Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...
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Belletristik<br />
Klassiker Edith Whartons Porträt einer verhinderten<br />
Künstlerin liegt in der deutschen Erstübersetzung vor<br />
Zeiten der Unschuld<br />
Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson<br />
River. Aus dem Amerikanischen <strong>von</strong><br />
Andrea Ott. Manesse, München 2011.<br />
624 Seiten, Fr. 36.90.<br />
Von Pia Horlacher<br />
Jane Austen, Henry James, Edith Wharton<br />
– hätte man vor der Jahrtausendwende<br />
eine Prophezeiung gewagt, welche<br />
Art <strong>von</strong> Literaturverfilmungen auf<br />
das 21. Jahrhundert einstimmen würden,<br />
so wäre man wohl zuletzt auf diese<br />
Namen gestossen. Doch Zufall war es<br />
nicht. Nachdem Martin Scorsese 1993<br />
Whartons «The Age of Innocence», dieses<br />
Sittengemälde aus dem Goldenen<br />
Zeitalter New Yorks, zu einem Meisterwerk<br />
der Leinwand adaptiert hatte,<br />
ahnte man es: Scheinbar altmodische Literatur<br />
kann aktuelle Zeitfragen schärfer<br />
ausleuchten als vieles, was <strong>von</strong> Zeitgenossen<br />
produziert wird. Die Geschichte<br />
<strong>von</strong> der kapitalistischen Gier und deren<br />
Verheerungen wiederholt sich.<br />
Die <strong>Neue</strong>ngländerin aus bestem Haus<br />
mit dem unbestechlichen ethnologischen<br />
Blick auf ihre eigene Gesellschaft,<br />
begann erst mit vierzig zu schreiben –<br />
aus einer unglücklichen Ehe heraus, die<br />
sie oft auf Reisen trieb. Vor allem nach<br />
Europa; in Frankreich liess sie sich nach<br />
ihrer Scheidung nieder, dort liegt sie begraben.<br />
Beides, ihr Unglück und ihre<br />
Weltläufigkeit, sollte ihr viel Stoff bieten<br />
für Romane, die das Ersticken in der<br />
Enge und den Selbstverlust in der Flucht<br />
thematisieren. Vor allem aber den Untergang<br />
einer Gesellschaft, die zwischen<br />
müder Dekadenz und rasender Gier dahinsiecht<br />
und schliesslich in der grossen<br />
François Villon: Das Kleine und das Grosse<br />
Testament. Aus dem Französischen,<br />
mit einem Nachwort <strong>von</strong> Frank-Rutger<br />
Hausmann. Reclam, Leipzig 2011.<br />
145 Seiten, Fr. 11.90.<br />
Von Stefana Sabin<br />
Spätestens durch Brechts Refrain zu<br />
«Nannas Lied» (1939) ist die Frage «Wo<br />
ist der Schnee vom vergangenen Jahr?»<br />
sprichwörtlich geworden. Diese Frage<br />
hatte sich Brecht bei dem bedeutendsten<br />
Dichter des französischen Spätmittelalters<br />
geliehen, nämlich bei François<br />
Villon, dem Meister des parodistischsozialkritischen<br />
Gedichts.<br />
Villons Identität ist – wie diejenige<br />
Shakespeares – unklar. Er soll 1431 in<br />
Paris geboren und Anfang 1463, nach<br />
einem abenteuerlichen Leben, ver-<br />
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />
Depression <strong>von</strong> Börsen und Individuen<br />
zerfallen wird.<br />
So auch in ihrem Spätwerk aus dem<br />
Jahr 1929. Im alten Haus am Fluss, das<br />
unbewohnt, aber voller Geister der Erinnerung<br />
vor sich hinmodert, treffen<br />
sich zwei Sprösslinge, die aus parallelen<br />
Welten flüchten. Vance Weston, empfindsamer<br />
Sohn eines erfolgreichen Immobilienhändlers<br />
aus dem Mittleren<br />
Westen, und Halo Spear, intelligente<br />
Tochter einer verarmenden Bildungsbürgerfamilie<br />
aus der Oberschicht New<br />
Yorks. Im alten Haus, im Schatten reich<br />
bestückter Bücherwände und einer untergehenden<br />
Kultur des Geistes entfaltet<br />
sich eine Seelenverwandschaft und eine<br />
noch unerkannte Liebe, die selbst literarische<br />
Früchte tragen wird.<br />
Inspiriert <strong>von</strong> dieser exotischen Lebenswelt<br />
mausern sich Vances vage<br />
