czernowitz als Erwin geboren,<br />

als er mit ukrainischen Banditen<br />

umherzog, nannte er sich Janosch.<br />

Appelfeld ist überzeugt, dass jede Art<br />

<strong>von</strong> Äusserung eine Verstellung sei, die<br />

Literatur aber eine der am wenigsten<br />

verstellten Äusserungen. Es sind dies<br />

Erinnerungen, wie sie einige auch schon<br />

in seinem Buch «Die Geschichte eines


Lebens» vorkommen, nur sind sie jetzt<br />

vielfältiger, reflektierter, stärker ausgearbeitet.<br />

Der Ich-Erzähler schreibt <strong>von</strong><br />

der Kindheit, vom Holocaust, <strong>von</strong> der<br />

Flucht, <strong>von</strong> der beschützenden Wärme<br />

einer Hure am Strand <strong>von</strong> Neapel. Appelfeld<br />

durchläuft noch einmal seine<br />

Versuche, sich nach der Ankunft in Palästina<br />

und der Verwundung im Krieg<br />

gegen die Araber seine Identität zu erhalten.<br />

Es ist dies die Persönlichkeit<br />

eines Mannes, der Kleist und Stifter<br />

liest, um den Eltern nahe zu sein, die<br />

Bibel, um sich an seine religiösen Grosseltern<br />

zu erinnern, und Karl Marx, um<br />

auch seine kommunistischen Onkel zu<br />

würdigen.<br />

Vielleicht braucht es ein Leben als<br />

Philosoph, um scheinbar einfach zu<br />

schreiben, so wie er es tut. Ob er immer<br />

noch seine Manuskripte einige Jahre in<br />

die Schublade lege, um sie danach wieder<br />

zu bearbeiten, zu streichen und erst<br />

dann an den Verlag zu übergeben? «Ja,<br />

fünf Jahre müssen sie liegen», sagt er.<br />

Das mache er bis heute, «oder haben Sie<br />

etwa den Eindruck, ich hätte dafür keine<br />

Zeit?», fragt der bald 80-Jährige und<br />

lacht. Dann gehen wir hinauf in den ehemaligen<br />

Salon <strong>von</strong> Frau Tichu, in dem<br />

Aharon Appelfeld in die Intellektuellenszene<br />

<strong>von</strong> Jerusalem eingeführt worden<br />

war. «Diese Leute haben mich auf eine<br />

Art gerettet», sagt er und scheint sie alle<br />

dort sitzen zu sehen in den schweren<br />

Ledersesseln. Irgendwann hat er sich<br />

dann auch getraut mitzureden. Mit Hannah<br />

Ahrendt hat er gestritten, weil ihre<br />

Theorie <strong>von</strong> der Banalität des Bösen<br />

nicht zuträfe. Banal sei das Gute, das<br />

Böse dagegen sei ungemein kreativ. Er<br />

sei eigentlich immer ein Rebell gewesen,<br />

einer, der sich gegen Vereinnahmung<br />

gewehrt habe.<br />

Fiktion ist Wahrheit<br />

Appelfelds nur mit ein paar Strichen<br />

gezeichnete Charaktere haben oft noch<br />

Erde unter den Fingernägeln, sie sind<br />

einfache Leute, eine Prostituierte, ein<br />

Dorfschullehrer, eine Bäuerin, die alle<br />

auf ihre Art fähig sind, über den Rand<br />

der engen Dorfwelt hinauszuschauen.<br />

Appelfeld beschreibt den Verrat einiger<br />

Juden und Nichtjuden und erzählt <strong>von</strong><br />

der Menschlichkeit der anderen.<br />

Vielleicht ist es auch dieser Lebenswille,<br />

der den Mann, der nicht aufhörte<br />

zu schlafen, irgendwann aufwachen<br />

liess. Der Mann, der ein Junge war,<br />

wurde <strong>von</strong> den Überlebenden in Europa<br />

auf ihrer Wanderung nach Palästina<br />

immer weitergetragen, so wie Appelfelds<br />

Vater den Sohn auf einem der<br />

Todesmärsche getragen und geschoben<br />

hatte. Als der Junge Erwin dann in Palästina<br />

ist, begegnet er zum Glück auch<br />

solchen, die ihn so lassen, wie er ist, die<br />

nicht den neuen Juden schaffen wollen,<br />

der blond und blauäugig ist und sich nie<br />

mehr wird demütigen lassen müssen.<br />

Der Ich-Erzähler trifft auf Menschen,<br />

die sich an seinen Vater erinnern und an<br />

dessen literarische Ambitionen, auch an<br />

dessen Schock, als der das erste Mal<br />

Kafka las.<br />

Wenn ihm heute die Kinder und Enkel<br />

der Holocaust-Überlebenden schreiben,<br />

dann ist das natürlich nicht nur Last. Es<br />

ist auch späte Genugtuung für die harte<br />

Zeit, als der literarische Betrieb ihn zwar<br />

ehrte, aber nie ganz akzeptierte, weil der<br />

Rebell sich weigerte, seine Vergangenheit<br />

abzustreifen, so wie die anderen<br />

ihre Lagerkleidung abgelegt hatten.<br />

Appelfeld lächelt, während es an den<br />

Tischen noch lebhafter wird. Da kommen<br />

viele, auch orthodoxe Juden, sie<br />

essen Salat mit viel Knoblauch, Käsekuchen<br />

und Gemüsesuppe. Das Handy<br />

klingelt, die Frau des Autors ist dran. Die<br />

drei Kinder der Appelfelds sind Anwalt,<br />

Literaturwissenschafter und Maler geworden.<br />

Die Enkel, Teenager noch, lesen<br />

die Bücher des Grossvaters. Sie fragen,<br />

was Fiktion sei, ob er all das erlebt habe,<br />

ob er <strong>von</strong> einer Hure vor den Nazis versteckt<br />

wurde oder wie das war, den Cousin<br />

zu finden, dessen Vater konvertierte<br />

und der seine Mitte verlor. Und was<br />

antwortet er den Enkelinnen? «Dass die<br />

Fiktion die Wahrheit ist.» l<br />

Der neue Roman <strong>von</strong><br />

Aharon Appelfeld ist<br />

eine Danksagung an<br />

seine Eltern. Hier ein<br />

Bild aus dem Jahr<br />

2004 in Israel.<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5<br />

MICHA BAR AM / MAGNUM


Belletristik<br />

Klassiker Edith Whartons Porträt einer verhinderten<br />

Künstlerin liegt in der deutschen Erstübersetzung vor<br />

Zeiten der Unschuld<br />

Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson<br />

River. Aus dem Amerikanischen <strong>von</strong><br />

Andrea Ott. Manesse, München 2011.<br />

624 Seiten, Fr. 36.90.<br />

Von Pia Horlacher<br />

Jane Austen, Henry James, Edith Wharton<br />

– hätte man vor der Jahrtausendwende<br />

eine Prophezeiung gewagt, welche<br />

Art <strong>von</strong> Literaturverfilmungen auf<br />

das 21. Jahrhundert einstimmen würden,<br />

so wäre man wohl zuletzt auf diese<br />

Namen gestossen. Doch Zufall war es<br />

nicht. Nachdem Martin Scorsese 1993<br />

Whartons «The Age of Innocence», dieses<br />

Sittengemälde aus dem Goldenen<br />

Zeitalter New Yorks, zu einem Meisterwerk<br />

der Leinwand adaptiert hatte,<br />

ahnte man es: Scheinbar altmodische Literatur<br />

kann aktuelle Zeitfragen schärfer<br />

ausleuchten als vieles, was <strong>von</strong> Zeitgenossen<br />

produziert wird. Die Geschichte<br />

<strong>von</strong> der kapitalistischen Gier und deren<br />

Verheerungen wiederholt sich.<br />

Die <strong>Neue</strong>ngländerin aus bestem Haus<br />

mit dem unbestechlichen ethnologischen<br />

Blick auf ihre eigene Gesellschaft,<br />

begann erst mit vierzig zu schreiben –<br />

aus einer unglücklichen Ehe heraus, die<br />

sie oft auf Reisen trieb. Vor allem nach<br />

Europa; in Frankreich liess sie sich nach<br />

ihrer Scheidung nieder, dort liegt sie begraben.<br />

Beides, ihr Unglück und ihre<br />

Weltläufigkeit, sollte ihr viel Stoff bieten<br />

für Romane, die das Ersticken in der<br />

Enge und den Selbstverlust in der Flucht<br />

thematisieren. Vor allem aber den Untergang<br />

einer Gesellschaft, die zwischen<br />

müder Dekadenz und rasender Gier dahinsiecht<br />

und schliesslich in der grossen<br />

François Villon: Das Kleine und das Grosse<br />

Testament. Aus dem Französischen,<br />

mit einem Nachwort <strong>von</strong> Frank-Rutger<br />

Hausmann. Reclam, Leipzig 2011.<br />

145 Seiten, Fr. 11.90.<br />

Von Stefana Sabin<br />

Spätestens durch Brechts Refrain zu<br />

«Nannas Lied» (1939) ist die Frage «Wo<br />

ist der Schnee vom vergangenen Jahr?»<br />

sprichwörtlich geworden. Diese Frage<br />

hatte sich Brecht bei dem bedeutendsten<br />

Dichter des französischen Spätmittelalters<br />

geliehen, nämlich bei François<br />

Villon, dem Meister des parodistischsozialkritischen<br />

Gedichts.<br />

Villons Identität ist – wie diejenige<br />

Shakespeares – unklar. Er soll 1431 in<br />

Paris geboren und Anfang 1463, nach<br />

einem abenteuerlichen Leben, ver-<br />

6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Depression <strong>von</strong> Börsen und Individuen<br />

zerfallen wird.<br />

So auch in ihrem Spätwerk aus dem<br />

Jahr 1929. Im alten Haus am Fluss, das<br />

unbewohnt, aber voller Geister der Erinnerung<br />

vor sich hinmodert, treffen<br />

sich zwei Sprösslinge, die aus parallelen<br />

Welten flüchten. Vance Weston, empfindsamer<br />

Sohn eines erfolgreichen Immobilienhändlers<br />

aus dem Mittleren<br />

Westen, und Halo Spear, intelligente<br />

Tochter einer verarmenden Bildungsbürgerfamilie<br />

aus der Oberschicht New<br />

Yorks. Im alten Haus, im Schatten reich<br />

bestückter Bücherwände und einer untergehenden<br />

Kultur des Geistes entfaltet<br />

sich eine Seelenverwandschaft und eine<br />

noch unerkannte Liebe, die selbst literarische<br />

Früchte tragen wird.<br />

Inspiriert <strong>von</strong> dieser exotischen Lebenswelt<br />

mausern sich Vances vage<br />

künstlerische Ambitionen zur ernsten<br />

Schriftstellerei; gleich sein erster Roman<br />

wird zum Überraschungserfolg. Halo,<br />

seine Türöffnerin in die literarische Gesellschaft<br />

der Ostküste, seine Muse,<br />

seine Lektorin und der eigentliche kreative<br />

Motor, muss es ihrem Geschlecht<br />

gemäss bei der Inspiration und der Arbeit<br />

im Hintergrund bewenden lassen.<br />

Der finanzielle Niedergang ihrer Familie<br />

drängt sie zum Opfer einer Heirat<br />

mit einem reichen Verehrer, in der sie<br />

zunehmend an Lebenskraft verliert.<br />

Das Unglück der beiden nimmt seinen<br />

Lauf. Am Ende dieser «Zeit der Unschuld»<br />

schwinden Vances Illusionen<br />

dahin im jahrelangen Lavieren zwischen<br />

Überheblichkeit und Opportunismus,<br />

zwischen «unmoralisch» in der Werbung<br />

verdientem Geld und bitterer<br />

Armut, während Halos Jugend und Ta-<br />

Die amerikanische<br />

Erzählerin Edith<br />

Wharton erhielt 1921<br />

den Pulitzer-Preis.<br />

Ballade François Villons Vermächtnis in einer frechen und geschmeidigen Neufassung<br />

Ein Vorbild der derben Sozialkritik<br />

schwunden sein. Lange hat man seine<br />

Gedichte autobiografisch gedeutet, aber<br />

inzwischen hat sich die These durchgesetzt,<br />

dass ein Pariser Jurist sich den<br />

Namen des Gauners François Villon zu<br />

eigen machte, um Justiz- und Institutionenschelte<br />

scharfzüngig zu versifizieren.<br />

Wer auch immer Villon war – seine<br />

Frechheit und sein Sprachwitz wurden<br />

traditionsbildend. Die französischen<br />

Symbolisten sahen in ihm den «poète<br />

truand» als Vorläufer des «poète maudit»,<br />

und für die deutschen Expressionisten<br />

wurde die derbe Sozialkritik vorbildlich.<br />

Als Villons Hauptwerk gelten die beiden<br />

«Testamente»: Es sind Gedichtzyklen,<br />

in denen das lyrische Ich ein Vagabund<br />

ist, der sein Leben am Rande der<br />

Gesellschaft beschreibt, über die Pariser<br />

Honoratioren herzieht und die Unmöglichkeit<br />

der reinen Liebe beklagt. «Das<br />

lent in der Düsternis einer traditionellen<br />

Ehe zusehends verblüht. So etwas<br />

wie ein «unhappy Happyend» zeichnet<br />

sich ab – 1932, wird Wharton die Fortsetzung<br />

der Geschichte präsentieren.<br />

Vordergründig ist das ein klassisches<br />

«portrait of the artist as a young man»,<br />

hintergründig das rare Porträt einer jungen<br />

Frau als verhinderte Künstlerin.<br />

Eingebettet in ein Tableau <strong>von</strong> Figuren,<br />

die sich zu einer zeitlosen Satire auf die<br />

Moden und Heucheleien des Kultur-<br />

und Literaturbetriebes versammeln, repräsentieren<br />

die beiden jungen Menschen<br />

eine Epoche der Verschiebungen<br />

zwischen alten und neuen Welten, wie<br />

sie uns, eine Jahrhundertwende später,<br />

durchaus vertraut scheinen. ●<br />

kleine Testament» verbindet Parodien<br />

höfischer Liebeslyrik mit satirischen Legaten<br />

an Amts- und Würdeträger. Nicht<br />

zuletzt die Politikerschelte, die darin<br />

steckt, macht die Verse bis heute aktuell.<br />

«Das grosse Testament» enthält selbstreflexive,<br />

elegische und satirische Verse,<br />

in die ausgeformte Balladen eingestreut<br />

sind – darunter die «Ballade der Frauen<br />

<strong>von</strong> einst», deren Refrain Brecht für<br />

«Nannas Lied» benutzte.<br />

Villons «Testamente» sind voller<br />

Anspielungen auf damalige Ereignisse<br />

und Figuren und in höchstem Mass<br />

sprachspielerisch, so dass Übersetzungen<br />

zum philologisch-ästhetischen<br />

Abenteuer werden. Darauf hat sich<br />

der Freiburger Romanist Frank-Rutger<br />

Hausmann eingelassen und eine rhythmisierte<br />

deutsche Fassung geschaffen,<br />

die die Frechheit und die Geschmeidigkeit<br />

des Originals erhält. ●<br />

LEBRECHT MUSIC & ARTS


Roman Der deutsche Schriftsteller Karl-Heinz Ott zeichnet das Leben Rousseaus fulminant nach<br />

Er stürzte sich in die Wirren<br />

seiner Epoche<br />

Karl-Heinz Ott: Wintzenried. Hoffmann<br />

und Campe, Hamburg 2011. 207 Seiten,<br />

Fr. 30.50.<br />

Von Martin Zingg<br />

Ohne ihn wäre alles anders gekommen.<br />

Ohne Wintzenried hätte der junge Jean-<br />

Jacques Rousseau seinen Platz im Herzen<br />

und im Bett <strong>von</strong> «Mama» nicht verloren:<br />

Es wäre ihm erspart geblieben, in<br />

die weite Welt hinaus zu ziehen und sich<br />

in Unternehmungen zu stürzen, deren<br />

Ende nicht abzusehen war.<br />

«Mama» ist Madame de Warens. Bei<br />

ihr, der dreizehn Jahre Älteren, kommt<br />

der junge Jean-Jacques im Alter <strong>von</strong><br />

sechzehn Jahren unter. Hinter ihm liegen<br />

schwierige Zeiten. Seine Mutter ist<br />

im Kindbett gestorben: «Ich kostete<br />

meiner Mutter das Leben, und meine<br />

Geburt war mein erstes Unglück»,<br />

schreibt er später. Sein Vater hat sich<br />

wieder verheiratet, die Lehrzeit in Genf<br />

war freudlos. Bei «Mama» wird er, <strong>von</strong><br />

einigen Reisen unterbrochen, lange<br />

Jahre des Glücks verbringen. Allerdings<br />

verlangt «Mama» gleich zu Beginn, dass<br />

er, der calvinistisch aufgewachsen ist,<br />

zum Katholizismus übertritt Ω Madame<br />

de Warens bekommt für ihre Bemühungen<br />

Geld <strong>von</strong> der katholischen Kirche.<br />

Ihr junger Zögling und Geliebter, das<br />

muss sie bald erkennen, ist anstrengend,<br />

empfindlich, oft krank und scheut jede<br />

Anstrengung. Als er <strong>von</strong> einem Kuraufenthalt<br />

in Montpellier zurückkehrt, hat<br />

«Mama» einen neuen Geliebten: Wintzenried,<br />

<strong>von</strong> Beruf Perückenmacher.<br />

Jean-Jacques muss den Haushalt verlassen.<br />

Eine Kränkung für immer.<br />

Von Ehrgeiz getrieben<br />

In «Wintzenried» erzählt Karl-Heinz<br />

Ott die Geschichte <strong>von</strong> Jean-Jacques<br />

Rousseau, die Geschichte eines Mannes,<br />

der zunächst unschlüssig durchs Leben<br />

dümpelt. Eine Ausbildung hat er nicht,<br />

<strong>von</strong> vielem bloss ungefähre Vorstellungen,<br />

eigentlich kann er noch nichts. In<br />

seinen Phantasien jedoch könnte er<br />

alles werden: Komponist, Pfarrer, Diplomat.<br />

Einen Versuch als Komponist wagt<br />

er in Lausanne, wo er sich sehr kokett<br />

als Musiker präsentiert und den Auftrag<br />

bekommt, ein Menuett zu komponieren.<br />

Dessen öffentliche Aufführung wird zur<br />

Blamage. Und weil er mit dem Notensystem<br />

nicht zurechtkommt, beschliesst<br />

er kurzerhand, ein neues zu erfinden,<br />

eines, das nur mit Zahlen operiert. Das<br />

wird dann die nächste Blamage.<br />

Mit seiner Erfindung im Gepäck<br />

macht er sich auf nach Paris. Er will anerkannt,<br />

berühmt werden. Er lernt Diderot<br />

kennen, der gerade ein grosses Projekt<br />

wälzt, die «Encyclopédie», aber der<br />

geplante Aufstieg will nicht gelingen Ω<br />

bis er realisiert, dass er Zugang finden<br />

muss zu einem der Pariser Salons, die<br />

<strong>von</strong> resoluten und einflussreichen<br />

Damen geführt werden.<br />

Eine dieser Damen verschafft ihm Arbeit.<br />

In Venedig wird er Sekretär des<br />

französischen Botschafters, nun glaubt<br />

er sich auf dem Weg zur Diplomatenkarriere.<br />

Es kommt anders. Zwar scheint er<br />

gute Briefe schreiben zu können, aber er<br />

ist überheblich, aufbrausend und korrupt.<br />

Und er hat ein Talent, die Gunst<br />

des Augenblicks zu versäumen und sich<br />

hinterher darüber zu ärgern.<br />

Kritiker des Fortschritts<br />

Karl-Heinz Ott lenkt seinen Rousseau<br />

sehr geschickt und immer unterhaltsam<br />

durch die biografisch verbürgten Stationen,<br />

aber er präsentiert keine Biografie,<br />

nennt keine Jahreszahlen und hält kein<br />

Philosophieseminar. Er zeigt seinen<br />

Jean-Jacques gleichsam <strong>von</strong> hinten, als<br />

den oft Verzweifelten, Suchenden, <strong>von</strong><br />

Grössenwahn und Verfolgungsängsten<br />

Geplagten. Als Erotomanen, der sich<br />

ständig in Frauen verliebt und sich<br />

durch Onanieren vor deren Nähe<br />

schützt. Als einen, den viele Zufälle voranbringen<br />

und Vorbehalte bremsen.<br />

Als Rousseau in Paris vom Preisausschreiben<br />

einer Akademie erfährt, beschliesst<br />

er, daran teilzunehmen. Es geht<br />

um die Frage, ob der Fortschritt der Wissenschaften<br />

und Künste unsere Sitten<br />

Jean-Jacques<br />

Rousseau (1712–1778)<br />

mit «Mama», seiner<br />

ersten Geliebten,<br />

Madame de Warens,<br />

in Annecy.<br />

verfeinert oder verdorben habe. Als er<br />

Diderot da<strong>von</strong> erzählt, rät ihm dieser,<br />

den Fortschritt nicht zu rühmen: Loben<br />

sei bloss langweilig. Kritik am Fortschritt<br />

hingegen werde auffallen. Diderot,<br />

der das als Spiel auffasst und selber<br />

kein Wort da<strong>von</strong> glaubt, diktiert ihm<br />

auch gleich die ersten paar Sätze. Rousseau<br />

muss sich anfänglich überwinden,<br />

den Faden weiterzuspinnen.<br />

Mit seiner furiosen Kritik an den Folgen<br />

des Fortschritts wird Rousseau den<br />

ersten Preis gewinnen, und damit hat er<br />

auch sein lebenslängliches Thema. Er<br />

wird ein einfaches, aber ziemlich turbulentes<br />

Leben führen, zusammen mit seiner<br />

Geliebten Thérèse, und er wird sich<br />

konsequenterweise mit den führenden<br />

Aufklärern verkrachen. Viele Adlige<br />

wiederum suchen bei ihm, der alle seine<br />

fünf Kinder im Waisenhaus abgeliefert<br />

hat, Rat in Fragen der Erziehung.<br />

In seinem grandiosen Roman zeichnet<br />

Ott eine höchst interessante, <strong>von</strong><br />

Widersprüchen geprägte Figur. Dass sie<br />

<strong>von</strong> belegbaren Daten gestützt wird, ist<br />

hier zweitrangig. Interessanter ist das<br />

Bild eines Menschen, der sich buchstäblich<br />

ins Gewühl seiner Epoche stürzt<br />

und seine tragische Zerrissenheit auf<br />

skandalöse Weise auslebt Ω und in vielem<br />

aus dem Rahmen eben dieser Epoche<br />

fällt. Otts Roman erzählt damit, indirekt<br />

und mit leichter Hand, auch <strong>von</strong><br />

den Bedingungen, unter denen das <strong>Neue</strong><br />

entsteht. Es sind oft krumme Wege.●<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7<br />

