Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid - Neue Zürcher ...
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Belletristik<br />
Roman Das preisgekrönte Werk <strong>von</strong> Youssef Ziedan<br />
erzählt vom bewegten Leben eines Geistlichen aus dem<br />
fünften Jahrhundert<br />
Stachel im Fleisch<br />
eines christlichen<br />
Mönchs<br />
Youssef Ziedan: Azazel. Aus dem<br />
Arabischen <strong>von</strong> Larissa Bender.<br />
Luchterhand, München 2011. 448 Seiten,<br />
Fr. 32.90.<br />
Von Susanne Schanda<br />
Schon der Titel ist für die religiöse Leserschaft<br />
eine Provokation: «Azazel»<br />
heisst im Alten Testament wie im Koran<br />
Satan, gefallener Engel oder auch Sündenbock.<br />
Er spielt die treibende Rolle in<br />
Youssef Ziedans preisgekröntem Roman<br />
und ist zugleich der Stachel im Fleisch<br />
des ägyptischen Mönchs Hypa. Ketzerisch<br />
fragt Azazel den <strong>von</strong> Glaubenszweifeln<br />
gepeinigten Mönch: «Hat Gott<br />
den Menschen erschaffen oder umgekehrt?»<br />
Der Autor Youssef Ziedan beschäftigt<br />
sich als Philosoph, Sufismus-Forscher<br />
und Direktor der Handschriftenabteilung<br />
der Bibliothek <strong>von</strong> Alexandria seit<br />
Jahrzehnten mit alten Schriften. Nach<br />
etlichen wissenschaftlichen Büchern<br />
hat er für seinen zweiten Roman «Azazel»<br />
2009 den Arabischen Bookerpreis<br />
erhalten. In Ägypten löste der Roman<br />
einen Sturm der Entrüstung aus und<br />
wurde zum Bestseller. Mehrere Bischöfe<br />
der Koptisch-Orthodoxen Kirche warfen<br />
Ziedan vor, den christlichen Glauben<br />
zu verunglimpfen, sprachen ihm als<br />
Muslim das Recht ab, über das Christentum<br />
zu schreiben, und forderten ein<br />
Verbot des Buches – erfolglos.<br />
Löste Kontroverse aus<br />
Auch muslimische Geistliche ereifer ten<br />
sich über den Roman, in dem ein junger<br />
Mönch zwischen der asketischen Hingabe<br />
an den Glauben und seinen körperlichen<br />
Begierden hin und her gerissen<br />
wird. Zwar hat die Kontroverse dem<br />
Buch zusätzliche Popularität verschafft.<br />
Dennoch bedauert der Autor im Gespräch<br />
die Angriffe: «Es ist absurd, mir<br />
vorzuwerfen, dass ich das Christentum<br />
schlecht mache. Mein Roman richtet<br />
sich gegen keine Kirche, sondern gegen<br />
die Haltung, im Namen der Religion<br />
Gewalt auszuüben. Er thematisiert das<br />
Menschsein in seiner Vielfalt <strong>von</strong> Fühlen,<br />
Denken, Glauben, Zweifeln und<br />
Sehnen.»<br />
Youssef Ziedan hat seine Geschichte<br />
in der frühchristlichen Zeit in Ägypten,<br />
Palästina und Syrien angesiedelt, als die<br />
Kirche <strong>von</strong> theologischen Kontroversen<br />
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012<br />
und Machtkämpfen erschüttert wurde.<br />
Erzähler ist der Mönch Hypa, angetrieben<br />
<strong>von</strong> Azazel, einer schillernden, lockenden<br />
sowie irritierenden Figur, die<br />
er zuerst entrüstet zum Schweigen bringen<br />
will, schliesslich aber als innere<br />
Stimme erkennt. Auf 30 Pergamentrollen<br />
schreibt er seine Erinnerungen nieder,<br />
gequält <strong>von</strong> Schuldgefühlen und um<br />
seinen Glauben ringend. Hypa stammt<br />
aus einem Dorf im südlichen Ägypten,<br />