künstlerische Ambitionen zur ernsten<br />
Schriftstellerei; gleich sein erster Roman<br />
wird zum Überraschungserfolg. Halo,<br />
seine Türöffnerin in die literarische Gesellschaft<br />
der Ostküste, seine Muse,<br />
seine Lektorin und der eigentliche kreative<br />
Motor, muss es ihrem Geschlecht<br />
gemäss bei der Inspiration und der Arbeit<br />
im Hintergrund bewenden lassen.<br />
Der finanzielle Niedergang ihrer Familie<br />
drängt sie zum Opfer einer Heirat<br />
mit einem reichen Verehrer, in der sie<br />
zunehmend an Lebenskraft verliert.<br />
Das Unglück der beiden nimmt seinen<br />
Lauf. Am Ende dieser «Zeit der Unschuld»<br />
schwinden Vances Illusionen<br />
dahin im jahrelangen Lavieren zwischen<br />
Überheblichkeit und Opportunismus,<br />
zwischen «unmoralisch» in der Werbung<br />
verdientem Geld und bitterer<br />
Armut, während Halos Jugend und Ta-<br />
Die amerikanische<br />
Erzählerin Edith<br />
Wharton erhielt 1921<br />
den Pulitzer-Preis.<br />
Ballade François Villons Vermächtnis in einer frechen und geschmeidigen Neufassung<br />
Ein Vorbild der derben Sozialkritik<br />
schwunden sein. Lange hat man seine<br />
Gedichte autobiografisch gedeutet, aber<br />
inzwischen hat sich die These durchgesetzt,<br />
dass ein Pariser Jurist sich den<br />
Namen des Gauners François Villon zu<br />
eigen machte, um Justiz- und Institutionenschelte<br />
scharfzüngig zu versifizieren.<br />
Wer auch immer Villon war – seine<br />
Frechheit und sein Sprachwitz wurden<br />
traditionsbildend. Die französischen<br />
Symbolisten sahen in ihm den «poète<br />
truand» als Vorläufer des «poète maudit»,<br />
und für die deutschen Expressionisten<br />
wurde die derbe Sozialkritik vorbildlich.<br />
Als Villons Hauptwerk gelten die beiden<br />
«Testamente»: Es sind Gedichtzyklen,<br />
in denen das lyrische Ich ein Vagabund<br />
ist, der sein Leben am Rande der<br />
Gesellschaft beschreibt, über die Pariser<br />
Honoratioren herzieht und die Unmöglichkeit<br />
der reinen Liebe beklagt. «Das<br />
lent in der Düsternis einer traditionellen<br />
Ehe zusehends verblüht. So etwas<br />
wie ein «unhappy Happyend» zeichnet<br />
sich ab – 1932, wird Wharton die Fortsetzung<br />
der Geschichte präsentieren.<br />
Vordergründig ist das ein klassisches<br />
«portrait of the artist as a young man»,<br />
hintergründig das rare Porträt einer jungen<br />
Frau als verhinderte Künstlerin.<br />
Eingebettet in ein Tableau <strong>von</strong> Figuren,<br />
die sich zu einer zeitlosen Satire auf die<br />
Moden und Heucheleien des Kultur-<br />
und Literaturbetriebes versammeln, repräsentieren<br />
die beiden jungen Menschen<br />
eine Epoche der Verschiebungen<br />
zwischen alten und neuen Welten, wie<br />
sie uns, eine Jahrhundertwende später,<br />
durchaus vertraut scheinen. ●<br />
kleine Testament» verbindet Parodien<br />
höfischer Liebeslyrik mit satirischen Legaten<br />
an Amts- und Würdeträger. Nicht<br />
zuletzt die Politikerschelte, die darin<br />
steckt, macht die Verse bis heute aktuell.<br />
«Das grosse Testament» enthält selbstreflexive,<br />
elegische und satirische Verse,<br />
in die ausgeformte Balladen eingestreut<br />
sind – darunter die «Ballade der Frauen<br />
<strong>von</strong> einst», deren Refrain Brecht für<br />
«Nannas Lied» benutzte.<br />
Villons «Testamente» sind voller<br />
Anspielungen auf damalige Ereignisse<br />
und Figuren und in höchstem Mass<br />
sprachspielerisch, so dass Übersetzungen<br />
zum philologisch-ästhetischen<br />
Abenteuer werden. Darauf hat sich<br />
der Freiburger Romanist Frank-Rutger<br />
Hausmann eingelassen und eine rhythmisierte<br />
deutsche Fassung geschaffen,<br />
die die Frechheit und die Geschmeidigkeit<br />
des Originals erhält. ●<br />
LEBRECHT MUSIC & ARTS