SCALA ARCHIVES


Belletristik<br />

Roman Das preisgekrönte Werk <strong>von</strong> Youssef Ziedan<br />

erzählt vom bewegten Leben eines Geistlichen aus dem<br />

fünften Jahrhundert<br />

Stachel im Fleisch<br />

eines christlichen<br />

Mönchs<br />

Youssef Ziedan: Azazel. Aus dem<br />

Arabischen <strong>von</strong> Larissa Bender.<br />

Luchterhand, München 2011. 448 Seiten,<br />

Fr. 32.90.<br />

Von Susanne Schanda<br />

Schon der Titel ist für die religiöse Leserschaft<br />

eine Provokation: «Azazel»<br />

heisst im Alten Testament wie im Koran<br />

Satan, gefallener Engel oder auch Sündenbock.<br />

Er spielt die treibende Rolle in<br />

Youssef Ziedans preisgekröntem Roman<br />

und ist zugleich der Stachel im Fleisch<br />

des ägyptischen Mönchs Hypa. Ketzerisch<br />

fragt Azazel den <strong>von</strong> Glaubenszweifeln<br />

gepeinigten Mönch: «Hat Gott<br />

den Menschen erschaffen oder umgekehrt?»<br />

Der Autor Youssef Ziedan beschäftigt<br />

sich als Philosoph, Sufismus-Forscher<br />

und Direktor der Handschriftenabteilung<br />

der Bibliothek <strong>von</strong> Alexandria seit<br />

Jahrzehnten mit alten Schriften. Nach<br />

etlichen wissenschaftlichen Büchern<br />

hat er für seinen zweiten Roman «Azazel»<br />

2009 den Arabischen Bookerpreis<br />

erhalten. In Ägypten löste der Roman<br />

einen Sturm der Entrüstung aus und<br />

wurde zum Bestseller. Mehrere Bischöfe<br />

der Koptisch-Orthodoxen Kirche warfen<br />

Ziedan vor, den christlichen Glauben<br />

zu verunglimpfen, sprachen ihm als<br />

Muslim das Recht ab, über das Christentum<br />

zu schreiben, und forderten ein<br />

Verbot des Buches – erfolglos.<br />

Löste Kontroverse aus<br />

Auch muslimische Geistliche ereifer ten<br />

sich über den Roman, in dem ein junger<br />

Mönch zwischen der asketischen Hingabe<br />

an den Glauben und seinen körperlichen<br />

Begierden hin und her gerissen<br />

wird. Zwar hat die Kontroverse dem<br />

Buch zusätzliche Popularität verschafft.<br />

Dennoch bedauert der Autor im Gespräch<br />

die Angriffe: «Es ist absurd, mir<br />

vorzuwerfen, dass ich das Christentum<br />

schlecht mache. Mein Roman richtet<br />

sich gegen keine Kirche, sondern gegen<br />

die Haltung, im Namen der Religion<br />

Gewalt auszuüben. Er thematisiert das<br />

Menschsein in seiner Vielfalt <strong>von</strong> Fühlen,<br />

Denken, Glauben, Zweifeln und<br />

Sehnen.»<br />

Youssef Ziedan hat seine Geschichte<br />

in der frühchristlichen Zeit in Ägypten,<br />

Palästina und Syrien angesiedelt, als die<br />

Kirche <strong>von</strong> theologischen Kontroversen<br />

8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

und Machtkämpfen erschüttert wurde.<br />

Erzähler ist der Mönch Hypa, angetrieben<br />

<strong>von</strong> Azazel, einer schillernden, lockenden<br />

sowie irritierenden Figur, die<br />

er zuerst entrüstet zum Schweigen bringen<br />

will, schliesslich aber als innere<br />

Stimme erkennt. Auf 30 Pergamentrollen<br />

schreibt er seine Erinnerungen nieder,<br />

gequält <strong>von</strong> Schuldgefühlen und um<br />

seinen Glauben ringend. Hypa stammt<br />

aus einem Dorf im südlichen Ägypten,<br />

wo an der Schwelle zum fünften Jahrhundert<br />

noch der Glaube an die alten<br />

ägyptischen Götter herrscht. Als junger<br />

christlicher Mönch studiert er Medizin<br />

und bricht dann auf gegen Norden. Im<br />

kosmopolitischen und intriganten Alexandria<br />

lässt er sich <strong>von</strong> der schönen Oktavia<br />

zur Lust verführen und beinahe um<br />

den Verstand bringen. Als mindestens<br />

so sündhaft gelten der Kirche allerdings<br />

die Vorträge der heidnischen Philosophin,<br />

Astronomin und Mathematikerin<br />

Hypatia, denen er fasziniert lauscht.<br />

Entsetzt und machtlos muss er mit ansehen,<br />

wie die Gelehrte <strong>von</strong> einem christlichen<br />

Mob angegriffen und zu Tode<br />

geschleift wird.<br />

Brennend aktuell<br />

Der Schock dieser Gewalttat im Namen<br />

des Christentums wird zum Wendepunkt,<br />

vertreibt ihn aus Alexandria, vorerst<br />

nach Jerusalem und <strong>von</strong> dort weiter<br />

in ein abgelegenes Kloster auf einem<br />

Hügel nördlich <strong>von</strong> Aleppo. Hier will er<br />

sich nach seiner abenteuerlichen Wanderschaft<br />

mit nur 33 Jahren der Welt entziehen,<br />

sich dem Studium und seinem<br />

Kräutergarten widmen und als Arzt den<br />

notleidenden Menschen helfen. Doch es<br />

kommt anders.<br />

Der Roman erzählt die Ereignisse<br />

nicht chronologisch, sondern folgt den<br />

Erinnerungssprüngen des Mönches. Gerade<br />

dessen innere Auseinandersetzung<br />

lässt uns als Lesende mitfiebern und<br />

atemlos weiterblättern, als würde sich<br />

das Geschehen hier und jetzt vor unseren<br />

Augen abspielen. Youssef Ziedan<br />

erzählt auf der Folie der Geschichte<br />

einen modernen Entwicklungsroman<br />

<strong>von</strong> brennender Aktualität. Ein Vergleich<br />

mit dem amerikanischen Thriller<br />

«Da Vinci Code» bietet sich an, greift<br />

aber zu kurz. «Azazel» ist keine leichte<br />

Kost, sondern ein philosophischer<br />

Roman, der sich mit arabischer Theologie,<br />

Moral und der Selbstverantwortung<br />

des Einzelnen auseinandersetzt. Er ist<br />

Youssef Ziedan sucht<br />

in seinem Roman nach<br />

dem Licht im Dunkeln.<br />

Koptischer Mönch<br />

im Kloster <strong>von</strong> Wadi<br />

Natrun in Ägypten.<br />

«mit Blut, Schweiss und Tränen geschrieben»,<br />

wie der Autor sagt. Umso<br />

mehr freut es ihn, dass der Roman gerade<br />

bei jungen Lesern so gut ankommt. In<br />

Ägypten hat inzwischen sein jüngster<br />

historischer Roman das Buch «Azazel»<br />

<strong>von</strong> der Spitze der Bestsellerlisten verdrängt.<br />

Der Autor wird bei seiner Arbeit<br />

<strong>von</strong> einem aufklärerischen Impuls getrieben:<br />

«Ich habe bereits 55 Bücher geschrieben,<br />

und immer mit dem Anspruch,<br />

Licht ins Dunkel zu bringen,<br />

Verständnis für unser kulturelles Erbe<br />

zu wecken.» Sein Arbeitsplatz, die geschichtsträchtige<br />

Bibliothek <strong>von</strong> Alexandria,<br />

wurde einst <strong>von</strong> Cäsar angezündet<br />

und vor rund zehn Jahren in Zusammenarbeit<br />

mit der Unesco wieder errichtet,<br />

mit Blick aufs Mittelmeer.<br />

«Wozu haben wir die Bibliothek wieder<br />

aufgebaut, wenn nicht, um aufzuklären?»<br />

fragt Youssef Ziedan. ●<br />

ANDREA PISTOLESI / TIPS / BILDAGENTUR ONLINE


Briefwechsel Die beiden österreichischen Autoren Joseph Roth und Stefan Zweig tauschten sich<br />

über persönliche Probleme und Schriftstellerkollegen aus<br />

«Roosevelt ist ein Schwindler»<br />

«Jede Freundschaft mit mir ist<br />

verderblich». Joseph Roth und Stefan<br />

Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Hrsg.<br />

Madeleine Rietra. Wallstein,<br />

Göttingen 2011. 623 Seiten, Fr. 53.90.<br />

Von Arnaldo Benini<br />

Ein Briefwechsel mit eher wenigen Briefen<br />

legt selten Zeugnis für eine Existenz<br />

ab. Genau dies jedoch ist der Fall bei Joseph<br />

Roth und seiner elfjährigen Korrespondenz<br />

mit Stefan Zweig. Der Band<br />

enthält 219 Briefe <strong>von</strong> Roth, 49 Antworten<br />

Zweigs, einige Briefe zwischen Roth<br />

und Zweigs Ehefrau Friderike, Ausschnitte<br />

<strong>von</strong> 58 Briefen mit Bezug auf<br />

Roth, fast alle <strong>von</strong> Stefan und Friderike<br />

Zweig an Bekannte gerichtet, sowie<br />

Zweigs Nachruf auf den 1939 verstorbenen<br />

Freund. Ein Kommentar und ein<br />

historisch-biografisches Nachwort vervollständigen<br />

das hervorragend edierte<br />

Werk. Allerdings ist nur ein Bruchteil<br />

des Briefwechsels der Jahre 1927 bis 1938<br />

erhalten, die Roth und Zweig teilweise<br />

im Exil verbrachten. Im Exil Verfasstes<br />

geht leicht verloren, weil die Geflohenen<br />

nur das Nötigste mitnehmen – und<br />

Roth reiste pausenlos «nur mit drei Koffern»<br />

durch ganz Europa.<br />

«Ich bin entsetzt» schreibt er im Juli<br />

1933 an Zweig, «ich habe kein einziges<br />

meiner Bücher.» Roth richtet seine Briefe<br />

an den «sehr verehrten und sehr lieben<br />

Stefan Zweig», ohne den 13 Jahre<br />

Älteren und viel Bekannteren je zu<br />

duzen. Von einigen Ausnahmen abgesehen,<br />

greifen die beiden Autoren kaum<br />

politische und kulturelle Themen auf.<br />

Roths Briefe an den geduldigen und<br />

grosszügigen Zweig sind eine Litanei an<br />

Klagen über familiäres Unglück und<br />

über «unsägliche Peinlichkeiten», verursacht<br />

meist durch den Alkohol, der<br />

das erzählerische Talent bedroht und<br />

die Honorare hinwegspült. Der Ton ist<br />

jeweils ultimativ: Zweig muss sofort antworten,<br />

er muss «Geld telegraphisch<br />

anweisen», weil Roth sonst verhungern<br />

oder der Lynchjustiz der Gläubiger anheimfallen<br />

würde, er muss sich bei<br />

einem Verleger sofort für ein Buch einsetzen,<br />

das Roth, wie sich später herausstellt,<br />

bereits einem anderen abgetreten<br />

hat. Roth ist für die erbrachten Dienste<br />

zwar dankbar, aber wenn Zweig nicht<br />

reagiert, überschüttet er ihn mit Verachtung<br />

oder schreibt ihm, um ihn zu verletzen.<br />

Er ist sich bewusst, dass er die<br />

Beziehung missbraucht: «Jede Freundschaft<br />

mit mir ist verderblich.»<br />

Die Geduld des Wiener Aristokraten<br />

Zweig jedoch ist unendlich. 1934 schreibt<br />

er einer Freundin, es sei «furchtbar<br />

schwer» mit Roth. Er sehe «keinen Ausweg<br />

mehr», weil ihn «der Alkohol ganz<br />

unterhöhlt». Die Freundschaft dauerte<br />

bis zu Roths Tod 1939. Dessen Urteile<br />

über Kollegen sind <strong>von</strong> Ressentiments<br />

geprägt und meist masslos: Thomas<br />

Mann «ist einfach naiv und dem eigenen<br />

Talent geistig nicht gewachsen». «Die<br />

Geschichten Jaakobs» haben ihn «direct<br />

angewidert. Es ist eine Schande, eine<br />

Schamlosigkeit». Am 31. August 1933 ist<br />

er sicher, dass der «Usurpator der Objektivität»<br />

Thomas Mann imstande sei,<br />

sich «mit Hitler auszusöhnen». Bei<br />

René Schickele liegt «Feigheit» vor,<br />

beim «Krakehler» (sic) Döblin «irritierender<br />

Infantilismus», und Romain Rolland<br />

ist «ein falscher Prophet».<br />

Beide Briefpartner sind überzeugte<br />

antizionistische Juden. Roth schreibt<br />

1935 an Zweig: «Die Zionisten stehen<br />

den Nazis sehr nahe.» Roosevelt ist für<br />

ihn «ein Schwindler, ein grosser Gauner,<br />

ein Gangster». Das sind Beispiele einer<br />

innerhalb der deutschen Emigration<br />

häufigen Aggressivität, oft in der meisterhaften<br />

Sprache verfasst, die man aus<br />

Roths Romanen und Erzählungen kennt.<br />

Anders als Zweig hatte Roth bereits kurz<br />

Entschleunigung Die Kehrseite der Moderne<br />

Dass unser Leben immer hektischer wird, erfahren<br />

wir täglich. Dass wir gerne mehr Ruhe hätten, ohne<br />

auf Schnelligkeit verzichten zu müssen, wissen wir<br />

auch. Hussein Chalayan zeigt uns, wie das Paradox<br />

aussehen könnte. In einer Videoinstallation lässt der<br />

1970 auf Zypern geborene Künstler eine Frau mit<br />

Hochgeschwindigkeit <strong>von</strong> London nach Istanbul<br />

reisen. Ganz entspannt sitzt sie in einer Kapsel, isst<br />

gelegentlich etwas oder lässt Badewasser einlaufen.<br />

Die Landschaft saust an ihr vorbei. Ausser hin und<br />

wieder einem Atomkraftwerk ist nichts zu erkennen.<br />

Im Moment äusserster Ruhe wird das Aussen zur<br />

Staffage. Die Zeitreise gehört seit Jules Verne zur<br />

Moderne, Hollywood hat das Thema ausgeschlachtet.<br />

Spätestens seit 1776 James Watt die erste<br />

Dampfmaschine installiert hat, gilt Geschwindigkeit<br />

nach Hitlers Machtergreifung keine<br />

Zweifel, dass ein Krieg bevorstehe. Gemeinsam<br />

mit Thomas Mann gehörte er<br />

zu den wenigen, die zu jener Zeit über<br />

ein sicheres Gefühl für die Realität verfügten.<br />

Zweig dagegen ist auffällig zurückhaltend<br />

und beschränkt sich auf<br />

Trost und Empfehlungen: Sein Freund<br />

solle dem Alkohol abschwören, so wie<br />

Zweig auf seine täglich 20 Zigarren verzichtet<br />

hat, und nicht überreizt gegen<br />

alles und alle schwadronieren. Vergeblich<br />

– die gut gemeinten Ratschläge vermögen<br />

gegen die Verzweiflung des<br />

Freundes nichts auszurichten. Zweig<br />

stand Roth sehr nahe und hat ihn aufrichtig<br />

bemitleidet. Es fehlte ihm aber<br />

die Überzeugungskraft, dem Freund<br />

entscheidend zu helfen. Der Briefwechsel<br />

zwischen Roth und Zweig widerspiegelt<br />

die Tragödie <strong>von</strong> Roths Leben – mit<br />

Intermezzi einer opera buffa. ●<br />

als Inbegriff <strong>von</strong> Fortschritt und Zukunft. Die Futuristen<br />

haben sie vor dem Ersten Weltkrieg gefeiert,<br />

Skeptiker wie Jean Tinguely haben sie ein paar<br />

Jahrzehnte später mit sanfter Ironie hinterfragt.<br />

Seine Maschinen laufen leer und machen einen<br />

Höllenlärm. Das Widerspiel <strong>von</strong> Ruhebedürfnis und<br />

Beschleunigungssehnsucht wird in dem Band, der<br />

eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg<br />

begleitet (bis 9. 4.), in seinen vielen Kapiteln <strong>von</strong> der<br />

Romantik an ausdrucksstark aufgefächert. Die<br />

Kunstgeschichte lässt sich auch unter diesem Aspekt<br />

betrachten. Aus dem Dilemma unserer Wünsche<br />

werden wir allerdings nicht entlassen. Gerhard Mack<br />

Markus Brüderlin (Hrsg.): Die Kunst der<br />

Entschleunigung. Hatje Cantz, Ostfildern 2011.<br />

260 Seiten, 402 Abbildungen, Fr. 66.50.<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9


Belletristik<br />

Autobiografischer Roman Ein niederländischer Autor setzt seinem Sohn ein Denkmal<br />

