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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...

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Belletristik<br />

Roman Zum 80. Geburtstag Aharon Appelfelds erscheint sein neues autobiografisches<br />

Buch. Darin beschwört er die jüdische Vergangenheit und Israels Gegenwart<br />

<strong>Neue</strong> Melodien in<br />

einer alten Sprache<br />

Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht<br />

aufhörte zu schlafen. Aus dem<br />

Hebräischen <strong>von</strong> Mirijam Pressler.<br />

Rowohlt, Berlin 2012. 285 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Von Christoph Plate<br />

Als Hebräisch zu seiner neuen Muttersprache<br />

wurde, wäre er fast verstummt.<br />

Weil er immer noch auf Deutsch und<br />

Jiddisch dachte und weil sie ihn zwangen,<br />

die neue Sprache zu benutzen.<br />

Heute, 66 Jahre nach seiner Ankunft in<br />

diesem Land, mag er Hebräisch. Die<br />

Sprache ist alt, voller Bilder, und sie lebt,<br />

auch wenn geschwiegen wird.<br />

Es ist laut. Wir sitzen im Restaurant<br />

des Tichu-House, einer Galerie im Zentrum<br />

Jerusalems. Die jungen Frauen am<br />

Nachbartisch, leicht übergewichtig und<br />

etwas zu stark geschminkt, sind so lärmig,<br />

dass Aharon Appelfeld immer wieder<br />

einmal sanft strafend hinüberschaut.<br />

Dann essen wir weiter, schauen uns an,<br />

reden, bis die Frauen nebenan wieder<br />

laut werden. Vor über 50 Jahren war der<br />

heute 80-Jährige zum ersten Mal hier.<br />

Der Philosoph Martin Buber brachte ihn<br />

ins Haus <strong>von</strong> Anna Tichu, der malenden<br />

Frau eines Wiener Augenarztes. «Freitags<br />

gab es Apfelstrudel mit Sahne und<br />

Kaffee, zwei Dutzend Intellektuelle<br />

waren da, ich war zu schüchtern, um<br />

auch nur etwas zu sagen», erklärt Appelfeld.<br />

Er zeigt die breiten Ledersessel,<br />

in denen sie damals sassen.<br />

Kandidat für den Nobelpreis<br />

Heute gehört das Haus der Museumsgesellschaft,<br />

Appelfeld kommt gern<br />

hierher, plaudert mit den Sicherheitsleuten<br />

am Eingang, und die Serviertöchter<br />

begegnen ihm mit einer Ehrfurcht,<br />

als wüssten sie, dass dieser Mann mit<br />

der blauen Schiebermütze auf dem kahlen<br />

Schädel immer wieder ein Kandidat<br />

für den Literaturnobelpreis ist.<br />

Sein neues, bei Rowohlt auf Deutsch<br />

erschienenes Buch «Der Mann, der<br />

nicht aufhörte zu schlafen» ist eine<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />

Eloge auf das Leben, eine Danksagung<br />

an seine Eltern und ein Zeugnis da<strong>von</strong>,<br />

wie jemand sich eine neue Sprache erkämpfen<br />

muss. Zuhause in Czernowitz<br />

sprach man in der assimilierten jüdischen<br />

Familie Deutsch. Paul Celan<br />

wohnte in der gleichen Strasse. Damals<br />

war Czernowitz Schnittstelle zwischen<br />

Ost und West, heute liegt es vergessen<br />

im Südwesten der Ukraine, nahe der<br />

Grenze zu Rumänien.<br />

Träumt Appelfeld <strong>von</strong> seinen Eltern<br />

– die Mutter wurde <strong>von</strong> rumänischen<br />

Faschisten erschossen, der Vater überlebte<br />

den Holocaust und emigrierte<br />

nach Jahren in der Sowjetunion nach Israel<br />

–, dann spricht er das Deutsch eines<br />

8-Jährigen. Im Traum ist Aharon aber<br />

schon erwachsen, und der Vater macht<br />

sich lustig über dessen Kinderdeutsch.<br />

Zur Mutter sagt er: «Mama, ich habe<br />

eine neue Sprache.» Appelfeld teilt sein<br />

Aharon Appelfeld<br />

Geboren wurde Aharon Appelfeld am<br />

16.2.1932 in der Nähe <strong>von</strong> Czernowitz<br />

(damals Rumänien, heute Ukraine). Er<br />

wuchs in einem gut bürgerlichen Haushalt<br />

auf. Damals hiess er noch Erwin. Erst<br />

der Holocaust habe ihn zum Juden gemacht,<br />

sagt er. Er musste den Mord an<br />

seiner Mutter miterleben, wurde mit dem<br />

Vater zusammen ins Ghetto gesperrt und<br />

schlug sich später alleine bis nach Italien<br />

durch. Von dort gelang er 1946 nach Palästina.<br />

Diese traumatischen Erlebnisse<br />

sind die Triebfeder seines Schaffens.<br />

Seine Muttersprache war Deutsch, heute<br />

ist die für ihn wichtigste Sprache Hebräisch.<br />

Er arbeitete <strong>von</strong> 1975 bis 2001 als<br />

Literaturprofessor an der Ben Gurion<br />

Universität in Beerscheba. Zu seinen<br />

gros sen Romanen gehören: «Blumen der<br />

Finsternis», «Bis der Tag anbricht» und<br />

«Elternland». Für «Der eiserne Pfad»<br />

wurde er 1999 mit dem National Jewish<br />

Book Award ausgezeichnet.<br />

Croissant und strahlt zufrieden. Er<br />

trinkt koffeinfreien Kaffee, der aus<br />

einem altmodischen Tassenfilter tröpfelt.<br />

Dann bestellt er eine Gemüsesuppe,<br />

Osteuropäer liebten doch Suppen, obwohl<br />

diese hier längst nicht so gut sei,<br />

wie die im Café Sprüngli am Paradeplatz<br />

in Zürich.<br />

In «Der Mann, der nicht aufhörte zu<br />

schlafen» geht es um vieles. Um die<br />

Suche nach einer Melodie in der Sprache,<br />

um das Bewusstsein für die eigene<br />

Geschichte und die Bedeutung des Sich-<br />

Erinnerns, um die eigene Position in der<br />

Gegenwart zu bestimmen. Seit einigen<br />

Jahren bekommt Appelfeld Briefe <strong>von</strong><br />

israelischen Lesern, die schreiben, sie<br />

hätten ihre Eltern oder Grosseltern nie<br />

nach dem jüdischen Leben in Osteuropa<br />

und nach dem Holocaust gefragt.<br />

«Meine Bücher würden ihnen diese untergegangene<br />

Welt des Judentums, ihre<br />

Gerüche und Schönheit nahe bringen.»<br />

Liest er diese Briefe, zittert er manchmal<br />

vor Aufregung und Last. Ihm wird da<br />

eine Rolle zugedacht, die er gar nicht<br />

annehmen mag. Lange wurde Appelfeld<br />

vom literarischen Establishment gescholten,<br />

weil er keinen Agitprop<br />

schrieb, sondern die Geschichte jener<br />

erzählte, die nach dem Holocaust aus<br />

Europa nach Palästina gekommen<br />

waren. Das passte nicht nach Israel.<br />

Appelfeld hat damals festgestellt, dass<br />

«man als assimilierter Jude Weltbürger<br />

ist, während man als Israeli schnell provinziell<br />

wird».<br />

«Der Mann, der nicht aufhörte zu<br />

schlafen» ist ein autobiografischer<br />

Roman, wobei jedes seiner Bücher auch<br />

den Aharon Appelfeld zu enthalten<br />

scheint, der früher Erwin hiess. Aharon<br />

wurde in Czernowitz als Erwin geboren,<br />

als er mit ukrainischen Banditen<br />

umherzog, nannte er sich Janosch.<br />

Appelfeld ist überzeugt, dass jede Art<br />

<strong>von</strong> Äusserung eine Verstellung sei, die<br />

Literatur aber eine der am wenigsten<br />

verstellten Äusserungen. Es sind dies<br />

Erinnerungen, wie sie einige auch schon<br />

in seinem Buch «Die Geschichte eines

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