wo an der Schwelle zum fünften Jahrhundert<br />
noch der Glaube an die alten<br />
ägyptischen Götter herrscht. Als junger<br />
christlicher Mönch studiert er Medizin<br />
und bricht dann auf gegen Norden. Im<br />
kosmopolitischen und intriganten Alexandria<br />
lässt er sich <strong>von</strong> der schönen Oktavia<br />
zur Lust verführen und beinahe um<br />
den Verstand bringen. Als mindestens<br />
so sündhaft gelten der Kirche allerdings<br />
die Vorträge der heidnischen Philosophin,<br />
Astronomin und Mathematikerin<br />
Hypatia, denen er fasziniert lauscht.<br />
Entsetzt und machtlos muss er mit ansehen,<br />
wie die Gelehrte <strong>von</strong> einem christlichen<br />
Mob angegriffen und zu Tode<br />
geschleift wird.<br />
Brennend aktuell<br />
Der Schock dieser Gewalttat im Namen<br />
des Christentums wird zum Wendepunkt,<br />
vertreibt ihn aus Alexandria, vorerst<br />
nach Jerusalem und <strong>von</strong> dort weiter<br />
in ein abgelegenes Kloster auf einem<br />
Hügel nördlich <strong>von</strong> Aleppo. Hier will er<br />
sich nach seiner abenteuerlichen Wanderschaft<br />
mit nur 33 Jahren der Welt entziehen,<br />
sich dem Studium und seinem<br />
Kräutergarten widmen und als Arzt den<br />
notleidenden Menschen helfen. Doch es<br />
kommt anders.<br />
Der Roman erzählt die Ereignisse<br />
nicht chronologisch, sondern folgt den<br />
Erinnerungssprüngen des Mönches. Gerade<br />
dessen innere Auseinandersetzung<br />
lässt uns als Lesende mitfiebern und<br />
atemlos weiterblättern, als würde sich<br />
das Geschehen hier und jetzt vor unseren<br />
Augen abspielen. Youssef Ziedan<br />
erzählt auf der Folie der Geschichte<br />
einen modernen Entwicklungsroman<br />
<strong>von</strong> brennender Aktualität. Ein Vergleich<br />
mit dem amerikanischen Thriller<br />
«Da Vinci Code» bietet sich an, greift<br />
aber zu kurz. «Azazel» ist keine leichte<br />
Kost, sondern ein philosophischer<br />
Roman, der sich mit arabischer Theologie,<br />
Moral und der Selbstverantwortung<br />
des Einzelnen auseinandersetzt. Er ist<br />
Youssef Ziedan sucht<br />
in seinem Roman nach<br />
dem Licht im Dunkeln.<br />
Koptischer Mönch<br />
im Kloster <strong>von</strong> Wadi<br />
Natrun in Ägypten.<br />
«mit Blut, Schweiss und Tränen geschrieben»,<br />
wie der Autor sagt. Umso<br />
mehr freut es ihn, dass der Roman gerade<br />
bei jungen Lesern so gut ankommt. In<br />
Ägypten hat inzwischen sein jüngster<br />
historischer Roman das Buch «Azazel»<br />
<strong>von</strong> der Spitze der Bestsellerlisten verdrängt.<br />
Der Autor wird bei seiner Arbeit<br />
<strong>von</strong> einem aufklärerischen Impuls getrieben:<br />
«Ich habe bereits 55 Bücher geschrieben,<br />
und immer mit dem Anspruch,<br />
Licht ins Dunkel zu bringen,<br />
Verständnis für unser kulturelles Erbe<br />
zu wecken.» Sein Arbeitsplatz, die geschichtsträchtige<br />
Bibliothek <strong>von</strong> Alexandria,<br />
wurde einst <strong>von</strong> Cäsar angezündet<br />
und vor rund zehn Jahren in Zusammenarbeit<br />
mit der Unesco wieder errichtet,<br />
mit Blick aufs Mittelmeer.<br />
«Wozu haben wir die Bibliothek wieder<br />
aufgebaut, wenn nicht, um aufzuklären?»<br />
fragt Youssef Ziedan. ●<br />
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