Wenn Literatur<br />

zur Trösterin wird<br />

A. F. Th. van der Heijden: Tonio.<br />

Ein Requiemroman. Aus dem<br />

Niederländischen <strong>von</strong> Helga <strong>von</strong><br />

Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2011.<br />

671 Seiten, Fr. 26.90.<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

Von der Trauer um einen geliebten<br />

Menschen bleibt niemand verschont,<br />

auch nicht die Schriftsteller. Mit<br />

«Tonio» hat der niederländische Autor<br />

A. F. Th. van der Heijden seinem Sohn<br />

ein Denkmal gesetzt: Am frühen Morgen<br />

des 23. Mai 2010 verunfallte Tonio in<br />

Amsterdam mit dem Velo, am gleichen<br />

Tag starb er, noch nicht 22-jährig. «Solange<br />

die Literatur den Tod nicht zu<br />

überwinden vermag, hat sie nach meiner<br />

Auffassung die Rolle (Funktion)<br />

einer Trösterin bei allen Todesängsten.»<br />

Diese Zeilen <strong>von</strong> 1981 stammen aus<br />

einem Band mit Notizen aus dem Alltag.<br />

Nun stellt van der Heijdens «Requiemroman»<br />

die Rolle der Literatur als Trösterin<br />

auf die Probe.<br />

Diffuse Lichtgestalt<br />

«Wenn ich es (…) jetzt schreibe, schon<br />

in diesem Sommer, wird es ein Bericht<br />

<strong>von</strong> innen (…), direkt aus der Gefühlsverwirrung<br />

heraus … Das Schreiben<br />

wird dann zu einem Teil des Ringens,<br />

und umgekehrt.» Ende Mai, eine Woche<br />

nach Tonios Tod, hat van der Heijden<br />

mit dem Buch begonnen, so erfährt man<br />

gegen Ende der 671 Seiten. Er habe seinem<br />

Gedächtnis freien Lauf gelassen<br />

und dieses Material dann «in einer<br />

Struktur untergebracht, die in etwa der<br />

eines Romans gleicht» – mit dem Ziel,<br />

seinen Sohn «in Prosa lebendig zu erhalten».<br />

Die strenge äussere Form, in der<br />

die Aufzeichnungen komponiert sind,<br />

erweckt den Eindruck, das Chaos der<br />

Gefühlsverwirrung lasse sich in eine<br />

Ordnung bannen – als wäre das eigene<br />

Leben, der eigene Schmerz ein Romanstoff,<br />

über den der Autor verfügen könnte,<br />

der am «Schwarzen Pfingstsonntag»<br />

aus seiner Ruhe gerissen wurde. Zwei<br />

Polizisten melden, Tonio liege «in kritischem<br />

Zustand» im Operationssaal. Der<br />

Bericht über die folgenden quälenden<br />

Stunden wird nun mit weiteren Zeitebenen<br />

verflochten: mit Erinnerungen an<br />

das Kind Tonio, Gesprächen mit seinen<br />

Freunden über den letzten Tag, Versuchen,<br />

den Unfall zu rekonstruieren, Reflexionen<br />

über Schuldgefühle.<br />

Stolz signiert der achtjährige Tonio<br />

bei Lesungen die Bücher seines Vaters.<br />

Später macht er sich über dessen Arbeitswut<br />

lustig: «Bist du schon bei zehn<br />

Seiten pro Tag?» – «Fünf sind das Minimum<br />

(…). Sechs, sieben sind machbar.<br />

Acht ist ein Supertag», so die Antwort.<br />

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

A. F. Th. van der<br />

Heijden verarbeitet<br />

seine Trauernotizen<br />

über den bei<br />

einem Velounfall<br />

verstorbenen Sohn zu<br />

einem Requiem.<br />

Zum Streit kam es nie, auch später nicht.<br />

Tonio erscheint als eine Lichtgestalt, die<br />

undeutlich bleibt, ebenso wie seine<br />

Mutter Mirjam.<br />

Wie privat ist dieser Requiemroman?<br />

Bisweilen blättert man in einem literarischen<br />

Familienalbum, das einen nichts<br />

anzugehen scheint, doch in der nächsten<br />

Szene ist man unmittelbar berührt.<br />

Mit den Eltern stehen wir am Spitalbett<br />

des sterbenden Sohns. «Er schlief nicht,<br />

und er war auch noch nicht aus dem<br />

Traum erwacht, der das Leben war.»<br />

Wenn van der Heijden nicht nur seinen<br />

eigenen Schmerz erforscht, sondern das<br />

Wesen der Trauer überhaupt, ist nichts<br />

mehr privat. «Ich lief umher wie ein bis<br />

ins Mark betrogener Liebhaber, in dem<br />

die Liebe immer noch wächst und<br />

wächst.» «Wir liessen den Nerv frei liegen<br />

und erzwangen so den Schmerz, der<br />

uns mit Tonio verband.»<br />

Neben solchen Sätzen begegnet man<br />

in diesem offenbar schnell geschriebenen<br />

Buch allerdings auch Phrasen aus<br />

dem Allgemeinwortschatz des Trauerns.<br />

«In Tonios Tod kann ich keinerlei<br />

Ziel, keinerlei Sinn entdecken.» Auch<br />

Mirjam findet keine eigenen Worte für<br />

den Schmerz: «So schrecklich … so<br />

schrecklich, dass ich ihn nie mehr sehen<br />

werde.» Das sind Sätze, wie sie jeder<br />

sagen könnte, und deshalb bleiben sie in<br />

der Literatur ohne Wirkung. Der sprachliche<br />

Übermut wiederum, der in den<br />

ausgreifenden Romanzyklen van der<br />

Heijdens so kraftvoll daherkommt, erzeugt<br />

hier, wo es um sein eigenes Leid<br />

geht, grell verunglückte Sätze. «Der gestorbene<br />

Tonio ruht unausweichlich<br />

schwer und reglos in der wimmernden<br />

Hängematte meiner Aufmerksamkeit.»<br />

Berührend ehrlich<br />

Welchen Massstab soll man an diese<br />

Tagebuch-Notizen in Romanform anlegen?<br />

Man ist berührt <strong>von</strong> der Ehrlichkeit,<br />

mit der van der Heijden seine Trauer<br />

mitteilt – umso mehr jedoch schmerzen<br />

die vielen Sätze, die dem Floskelhaften,<br />

Alltäglichen verhaftet sind. «Diese<br />

Notizen haben KEINEN LITERARI-<br />

SCHEN ANSPRUCH, die jetzigen nicht<br />

und auch nicht die zurückliegenden», so<br />

hiess es in der Notiz-Sammlung «Engelsdreck».<br />

Auch «Tonio» besteht aus<br />

Alltagsnotizen, allerdings aus einem<br />

Alltag im Ausnahmezustand. Es sei ihm<br />

nicht gelungen, zum Kern dessen vorzudringen,<br />

was wirklich passiert sei, notiert<br />

van der Heijden nach einem Besuch<br />

bei seinem Bruder. Diesen Eindruck hat<br />

man auch nach der Lektüre: Der Plauderton,<br />

der über weite Strecken herrscht,<br />

nimmt den Ereignissen ihr Gewicht.<br />

Man hat dieses dicke Buch nicht nur<br />

überraschend schnell gelesen, man hat<br />

es auch «gern» gelesen. Doch dies ist<br />

das falsche Kompliment. Was fehlt, ist<br />

jener Trost, den Literatur zu geben vermag,<br />

wenn sie den Schmerz durch Sprache<br />

verwandelt. ●<br />

ROBERT RIZZO / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF


Roman Unspektakulärer Alltag,<br />

klischeehaft geschildert<br />

Eine alte Dame<br />

gerät in Wut<br />

PETER PEITSCH<br />

Stewart O'Nan: Emily, allein. Aus dem<br />

Amerikanischen <strong>von</strong> Thomas Gunkel.<br />

Rowohlt, Hamburg 2011. 352 Seiten,<br />

Fr. 30.50.<br />

Von Simone <strong>von</strong> Büren<br />

Betagte Protagonisten, gebrechlich, vergesslich<br />

und kompliziert, gibt es in der<br />

Literatur wenige. Bei Stewart O’Nan, der<br />

Thriller schreibt und sich gerne mit dramatischen<br />

Stoffen befasst, erwartet man<br />

sie schon gar nicht. Doch nun hat der<br />

Amerikaner mit «Emily, allein» einen<br />

Roman über eine alte Frau geschrieben,<br />

deren «Leben keine dringende oder notwendige<br />

Angelegenheit mehr» ist.<br />

Emily ist über achtzig und seit Jahren<br />

verwitwet, eine pflichtbewusste Dame,<br />

die viel erwartet und leicht enttäuscht<br />

wird – etwa wenn Kinder und Enkel zu<br />

früh abreisen und keine Dankesbriefe<br />

schreiben. Ihr Leben besteht aus langen<br />

Hunde spaziergängen, Frühgottesdiensten<br />

und dem Ausschneiden <strong>von</strong> Rabattgutscheinen.<br />

O’Nan beschreibt Emilys unspektakulären<br />

Alltag gewissenhaft und in nüchternem<br />

Stil. Das Irritierende dabei ist,<br />

dass er Dinge behauptet, anstatt sie<br />

sichtbar zu machen: Der Drittpersonerzähler<br />

beschreibt eine Frau, die zu<br />

Hause gerne klassische Musik hört und<br />

in Fotoalben blättert, sagt dann aber,<br />

dass sie sich in ihrem Haus «klaustrophobischen<br />

Gedanken ausgeliefert»<br />

fühlt. Er zeigt uns eine unscheinbare<br />

Dame, höflich und angepasst, sagt aber,<br />

sie habe schlimme Wutanfälle. Und statt<br />

ihre Empfindungen zu beschreiben, legt<br />

er ihr Sentenzen in den Mund: Angesichts<br />

des Todes «in Hysterie zu verfallen<br />

hatte keinen Sinn».<br />

Was der 50-jährige Autor vorlegt, ist<br />

ein Klischee <strong>von</strong> Alter. Auf den 350 Seiten<br />

kommt alles vor, was man mit dem<br />

Alltag einer betagten Frau assoziiert:<br />

Vergesslichkeit, Angst vor Stürzen<br />

«beim Auffüllen des Vogelhäuschens»,<br />

das Wählen der republikanischen Partei<br />

auch nach Bush, Schlaflosigkeit, Abhängigkeit<br />

<strong>von</strong> Nachbarn, Fixiertsein auf<br />

ein Haustier, Hang zu Paranoia, Arztbesuche,<br />

Testamentschreiben, Beerdigungen,<br />

verklärte Erinnerungen.<br />

Es fehlen die unerwarteten Einzigartigkeiten,<br />

die eine Figur lebendig<br />

machen. Nur Ansätze dazu<br />

sind zu erkennen: Etwa<br />

wenn Emily merkt, dass<br />

man ihr in ihren geliebten<br />

viktorianischen Filmen<br />

die Nebenrolle<br />

der schrulligen Alten<br />

geben würde, während<br />

sie sich selber<br />

immer noch in der<br />

Hauptrolle sieht. ●<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte.<br />

S. Fischer, Frankfurt 2011. 127 Seiten,<br />

Fr. 25.90.<br />

Über der bürgerlichen Kindheit liegt die<br />

Trägheit der Sonntagnachmittage und<br />

der Sommer auf dem Land. Bei der<br />

44-jährigen Katharina Hacker, deutsche<br />

Buchpreisträgerin («Die Habenichtse»,<br />

2006), sind es die Sommer, welche die<br />

gebürtige Frankfurterin mit ihrer Familie<br />

in einem Odenwalder Dorf zubrachte.<br />

In ihrem schmalen Buch gibt sie weniger<br />

eine titelgebende «Geschichte»<br />

wieder als atmosphärische Erinnerungspassagen:<br />

Arier-Dokumente im Estrich,<br />

Hitze, Gewitter, die wilde Fantasie der<br />

drei Geschwister, Dorfdeppen, die verehrte<br />

Grossmutter. Die Autorin erzählt<br />

aus der Gegenwart heraus, das Autobiografische<br />

kryptisch verneinend. Wozu?<br />

Das verschleiernd Märchenhafte im<br />

Ton, in der Syntax bleibt und damit die<br />

Stimmung, die einen einhüllt wie ein<br />

samtenes Futteral. Oder wie die Langeweile<br />

eines Sommers auf dem Land.<br />

Regula Freuler<br />

Friedrich Achleitner: Iwahaubbt. Gedichte<br />

im Dialekt. Zsolnay, Wien 2011. 208 Seiten,<br />

Fr. 25.90.<br />

Der 1930 im oberösterreichischen Schalchen<br />

geborene Friedrich Achleitner ist<br />

Schriftsteller, Architekt und emeritierter<br />

Professor für angewandte Kunst. 1955<br />

stiess er zur Wiener Gruppe um Bayer,<br />

Artmann und Rühm. Er publizierte<br />

Dialektgedichte sowie Konkrete Poesie<br />

und Montagetexte. Berühmt wurde sein<br />

experimenteller «Quadratroman» <strong>von</strong><br />

1973. In den letzten Jahren hat er mehrere<br />

Sammlungen <strong>von</strong> kurzen Texten publiziert,<br />

in denen sich Beobachtungsgabe,<br />

kauziger Humor und Sprachmusikalität<br />

verbinden. Nun legt er unter dem Titel<br />

«Iwahaubbt» seine gesammelten, im<br />

Dialekt des Innviertels verfassten Gedichte<br />

vor. Sie sind im Lauf eines halben<br />

Jahrhunderts entstanden und <strong>von</strong> vielfältigem<br />

Zauber. Übermütig spielen sie<br />

mit Formen wie der Stanze und Litanei.<br />

Nicht immer sind sie auf Anhieb zu entziffern.<br />

Für neugierige Sprachspieler<br />

aber sind sie ein unerschöpflicher Quell<br />

des Vergnügens.<br />

Manfred Papst<br />

Iren Baumann: Noch während die Pendler<br />

heimfahren. Gedichte. Waldgut, Frauenfeld<br />

2011. 80 Seiten, Fr. 20.10.<br />

Die Lyrikerin Iren Baumann gehört zu<br />

den originellsten Stimmen der <strong>Zürcher</strong><br />

Literaturszene. Das Werk der 1939 geborenen<br />

Dichterin ist schmal, aber bedeutsam.<br />

Fünf Gedichtbände umfasst es<br />

mittlerweile. Die reimlosen, in freien<br />

Rhythmen gehaltenen Zeilen widerspiegeln<br />

oft Alltagsbeobachtungen und<br />

kommen ohne prätentiöses Vokabular<br />

aus, sind aber doch hintersinnige Wortgespinste.<br />

Zärtlichkeit und Genauigkeit<br />

verbinden sich in ihnen mit einer koboldhaften<br />

Heiterkeit. Iren Baumann<br />

sieht in die Menschen hinein und durch<br />

sie hindurch, scheinbar simple Dinge<br />

schimmern bei ihr in einem gebrochenen<br />

Licht und offenbaren so eine ungeahnte<br />

Schönheit. Die aber steht niemals<br />

still: Denn Kobolde haben einen sicheren<br />

Instinkt, der sie alle Feierlichkeit<br />

vermeiden und stets neue Volten schlagen<br />

lässt.<br />

Manfred Papst<br />

Nancy Mitford: Landpartie mit drei<br />

Damen. Satirischer Roman. Graf, München<br />

2011. 247 Seiten, Fr. 24.50.<br />

Herausfordernd und doch mit jener Gelassenheit<br />

der Selbstbewussten schaut<br />

sie einen an auf der Umschlagfoto. Der<br />

Eindruck täuscht nicht: Nancy Mitford<br />

(1904–1973), Tochter eines britischen<br />

Barons, scheute keine Konflikte, weder<br />

im Privaten noch im Schreiben Ω bei<br />

letzterem mit Erfolg. Auch im Roman<br />

«Wigs on the Green», der nun zum<br />

zweiten Mal auf Deutsch übertragen<br />

wurde, seit er 1935 im Original erschienen<br />

ist, nimmt ihr bekannter Witz keine<br />

Rücksicht auf die Nächsten. Die da<br />

waren: sechs Geschwister, darunter<br />

zwei glühende Hitler-Verehrerinnen<br />

(die eine, Guinness-Erben-Gattin, liess<br />

sich scheiden, um den Faschistenführer<br />

Sir Oswald Mosley zu ehelichen). In<br />

Porträts <strong>von</strong> beissendem Spott lässt die<br />

Autorin Nancy Mitford die Verwandtschaft<br />

auftreten. Eine Neuauflage verhinderte<br />

sie 1951: Zu viel Grausames sei<br />

im Krieg geschehen. Aus heutiger Sicht:<br />

Eine grossartige Groteske!<br />

Regula Freuler<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11


<strong>Essay</strong><br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> (1812–1870) mutet seinen Leserinnen und Lesern ganz<br />

viel Kitsch zu, schreibt aber so unvergesslich wie kein zweiter Autor.<br />

<strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> hat mit dessen Werk einige Lesewochen verbracht<br />

Verliebt in<br />

die Romane eines<br />

200-Jährigen<br />

Alle, soweit sie Klassiker lesen, halten es mit<br />

Stendhal, Flaubert und, etwas seltener vielleicht,<br />

mit Balzac. Alle lesen Jane Austen und<br />

George Eliot. Aber <strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong>? Er ist eher<br />

eine Angelegenheit des gehobenen (und gekürzten)<br />

Jugendbuches, ferner ein englischer<br />

Nationalsport. Aber wirklich gelesen wird er,<br />

einer repräsentativen Langzeitbeobachtung<br />

meines Lesefreundeskreises zufolge, kaum.<br />

«Mit <strong>Dickens</strong> hatte ich immer Mühe» – keinen<br />

Satz habe ich in den zurückliegenden Wochen<br />

meiner <strong>Dickens</strong>-Lektüre häufiger gehört.<br />

Dabei ist es kinderleicht, sich in den alten <strong>Dickens</strong><br />

zu verlieben. Meine todsichere <strong>Dickens</strong>-<br />

Verführungsanthologie besteht aus den ersten<br />

dreissig Seiten seiner drei besten Romane. Wer<br />

die Anfangskapitel <strong>von</strong> «Bleakhaus», <strong>von</strong> «Grosse<br />

Erwartungen» und <strong>von</strong> «Unser gemeinsamer<br />

Freund» liest, um den ist es geschehen. Es wer-<br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong><br />

Vor 200 Jahren, am 7. Februar 1812, kam<br />

<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> zur Welt, am 9. Juni 1870 ist er<br />

gestorben. Wer sein produktives Leben verfolgen<br />

will, findet in Hans-Dieter Gelferts Biografie<br />

einen verlässlichen Begleiter, der auch die<br />

wichtigsten Werke vorstellt (C. H. Beck, 380<br />

Seiten, Fr. 40.90). Hinreissend geschrieben ist<br />

Claire Tomalins englischsprachige Biografie mit<br />

fabelhaften Bildern (Penguin, 530 S., Fr. 29.50).<br />

Wie der Jüngling <strong>Dickens</strong> sich über Nacht in<br />

einen Literaturstar verwandelte, zeigt Robert<br />

Douglas-Fairhurst in «Becoming <strong>Dickens</strong>»<br />

(Harvard University Press, 390 S., Fr. 39.90).<br />

Die feinsten Neuübersetzungen stammen <strong>von</strong><br />

Melanie Walz: Sie hat den späten Roman<br />

«Grosse Erwartungen» herausgegeben (Hanser,<br />

830 S., Fr. 46.90) und die teils erstmals<br />

übersetzten Reportagen «Reisender ohne<br />

Gewerbe» (C. H. Beck, 128 S., Fr. 21.90).<br />

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

den in seinem imaginären Lesermuseum einige<br />

Szenen, Figuren und Stimmungen auf ewig mit<br />

einer Kraft strahlen, wie sie bei den oben genannten<br />

Klassikern eher selten vorkommt.<br />

Nehmen wir die Ouvertüre der «Grossen Erwartungen»,<br />

die Hanser in einer fabelhaft kommentierten<br />

Übersetzung neu herausgebracht<br />

hat. <strong>Dickens</strong> war 48 Jahre alt, als er das Buch<br />

begann, neben «David Copperfield» sein einziger<br />

durchgängig in der ersten Person erzählter<br />

Roman. Und wie «Copperfield» und «Oliver<br />

Twist» beginnt er in der Welt eines Kindes.<br />

Pip, wie der Held heisst, mag sechs, sieben<br />

Jahre alt sein, als er am Tag vor Weihnachten,<br />

«an einem denkwürdigen nasskalten Nachmittag,<br />

der sich zum Abend neigte», seine «erste<br />

und eindringliche Vorstellung <strong>von</strong> der wahren<br />

Beschaffenheit der Dinge» erhält. Erst begreift<br />

er auf dem Friedhof vor den Grabsteinen seiner<br />

Eltern und Geschwister aufs mal, was er und<br />

seine Welt sind: dass er ein Waise ist, dass das<br />

feuchte, <strong>von</strong> Gräben und Schleusen durchzogene<br />

Marschland seine Heimatgegend ist und<br />

«dass das kleine Espenlaubbündel, das sich vor<br />

alledem zu fürchten und zu weinen begann, Pip<br />

war». Im gleichen Augenblick begreift er auch,<br />

wie diese Welt ist: finster und brutal. Ein<br />

schrecklich aussehender Mann mit einem grossen<br />

Eisen am Bein, ein Sträfling, wie sich zeigen<br />

wird, springt zwischen den Gräbern hervor,<br />

herrscht ihn an, hält ihn an den Füssen in die<br />

Luft und fordert ihn unter brutalsten Todesandrohungen<br />

auf, ihm am andern Morgen Esswaren<br />

und eine Feile zu bringen.<br />

Es liesse sich nun lange weiter resümieren,<br />

wie Pip nach Hause geht, unter Qualen stiehlt,<br />

sich im Frühnebel rausschleicht und wie<br />

schliesslich mitten im Weihnachtsmahl, gerade<br />

als sein Diebstahl aufzufliegen droht, Soldaten<br />

auf der Suche nach entflohenen Sträflingen ins<br />

Haus dringen. Zum Schluss ist Pip auf dem Rücken<br />

seines Pflegevaters in einfallender Nacht<br />

und im eisigen Graupelschauer dabei, als die<br />

Sträflinge wie in einer BBC-News-Sendung <strong>von</strong><br />

heute unter Geschrei, Schüssen, Fackellicht<br />

blutend aus einem Schlammgraben gezogen<br />

und in Handschellen gelegt werden.<br />

Aber Literatur lässt sich nicht zusammenfassen,<br />

und <strong>Dickens</strong> am wenigsten. Man muss sein<br />

erzählerisches Grossgenie haben, um auf dreissig,<br />

vierzig Seiten eine so dichte, tiefe, stim-<br />

Es ist bekannt, dass <strong>Dickens</strong><br />

aus dem Schicksal <strong>von</strong><br />

Kindern in seelischem und<br />

körperlichem Elend<br />

literweise sentimentalen<br />

Kitsch-Sirup gepresst hat.<br />

mungsstarke und komplexe Welt zu erzeugen,<br />

wie sie uns in den Eröffnungen <strong>von</strong> seinen grossen<br />

Romanen begegnet. Im Vergleich zu diesem<br />

Vollkorn sind nicht wenige andere Klassiker<br />

bleiches Toastbrot. Kommt dazu, dass in <strong>Dickens</strong><br />

dichter Ouvertüre der «Grossen Erwartungen»<br />

zugleich der ganze <strong>Dickens</strong>-Kosmos<br />

symbolisch drinsteckt.<br />

Lebenstrauma des Autors<br />

Welches sind die Elemente des <strong>Dickens</strong>-Kosmos?<br />

Zuallererst sind es Kinder in seelischem<br />

und körperlichem Elend. Zur Arbeit gezwungene<br />

Kinder wie Oliver Twist. Geschlagene Kinder<br />

wie Pip, Waisen- und Heimkinder, Kinder<br />

mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme, Familie,<br />

Aufgehobenheit. Dass <strong>Dickens</strong> aus dem<br />

Schicksal dieser Kinder literweise sentimentalen<br />

Kitsch-Sirup gepresst hat, ist bekannt. Man<br />

«müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little<br />

Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen», geht<br />

ein böses Wort Oscar Wildes zur Heldin des<br />

Romans «Der Raritätenladen»; <strong>Dickens</strong> hat es<br />

sich redlich verdient. Aber die Menge, die im


<strong>Charles</strong> <strong>Dickens</strong> (1812–1870) mit zwei seiner Töchter, der Schriftstellerin Mary <strong>Dickens</strong> und der Malerin Kate <strong>Dickens</strong>, um 1865.<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13<br />

BRIDGEMANART


<strong>Essay</strong><br />

Szene aus dem Film «Great Expectations» (1974), einer amerikanischen Verfilmung des <strong>Dickens</strong>-Romans.<br />

Hafen <strong>von</strong> New York dem Schiff, das die letzte<br />

Fortsetzung des «Raritätenladens» nach Amerika<br />

brachte, voller Angst entgegenrief «Ist Little<br />

Nell tot?», war auch nicht blöd. In <strong>Dickens</strong><br />

Kindern steckt ein Leiden und Sehnen, das<br />

allen Kitsch übersteigt.<br />

Das alles hat natürlich mit <strong>Dickens</strong>' Lebenstrauma<br />

zu tun: als er zwölf Jahre alt war, haben<br />

ihn seine Eltern wegen finanzieller Nöte für ein<br />

Jahr zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik weggesperrt,<br />

bald darauf kam sein Vater für kurze<br />

Zeit ins Gefängnis. Diese Erfahrung war für <strong>Dickens</strong><br />

so traumatisierend, dass er sie sein Leben<br />

lang nur einem einzigen Menschen erzählt hat,<br />

sie aber doch lebenslänglich hinausschrie,<br />

indem er sie in all seine Bücher hineinschrieb.<br />

Ein nach seinem Tod publiziertes autobiografisches<br />

Fragment über diese Erfahrung wirkt bis<br />

in zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen<br />

hinein – wie ein Brühwürfel all seiner Werke.<br />

Romantechnischer Grossmeister<br />

Doch dieses Trauma wäre keiner Erwähnung<br />

wert, wenn <strong>Dickens</strong> es nicht so meisterlich umgesetzt<br />

hätte. Einzigartig in der Weltliteratur ist<br />

seine feine Darstellung des kindlichen Seelenlebens.<br />

Hinreissend ist aber auch, wie er das<br />

kindliche Sehnen ins Grosse, in die Handlun -<br />

gen und Baupläne seiner Romane übersetzt.<br />

<strong>Dickens</strong> ist der romantechnische Grossmeister<br />

der Familienzusammenführung.<br />

Familienkons truktion ist oft geradezu der<br />

Handlungsmotor seiner Bücher. Allenthalben<br />

finden Elende und Reiche, Adlige und Depravierte<br />

in abenteuerlichen Handlungsverschlingungen<br />

als Eltern und deren verlorene, vergessene,<br />

totgeglaubte Kinder zueinander. Der Sträfling,<br />

der Pip am Anfang des Romans bedroht,<br />

wird als sein verkannter Wohltäter ihm den sozialen<br />

Aufstieg zu verschaffen versuchen, den<br />

seine Eltern ihm schuldig bleiben mussten. Zugleich<br />

wird dieser Sträfling sich als der Vater<br />

der <strong>von</strong> Pip lebenslang angebeteten kalten<br />

Schönheit Estella herausstellen. Auch für Estellas<br />

einst ganz elende Mutter hat <strong>Dickens</strong> ein<br />

warmes Romanplätzchen arrangiert.<br />

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Interessanter als dieses Plätzchen ist aber die<br />

