neuland - Journalisten Akademie
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Vienmer uz priekšu!<br />
Man darf nicht aufgeben: Viele Letten arbeiten bis ins hohe Alter,<br />
weil die Renten zum Leben nicht ausreichen<br />
Kim Selle<br />
96 Lati und 60 Santimes. Umgerechnet<br />
110 Euro im Monat beträgt die durchschnittliche<br />
Altersrente eines Letten.<br />
Unmöglich, von so wenig Geld zu leben.<br />
Die Rentner in Riga verdienen sich mit<br />
Blumen, Musik und Tanz den Lebensunterhalt<br />
im Alter.<br />
Anna nimmt einen Strauß roter Sommerblumen<br />
aus dem Plastikeimer und reicht<br />
ihn der Kundin. „50 Santimes, bitte“, sagt<br />
sie auf Russisch, nimmt das Geldstück<br />
entgegen und legt es sorgfältig in eine<br />
Holzschachtel auf dem Klapptisch, der<br />
neben ihr auf dem Bürgersteig aufgebaut<br />
ist. Es ist 12 Uhr mittags und der vierte<br />
Blumenstrauß, den Anna heute verkauft.<br />
Sie strahlt. Ihre weißgrauen Haare<br />
hat sie unter einer Strickmütze versteckt.<br />
Anna sitzt aufrecht auf einem Holzhocker<br />
an der Raina bulva-ris, dem Königinnen-<br />
Boulevard, einer der Vorzeigestraßen im<br />
Zentrum von Riga. Sie ist 71 Jahre alt.<br />
Drei Mal in der Woche verkauft sie ihre<br />
Blumen, von vier Uhr morgens bis acht<br />
Uhr am Abend.<br />
So wie Anna geht es vielen Rentnern in<br />
Lettland. Mehr als drei Viertel von ihnen<br />
leben unter dem Existenzminimum.<br />
Sie müssen mit weniger als 150 Euro im<br />
Monat auskommen.<br />
In der modernen, herausgeputzten Innenstadt<br />
von Riga sieht man sie deswegen<br />
überall: Rentner, die mit Reisigbesen<br />
die Straßen kehren, Autos auf<br />
Parkplätzen bewachen, die Fahrkarten im<br />
Bus kontrollieren, die Obst und Gemüse,<br />
Schmuck, selbst gestrickte Socken oder<br />
Blumen verkaufen.<br />
Anna hat ihre Blumen im eigenen Garten<br />
gepflückt. Der liegt 15 Kilometer<br />
von Riga entfernt auf dem Land, hinter<br />
ihrem Haus. Dort gibt es kein fließendes<br />
Wasser, keine Heizung, keinen Ofen. Im<br />
Winter zieht sie zu Freunden in die Stadt,<br />
die lettischen Winter sind kalt. Ihre Rente,<br />
110 Euro im Monat, reicht kaum für<br />
Essen und Trinken. Wenn sie Glück hat<br />
und das Wetter gut ist, verdient Anna<br />
Von 110 Euro Rente kann Anna (71) nicht leben<br />
mit dem Verkauf ihrer Blumen bis zu 15<br />
Euro am Tag. 260 Euro im Monat, wenn<br />
sie alles zusammenrechnet. Sie beklagt<br />
sich nicht.<br />
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
war sie von Russland nach Riga gekommen,<br />
weil sie sich hier eine bessere Zukunft<br />
versprach. Früher, vor der Wende,<br />
hat sie in einer Fabrik für Raumfahrtzubehör<br />
gearbeitet und kleine Metall-Chips<br />
für Raumsonden zusammengelötet. „Das<br />
war eine gute Zeit, da habe ich viel<br />
verdient, konnte Freunde einladen und<br />
festliches Essen kochen“, erinnert sie<br />
sich. Heute kommt ihr Sohn ab und zu<br />
vorbei, um ihr Geld zu geben. Aber Anna<br />
will keine Hilfe. „Man muss selbst etwas<br />
tun, damit man etwas bekommt“, sagt<br />
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