Herkunft der Mutter. Bevor sie Haushälterin<br />

(und Geliebte?) eines der abertausend Rechtsanwälte<br />

wurde, die <strong>Dickens</strong> Werk bevölkern,<br />

war sie eine gewalttätige Landstreicherin, Herumtreiberin,<br />

Mörderin. Sie ist eine der zahllosen<br />

Figuren, die <strong>Dickens</strong> Bücher – zweites Element<br />

des <strong>Dickens</strong>-Kosmos – zu einer sozialgeschichtlichen<br />

Enzyklopädie der armen Klassen<br />

machen. In <strong>Dickens</strong> Büchern ist die Lebenswirklichkeit<br />

der einfachen und armen Menschen<br />

so umfassend und so leuchtend dargestellt<br />

wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur.<br />

Gewiss kannte auch Cervantes die einfachen<br />

Leute, Flaubert hat die Geschichte einer<br />

<strong>Dickens</strong> Blick auf das<br />

schmutzstarrende, dunkle,<br />

elende London, auf die<br />

einstürzenden Häuser der<br />

Armen ist grossartig und<br />

unvergleichlich.<br />

Magd geschrieben, Tolstoi wandte sich den<br />

Knechten zu, und Zola zeigte, was es bei <strong>Dickens</strong><br />

noch nicht gibt, Arbeiter im modernen<br />

Sinn. Aber <strong>Dickens</strong> Blick auf das schmutzstarrende,<br />

dunkle London, auf die alle Augenblicke<br />

einstürzenden Häuser der Armen, auf den elenden<br />

«Streifen vorstädtischer Sahara» ist grossartig<br />

und unvergleichlich. Bei <strong>Dickens</strong> und nur<br />

bei ihm bekommen die Halbwahnsinnigen, um<br />

die wir im städtischen Alltag einen grossen<br />

Bogen machen, ihren ausführlichen Auftritt.<br />

Jede Gesellschaft wendet vor ihren elendesten<br />

Realitäten den Blick weg – <strong>Dickens</strong> zwang die<br />

seine hinzusehen. Das ist der bis heute unendlich<br />

bewegende christliche Teil in ihm.<br />

Schliesslich kombiniert sich, nächstes Element<br />

seines Kosmos, sein sozialer Blick mit<br />

einem kritischen politischen Urteil. Er liebt<br />

DDP IMAGES<br />

noch die geringsten unter seinen Menschenbrüdern,<br />

aber den Adel und die herrschenden<br />

politischen Eliten übergiesst er mit ätzendem<br />

Spott. Selten merkt man das stärker als am Anfang<br />

<strong>von</strong> «Unser gemeinsamer Freund», beim<br />

Wechsel <strong>von</strong> der teilnehmenden, dunkel leuchtenden<br />

Schilderung der Leichenfischer in<br />

der Themse zur kalten und ganz und gar modernen<br />

Satire auf ein Diner bei den neureichen<br />

Veneerings. Das hätte Tom Wolfe nicht besser<br />

gekonnt. Doch all das wird übertroffen <strong>von</strong> der<br />

Schilderung des Kanzleigerichts am Anfang<br />

<strong>von</strong> «Bleakhaus». Der amerikanische Starkritiker<br />

Harold Bloom, der <strong>Dickens</strong> über Tolstoi<br />

und neben Shakespeare stellt, hat das feine Argument<br />

formuliert, erst Kafka habe uns geholfen,<br />

diesen Anfang richtig zu sehen: als Darstellung<br />

einer Rechtskrake, die alle Menschen so<br />

unentrinnbar bannt und vernichtet wie das System<br />

in Kafkas «Prozess».<br />

Verwandlung ins Märchenhafte<br />

In der Beschreibung des Kanzleigerichts enthüllt<br />

sich schliesslich das letzte Element des<br />

<strong>Dickens</strong>-Kosmos. Man kann es das mythische<br />

Element nennen. <strong>Dickens</strong> hat für seine Beschreibung<br />

des Kanzleigerichts zwar ausführlich<br />

recherchiert, aber zugleich gibt er dem Gericht<br />

durch die Art seiner Beschreibung eine<br />

mythische Qualität. Er verwandelt eine wohlbekannte<br />

Londoner Institution, indem er sie in<br />

Düsternis, Nebel und Russ hüllt in einen dunkel<br />

drohenden Höllenschlund. Diese Verwandlung<br />

reporterhaft realistischer Beschreibungen – <strong>Dickens</strong><br />

begann als Reporter – in etwas Überwirkliches<br />

ereignet sich in vielen seiner Romane.<br />

Ausser in mythische Dimensionen kann sie<br />

auch ins Märchenhafte, in die Legende, in die<br />

Romanze zielen. Immer wieder wehen jedenfalls<br />

anderweltliche Schleier und Vorhänge<br />

durch <strong>Dickens</strong>' Hardcore-Realismus. Und oft<br />

haben diese Stellen, an denen einem ganz anders<br />

wird, mit den kühn überraschenden Identitätsumschwüngen<br />

des Autors zu tun: der im<br />

finstersten Loch verstorbene Drogensüchtige<br />

entpuppt sich als der Liebhaber der schönsten<br />

aller schönen und unerreichbaren Ladys – und<br />

schon wird die so undurchdringliche Realität<br />

auf etwas ganz anderes durchsichtig.<br />

Aber: so viele Gründe es gibt, sich in <strong>Dickens</strong><br />

zu verlieben, reichen sie auch für die Verwandlung<br />

der Verliebtheit in Liebe? Zahllose ausschweifende<br />

<strong>Dickens</strong>leser haben genau das bezweifelt.<br />

Kafka stiess sich an den «Stellen grauenhafter<br />

Kraftlosigkeit, wo er müde nur das<br />

bereits Erreichte durcheinanderrührt. Barbarisch<br />

der Eindruck des unsinnigen Ganzen».<br />

Arno Schmidt: «Der frühe und mittlere <strong>Dickens</strong><br />

liefert das peinliche Schauspiel eines Schriftstellers,<br />

der sein Handwerk liederlich betreibt<br />

– ein ‹Meister der Fehlkonstruktion›». Am härtesten<br />

ist George Orwells <strong>Dickens</strong>-<strong>Essay</strong>, eine<br />

aus Liebe geschriebene, unendlich kluge Vernichtung.<br />

Niemand erreiche <strong>Dickens</strong> «im Vermögen,<br />

bildliche Vorstellungen zu evozieren.<br />

Wenn <strong>Dickens</strong> etwas einmal beschrieben hat,<br />

sieht man es für den Rest seines Lebens». Nur<br />

sei <strong>Dickens</strong> leider ein Autor, «bei dem die Teile<br />

wichtiger sind als das Ganze. Er besteht ganz<br />

aus Fragmenten, ganz aus Details – scheussliche<br />

Architektur, aber wunderbare Wasserspeier.»<br />

Freilich muss man auch die Wasserspeier<br />

oft quälend lange suchen. Denn <strong>Dickens</strong> quält<br />

seine Leser nicht selten mit endlosen, völlig<br />

überflüssigen, komplett statischen Beschreibungen,<br />

er martert sie mit Handlungen, die absurd<br />

verwinkelt, vollkommen unwahrscheinlich<br />

und kaum zu behalten sind. Doch gerade<br />

wenn man es mit einem seiner Bücher wieder<br />

mal aufgeben will, läuft man in eine dieser unvergesslichen<br />

Stellen, und es geht mit der Verliebtheit<br />

wieder los. l


GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />

Kolumne<br />

<strong>Charles</strong> Lewinskys Zitatenlese<br />

<strong>Charles</strong> Lewinsky ist<br />

Schriftsteller und<br />

arbeitet in den<br />

verschiedensten<br />

Sparten. Sein letzter<br />

Roman «Gerron» ist<br />

2011 bei Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

Wer in der wirklichen<br />

Welt arbeiten und in der<br />

idealen leben kann, der<br />

hat das Höchste erreicht.<br />

Ludwig Börne<br />

Ist es Ihnen auch aufgefallen? Seit einiger<br />

Zeit stehen hinter dem Autorenvermerk<br />

<strong>von</strong> Artikeln immer häufiger die<br />

Worte: «Lebt und arbeitet in . . .»<br />

Sprachschludernde Redakteure hauen<br />

den Satz unterdessen so automatisch in<br />

die Tastatur, wie Werbeleute über ein<br />

hunderttausendfach verbreitetes Flugblatt<br />

die Lüge setzen: «Ihr ganz persönliches<br />

Angebot».<br />

Was müssen das für Autoren sein,<br />

frage ich mich, die darauf bestehen, der<br />

Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sie in<br />

London, New York oder Bümpliz nicht<br />

etwa nur leben, sondern – welche<br />

Überraschung! – auch arbeiten? Oder<br />

verstehe ich den Satz falsch, und die eigentliche<br />

Botschaft lautet: «Ich arbeite<br />

nicht nur, sondern – wer hätte das gedacht?<br />

– ich lebe auch»?<br />

Seit wann, frage ich mich weiter, sind<br />

Leben und Arbeiten zwei so ganz und<br />

gar verschiedene Dinge, dass man sie in<br />

einer biografischen Notiz separat anführen<br />

muss? Stellen diese Autoren ihr<br />

Leben ein, während sie am Computer<br />

sitzen? Sagen sie ihrer Frau am Telefon:<br />

«Ich schreibe nur noch diesen Artikel<br />

zu Ende, Schatz, aber pünktlich um<br />

halb sieben fange ich wieder an zu<br />

leben»?<br />

Oder, wenn wir schon mal am Ausdeuten<br />

sind, finden sie vielleicht vor<br />

allem mitteilenswert, dass sie diese beiden<br />

so ungeheuer verschiedenen Tätigkeiten<br />

aus irgendeiner Marotte heraus<br />

tatsächlich in der gleichen Stadt ausüben?<br />

Soll der Leser darüber staunen,<br />

dass sie nicht etwa in Melbourne leben<br />

und gleichzeitig ihrer beruflichen<br />

Tätigkeit in Stockholm nachgehen?<br />

(«Wissen Sie, ich komme auf den täglich<br />

dreissig Stunden Flug so schön<br />

zum Lesen.»)<br />

Oder steckt hinter der verquasten<br />

Formulierung überhaupt keine inhaltliche<br />

Bedeutung? Macht im Kindergarten<br />

des Journalismus jeder den gleichen<br />

Sprachpurzelbaum, nur weil ihn der andere<br />

auch gemacht hat? Ist das Ganze<br />

nur – um eines der schönsten Sprachbilder<br />

<strong>von</strong> Karl Kraus seinem ursprünglichen<br />

Kontext zu entfremden – der<br />

Versuch, auf einer Glatze Locken zu<br />

drehen?<br />

Ich weiss es nicht. Ich beobachte nur,<br />

dass sich diese Formulierungsseuche<br />

immer weiter ausbreitet und dass<br />

immer noch – Wo bleibt die chemische<br />

Industrie, wenn man sie wirklich<br />

braucht? – niemand ein wirksames Mittel<br />

dagegen entwickelt hat.<br />

Ich kann Ihnen lediglich versichern:<br />

Während ich diese paar<br />

Zeilen zu Computer<br />

brachte, habe ich sowohl<br />

gearbeitet als auch<br />

gelebt.<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Esther Girsberger: Eveline Widmer-<br />

Schlumpf. Die Unbeirrbare. Orell Füssli,<br />

Zürich 2012. 208 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Im Geheimen vorbereitet, wurde das<br />

Buch exakt am Tag der Wiederwahl <strong>von</strong><br />

Eveline Widmer-Schlumpf am 14. Dezember<br />

angekündigt. In neun Gesprächen<br />

zwischen Herbst 2010 und Juli 2011<br />

befragte Esther Girsberger die BDP-<br />

Bundesrätin über Familienpolitik, Zuwanderung,<br />

Bankgeheimnis und andere<br />

Themen. Viele Ansichten der «unbeirrbaren»<br />

EWS sind bekannt. Aufschlussreich<br />

sind ihre Antworten über den Tod<br />

ihrer Schwester, ihr Verhältnis zur<br />

Macht, oder wenn sie eingesteht, dass<br />

sie bei der Kinder-Betreuungsverordnung<br />

«einen Bock geschossen» habe.<br />

Deutlich wird auch, wie früh die Differenzen<br />

zu Christoph Blocher aufgebrochen<br />

sind: beim Zwist um die EWR-Abstimmung<br />

1992 und die «Messerstecher-<br />

Inserate» 1993. Der Studienkollege und<br />

frühere Preisüberwacher Werner Marti<br />

umschreibt EWS’ Charakter treffend mit<br />

einem Kletter-Begriff: «Free Solo».<br />

Urs Rauber<br />

Philipp Blom (Hrsg.): Angelo Soliman.<br />

Ein Afrikaner in Wien. Ausstellungskatalog.<br />

Brandstätter, Wien 2011. 248 S., Fr. 40.90.<br />

Das Umschlagporträt des schönen<br />

Schwarzen mit Turban, gekleidet in ein<br />

fürstliches Gewand des europäischen 18.<br />

Jahrhunderts, weckt Neugier. In Wien<br />

ist Angelo Soliman (1721–1796) eine<br />

stadtbekannte Grösse, über deren Ende<br />

man aber nicht gerne spricht. Soliman<br />

wurde nach seinem Tod gehäutet, wie<br />

ein Tier ausgestopft und im kaiserlichen<br />

Naturalienkabinett als halbnackter Wilder<br />

zur Schau gestellt. Das rassistische<br />

Bild des Mohren hatte im letzten Augenblick<br />

Überhand gewonnen. Soliman,<br />

einst Sklave aus der Sahelzone, hatte<br />

sich emporgearbeitet, war hochgebildet,<br />

Freimaurer, Lehrer <strong>von</strong> Fürstensprösslingen<br />

und Gesprächspartner <strong>von</strong> Kaiser<br />

Joseph II. Alles in allem das geglückte<br />

Leben eines Migranten, ein Erfolg der<br />

Aufklärung. Mit der Schändung seines<br />

Leichnams verwies die Gesellschaft Soliman<br />

aber wieder in die alte Ecke.<br />

Geneviève Lüscher<br />

Otto Stich: Ich blieb einfach einfach.<br />

Autobiografie mit Texten <strong>von</strong> I. Bachmann.<br />

Schwabe, Basel 2011. 144 Seiten, Fr. 28.–.<br />

Der gerade 85 gewordene Otto Stich ist<br />

der Prototyp eines schweizerischen<br />

Dorfpolitikers: bodenständig, bieder,<br />

pragmatisch und bauernschlau. Mit 30<br />

wird der Arbeitersohn erster (und bisher<br />

einziger) sozialdemokratischer Gemeindepräsident<br />

<strong>von</strong> Dornach (SO).<br />

Mit 36 rückt er in den Nationalrat nach,<br />

bleibt dort aber ein Hinterbänkler. Bis er<br />

1983 gegen den Willen seiner Partei <strong>von</strong><br />

den Bürgerlichen zum Bundesrat gewählt<br />

wird. Die Bankiervereinigung<br />

würdigte den ebenso sozialen wie eigensinnigen<br />

Politiker nach seinem Rücktritt<br />

1995 als «hervorragenden Finanzminister».<br />

Nun plaudert Stich frank und frei<br />

über Internas aus dem Bundesrat, stichelt<br />

gegen Adolf Ogi und zieht über die<br />

legendäre «SP-Viererbande» (Gerwig,<br />

Hubacher, Uchtenhagen und Renschler)<br />

her. Der «hartgrindige Schwarzbube»<br />

bleibt sich selber auch in seiner schmalbrüstigen<br />

Autobiografie treu.<br />

Urs Rauber<br />

Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel.<br />

15 Geschichten aus Sils im Engadin. Limmat,<br />

Zürich 2012. 180 Seiten, Fr. 34.–.<br />

Christina Godley führt die Stüva Marchetta,<br />

ihre Schwester Maria die Pensiun.<br />

Bis heute arbeiten sie sieben lange<br />

Tage in der Woche, wie es schon ihre<br />

Mutter tat, in Küche, Gaststube und<br />

Garten. Sils, darin sind sie sich einig, ist<br />

zu gross geworden: «Früher war man<br />

überall zu Hause – heute vermögen es<br />

die Hiesigen kaum mehr, hier zu wohnen.»<br />

Die Schwestern sind zwei <strong>von</strong> 17<br />

«echten» Silsern und Silserinnen, die<br />

die Journalistin Daniela Kuhn aus ihrem<br />

Leben erzählen lässt. Sie haben in Gastgewerbe<br />

und Landwirtschaft, als Schreiner,<br />

Kutscher oder Skilehrer gearbeitet.<br />

Sie erinnern sich an illustre Gäste – General<br />

Guisan! –, an Zeiten, als die Touristen<br />

vor allem im Sommer kamen und<br />

noch jeder im Dorf einen Stall hatte. Sie<br />

lassen ein altes Sils aufleben, das schon<br />

heute <strong>von</strong> der Luxus-Tourismus-Fassade<br />

verdeckt, bald ganz verschwinden wird.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15


Sachbuch<br />

Geschichte Lange schwankte das historische Urteil über den<br />

preussischen König Friedrich II. zwischen Verehrung und<br />

Verdammung. Heute steht seine Ambivalenz im Vordergrund<br />

Friedrich<br />

der Grosse<br />

Christian Graf <strong>von</strong> Krockow: Friedrich der<br />

Grosse. Ein Lebensbild. Lübbe, Köln 2012<br />

(Neuauflage). 224 Seiten, Fr. 31.50.<br />

Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II.<br />

als Herrscher über die Herzen?<br />

Wallstein, Göttingen 2012. 159 S., Fr. 24.50.<br />

Johannes Bronisch: Der Kampf um<br />

Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire.<br />

Landt, Berlin 2011. 125 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Philosophenkönig mit Flöte oder zynischer<br />

Machtpolitiker, der Adolf Hitler<br />

zum Präventivkrieg inspirierte – lange<br />

schwankte das Urteil über Friedrich den<br />

Grossen zwischen kultischer Verehrung<br />

und absoluter Verdammung. Noch Helmut<br />

Schmidt liess als frischgekürter<br />

Verteidigungsminister die Büste Friedrichs<br />

aus seinem Büro entfernen. Doch<br />

mit den grossen preussischen Jubiläumsjahren<br />

– zum 200-jährigen Todestag<br />

des Königs 1986, zum 300-jährigen Jubiläum<br />

des preussischen Königtums 2001<br />

Friedrich der Grosse<br />

Friedrich II. wird am 24. Januar 1712 als<br />

ältester Sohn des preussischen Königs<br />

Friedrich Wilhelm I. und seiner Gattin<br />

Sophie Dorothea in Berlin geboren.<br />

1736 bezieht der Kronprinz das Schloss<br />

Rheinsberg und widmet sich dem<br />

Studium der Philosophie, Geschichte<br />

und Poesie. 1740 wird er zum König <strong>von</strong><br />

Preussen gekrönt.<br />

Friedrich II., auch Friedrich der Grosse<br />

genannt, gilt als Repräsentant des aufgeklärten<br />

Absolutismus. Er führt zahlreiche<br />

Reformen in Justiz und Verwal tung<br />

durch und versteht sich als «Erster<br />

Diener des Staates». Unter seiner<br />

Herrschaft etabliert sich Preussen als<br />

europäische Grossmacht. Am 17. August<br />

1786 stirbt Friedrich in Potsdam.<br />

16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

und nun zum 300-jährigen Geburtstag<br />

des Königs am 24. Januar 2012 – ist das<br />

Urteil der Historiker ausgewogener geworden,<br />

steht die abgründige Ambivalenz<br />

dieser Figur im Vordergrund.<br />

Geblieben ist die Faszination des Königs<br />

und seines an Drama so reichen Lebens.<br />

Rund zwei Dutzend <strong>Neue</strong>rscheinungen<br />

sollen es sein in diesem Winter:<br />

nebst mehreren Biografien etwa die<br />

Erstpublikation der Vortragsnotizen des<br />

grossen Basler Historikers Jacob Burckhardt<br />

zu seiner Vorlesung über «Das<br />

Zeitalter Friedrichs des Grossen» (C. H.<br />

Beck), neue Darstellungen des Vater-<br />

Sohn-Konfliktes (Pieper) oder <strong>von</strong><br />

Friedrich als Musiker (C. H Beck) bis<br />

hin zum Friedrich-der-Grosse-Gedächtnisspiel.<br />

Wo also anfangen?<br />

Empfehlenswerter Klassiker<br />

Wer einen ersten Zugang sucht greift<br />

mit Gewinn zu einem preussischen<br />

Klassiker, wie ihn nebst Sebastian Haffner<br />

(«Preussen ohne Legende») oder<br />

Marion Gräfin Dönhoff («Preussen –<br />

Mass und Masslosigkeit») auch Christian<br />

Graf <strong>von</strong> Krockow verfasst hat (1986,<br />

Neuauflage Lübbe 2012). Der aus pommerschem<br />

Adel stammende Historiker<br />

lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten.<br />

In seinem «Lebensbild»<br />

Friedrichs II. versteht er es auf glänzende<br />

Weise, das biografische Drama dieses<br />

Königs mit seiner überragenden Bedeutung<br />

für die europäische Geschichte<br />

immer neu zu verflechten.<br />

Hier findet sich alles: Die Kindheit<br />

und Jugend im Zeichen des gewalttätigen<br />

«Soldatenkönigs» Friedrich Wilhelm<br />

I., dem sein intellektuell und musisch<br />

begabter Sohn geradezu physisch<br />

zuwider ist; nach dem Fluchtversuch<br />

des 18-Jährigen lässt er diesen in den<br />

Kerker werfen und die Hinrichtung des<br />

Freundes Katte mit ansehen. Die weitgehend<br />

autodidaktische Bildung des Kronprinzen<br />

zum schöngeistigen Aufklärer,<br />

der in den ersten Tagen seiner Regierung<br />

Folter und Zensur abschafft (nicht<br />

für lange allerdings) und in Preussen<br />

Religionstoleranz verkündet, nach dem<br />

berühmten Motto «Ein jeder muss nach<br />

seiner Façon selig werden». Und der<br />

dann wenige Monate später mit der<br />

Armee, die sein Vater geschaffen hatte,<br />

das österreichische Schlesien überfällt.<br />

Der diesen Raub durch drei Kriege hindurch<br />

gegen eine Übermacht der europäischen<br />

Grossmächte verteidigt und<br />

doch den Siebenjährigen Krieg nur dank<br />

einem Wunder übersteht: dem «Mirakel<br />

des Hauses Brandenburg», das darin besteht,<br />

dass die Zarin Elisabeth rechtzeitig<br />

stirbt.<br />

Es findet sich die Freundschaft des<br />

Königs mit Voltaire, die mit der Flucht<br />

des Spötters ein bitteres Ende nimmt.<br />

Sein tiefgründiger Hass auf Frauen,<br />

nicht nur weil mit Maria Theresia in Österreich,<br />

Elisabeth in Russland und Madame<br />

Pompadour in Frankreich Preussens<br />

Erzfeinde sozusagen ein weibliches


Gesicht hatten. Der männerbündische<br />

Geist, der Preussens Geschichte prägt,<br />

und die zynische Menschenverachtung,<br />

die den alternden König verbittern und<br />

vereinsamen liess. Der historische<br />

Ruhm, den er fand, weil er aus dem Flickenteppich<br />

der mausarmen «Sandbüchse»<br />

am Rande Europas einen modern<br />

verwalteten Militärstaat machte,<br />

und der Abscheu, weil er dafür kaltherzig<br />

eine Million Tote und die Verheerung<br />

seines Landes in Kauf nahm.<br />

Einen neuen Zugang sucht die renommierte<br />

Historikerin Ute Frevert: Als<br />

Vertreterin der «emotionalen Wende»<br />

in der Kulturwissenschaft fragt sie nach<br />

der «Gefühlspolitik» Friedrich des<br />

Gros sen. Damit meint sie nicht etwa die<br />

wahren Gefühle des Königs, die schlicht<br />

nicht zu ergründen seien. Vielmehr geht<br />

es ihr um Gefühle als Werkzeuge des politischen<br />

Handelns, wie sie in der Politik<br />

längst selbstverständlich sind, man<br />

denke etwa an den Kniefall Willy<br />

Brandts im Warschauer Ghetto. Es geht<br />

darum, wie der König Gefühle einsetzte,<br />

in Propaganda, Rhetorik und Selbstdarstellung,<br />

um die Zustimmung, ja gar die<br />

Liebe seiner Untertanen zu wecken.<br />

Denn just dies hatte der junge Kronprinz<br />

in seinem berühmten Traktat vom<br />

«Antimacchiavell» verlangt: dass ein<br />

Fürst als «erster Diener seines Staates»<br />

nicht Furcht, sondern Liebe wecke in<br />

seinen Untertanen und «Herr über die<br />

Herzen» werde.<br />

Gelang es Friedrich in seinen 46 Regierungsjahren<br />

Herr der Herzen zu sein?<br />

Ute Frevert vermag die Frage nicht<br />

wirklich zu beantworten. Zwar zog der<br />

König alle richtigen Register: Er warf<br />

sich persönlich ins Schlachtgetümmel,<br />

er trauerte am Grabe seiner Soldaten<br />

und Generale. Er ermunterte Bitt- und<br />

Klageschriften, die er selbst kaum las,<br />

demonstrierte Frömmigkeit, die er si-<br />

Friedrich der Grosse<br />

spielte auch Flöte.<br />

Hauskonzert in<br />

Sanssouci. Ölbild<br />

<strong>von</strong> Adolph Friedrich<br />

Menzel, 1850–52.<br />

FINE ART IMAGES<br />

cherlich nicht empfand, und nahm, trotz<br />

seiner Abneigung gegen das Zeremoniell,<br />

die althergebrachten Huldigungen<br />

entgegen. Ein eigenes Kapitel widmet<br />

Frevert dem huldvollen Lüpfen des<br />

Hutes, das der berittene König zu praktizieren<br />

pflegte: Gegen 200 Mal, berichtet<br />

ein Augenzeuge, habe er es auf einem<br />

einzigen Ritt durch Berlin getan. Doch<br />

um Liebe zum Volk ging es bei alledem<br />

kaum: Zu selbstverständlich, zu unüberwindlich<br />

war die Distanz eines Monarchen<br />

zu seinen Untertanen.<br />

Keine echte Zuneigung<br />

Noch unklarer bleibt der Unterschied<br />

zwischen echtem Gefühl und handfestem<br />

Interesse auf Seiten dieser Untertanen.<br />

Zwar sangen die Soldaten auf ihren<br />

langen Märschen unaufhörlich Kirchen-<br />

und Königslieder, zwar zirkulierten Königsoden<br />

und Devotionalien aller Art,<br />

doch auch sie beweisen kaum echte Zuneigung.<br />

Zudem bot Friedrich weder<br />

Mätressen und Skandale noch eine eigene<br />

königliche Familie, an der sich die<br />

Neugierde der Untertanen hätte «ab-<br />

arbeiten» können. Und selbst wenn ihn<br />

die Zeitgenossen als «Mensch», als mitfühlenden<br />

und empfindsamen König anriefen,<br />

sieht die Historikerin hierin vor<br />

allem eine Projektion <strong>von</strong> Wünschen.<br />

Insgesamt lässt die offenbar nicht zu beantwortende<br />

Frage den Titel ihres Buches<br />

trotz dem interessanten Material<br />

etwas gar theoretisch bleiben.<br />

Einen Zugang ganz anderer Art bietet<br />

ein schmales Bändchen des Berliner<br />

Historikers Johannes Bronisch. Hier<br />

geht es um eine Episode im Jahr 1736, als<br />

Kronprinz Friedrich 24 Jahre alt war und<br />

das Schloss Rheinsberg bezog, wo er<br />

sich vier Jahre lang seiner Bildung, der<br />

Musik und dem Tischgespräch mit<br />

geistreichen Freunden widmen wird.<br />

Der in sächsischen Diensten ergraute<br />

Diplomat Ernst Christoph <strong>von</strong> Manteuffel<br />

buhlt, wie viele andere, um die Gunst<br />

des Thronfolgers. Mit Hilfe der gut<br />

christlichen Lehren des deutschen Aufklärers<br />

Christian Wolff will er ihn zum<br />

wahrhaft aufgeklärten Herrscher bilden.<br />

Er wird seine Sache schnell und gründlich<br />

verlieren – an den atheistischen<br />

Spötter Voltaire nämlich.<br />

Wie sich die Frage nach der Unsterblichkeit<br />

der Seele mit politischen Intrigen<br />

und einem rätselhaften Pseudonym<br />

verbindet, wie gegensätzliche Strömungen<br />

der Aufklärung mit Machtinteressen<br />

zusammenspielen, insbesondere mit<br />

jenen eines französischen Gesandten,<br />

der mit 100 000 (!) Flaschen französischen<br />

Weins und Voltaires Schriften in<br />

Berlin eintrifft, wie schliesslich Friedrich<br />

auf den weltberühmten Namen<br />

«Sanssouci» kam – all dies wird hier,<br />

reich mit Quellen unterfüttert, erzählt<br />

wie ein Krimi. Anspruchsvoll in seiner<br />

Dichte, ist das Buch doch immer klar<br />

formuliert und zudem wunderschön illustriert.<br />

Wie es uns durch den Sehschlitz<br />

einer kleinen Nebenepisode tief<br />

in die unendliche Vielfalt der historischen<br />

Landschaft des 18. Jahrhunderts<br />

blicken lässt – das ist meisterhafte Geschichtsschreibung.<br />

l<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17


Sachbuch<br />

Aufklärung Gedankenfreiheit und Mündigkeit sind nicht<br />

allein europäische, sondern universelle Werte<br />

Locke, Voltaire,<br />

Kant und andere<br />

Provokateure<br />

Manfred Geier: Aufklärung – Das<br />

europäische Projekt. Rowohlt,<br />

Reinbek 2012. 352 Seiten, Fr. 35.50.<br />

Von Katja Gentinetta<br />

Der Sprach- und Literaturwissenschafter<br />

Manfred Geier legt eine umfangreiche<br />

und wohldokumentierte Geschichte<br />

der Aufklärung vor. Mit der Charakterisierung<br />

der Aufklärung als «europäisches<br />

Projekt» fragt er gleich zu Beginn:<br />

Ist die Aufklärung abgeschlossen? Und:<br />

ist sie universell? Der Ausflug in die Geschichte<br />

lohnt sich.<br />

Anhand der zentralen Figuren John<br />

Locke und dem Third Earl of Shaftesbury<br />

(Anthony Ashley Cooper war ein Philosoph<br />

des frühen 18. Jahrhunderts),<br />

Voltaire und Jean-Jacques Rousseau,<br />

Moses Mendelssohn, Olympe de<br />

Gouges, Wilhelm <strong>von</strong> Humboldt und natürlich<br />

Immanuel Kant, zeichnet der<br />

Autor die philosophische Dynamik des<br />

18. Jahrhunderts nach und füllt die Aufklärung<br />

mit Leben.<br />

Die Geschichte beginnt in England,<br />

und sie beginnt mit einem Abenteuer:<br />

mit Lockes umfangreichen Schriften,<br />

die er bei seiner Rückkehr aus dem holländischen<br />

Exil nach England verpackt<br />

und verschifft hatte – ohne freilich eine<br />

Kopie derselben zu haben. Die Texte<br />

kamen heil an, und mit seinem Plädoyer<br />

für «life, liberty and estate» – der These,<br />

dass sich die Menschen «zum gegenseitigen<br />

Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten<br />

und ihres Vermögens» zusammengeschlossen<br />

hätten – wird Locke zum<br />

Philosophen der «Glorious Revolution»,<br />

jenes friedlichen Übergangs zur<br />

konstitutionellen Monarchie.<br />

Unter Einsatz des Lebens<br />

Überhaupt ruft das Buch <strong>von</strong> Manfred<br />

Geier in Erinnerung, dass die Gedanken<br />

der Aufklärung nicht einfach in häuslicher<br />

Abgeschiedenheit entwickelt wurden,<br />

um dann ihren natürlichen und ungehinderten<br />

Weg an die Öffentlichkeit<br />

zu finden. Im Gegenteil: Unter teilweisem<br />

Einsatz ihres Lebens entschlossen<br />

sich die Aufklärer, ihre provozierenden<br />

Erkenntnisse zu publizieren. So flüchtet<br />

Locke 1683 ins holländische Exil, um<br />

seine «Discourses Concerning Government»<br />

fertig zu stellen. Voltaires «Lettres<br />

philosophiques», ein Loblied auf die<br />

politische, wirtschaftliche und geistige<br />

18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Freiheit Englands, werden 1734 in Frankreich<br />

verurteilt, und gegen ihn ergeht<br />

ein Haftbefehl. Diderots «Pensées philosophiques»<br />

werden verbrannt, er<br />

selbst 1749 ins Gefängnis <strong>von</strong> Vincennes<br />

gesteckt. Weil er seine Autorschaft gesteht,<br />

und weil die Verleger der Enzyklopädie<br />

intervenieren, werden ihm<br />

schliesslich Schriftverkehr und Besuche<br />

doch erlaubt.<br />

Die «Encyclopédie» wird später nicht<br />

nur in Frankreich verboten, sondern<br />

auch vom Papst auf den Index gesetzt;<br />

katholischen Besitzern droht die Exkommunikation.<br />

Die Einschätzung dieses<br />

28 Bände umfassenden, in 25 Jahren<br />

<strong>von</strong> mehreren hundert Autoren verfassten<br />

Werks durch die Obrigkeit hätte unmissverständlicher<br />

nicht sein können:<br />

«Die Vorteile eines solchen Werks für<br />

Künste und Wissenschaften können den<br />

irreparablen Schaden für Glauben und<br />

Sittlichkeit niemals aufwiegen.»<br />

Gleichberechtigung für alle<br />

Welche Rolle der Glaube und die Religionszugehörigkeit<br />

– immerhin 150 Jahre<br />

nach der Reformation – noch spielten,<br />

beschreibt Manfred Geier anhand des<br />

Schicksals <strong>von</strong> Moses Mendelssohn.<br />

Dieser Unternehmer und Philosoph, der<br />

in Berlin vom «sans papier» zum angesehenen<br />

Bürger aufstieg, musste sich,<br />

aufgefordert vom <strong>Zürcher</strong> Theologen<br />

Johann Caspar Lavater, öffentlich zu seinem<br />

Judentum bekennen, ohne freilich<br />

das Christentum angreifen zu dürfen.<br />

Lavaters Fehdehandschuh war nichts<br />

weniger als die Rückkehr hinter die <strong>von</strong><br />

John Locke postulierte Gewissensfreiheit<br />

in Glaubensangelegenheiten. Für<br />

diesen war zwar eine Moral ohne Gott<br />

nicht vorstellbar, wohl aber eine ohne<br />

kirchliche Unterweisung, womit er die<br />

Autorität der Institution Kirche untergrub.<br />

Dass die Gedankenfreiheit auch für<br />

Frauen galt, war beileibe keine Selbstverständlichkeit.<br />

So liessen die Enzyklopädisten<br />

keine Frauen als Autoren zu,<br />

und für Rousseau war, wie für Sophie in<br />

seinem Roman «Emile», jede Frau «dazu<br />

geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen».<br />

Geier illustriert diese ungleiche<br />

Aufklärung mit einem «Requiem<br />

auf eine mutige Frau», nämlich<br />

Olympe de Gouges, die 1793 in Paris<br />

guillotiniert wurde. Nur Kant hegte<br />

diesbezüglich keine Zweifel: Selbst<br />

wenn er die Frauen dem «schönen Ge-<br />

«Die Freiheit für das<br />

Volk»: Besucher<br />

vor dem bekannten<br />

Gemälde <strong>von</strong> Eugène<br />

Delacroix (1830) im<br />

Louvre in Paris.<br />

schlecht» zuordnete und die Männer<br />

dem «erhabenen»: Er ging <strong>von</strong> der<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

aus. Den Schritt in die Mündigkeit sah er<br />

genauso für das «ganze schöne Geschlecht».<br />

Dem grossen Aufklärer Kant nähert<br />

sich Geier aus der Gegenwart, genauer,<br />

dem 11. September 2001 und der folgenden<br />

Auseinandersetzung, die sich um<br />

die Frage drehte, ob die europäische<br />

Aufklärung gescheitert sei. Jenseits des<br />

Atlantiks beschuldigte Robert Kagan die<br />

Europäer des falschen Glaubens an ein<br />

posthistorisches Paradies. Unter Bezugnahme<br />

auf Kants kurze Abhandlung<br />

«Vom ewigen Frieden» hielten Derrida,<br />

Habermas und Sloterdijk dagegen.<br />

Ralph Dahrendorf und Timothy Garton<br />

Ash versuchten zu vermitteln, indem sie<br />

Kant <strong>von</strong> Rousseau abgrenzten. Ein<br />

wahrer Philosophenstreit, der noch weitere<br />

Kreise zog – und mit dem Geier zuletzt<br />

illustriert, wie alltagsnah und notwendig<br />

Philosophie sein kann.<br />

Die Antwort auf die eingangs gestellten<br />

Fragen liefert das Buch explizit und<br />

implizit: Die historische Aufklärung war<br />

eine europäische; das Streben nach<br />

Mündigkeit aber ist universell und immerwährend.<br />

Gerade heute wieder erstreckt<br />

sich der Ruf der Aufklärung über<br />

den Globus. Und er verlangt, wie damals,<br />

Klarheit und vor allem Mut. ●<br />

Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte<br />

der Hochschule St. Gallen und<br />

Gesprächsleiterin «Sternstunde<br />

Philosophie» am Schweizer Fernsehen.<br />

BERTHOLD STEINHILBER / LAIF


Theater Die Programme des Cabaret Cornichon liefern einen Spiegel der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse in der Schweiz <strong>von</strong> 1934 bis 1951<br />

Das ätzende Gegengift<br />

Peter Michael Keller: Cabaret Cornichon.<br />

Geschichte einer nationalen Bühne.<br />

Chronos, Zürich 2011. 428 Seiten, Fr. 78.–.<br />

Von Urs Bitterli<br />

Am 1. Mai 1934 fand im Hotel Hirschen<br />

im <strong>Zürcher</strong> Niederdorf die erste Vorführung<br />

des Cabaret Cornichon statt. Im<br />

Vorjahr hatten der Schweizer Walter<br />

Lesch und der Deutsche Otto Weissert<br />

den Entschluss gefasst, ein Kabarett ins<br />

Leben zu rufen. Man fand, wie dies später<br />

das Ensemble-Mitglied Max Werner<br />

Lenz euphemistisch formulierte, das<br />

Leben in der Schweiz sei «einfach zu<br />

süss» und «eine kleine, ätzende Gegensäure»<br />

sei nötig, «um das glückvolle Dasein<br />

in der Schweiz» nicht in den Himmel<br />

wachsen zu lassen. Lesch übernahm<br />

die künstlerische und Weissert die administrative<br />

Leitung.<br />

Das Cabaret Cornichon arbeitete<br />

viele Jahre sehr erfolgreich; man ging<br />

auf Tournee, trat an der Weltausstellung<br />

in Paris und an der Landesaustellung auf<br />

und spielte in Truppenunterkünften.<br />

Manche der Autoren und Schauspieler<br />

des Cornichon waren zusätzlich bei<br />

Presse, Radio oder Film tätig. Ensemble-<br />

Mitglieder wie Elsie Attenhofer, Heinrich<br />

Gretler, Zarlie Carigiet und Emil<br />

Hegetschweiler wurden zu herausragenden<br />

Repräsentanten der Schweizer<br />

Theatergeschichte.<br />

Während siebzehn Jahren trat das<br />

Cornichon beinahe wöchentlich auf. Es<br />

verfolgte die politischen Entwicklungen<br />

im In- und Ausland, reagierte spontan<br />

auf Tagesereignisse und thematisierte<br />

die Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung.<br />

In der Zeit des Kalten Krieges<br />

gelang es dem Cornichon nicht mehr,<br />

Bernd Brunner: Der Mond.<br />

Die Geschichte einer Faszination.<br />

Antje Kunstmann, München 2011.<br />

320 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Von Thomas Köster<br />

Im späten 16. Jahrhundert formulierte<br />

der italienische Naturforscher und Dramatiker<br />

Giambattista della Porta den<br />

Gedanken vom Mond als Informations-<br />

Bildschirm. «Ein Parabolspiegel grosser<br />

Brennweite sollte Buchstaben auf die<br />

Oberfläche projizieren, die dann <strong>von</strong><br />

den Menschen auf der Erde zu lesen gewesen<br />

wären», beschreibt Bernd Brunner<br />

die Idee. Auch wenn aus dieser Vision<br />

bekanntlich nichts wurde, umreisst<br />

sie bildhaft das, was das Buch Brunners<br />

sich publikumswirksam zu positionieren.<br />

Eines der letzten erfolgreichen Programme<br />

ging 1947 über die Bühne und<br />

stand, aktuell genug, unter dem Motto<br />

«Zwüschet Whisky und Wodka». Vier<br />

Jahre danach war Schluss.<br />

Zur Geschichte des Cabaret Cornichon<br />

liegt seit kurzem eine sorgfältig<br />

erarbeitete, gut lesbare Dissertation vor.<br />

Der Verfasser, Peter Michael Keller, sah<br />

sich mit einer äusserst komplexen Quellenlage<br />

konfrontiert. Die Nummerntexte<br />

liegen in der Regel nicht gedruckt vor;<br />

die Tondokumente sind lückenhaft und<br />

Filmaufnahmen fehlen ganz. Keller<br />

musste in zahlreichen privaten Nachlässen<br />

und Archiven nach den Textgrund-<br />

«Zwüschet Whisky<br />

und Wodka» (1947):<br />

Programm des<br />

Cabaret Cornichon.<br />

liefert: Zeigt es doch eindringlich auf,<br />

wie stark die Menschheit ihre Wünsche,<br />

Sehnsüchte und Ängste seit jeher über<br />

die Kulturgrenzen hinweg auf die unwirtliche<br />

Kugel zu projizieren wusste.<br />

Überaus kenntnisreich und anschaulich<br />

erzählt Brunner <strong>von</strong> der Entstehung<br />

und physischen Beschaffenheit des<br />

Mondes, und <strong>von</strong> der Geschichte unserer<br />

Mondwahrnehmung. Dabei wird offenbar,<br />

wie sehr die Betrachtung des<br />

Erdtrabanten unsere Gedankenwelt beeinflusst<br />

hat – und wie stark sich die Bilder<br />

<strong>von</strong> ihm in Malerei, Dichtung, Religion,<br />

Philosophie, Trivial- und Hochkultur<br />

durch technische Innovationen wie<br />

das Fernrohr gewandelt haben – oder<br />

eben durch die Raumfahrt, die nicht nur<br />

erstmals die dunkle Seite des Mondes<br />

beleuchtete, sondern durch den Blick<br />

lagen der Nummern suchen, diese den<br />

einzelnen Programmen zuordnen und in<br />

eine plausible chronologische Ordnung<br />

bringen.<br />

In der kollektiven Erinnerung erscheint<br />

das Cabaret Cornichon als Inbegriff<br />

des intellektuellen Widerstandes<br />

gegen Nationalsozialismus und Faschismus.<br />

Mitglieder des Ensembles betonten<br />

diesen Aspekt in ihren Erinnerungen,<br />

und Historiker übernahmen diese<br />

Sicht, die zwar nicht falsch ist, der Themenvielfalt<br />

der Cornichon-Programme<br />

aber zu wenig Rechnung trägt. Es ist das<br />

grosse Verdienst <strong>von</strong> Kellers Darstellung,<br />

dass sie das Cornichon als Spiegel<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse und als<br />

Ausdruck der mentalen Verfassung unseres<br />

Landes begreift. Die Geistige Landesverteidigung,<br />

zu der sich das Cornichon<br />

bekannte, war ja nicht nur, wie zuweilen<br />

in polemischer Verkürzung behauptet<br />

wird, eine Art Anti-Ideologie<br />

zum Nationalsozialismus. Das Cornichon<br />

verstand sich auch nicht als Propaganda-Instrument;<br />

aber es ermöglichte<br />

in schwieriger Zeit eine nationale<br />

Selbstdarstellung, in der Scherz, Satire,<br />

Ironie und tiefere Bedeutung sich nuancenreich<br />

verbanden. Der Verfasser führt<br />

zahlreiche Nummerntexte in vollem<br />

Wortlaut vor, kommentiert sie kenntnisreich<br />

und fügt vorzügliche Szenenfotos<br />

bei. Das Cornichon hat keinen Tucholsky<br />

oder Kästner hervorgebracht; aber<br />

manche Verse haben ihre Frische und<br />

ihren Biss nicht verloren.<br />

Kellers Buch darf als die abschliessende<br />

Darstellung zu diesem Thema bezeichnet<br />

werden; es stellt einen gewichtigen<br />

Beitrag zur Geistesgeschichte unseres<br />

Landes dar. ●<br />

Urs Bitterli ist emeritierter Professor für<br />

neuere Geschichte der Universität Zürich.<br />

Astronomie Der blaue Planet hat die Gedankenwelt der Erdbewohner schon immer beeinflusst<br />

Mensch und Mond<br />

WILLI EIDENBENZ / CABARET ARCHIV<br />

vom Mond auf die Erde auch unsere<br />

Vorstellung vom blauen Planeten prägte.<br />

Dass das Bild, das der Autor dabei<br />

präsentiert, bei der Fülle an historischem<br />

Material <strong>von</strong> eigenen Vorlieben<br />

geprägt ist, tut dem positiven Gesamteindruck<br />

dabei keinen Abbruch.<br />

«Ohne unseren Mond wäre die Erde<br />

ein völlig anderer Ort», schreibt Brunner<br />

gleich zu Beginn seines Buchs: Zu<br />

Ebbe und Flut leistet er ebenso seinen<br />

Beitrag wie zum Wechsel der Jahreszeiten<br />

oder zu einem moderaten Klima,<br />

ohne das das Leben in seiner jetzigen<br />

Form wohl gar nicht entstanden wäre.<br />

Wie lebendig und vielfältig der Mond<br />

nicht nur unser Leben, sondern auch<br />

unser Denken beeinflusst hat, wird man<br />

als Leser am Ende der Lektüre mit Sicherheit<br />

besser begreifen. ●<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19


Sachbuch<br />

Globalisierung Botschafter Johannes B. Kunz warnt vor Verlust der Souveränität<br />

Schweizer Uno-Diplomat rechnet mit<br />

internationaler Gemeinschaft ab<br />

Johannes B. Kunz: Der letzte Souverän<br />

und das Ende der Freiheit. Internationale<br />

Politik und bürgerliche Rechte.<br />

NZZ Libro, Zürich 2012. 400 Seiten,<br />

Fr. 58.–.<br />

Von Paul Widmer<br />

Johannes B. Kunz hat ein gescheites und<br />

mutiges Buch geschrieben. Gescheit,<br />

weil er mit einem beeindruckenden<br />

Wissen und viel Scharfsinn die These<br />

verteidigt, dass Souveränität die Freiheit<br />

und das Wohlbefinden eines Volkes<br />

auch im Zeitalter der Globalisierung erhöht.<br />

Derlei liegt zurzeit nicht im Mainstream.<br />

Vielmehr vernimmt man täglich,<br />

jeder Staat müsse Souveränität abgeben,<br />

um sich in einer globalisierten<br />

Welt richtig zu positionieren. Ob das<br />

auch stimmt, wird kaum hinterfragt.<br />

Kunz bürstet gegen den Strich. Es bereitet<br />

ihm offensichtlich Vergnügen, die<br />

landläufige Meinung in ihrer konventionellen<br />

Bequemlichkeit als falsch zu entlarven.<br />

Das gilt derzeit als politisch unkorrekt.<br />

Man will nicht wissen, wie die<br />

einzelnen Akteure der sogenannten internationalen<br />

Gemeinschaft oft zusammenspannen,<br />

um die Souveränität <strong>von</strong><br />

Staaten und die Freiheit der Bürger zu<br />

beschränken.<br />

Unter anderem zeigt er am Beispiel<br />

des, wie er es nennt, «humanitär-interventionistischen<br />

Komplexes», wie fragwürdig<br />

gerade auch humanitäre Interventionen,<br />

die in bester Absicht eingeleitet<br />

werden, enden können. Nicht selten<br />

erreichen sie das Gegenteil <strong>von</strong> dem,<br />

was sie bezwecken. Oft ist die Lage nach<br />

Amy Stewart: Gemeine Gewächse.<br />

Radierungen <strong>von</strong> Briony Morrow-<br />

Cribbs. Berliner Taschenbuch,<br />

Berlin 2011. 299 Seiten, Fr. 18.90.<br />

Von André Behr<br />

Ohne Chemie wären weder das Leben,<br />

noch die Materialen und technischen<br />

Geräte denkbar, die uns den Alltag erleichtern.<br />

Dennoch hat die Chemie<br />

einen schlechten Ruf, weil «chemisch»<br />

mit «künstlich» und oft auch «giftig»<br />

assoziiert wird. Dabei wird vergessen,<br />

dass die für den Menschen gefährlichsten<br />

Stoffe <strong>von</strong> der Natur synthetisiert<br />

werden. Zum Beispiel <strong>von</strong> Quallen, oder<br />

in stattlicher Anzahl auch <strong>von</strong> Pflanzen.<br />

Aus Krimis bestens bekannt ist etwa<br />

das Strychnin, das aus dem Samen des<br />

20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Johannes B. Kunz<br />

setzt ein Fragezeichen<br />

hinter humanitäre<br />

Interventionen: Uno-<br />

Truppen in Abidjan,<br />

Januar 2011.<br />

zu den Brechnussgewächsen zählenden<br />

Strychninbaums stammt. Der in ganz<br />

Europa und den USA verbreitete Wasserschierling<br />

wiederum produziert in<br />

seinen lecker süsslich schmeckenden<br />

Wurzeln Cicutoxin, das bereits in geringen<br />

Mengen ein Kind töten kann. Selbst<br />

Gras ist nicht immer harmlos, wie Amy<br />

Stewart in ihrem Buch über «gemeine<br />

Gewächse» am Fall des japanischen<br />

Blutgrases zeigt, dessen Blätter gefährlich<br />

wie eine Säge sind und das leicht<br />

entflammbar ist, damit es sich durch Abbrennen<br />

der Konkurrenten einen Standortvorteil<br />

verschaffen kann.<br />

In über 60 Kapiteln, bebildert mit filigranen<br />

Radierungen, erzählt die in Kalifornien<br />

lebende Autorin Geschichten<br />

über Pflanzen, die morden, verstümmeln,<br />

berauschen oder uns anderweitig<br />

ärgern können. Dabei verwebt sie ge-<br />

einer Intervention desolater als vorher.<br />

Man denke an Somalia, Afghanistan<br />

oder den Irak.<br />

Der Autor sieht die Souveränität, wie<br />

sie sich seit dem Westfälischen Frieden<br />

(1648) durchgesetzt hat, <strong>von</strong> vielen Seiten<br />

her gefährdet: vom Uno-Sicherheitsrat,<br />

<strong>von</strong> einer extensiven Auslegung der<br />

Menschenrechte, <strong>von</strong> internationalen<br />

Organisationen, die ihre eigenen Interessen<br />

verfolgen, und natürlich auch <strong>von</strong><br />

einer EU, die ihre Kompetenzen ständig<br />

zu erweitern versucht und allmählich<br />

Formen eines mittelalterlichen Reiches<br />

annimmt. Diese Entwicklung wird kräftig<br />

<strong>von</strong> einer international gut vernetzten<br />

politischen Elite gefördert. Im Allgemeinen<br />

verneint Kunz die Existenzberechtigung<br />

<strong>von</strong> internationalen Institu-<br />

Botanik Pflanzen sind nicht immer harmlos. Sie können auch morden und verstümmeln<br />

Von Blumen, die töten<br />

SUNDAY ALAMBA / AP<br />

tionen nicht, aber er kritisiert deren<br />

Auswuchern. Damit sich die internationalen<br />

Organisationen wieder auf das<br />

Wesentliche beschränken, gibt es seiner<br />

Meinung nach nur einen Weg: ihnen die<br />

finanziellen Mittel kürzen.<br />

Kunz verfügt über ein stupendes Wissen.<br />

Das breitet er grosszügig aus. Es<br />

reicht <strong>von</strong> afrikanischen Stammesgesellschaften<br />

über die chinesische Kultur<br />

bis zu Machiavelli, <strong>von</strong> begriffsgeschichtlichen<br />

Erörterungen bis zu ethnografischen<br />

Exkursen. Die Vorteile des<br />

Buches sind freilich auch dessen Nachteile.<br />

Mit seinen Vergleichen will er<br />

hieb- und stichfest eine an sich schlichte<br />

These beweisen, nämlich dass ohne<br />

staatliche Souveränität nirgends auf der<br />

Welt Freiheit, Recht und Wohlstand auf<br />

die Dauer gedeihen können. Vielleicht<br />

hätte er seine These wirkungsvoller mit<br />

einem konzisen <strong>Essay</strong> <strong>von</strong> weniger als<br />

hundert Seiten verfochten.<br />

Dennoch: In einer Zeit, in der die Internationalisierung<br />

ständig als Wert an<br />

sich angepriesen wird, tut es gut, wenn<br />

jemand mit neuem Elan an den Sinn <strong>von</strong><br />

staatlicher Souveränität erinnert. Selbst<br />

wenn einige Gedankengänge des Autors<br />

diskussionswürdig sind wie etwa sein<br />

Begriff <strong>von</strong> Souveränität, den er mit legitimer<br />

Herrschaft gleichsetzt, ist es<br />

verdienstvoll, neue subkutane Machtstrukturen<br />

aufzuzeigen – dies umso<br />

mehr als das Buch <strong>von</strong> einem Schweizer<br />

Diplomaten stammt, also <strong>von</strong> jemandem,<br />

der sich selbst in den kritisierten<br />

Sphären bewegt. Kunz ist Berater bei<br />

der Uno-Mission in New York. ●<br />

Paul Widmer ist Autor <strong>von</strong> «Schweizer<br />

Aussenpolitik und Diplomatie» (2003).<br />

schickt botanisches Wissen mit Kulturgeschichte,<br />

Symptombeschreibungen<br />

oder Garten- und Verhaltenstipps.<br />

Auf der Reise quer durch alle Kontinente<br />

erfährt man so einiges über Pfeilgifte<br />

oder Drogen, aber auch über unschöne<br />

Eigenschaften schöner Topfpflanzen<br />

in der eigenen Stube. Haben<br />

Sie etwa gewusst, dass Giftzentralen in<br />

den USA 2006 über 1600 Anrufe wegen<br />

Philodendronvergiftungen entgegennehmen<br />

mussten? Oder der Oleander zu<br />

den Hundsgiftgewächsen gehört?<br />

Stewart, die auch Wanderausstellungen<br />

organisiert und viele Vorträge hält,<br />

kostet rund um die «gemeinen» Strategien<br />

<strong>von</strong> Pflanzen mögliche Horrorszenarien<br />

so genüsslich aus, dass nach<br />

der Lektüre kein empfindsamer Leser<br />

mehr unbedarft durch Wälder, Wiesen,<br />

Gärten oder Wohnungen streift. ●


Stalinismus Erst Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt im Gulag hat DDR-Historiker Wolfgang Ruge<br />

seine Erinnerungen niedergeschrieben. Nun gibt sein Sohn die Memoiren neu heraus<br />

Ein deutscher Iwan Denissowitsch<br />

Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine<br />

Jahre in Stalins Sowjetunion. Rowohlt,<br />

Reinbek 2012. 489 Seiten, Fr. 35.50.<br />

Von Urs Rauber<br />

Letzten Herbst erhielt Eugen Ruge für<br />

seinen Roman «In Zeiten des abnehmenden<br />

Lichts» den Deutschen Buchpreis.<br />

Der 57-jährige Dokumentarfilmer<br />

und Drehbuchautor legte eine autobiografisch<br />

geprägte Familiensaga vor, die<br />

in der DDR, Mexiko und der Sowjetunion<br />

spielt. «Das Buch erzählt <strong>von</strong> der<br />

Utopie des Sozialismus, dem Preis, den<br />

sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem<br />

allmählichen Verlöschen», begründete<br />

die Jury ihren Entscheid.<br />

Den gleichen Satz könnte man den<br />

Memoiren <strong>von</strong> Ruges Vater, des späteren<br />

DDR-Historikers Wolfgang Ruge<br />

(1917–2006), voranstellen, die zwischen<br />

1984 und 1999 entstanden und 2003 in<br />

einer unzulänglichen Fassung (Ruge litt<br />

damals an beginnender Demenz) publiziert<br />

wurden. Sohn Eugen entschloss<br />

sich deshalb zu einer gründlichen Überarbeitung,<br />

die er mit seinem Nachwort<br />

versehen jetzt neu herausgibt. Wolfgang<br />

Ruge wurde <strong>von</strong> seinen Eltern kommunistisch<br />

erzogen, wanderte als 16-Jähriger<br />

mit seinem zwei Jahre älteren Bruder<br />

Walter im Sommer 1933 <strong>von</strong> Berlin<br />

nach Russland aus. Im «gelobten Land»,<br />

erhielt er eine Ausbildung als Zeichner,<br />

wurde freischaffender Kartograf an der<br />

Universität Moskau und erwarb die sowjetische<br />

Staatsbürgerschaft.<br />

Vom Paradies in den Gulag<br />

Mit Begeisterung stürzte sich der Jungkommunist<br />

in die Entdeckung der neuen<br />

Welt. Er verspürte «ein unbeschreibliches<br />

Gefühl – wie es ein religiöser<br />

Mensch beim Anblick der Jungfrau<br />

Maria empfinden mag». Walter Ruge<br />

zeichnet Personen und Milieu atmosphärisch<br />

dicht, teilweise fast poetisch.<br />

Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja, die<br />

ihm eine Lehrstelle vermittelte, beschreibt<br />

er als «steinalte und unendlich<br />

müde» Frau, die einwandfrei Deutsch<br />

gesprochen habe. In Moskau begegnete<br />

Ruge der späteren DDR-Elite um Walter<br />

Ulbricht, Johannes R. Becher, Markus<br />

Wolf und anderen.<br />

Bald wich die Hoffnung jedoch der<br />

Ernüchterung und dem Erschrecken:<br />

über die Armut, das Elend, die allmächtige<br />

Partei und das Spitzelwesen. Ruge<br />

erlebte die Jahre des politischen Terrors<br />

ab 1936. Lähmendes Entsetzen packte<br />

ihn, als er zuhause auf die Geheimdienst-Agenten<br />

wartete, die Nacht für<br />

Nacht irgendwo Leute abholten. Nach<br />

dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion<br />

1941 traf es auch ihn: Der «deutsche<br />

Spion» wurde in die kasachische<br />

Steppe nach Karaganda deportiert. Später<br />

landete er mit anderen deutschen<br />

Wolfgang Ruge (Mitte,<br />

Zweiter <strong>von</strong> rechts)<br />

verbrachte fast fünf<br />

Jahre im Gulag und<br />

zehn Jahre in der<br />

Verbannung im Ural<br />

(Foto Frühjahr 1951).<br />

«Arbeitsmobilisierten» in einem Lager<br />

bei Soswa im Nordural.<br />

Präzise und anschaulich zeichnet der<br />

deutsche Häftling den Alltag im Gulag,<br />

die Lagerhierarchie, die Brutalität des<br />

Wachpersonals, aber auch <strong>von</strong> kriminellen<br />

Elementen unter den Häftlingen. Besonders<br />

ausgeprägt empfand er den<br />

Hass der im gleichen Lager einsitzenden<br />

Kulaken (Mittel- und Grossbauern), die<br />

ihr Essen nicht mit den «Fritzen», den<br />

Deutschen, teilen wollten. Erfüllten die<br />

Gefangenen das Plansoll nicht, wurde<br />

ihnen die ohnehin kärgliche Brotration<br />

gekürzt. Nässe, Schnee und Kälte waren<br />

ständige Begleiter. Immer wieder starben<br />

Leute an Krankheit und Entkräftung,<br />

auch der Autor war mehr als einmal<br />

kurz vor dem Ende.<br />

Traumatische Erfahrung<br />

Im Lager arbeitete Ruge als Holzfäller,<br />

Bastschuhflechter und Gleisbauer; als es<br />

ihm besser ging, als Barackenwart, Sauna-Heizer,<br />

Pilzsucher und Zeichner.<br />

Nach Kriegsende im Januar 1946 wurde<br />

die Lagerhaft in Verbannung umgewandelt:<br />

auf dem Papier erhielten die Häftlinge<br />

alle Rechte zurück, durften aber<br />

den Ort nicht verlassen. Auf die 4½<br />

Jahre Gulag folgten über 10 Jahre Verbannung,<br />

bis Ruge 1956 nach Chruschtschows<br />

Geheimrede frei kam und mit<br />

seiner dritten russischen Frau in die<br />

DDR ausreisen konnte.<br />

Ruges umfangreicher Erlebnisbericht<br />

ist ein Zeugnis <strong>von</strong> ungewöhnlicher<br />

Qualität. Packend sind nicht nur die<br />

Schilderungen des Augenzeugen, der<br />

seine traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang<br />

mit sich trug, bevor er sie<br />

mit einem verblüffenden Erinnerungsvermögen<br />

niederschrieb. Ruge porträtiert<br />

Dutzende <strong>von</strong> Mithäftlingen, auch<br />

Wärter und Vorgesetzte, die im umfangreichen<br />

Personenregister namentlich<br />

aufgeführt sind, und setzt ihnen so ein<br />

Denkmal. Er gibt seinen Gefühlen allerdings<br />

mehr Raum als seiner politischen<br />

Desillusionierung. Grossartig sind die<br />

Passagen, in denen aufkeimende Hoffnungen<br />

sichtbar werden. Als am 4. März<br />

1953 die Nachricht <strong>von</strong> Stalins Tod<br />

durchsickerte, riefen sich die Leute verschwörerisch<br />

«SSSR» zu. Was diesmal<br />

nicht die russische Abkürzung für<br />

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken<br />

bedeutete, sondern: «Smert Stalina<br />

spasjot Rossiju» – Stalins Tod rettet<br />

Russland!<br />

Für Eugen Ruge ist es bis heute ein<br />

Rätsel, warum sein Vater die traumatischen<br />

Erfahrungen zu DDR-Zeiten nicht<br />

öffentlich machen wollte. Es brauchte<br />

offenbar den Mauerfall, damit der «verletzbare<br />

und verletzte Mensch» die vor<br />

den Angehörigen verheimlichten Aufzeichnungen<br />

1998 wieder hervor holte.<br />

Abgesehen vom literarischen Rang darf<br />

man Wolfgang Ruges Gulag-Report<br />

wohl mit Solschenizyns Roman «Ein<br />

Tag im Leben des Iwan Denissowitsch»<br />

(1962) und Schalamows «Erzählungen<br />

aus Kolyma» (1971) vergleichen. ●<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21


Sachbuch<br />

Nachkriegsgeschichte Ein Politiker und ein Kabarettist enthüllen unbekannte Fakten<br />

Wie der West-Ost-Dialog wirklich war<br />

Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnislücken.<br />

Zwei Deutsche erinnern sich.<br />

Aufbau, Berlin 2012. 204 Seiten, Fr. 24.50.<br />

Von Gerd Kolbe<br />

Es ist wie eine Modeerscheinung über<br />

die Verlagsbranche, Abteilung Sachbuch,<br />

gekommen und ökonomisch<br />

obendrein. Zwei setzen sich in ein Studio,<br />

plaudern über dies und das, und fertig<br />

ist das Buch. Doch Egon Bahr, der<br />

geistige Vater und Stratege der Ost- und<br />

Deutschland-Politik Willy Brandts, und<br />

der – um im Sprachgebrauch der Zeit zu<br />

bleiben, <strong>von</strong> der die Rede ist – Autor und<br />

Chef des Ostberliner Kabaretts «Die<br />

Distel», Peter Ensikat, machen die erwähnenswerte<br />

Ausnahme. Im Dialog<br />

lassen sie 50 Jahre Nachkriegspolitik<br />

Revue passieren. Es wird nie langweilig.<br />

Der Leser erfährt, wo Westdeutsche und<br />

Ostdeutsche einer Meinung sind oder<br />

auch nicht.<br />

Da ist zum Beispiel das bis auf den<br />

heutigen Tag umstrittene Kapitel der<br />

Aufarbeitung der Stasi-Akten, also der<br />

über Karrieren und Lebensläufe entscheidenden<br />

Dossiers des DDR-Geheimdienstes.<br />

Ensikat hält die Öffnung<br />

der Stasi-Akten im Grunde für richtig;<br />

schliesslich waren es die DDR-Bürger-<br />

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den<br />

Untergang. NS-Deutschland 1944/45.<br />

DVA, München 2011. 702 Seiten,<br />

Fr. 40.90.<br />

Von Markus Schär<br />

Es war «ein Ende mit Schrecken, wie es<br />

die Geschichte noch nie gesehen hatte»,<br />

schreibt Ian Kershaw: «Das Ausmass, in<br />

dem sich Deutschland in den letzten<br />

Monaten des Dritten Reichs in ein riesiges<br />

Leichenhaus verwandelt hat, lässt<br />

sich kaum vorstellen.» Die Deutschen<br />

kämpften, bis sich Adolf Hitler am<br />

30. April 1945 erschoss. Sie folgten ihm<br />

scheinbar willig in den Untergang, wagten<br />

keinen Aufstand, quälten weiter<br />

Juden und Zwangsarbeiter und brachten<br />

um, wer an Kapitulation dachte. Warum?<br />

Ein wissenschaftliches Werk, das die<br />

Mentalitäten im letzten Kriegsjahr untersuche,<br />

sei ihm zu seiner Verwunderung<br />

nicht eingefallen, stellt Kershaw<br />

fest. Der emeritierte Professor der Universität<br />

Sheffield, der mit seinen gewichtigen<br />

Arbeiten zur Historiografie<br />

des NS-Staates (1985) und zu Hitler<br />

(1998/2000) zu den führenden Experten<br />

für das Dritte Reich zählt, verfasste deshalb<br />

selber «eine integrierte Geschichte<br />

einer Desintegration». Mit dem Zusam-<br />

22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

rechtler, welche die Einrichtung einer<br />

eigens dafür geschaffenen Behörde noch<br />

vor der Wiedervereinigung durchsetzten.<br />

Bahr, der Mann aus dem Westen,<br />

hält es ausnahmsweise mit Helmut Kohl.<br />

Hätte der Altkanzler gewusst, was mit<br />

den Akten geschieht, hätte er dazu geraten,<br />

alles zu verbrennen, zu vergraben<br />

und in den Keller zu stecken. Ensikat bezweifelt<br />

heute, dass die Aktenöffnung<br />

der Geschichtsaufarbeitung dient. Es<br />

geschehe dies doch nur «aus rein tagespolitischen<br />

Interessen». Bahr wird überdeutlich.<br />

Er nennt es eine Schweinerei,<br />

«wenn die Menschen aus dem Osten<br />

härter und unnachsichtiger behandelt<br />

werden als die Nazis».<br />

Das Buch gewährt dank Bahr bislang<br />

nur unzulänglich bekannte Einblicke in<br />

die Verhandlungen, die zur Entspannung<br />

zwischen Ost und West führten.<br />

Nie wäre das Berliner Vier-Mächte-Abkommen<br />

zustande gekommen, hätte es<br />

zwischen Bonn und Moskau nicht nach<br />

amerikanischem Muster einen «Back-<br />

Channel» gegeben. Der stellvertretende<br />

Chefredakteur der «Literaturnaja Gaseta»<br />

und ein KGB-General führten im<br />

Auftrag des damaligen Moskauer Parteichefs<br />

Juri Andropow Gespräche am offiziellen<br />

Apparat vorbei. Der damalige<br />

Sowjet-Botschafter in der DDR, Abrassimow,<br />

war ahnungslos. Franzosen und<br />

menfassen <strong>von</strong> zahllosen Detailstudien<br />

und dem Auswerten <strong>von</strong> Briefen, Tagebüchern<br />

und Spitzelberichten bis hin zu<br />

Abhörprotokollen <strong>von</strong> Wehrmachtsoffizieren<br />

in britischer Kriegsgefangenschaft<br />

wollte er die Fragen beantworten:<br />

Warum wurden Hitlers selbstzerstörerische<br />

Befehle immer noch befolgt? Welche<br />

Herrschaftsmechanismen befähigten<br />

ihn dazu, das Schicksal Deutschlands<br />

zu bestimmen, wenn es für jeden<br />

offenkundig war, dass der Krieg verloren<br />

war und das Land jetzt ganz und gar<br />

verwüstet wurde?<br />

Die Darstellung setzt am 20. Juli 1944<br />

ein, als die Verschwörer um Graf <strong>von</strong><br />

Stauffenberg mit ihrem Bombenanschlag<br />

auf Hitler scheiterten. Dass der<br />

Führer das Attentat schicksalhaft überlebte,<br />

stärkte seine Herrschaft wieder,<br />

führte zur Mobilisierung des leidenden<br />

Volkes und stachelte die Nazis zu verschärftem<br />

Terror an. «Wer mir <strong>von</strong> Frieden<br />

ohne Sieg spricht, verliert seinen<br />

Kopf», drohte Hitler. Danach fährt<br />

Kershaw getreu der Chronologie fort bis<br />

am 8. Mai 1945, als Grossadmiral Karl<br />

Dönitz, der vom Führer eingesetzte<br />

Nachfolger, die Kapitulation unterschrieb.<br />

Er erzählt <strong>von</strong> der Ardennenoffensive<br />

im Dezember 1944, die nochmals<br />

Hoffnung aufkeimen liess, vom<br />

Vorrücken der Roten Armee im Osten,<br />

Briten durften die Ergebnisse abnicken.<br />

Es verhandelten der Amerikaner Ken<br />

Rush, Bahr und der Russe Valentin Falin.<br />

Es war dies bei weitem nicht der einzige<br />

Fall, in dem nach aussen der Schein<br />

gewahrt wurde. Jedermann dachte, als<br />

John F. Kennedy 1963 nach Berlin kam<br />

und im Schöneberger Rathaus mit Adenauer<br />

und Brandt zusammentraf, jetzt<br />

werde Weltpolitik gemacht. Bahr erzählt,<br />

wie es wirklich war. Kennedy memorierte<br />

mit seinem Dolmetscher einen<br />

seiner berühmtesten Sätze, der da lautet:<br />

«Ich bin ein Berliner.» Adenauer las<br />

– wer hätte das gedacht – das SED-Zentralorgan<br />

«<strong>Neue</strong>s Deutschland».<br />

Auch sonst mangelt es nicht an Anekdotischem.<br />

Ensikat berichtet, wie die<br />

Zensur der Kabaretts in Berlin, Leipzig<br />

und Dresden funktionierte. Eine institutionelle<br />

Zensur gab es nicht. Wohl aber<br />

reichte der Einspruch eines hohen Funktionärs,<br />

um ein Programm abzusetzen.<br />

Und das Komischste war, dass die Kabaretts<br />

in der DDR vom Staat finanziert<br />

wurden. Auch nach Verboten wurden<br />

die Akteure – Ensikat nennt sie «Satirebeamte»<br />

– weiter bezahlt. Wie noch in<br />

jeder Diktatur ersetzten Witze das offene<br />

Wort. Zum Beispiel dieser: «Der Kapitalismus<br />

steht am Abgrund, der Sozialismus<br />

ist schon einen Schritt weiter.»<br />

Viel Spass bei der Lektüre. ●<br />

Zweiter Weltkrieg Warum die Deutschen auch nicht aufgaben, als die Niederlage sicher war<br />

Bis zum bitteren Ende<br />

<strong>von</strong> den Flüchtlingsströmen und den<br />

Todesmärschen der KZ-Häftlinge wie in<br />

einer konventionellen Geschichte des<br />

Dritten Reiches über Dutzende <strong>von</strong> Seiten<br />

hinweg – über viel zu viele Seiten.<br />

Dabei vergisst Kershaw sein Problem<br />

oder begnügt sich, wo er doch einmal<br />

auf seine Fragestellung zurückkommt,<br />

mit Relativierungen: «Allgemeine Aussagen<br />

über die Haltung <strong>von</strong> Soldaten zu<br />

treffen ist riskant.» Oder: «Derartige<br />

Mosaiksteine lassen sich nie zu einem<br />

vollständigen Bild zusammenfassen.»<br />

Die Fakten zu durchdringen und die Impressionen<br />

zu verdichten, also generelle<br />

Aussagen zu wagen, ist aber gerade die<br />

Aufgabe des problemorientiert arbeitenden<br />

Historikers.<br />

Eine Antwort gibt Kershaw erst im<br />

Schlusskapitel: Die «charismatische<br />

Herrschaft» <strong>von</strong> Hitler, der zuletzt in<br />

seinem Berliner Bunker hockte, führte<br />

für ihn dazu, dass die Wehrmacht bis zur<br />

Zerstörung des Dritten Reichs kämpfte<br />

und die Bevölkerung dem Führer in den<br />

Untergang folgte. Sein Buch beginnt<br />

Kershaw allerdings mit Jagdszenen aus<br />

dem bayerischen Ansbach, wo am<br />

18. April 1945 ein Student, der mit Flugblättern<br />

für die kampflose Übergabe des<br />

Barockstädtchens geworben hatte, am<br />

Strick endete. Ob der Terror der Nazis<br />

allein solche Gräuel erklärt? ●


Literatur Hans Jacob Christoffel <strong>von</strong> Grimmelshausen (um 1622 bis 1676), Autor des Schelmenromans<br />

«Simplicissimus», in einer neuen Biografie<br />

Angesichts der Kriegsgräuel<br />

flüchtete er sich ins Lachen<br />

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz:<br />

Grimmelshausen. Leben und Schreiben.<br />

Vom Musketier zum Weltautor.<br />

Eichborn, Frankfurt a. M. 2011.<br />

499 Seiten, Fr. 45.90.<br />

Von Manfred Koch<br />

1634, im siebzehnten Jahr des Dreissigjährigen<br />

Kriegs, wird die lutherische<br />

Reichsstadt Gelnhausen <strong>von</strong> kaiserlichen<br />

Truppen eingenommen und geplündert.<br />

Viele Einwohner fliehen in die<br />

nahegelegene protestantische Festung<br />

Hanau, unter ihnen auch ein Junge <strong>von</strong><br />

zwölf, dreizehn Jahren: Hans Jacob<br />

Chris toffel <strong>von</strong> Grimmelshausen,<br />

Sprössling einer Bäcker- und Schankwirtfamilie,<br />

der nach dem frühen Tod<br />

seines Vaters im Haus der Grosseltern<br />

aufgewachsen war.<br />

«Wollustbarliches» Weltbuch<br />

Mit der Verwüstung Gelnhausens ist<br />

seine kurze Schulzeit beendet, <strong>von</strong> nun<br />

an geht es für ihn nur noch um das Überleben<br />

im Krieg. Hans Jacob wird 1635<br />

<strong>von</strong> kroatischen Soldaten aus Hanau<br />

verschleppt, dann wieder <strong>von</strong> hessischen<br />

Truppen gefangengenommen.<br />

Nach mehrmaligem Seitenwechsel landet<br />

er schliesslich in kaiserlich-katholischen<br />

Diensten, wo er es vom einfachen<br />

Musketier zum Regimentsschreiber<br />

bringt. 1649, ein Jahr nach Kriegsende,<br />

heiratet er und verdient fortan den bescheidenen<br />

Lebensunterhalt für seine<br />

vielköpfige Familie als Verwalter adliger<br />

Güter und Gastwirt. Zuletzt ist er<br />

«Schultheiss» im badischen Renchen,<br />

wo er erneut in Kriegswirren (ausgelöst<br />

durch die Feldzüge Ludwigs XIV.) gerät<br />

und 1676 stirbt.<br />

Dieser Mann, der fast die Hälfte seines<br />

Lebens an einen entsetzlichen Krieg<br />

verlor, nie eine akademische Ausbildung<br />

erhielt und später im Berufsalltag zeitraubende<br />

administrative Arbeit zu leisten<br />

hatte, war gleichwohl ein ungemein<br />

produktiver Schriftsteller. Grimmelshausen<br />

ist unbestritten der bedeutendste<br />

Prosa-Autor der deutschen Barockliteratur,<br />

Schöpfer des einzigen Romans<br />

aus dieser Zeit, der auch heute noch unmittelbar<br />

packen, begeistern, ja, in einen<br />

Leserausch versetzen kann: «Der Abenteuerliche<br />

Simplicissimus Teutsch» <strong>von</strong><br />

1668 (datiert auf 1669).<br />

Es handelt sich – barock gesprochen<br />

– um eine «historia voller safft» über<br />

das Leben eines gewissen Melchior<br />

Sternfels <strong>von</strong> Fuchshaim, der in Ich-<br />

Form <strong>von</strong> seinen Widerfahrnissen in<br />

Zeiten der Kriegspest erzählt. Ein derb<br />

lustiges, immer wieder auch erschre-<br />

ckendes Panorama <strong>von</strong> Schlachten,<br />

Schlägereien, Sauf- und Fressgelagen,<br />

abgefeimten Betrügereien, Liebeshändeln<br />

und – Momenten religiöser Besinnung.<br />

Kurz: ein «wollustbarliches» satirisches<br />

Weltbuch.<br />

Wie Grimmelshausens umfangreiches<br />

Gesamtwerk zustande kam, ist ein<br />

Rätsel. Auch seine jüngsten Biografen<br />

verneigen sich am Ende «staunend» vor<br />

einem Mann, der, «was ihm an Zeit,<br />

Ruhe, vielleicht auch Arbeitsraum fehlte,<br />

durch ein Übermass an Gaben, Eigenschaften<br />

und Fertigkeiten wettgemacht<br />

haben muss». Geschrieben haben kann<br />

er nur in Kriegs- bzw. Arbeitspausen,<br />

vornehmlich nachts. Sein Held Simplicius<br />

zieht sich im letzten Buch des Romans<br />

in eine stockfinstere Höhle zurück.<br />

Er erhellt sie mit Hilfe <strong>von</strong><br />

«schwarzen Käfern», die wunderbarer-<br />

Saftige Geschichte:<br />

Titelblatt zu «Der<br />

Abenteuerliche<br />

Simplicissimus<br />

Teutsch», Kupferstich<br />

<strong>von</strong> 1669.<br />

ALMIDI<br />

weise einen Lichtstrahl versenden –<br />

vielleicht ein Reflex auf die Beleuchtungskunst<br />

des Nachtpoeten.<br />

Eine Grimmelshausen-Biografie zu<br />

verfassen, ist ein tapferes Unternehmen.<br />

Zum einen gibt es für seine Jugend- und<br />

frühen Mannesjahre keine erhaltenen<br />

Dokumente. Auch die kargen Angaben<br />

zur Gelnhausener Kindheit und seinen<br />

Schicksalen im Krieg sind deshalb<br />

durchgängig mit einem «vermutlich»<br />

oder bestenfalls «höchstwahrscheinlich»<br />

zu versehen. Zum andern hat<br />

Grimmelshausen, als er mit über 40 Jahren<br />

endlich zu publizieren begann, seine<br />

Autorschaft systematisch versteckt. Er<br />

war ein Liebhaber des Anagramms, ein<br />

leidenschaftlicher Buchstabenverdreher,<br />

und so erwuchsen aus seinem Eigennamen<br />

all die «Samuel Greifnson<br />

<strong>von</strong> Hirschfeld», «German Schleifheim<br />

<strong>von</strong> Sulsfort», «Simon Leugfried <strong>von</strong><br />

Hartenfels» usw., die als Verfasser seiner<br />

Bücher firmierten. Am Ende wusste<br />

niemand, wer eigentlich für den überaus<br />

erfolgreichen «Simplicissimus» verantwortlich<br />

war; erst 1834 wurde Grimmelshausen<br />

<strong>von</strong> den Pionieren der Germanistik<br />

als Autor identifiziert. Am<br />

Literaturbetrieb des Barockzeitalters<br />

nahm der Aussenseiter nicht teil, deshalb<br />

fehlen auch aus diesem Bereich Dokumente,<br />

die Aufschluss über seine Person<br />

geben könnten.<br />

Fiktive Autobiografie<br />

Was bleibt den Biografen also anderes<br />

übrig, als sich an die Lebensgeschichte<br />

des Romanhelden zu halten, in die gewiss<br />

Erfahrungen seines Autors eingegangen<br />

sind? Aber «Simplicius Simplicissimus»<br />

ist eben eine höchst fiktive<br />

Autobiografie: ein Schelmenroman, der<br />

– durchaus in christlicher Absicht – die<br />

Verderbtheit der Welt anprangert, zur<br />

Freude des Lesers aber die Laster und<br />

Torheiten der sündigen Menschen so<br />

opulent beschreibt und satirisch übertreibt,<br />

dass man ständig laut auflachen<br />

möchte.<br />

Souverän meistern Boehncke und<br />

Sarkowicz die Gratwanderung, aus diesem<br />

Feuerwerk an Witz und Fabulierlust<br />

die wenigen verlässlichen Daten herauszufiltern,<br />

die – im Verbund mit akribisch<br />

recherchiertem Archivmaterial zur Geschichte<br />

seiner Familie und seiner Wirkungsstätten<br />

– immerhin die Umrisse<br />

eines biografischen Porträts ermöglichen.<br />

Vor allem aber machen sie verständlich,<br />

woher das komische Genie<br />

dieses Autors rührt. Seine Romane<br />

waren das «epische Rettungswerk»<br />

eines Kriegstraumatisierten, der sich<br />

angesichts der Gräuel seiner Zeit ins<br />

entlarvende Lachen flüchtete. ●<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23


Sachbuch<br />

Menschenhandel Ausbeutung und Knechtschaft begleiten die Kulturgeschichte seit jeher. Dass sie<br />

auch rund um den Indischen Ozean im grossen Stil stattfanden, belegt eine neue Studie<br />

Besiegt, versklavt, verkauft<br />

Michael Mann: Sahibs, Sklaven und<br />

Soldaten. Geschichte des<br />

Menschenhandels rund um den<br />

Indischen Ozean. Zabern, Darmstadt<br />

2012. 254 Seiten, Fr. 40.90.<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Das erste Bild, das beim Wort «Sklaverei»<br />

vor dem inneren Auge auftaucht,<br />

sind die im Schweisse ihres Angesichts<br />

schuftenden Schwarzen in den Zuckerrohr-<br />

oder Baumwollplantagen, angetrieben<br />

<strong>von</strong> peitschenschwingenden<br />

Weissen auf dem hohem Ross. Dieses<br />

Bild ziehe eine ganze Reihe <strong>von</strong> Klischees<br />

nach sich, so der Indologe Michael<br />

Mann <strong>von</strong> der Humboldt-Universität<br />

in Berlin, beispielsweise das der<br />

Rechtlosigkeit. Aber «zu keiner Zeit und<br />

an keinem Ort der Welt waren Sklaven<br />

ausschliesslich rechtlose Subjekte»,<br />

schreibt der Fachmann, ohne die Grausamkeit<br />

des Phänomens in Abrede zu<br />

stellen. Sklaverei gibt es in zahllosen<br />

Formen, und bis anhin existiere keine<br />

befriedigende Definition dieser seit<br />

Jahrtausenden – und bis heute – gesellschaftlich<br />

akzeptierten Erscheinung.<br />

Michael Mann selber definiert in seinem<br />

Buch «Sahibs, Sklaven und Soldaten»<br />

als Sklaven einen Menschen, der in<br />

das persönliche Eigentum eines anderen<br />

Menschen übergegangen ist, jederzeit<br />

veräussert werden kann und zur Arbeit<br />

gezwungen ist. Konzeptionell basiere<br />

die Institution Sklaverei «auf dem Ersatz<br />

für einen nicht erlittenen Tod»,<br />

meist im Kriegsfall. Das habe nichts mit<br />

Gnade oder Nächstenliebe zu tun, sondern<br />

diente einzig zur Rekrutierung <strong>von</strong><br />

Arbeitskräften.<br />

In einer kurzen Einleitung schreibt<br />

Mann über Entstehung und Ausbreitung<br />

der Sklaverei, die schon in Mesopotamien<br />

im 2. Jahrtausend vor Christus das<br />

Los der meisten Kriegsgefangenen war.<br />

Sklaverei war auch unter den Juden des<br />

Alten Testaments üblich, und ohne<br />

Heerscharen <strong>von</strong> Sklaven wären Griechen<br />

und Römer nicht in der Lage gewesen<br />

zu erreichen, was sie erreicht haben.<br />

Während aber der Sklavenanteil in der<br />

Antike «nur» 20 Prozent betrug – die<br />

«kritische Masse» um in den Augen des<br />

Autors als Sklavengesellschaft bezeichnet<br />

zu werden –, erreichte er in den Südstaaten<br />

der USA bis 70 Prozent der Gesamtbevölkerung!<br />

In den folgenden Kapiteln wird klar,<br />

dass auch in Südasien solche Sklavengesellschaften<br />

normal waren. Gemäss neueren<br />

Forschungen versorgte das sub-<br />

saharische Afrika nicht nur die Gebiete<br />

rund um das Mittelmeer, die Karibik,<br />

Nordafrika und die beiden Amerikas mit<br />

Menschenmaterial, sondern eben auch<br />

die Anrainerstaaten rund um den Indischen<br />

Ozean. Bereits vorhandene Strukturen<br />

der Sklaverei und des Sklavenhandels<br />

sind laut Mann durch die europäische<br />

Kolonialherrschaft seit dem 16.<br />

24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Jahrhundert aggressiv ausgeweitet und<br />

in das transatlantische Handelssystem<br />

eingebunden worden – eine frühe Form<br />

der globalen Vernetzung. Die Abschaffung<br />

des Menschenhandels 1807 und der<br />

Sklaverei 1834 im Britischen Imperium<br />

hatte einen massiven Aufschwung beider<br />

Phänomene in den anderen Kolonialgebieten<br />

zur Folge, besonders in<br />

Mosambik, Madagaskar und Sansibar. In<br />

Ostafrika und auf der arabischen Halbinsel<br />

dauerte der Sklavenhandel an, zum<br />

Teil sogar mit britischer Unterstützung.<br />

Aufschlussreich sind die Ausführungen<br />

zur Forschungssituation. Sklaverei<br />

und Sklavenhandel sind ausgesprochen<br />

junge Untersuchungsfelder. Umfassende<br />

Gesamtdarstellungen zur Situation<br />

an der afrikanischen Ostküste und in<br />

den arabischen Ländern erschienen erst<br />

in den 1970er Jahren. Weil die britische<br />

Geschichtsschreibung die Sklaverei<br />

rund um den Indischen Ozean als etwas<br />

ganz Anderes betrachtete als diejenige<br />

in Amerika, die entsprechende Bezeichnung<br />

tunlichst vermied und so die Sklaverei<br />

in den Kolonialgebieten überhaupt<br />

in Abrede stellte, fehlten grundlegende<br />

wissenschaftliche Aufarbeitungen bis in<br />

die 80er Jahre. Eine erste monografische<br />

Studie erschien gar erst 1999.<br />

Neuste Forschungen zeigen, dass<br />

Sklaverei und Sklavenhandel keine lokalen<br />

oder regionalen Phänomene waren,<br />

die getrennt <strong>von</strong>einander existierten,<br />

sondern als weltweiter «dynamischer<br />

Bestandteil eines sich (...) in globalen<br />

Bezügen vernetzenden und zunehmend<br />

kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems»<br />

zu betrachten sind. ●<br />

Pressefotografie Als die Welt noch schwarzweiss war<br />

Eine Spur <strong>von</strong> Elvis in der Haartolle, gewagte Jackets<br />

und ein mürrisch-scheuer Blick auf die maskierte<br />

Schöne. Auf dem Maskenball im «Kreuz» in<br />

Schüpfheim ist 1977 die Welt noch in guter Ordnung.<br />

Emanuel Ammons Fotoband «70er» bringt eine Zeit<br />

zurück, als Fotos schwarzweiss waren und Röcke<br />

kurz, als man noch ohne Helm aufs Töffli sass und die<br />

Kinderwagen aussahen wie auf der Bühne bei Emil.<br />

Auch der junge Emil selbst fehlt nicht in dieser<br />

Rückschau des Luzerner Fotografen, ebenso wenig<br />

wie der alte Hans Erni, die 13-jährige Anne Sophie<br />

Mutter oder Guru Maharishi, mit Rolls Royce in<br />

Weggis. Von 1975 an arbeitete Ammon als Pressefotograf<br />

für das «Luzerner Tagblatt», was ihn nicht<br />

nur an die Musikfestspiele und in den Zirkus, sondern<br />

auch zu Schwingfesten, Verkehrsunfällen und<br />

Bränden führte. Verdienstvoll erklärt der Fotograf in<br />

eigenen Bildlegenden, wer da auftrat beim<br />

Punkkonzert in Adligenswil, und wie es kam, dass er<br />

die Rockband Krokus mitten auf der Bühne zwischen<br />

den Musikern stehend ablichten konnte.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Emanuel Ammon: 70er. Pressefotografie. Aura<br />

Fotobuchverlag, Luzern 2011. 256 Seiten, Fr. 86.–.


Konsum Die Schweiz der 50er Jahre – eine Epoche voller Widersprüche<br />

Kühlschrank und Kalter Krieg<br />

Thomas Buomberger, Peter Pfrunder<br />

(Hrsg.): Schöner leben, mehr haben. Die<br />

50er Jahre in der Schweiz im Geiste des<br />

Konsums. Limmat, Zürich 2012.<br />

267 Seiten, Fr. 54.-.<br />

Von Martin Walder<br />

Sie haben keinen guten Ruf: «die langen<br />

Fünfziger», die «falschen Fufziger», die<br />

«bleierne Zeit». Erstickend seien sie<br />

gewesen in ihrer Kultur der Verbote und<br />

des Mittelmasses, bieder im Brötchenduft<br />

der Bäckerei Zürrer, restaurativ,<br />

konformitätssüchtig; erst «68» brachte<br />

die Erlösung eines breiten politischen,<br />

sozialen und mentalen Aufbruchs.<br />

Wer gleich nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

geboren ist, kann das <strong>von</strong> heutiger<br />

Warte aus so sehen und liegt nicht gar<br />

daneben. Interessant nur, dass die eigenen<br />

Erinnerungen an damals dem Befund<br />

teilweise widersprechen und ihn<br />

immer wieder lebhaft unterspülen.<br />

Kribbelnde Ängste<br />

War da nicht auch ein unbesorgt ansteckendes<br />

Gefühl des Aufbruchs, ein<br />

geschenktes Versprechen <strong>von</strong> Zukunft,<br />

eine naiv blühende technische Fortschrittsgläubigkeit,<br />

dass alles machbar<br />

und erreichbar sein würde? Ihr gegenüber<br />

existierte zwar die Angst im Kalten<br />

Krieg vor der totalen atomaren Vernichtung,<br />

sie wurde <strong>von</strong> uns Jugendlichen<br />

aber eher kribbelnd-abstrakt und später<br />

dann (mit Weizsäcker & Co.) auch moralisch<br />

herausfordernd erlebt. Kurz gesagt:<br />

In den Fünfzigern schien die Welt<br />

für einen Heranwachsenden noch eroberbar.<br />

Wie wenig ein pauschales «Fifties-<br />

Bashing» taugt und gerechtfertigt ist,<br />

zeigt anschaulich dieser Bild- und Textband<br />

zu jener Zeit, die sich im Übrigen<br />

nicht strikte ins Korsett einer geraden<br />

Dekade zwängen lässt. Die Fünfziger<br />

fingen bald nach dem Krieg an und<br />

reichten bis in die Hälfte der 60er Jahre<br />

hinein – in der Schweiz vielleicht mit<br />

dem Kulminationspunkt der «Expo 64»<br />

in Lausanne, die nach vorne schaute und<br />

gleichzeitig im Armee-Pavillon die alte<br />

Schweiz nochmals wehrhaft einigelte.<br />

Frauen ohne Stimmrecht<br />

In neun lesenswerten <strong>Essay</strong>s fächert der<br />

Band ein Panorama jener Jahre auf: Eine<br />

glänzende kulturgeschichtliche Analyse<br />

des Phänomens Kühlschrank respektive<br />

moderner Häuslichkeit <strong>von</strong> Beatrice<br />

Schumacher fehlt darin so wenig wie<br />

jene des damals überbordenden Mythos<br />

Auto und des Strassenbaus durch Thomas<br />

Buomberger. Die eklatanten Widersprüche<br />

zwischen weiblichen und<br />

männlichen Rollenbildern und Rollen-<br />

Realität (Stimmrecht!) werden <strong>von</strong> Elisabeth<br />

Joris blossgelegt, die erwachende<br />

Macht der Unterhaltungsindustrie zwischen<br />

Patriotismus und Weltläufigkeit<br />

<strong>von</strong> Edzard Schade und Samuel Mu-<br />

menthaler geschildert, der Einbruch des<br />

«Fremden» aus dem südlichen Nachbarland<br />

<strong>von</strong> Gianni D’Amato untersucht.<br />

Bereits Georg Kohlers Einleitungs-<br />

<strong>Essay</strong> macht unter dem Titel «Konsumglück,<br />

Kalter Krieg und Zweite Moderne»<br />

jenes Phänomen namhaft, <strong>von</strong> dem<br />

die Epoche, wie sich in den Beiträgen<br />

stets <strong>von</strong> neuem zeigt, politisch, kommerziell<br />

und kulturell durchsetzt war:<br />

der Kalte Krieg mit seinem auch das<br />

Selbstverständnis der neutralen Schweiz<br />

stabilisierenden Antikommunismus.<br />

Dieser nahm die Idee der Geistigen Landesverteidigung<br />

der Nazizeit ins erste<br />

Nachkriegsjahrzehnt in Variation herüber.<br />

Der Antikommunismus «als Klammer,<br />

welche die Schweiz zusammenhielt:<br />

Er war Ideologie und Methode»,<br />

Die Werbung in<br />

den 1950er Jahren<br />

pries das Glück des<br />

Besitzes <strong>von</strong> neuen<br />

elektrischen Geräten.<br />

schreibt Benedikt Loderer in seinem<br />

Beitrag zum «Armeereformhaus»<br />

Schweiz und erinnert an die Frage <strong>von</strong><br />

Frischs Stiller: «Was ist, wenn ihnen die<br />

Russen erspart bleiben, ihr eigenes<br />

Ziel?» Ja, was war das eigene Ziel?<br />

Im Befund des «Fortbestands tradierter<br />

Ordnung unter neuen Vorzeichen»<br />

(Beatrice Schumacher) wird einiges <strong>von</strong><br />

der Widersprüchlichkeit der Fünfziger<br />

fassbar. Nicht zuletzt spiegelt sich in<br />

dem schön gemachten Buch die bei aller<br />

Kontinuität «unterschwellige Dynamik»<br />

der Schweizer Fotografie damals auch<br />

im reichen Bildteil, den Peter Pfrunder,<br />

Direktor der Fotostiftung Schweiz, zusammengestellt<br />

hat. Da sind die Fünfziger<br />

gleich wieder zum Riechen und zum<br />

Schmecken nahe. ●<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25


Sachbuch<br />

Umweltschutz Zwei Experten diskutieren über die Zukunft<br />

Nicht weniger als die Energiewende<br />

Klaus Töpfer, Ranga Yogeshwar: Unsere<br />

Zukunft. Ein Gespräch über die Welt<br />

nach Fukushima. C. H. Beck, München<br />

2011. 234 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Von Patrick Imhasly<br />

Als es vor bald einem Jahr im Atomkraftwerk<br />

Fukushima Daiichi zur nuklearen<br />

Katastrophe kam, wurde die japanische<br />

Gesellschaft in ihrem grenzenlosen<br />

Vertrauen in die Technik erschüttert.<br />

Energiepolitische Konsequenzen aus<br />

diesem Unglück zogen dann aber nicht<br />

etwa die Japaner, sondern die Deutschen<br />

und die Schweizer. Deutschland und die<br />

Schweiz beschlossen, definitiv aus der<br />

Kernenergie auszusteigen und stattdessen<br />

vermehrt auf alternative Energiequellen<br />

wie Sonne oder Wind zu setzen.<br />

Das tönt gut, doch wie müssen die<br />

Menschen ihr alltägliches Verhalten ändern,<br />

um die Energiewende möglich zu<br />

machen? Und wie wird die Welt nach<br />

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Fukushima aussehen? In einem Interviewbuch<br />

diskutieren Klaus Töpfer und<br />

Ranga Yogeshwar über Fragen, die viele<br />

<strong>von</strong> uns beschäftigen. Der CDU-Politiker<br />

Klaus Töpfer hat langjährige Erfahrung<br />

in Umwelt- und Energiethemen:<br />

als Minister für Umwelt, Naturschutz<br />

und Reaktorsicherheit unter Helmut<br />

Kohl, später als Exekutivdirektor des<br />

Umweltprogramms der Vereinten Natio<br />

nen und schliesslich als Co-Vorsitzender<br />

der deutschen Ethikkommission<br />

für eine sichere Energieversorgung, die<br />

Angela Merkel nach Fukushima einsetzte.<br />

Der indischstämmige Ranga Yogeshwar<br />

seinerseits war als Nuklearphysiker<br />

tätig, bevor er Wissenschaftsjournalist<br />

wurde und sich einen Namen als Entwickler<br />

und Moderator diverser Formate<br />

im deutschen Fernsehen machte.<br />

Bescheidenere Autos fahren, seltener<br />

fliegen, den persönlichen Energieverbrauch<br />

reduzieren, Solaranlagen auf<br />

dem Hausdach und weg vom grenzenlosen<br />

Konsum: Das sind nur ein paar der<br />

Rezepte, welche die Autoren für eine<br />

neue Gesellschaft propagieren. Denn<br />

diese muss den Strom kompensieren,<br />

der durch den Ausfall der Kernenergie<br />

wegfällt. Ob das klappen kann? «Ich bin<br />

da keineswegs resignativ», sagt Töpfer,<br />

es sei «eine grossartige Chance, die<br />

Energiewende erfolgreich umzusetzen.»<br />

«Wir müssen die Dinge grundsätzlicher<br />

angehen», erklärt demgegenüber Yogeshwar:<br />

«Mit etwas Glück werden wir<br />

in dreissig, vierzig Jahren zur Neujahrzeit<br />

keine Reden mehr hören, in denen<br />

Vokabeln wie ‹Wachstum› vorkommen.<br />

Vielmehr wird es in ihnen um Glück,<br />

Wahlmöglichkeiten, kulturelle Vielfalt<br />

und Freiheit gehen.»<br />

Was Töpfer und Yogeshwar uns erzählen,<br />

ist alles richtig, sympathisch und<br />

muss vielleicht so sein. Schade nur,<br />

klopfen sich die beiden allzu oft gegenseitig<br />

auf die Schultern. Dabei hätten sie<br />

besser kontrovers erörtert, warum die<br />

Energiewende eben doch nicht so einfach<br />

zu schaffen sein wird. ●<br />

Das amerikanische Buch Richard Holbrooke, Gestalter der US-Aussenpolitik<br />

Selten war Trauerarbeit für eine breitere<br />

Öffentlichkeit so fruchtbar wie der<br />

Sammelband The Quiet American.<br />

Richard Holbrooke in the World (Public<br />

Affairs, 383 Seiten), der die Karriere<br />

dieses bedeutenden Diplomaten mit<br />

Beiträgen <strong>von</strong> Weggefährten und anhand<br />

eigener Texte darstellt. Das Buch<br />

macht nicht nur die Verdienste<br />

Holbrookes lebendig, sondern illustriert<br />

auch die Grenzen und Möglichkeiten<br />

der amerikanische Aussenpolitik<br />

seit dem Beginn des Vietnam-Krieges<br />

unter John F. Kennedy. Der Demokrat<br />

Holbrooke war an deren Gestaltung<br />

direkt beteiligt, wenn seine Partei das<br />

Weisse Haus kontrollierte. Republikanische<br />

Regierungen hat er als scharfsinniger<br />

Publizist begleitet, während<br />

er als Banker unter anderem bei der<br />

Credit Suisse tätig war.<br />

Wie die Herausgeber Derek Chollet und<br />

Samantha Power in ihrem Vorwort erklären,<br />

entstand die Idee zu «The Quiet<br />

American» in den Wochen nach<br />

Holbrookes Tod am 13. Dezember 2010.<br />

Zwei Tage zuvor hatte er Hillary Clinton<br />

im US-Aussenministerium über<br />

seine Arbeit als Sonderbeauftragter für<br />

Afghanistan und Pakistan berichtet.<br />

Der 69-Jährige erlitt dabei einen massiven<br />

Herzinfarkt, dem er schliesslich erlegen<br />

ist. Vor seinem Krankenzimmer<br />

und auf der Beisetzung trösteten<br />

Holbrookes Freunde und Kollegen einander<br />

mit Erinnerungen, die nach einem<br />

dauerhaften Gefäss riefen, so die<br />

Herausgeber. Laut Power zählten sie<br />

und Chollet zu den vielen Talenten, die<br />

in Holbrooke einen liebevollen, aber<br />

kritischen Mentor fanden. Power lernte<br />

den Diplomaten als junge Journalistin<br />

Richard Holbrooke<br />

spricht mit einem<br />

Flüchtling im<br />

pakistanischen Lager<br />

<strong>von</strong> Chota Lahore.<br />

Autorin Samantha<br />

Power (unten).<br />

während der Balkankriege kennen. Sie<br />

ist nun zur Menschenrechtsbeauftragten<br />

<strong>von</strong> Barack Obama aufgestiegen.<br />

Chollet war Holbrookes Assistent während<br />

dessen Zeit als UN-Botschafter der<br />

USA Ende der 1990er Jahre.<br />

Trotz der persönlichen Nähe der Autoren<br />

zu ihm bleibt «The Quiet American»<br />

dem Charakter Holbrookes<br />

verpflichtet, der sich durch seinen Ehrgeiz<br />

und seine unverblümte Art in Washington<br />

auch Feinde geschaffen hat.<br />

Wie der ehemalige Staatssekretär<br />

Strobe Talbott schreibt, blieb Holbrooke<br />

deshalb der heiss ersehnte Aufstieg zum<br />

Aussenminister versagt. Auch die Autoren<br />

nehmen kein Blatt vor den Mund<br />

und schildern Holbrookes Eigensinn in<br />

anschaulichen Anekdoten. Dafür mag<br />

das Zitat <strong>von</strong> Henry Kissinger genügen,<br />

der diese vitale Persönlichkeit so beschrieben<br />

hat: «Wenn Richard dich um<br />

MOHAMMAD SAJJAD / AP<br />

etwas bittet, ist es am besten, Ja zu sagen.<br />

Denn sonst wird der Weg <strong>von</strong> einem<br />

Nein zum Ja höchst peinsam.<br />

Absagen akzeptiert er nicht.»<br />

Philosophisch stand Holbrooke dem<br />

Aussenminister republikanischer Präsidenten<br />

durchaus nahe. Wie Kissinger<br />

– allerdings nur <strong>von</strong> der Mutter her –<br />

ein Nachkomme jüdischer Naziflüchtlinge<br />

aus Deutschland, war er ein<br />

hochintelligenter Pragmatiker und<br />

überzeugt <strong>von</strong> der globalen Mission<br />

Amerikas als Ordnungsmacht. Und wie<br />

Kissinger hat Holbrooke fest geglaubt,<br />

Geschichte werde letztlich <strong>von</strong> grossen<br />

Männern gemacht. Talbott lässt keinen<br />

Zweifel daran, dass sein Freund<br />

Richard sich für eine dieser Persönlichkeiten<br />

gehalten hat. Sein grösster Erfolg,<br />

die Beilegung des Balkankonfliktes<br />

in Dayton Ende 1995, hat Holbrooke in<br />

dieser Überzeugung bestätigt.<br />

Wie die «New York Times» in einer ansonsten<br />

lobenden Besprechung anmerkt,<br />

hat der Erfolg amerikanischer<br />

Bombenangriffe auf Serbien Holbrooke<br />

jedoch zu der Illusion verleitet, diese<br />

würden auch im Irak Saddam Husseins<br />

rasch die Ziele Washingtons durchsetzen.<br />

Dabei hat Holbrooke als Co-Autor<br />

der «Pentagon Papers» bereits während<br />

des Vietnamkrieges verstanden,<br />

dass Wunschträume und konfuse Entscheidungsabläufe<br />

auch das mächtige<br />

Amerika in eine Katastrophe führen<br />

können. So haben ihn während seiner<br />

letzten, unvollendeten – und letztlich<br />

wohl unmöglichen – Mission in<br />

Afghanistan ständig Erinnerungen an<br />

Vietnam gequält. ●<br />

Von <strong>Andreas</strong> Mink


Agenda<br />

CLIVE ARROWSMITH / UMLAUT CORPORATION Der jüngste Beatle Naturschützer und Rennsport-Fan<br />

George Harrison (1943–2001) war nicht nur der<br />

jüngste und sympathischste Beatle: Er war auch als<br />

Solokünstler ein vorzüglicher Musiker – und eine<br />

vielfältige Persönlichkeit. Umweltschützer,<br />

leidenschaftlicher Gärtner und zugleich Formel-1-<br />

Fan, Sinnsucher und Filmproduzent für die schräge<br />

Truppe Monty Python. In sich gekehrter Philosoph<br />

und wilder Rock ’n’ Roller. Er tat Entscheidendes für<br />

die Popularität des Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, mit<br />

Bestseller Januar 2012<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu<br />

lieben. C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Michael Theurillat: Rütlischwur.<br />

Ullstein. 381 Seiten, Fr. 26.90.<br />

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag.<br />

Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90.<br />

Paulo Coelho: Aleph.<br />

Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.<br />

Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Alex Capus: Léon und Louise.<br />

Hanser. 314 Seiten, Fr. 24.90.<br />

<strong>Charles</strong> Lewinsky: Gerron.<br />

Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben.<br />

Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50.<br />

Jussi Adler-Olsen: Erlösung.<br />

dtv. 588 Seiten, Fr. 19.90.<br />

Paul Wittwer: Widerwasser.<br />

Nydegg. 400 Seiten, Fr. 39.-.<br />

Sachbuch<br />

1<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Walter Isaacson: Steve Jobs.<br />

Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50.<br />

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 1. 2012. Preise laut Angaben <strong>von</strong> www.buch.ch.<br />

dem er hier posiert, und musizierte mit einem Who Is<br />

Who der Musikszene <strong>von</strong> Eric Clapton bis Bob Dylan.<br />

Olivia Harrison, die seit 1978 mit George verheiratet<br />

war, hat ihrem Mann einen umfassenden Text-Bild-<br />

Band gewidmet, der mit zahlreichen überraschenden<br />

Fotos und Dokumenten aufwartet. Manfred Papst<br />

Olivia Harrison: George Harrison. Living In The<br />

Material World. Knesebeck, München 2011.<br />

399 Seiten, Fr. 53.90.<br />

Guinness World Records 2012.<br />

Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 35.90.<br />

Barney Stinson: Das Playbook.<br />

Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.<br />

Barney Stinson: Der Bro Code.<br />

Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.<br />

Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.<br />

Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Esther Girsberger: Eveline Widmer-<br />

Schlumpf. Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Lisa Marti: Mutanfall.<br />

Wörterseh. 205 Seiten, Fr. 39.90.<br />

Richard D. Precht: Warum gibt es alles und<br />

nicht nichts. Goldmann. 200 Seiten, Fr. 34.50.<br />

Remo H. Largo: Jugendjahre.<br />

Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.<br />

Martin Ott: Kühe verstehen.<br />

Faro. 172 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Agenda Februar 2012<br />

Basel<br />

Dienstag, 7. Februar, 19 Uhr<br />

Barbara Honigmann:<br />

Bilder <strong>von</strong> A. Lesung,<br />

Fr. 17.–. Literatur haus,<br />

Barfüssergasse 3,<br />

Tel. o61 261 29 50.<br />

Donnerstag, 9. Februar, 19 Uhr<br />

Sandra Hughes: Zimmer 307. Lesung,<br />

Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).<br />

Donnerstag, 23. Februar, 19 Uhr<br />

Heiko Haumann: Hermann Diamanski –<br />

Überleben in der Katastrophe. Lesung,<br />

Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).<br />

Bern<br />

Donnerstag, 2. Februar, 19 Uhr<br />

Werner Wüthrich: Frauen Land Frauen.<br />

Lesung, Eintritt frei, inkl. Apéro. Haupt-<br />

Buchhandlung, Falkenplatz 14,<br />

Tel. 031 309 09 09.<br />

Freitag, 17. Februar, 19.30 Uhr<br />

Pedro Lenz: Dr Goalie bin ig. Lesung,<br />

Fr. 20.–. Forum Altenberg, Altenberg -<br />

str. 40, Tel. 031 332 77 60.<br />

Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr<br />

Milena Moser: Montagsmenschen.<br />

Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb,<br />

Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40.<br />

Zürich<br />

Donnerstag, 2. Februar, 20 Uhr<br />

Endo Anaconda: Walterfahren. Lesung,<br />

Fr. 18.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1,<br />

Tel. 044 225 33 77.<br />

Dienstag, 7. Februar, 20 Uhr<br />

Arno Camenisch:<br />

Ustrinkata. Lesung,<br />

Fr. 18.– . Literaturhaus,<br />

Limmatquai 62,<br />

Tel. 044 254 50 00.<br />

Donnerstag, 9. Februar, 20 Uhr<br />

Asli Erdogan. Die türkische Autorin in<br />

Residence im Gespräch. Fr. 18.– inkl.<br />

Apéro. Literaturhaus (s. oben).<br />

Freitag, 10. Februar, 16 Uhr<br />

Albert der Storch. Kinderlesung<br />

mit Claudia Engeler. Für Kinder<br />

<strong>von</strong> 4 bis 8 Jahren. Pestalozzi-Bibliothek,<br />

Zürich-Affoltern, Bodenacker 25.<br />

Info: www.pbz.ch.<br />

Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr<br />

Helen FitzGerald: Tod sei Dank. Lesung,<br />

Fr. 15.–. Kaufleuten (s. oben).<br />

Donnerstag, 23. Februar, 20 Uhr<br />

Sarah Kuttner: Wachstumsschmerz.<br />

Lesung, Fr. 25.–. Komplex 457,<br />

Hohlstrasse 457, Tel. 044 500 00 60.<br />

Bücher am Sonntag Nr. 2<br />

erscheint am 26. 2. 2012<br />

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am<br />

Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange<br />

Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,<br />

8001 Zürich, erhältlich.<br />

29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27<br />

YVONNE BÖHLER MICHA BAR AM / MAGNUM


Freiheit, Recht und Reichtum sind eine direkte Folge staatlicher<br />

Souveränität. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je weniger<br />

Souveränität, desto weniger Reichtum, Recht und Freiheit. Dennoch<br />

wird heute in internationalen Gremien viel über Souveränitätsverzicht<br />

als Mittel zur Mehrung <strong>von</strong> Frieden und Wohlstand diskutiert.<br />

Johannes B. Kunz geht in seinem Buch diesem Widerspruch auf den<br />

Grund und erläutert den Zusammenhang zwischen Souveränität und<br />

Freiheit bzw. Demokratie.<br />

Die staatliche Souveränität sieht er durch die Machtpolitik, die internationalen<br />

Organisationen, den heutigen humanitären Interventionismus<br />

und die Europäische Union gefährdet. Er setzt die Souveränität<br />

in Bezug zur Globalisierung und zeigt Wege auf, wie sie gewahrt<br />

werden kann.<br />

DIE NEUE POLIS GeorgKreis ·Das «Helvetische Malaise»<br />

www.nzz-libro.ch<br />

Das «Helvetische Malaise»<br />

Max Imbodens historischer Zuruf<br />

und seine überzeitliche Bedeutung<br />

GeorgKreis<br />

«Helvetisches Malaise» <strong>von</strong> 1964 gehört zu<br />

den in seiner Zeit am häufigsten zitierten<br />

Schriften. Ihr Ruhm hallt bis heute nach.<br />

Derander Universität Basel lehrende und<br />

als Freisinniger politisierende Professor<br />

fürStaats- und Verwaltungsrecht Max<br />

Imboden setzt sich darin kritisch mit den<br />

Schwächen des politischen Systems der<br />

Schweiz auseinander.Schon damals merkte<br />

er an, dass die Schweiz nicht als autarke Insel<br />

im europäischen Staatengefüge existieren<br />

kann. In der <strong>Neue</strong>dition dieser historischen<br />

Intervention wirdder Text mithilfeerstmals<br />

zugänglicher Tagebuchaufzeichnungen in<br />

den zeitgenössischen Kontext eingeordnet,<br />

im Detail kommentiert und im Lichte der<br />

weiteren Entwicklung bewertet.<br />

[164 Seiten zeitgenössische Politik]<br />

DIE NEUE POLIS<br />

Verlag <strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> Zeitung<br />

2011. 164 Seiten, 7s/w Abbildungen.<br />

Fr. 24.– / € 21.–<br />

10CFWMMQ6DMBAEX3TW7tpnuFyJ6BAFoncTpc7_q0A6ii1mNNptSy_4b1n3cz2SQHOjB6vSw4umnrNU0OYEKYF6IQTJux69gdEr6ribC4waCGNY7UMNg7ofLsfQVL7vzw9_1Lk_gAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TU0tTQ0NgIA9MxGoQ8AAAA=<br />

2011. 400 Seiten, 5Grafiken.<br />

Fr. 58.– / € 50.–<br />

Max Imbodens Buch «Helvetisches Malaise» hat 1964 für heftige<br />

Diskussionen gesorgt. Es diagnostizierte der schweizerischen Politik<br />

u. a. Isolationismus, Sloganisierung und Verdrossenheit beim Wahlund<br />

Stimmvolk. In Intellektuellenvoten fällt das Schlagwort<br />

«helvetisches Malaise» seither regelmässig, obwohl zu vermuten ist,<br />

dass nicht alle den wegweisenden Text noch präsent haben.<br />

Jetzt kann Abhilfe geschaffen werden. Georg Kreis hat Imbodens<br />

Text mit Kommentaren und Hinweisen zur Wirkungsgeschichte neu<br />

herausgegeben.

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