Jahresbericht 2008 (PDF, 1 MB) - Integrierte Psychiatrie Winterthur ...
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Ist Depression weiblich?<br />
Bei Frauen wird mindestens doppelt so häufig eine de-<br />
pressive Störung diagnostiziert wie bei Männern. Es gibt<br />
unterdessen eine Vielzahl von Erkenntnissen, die versu-<br />
chen, diesen «gender gap» zu erhellen. Man ist sich heu-<br />
te einig, dass biologische und psychosoziale Faktoren ei-<br />
nerseits und eine Unterdiagnostizierung der männlichen<br />
Depression andererseits für den markanten Unterschied<br />
verantwortlich sind.<br />
Die hormonellen Veränderungen in Pubertät, Schwanger-<br />
schaft, nach der Geburt und während der Wechseljahre<br />
stellen hohe Anforderungen an die Integrationsfähigkeit<br />
der Frau und machen anfällig für Krisen und die Ent-<br />
wicklung von Krankheitssymptomen. Dabei spielen eine<br />
genetische Belastung in Bezug auf Depression, depres-<br />
sive Episoden in der Vorgeschichte und die jeweils indi-<br />
viduelle psychische Anfälligkeit für hormonelle Schwan-<br />
kungen eine wesentliche Rolle. Es gilt als umstritten, ob<br />
eine Schwangerschaft – wie früher angenommen – einen<br />
positiven Einfluss auf eine psychische Erkrankung und<br />
sogar eine protektive Wirkung hat. Man kann aber davon<br />
ausgehen, dass in der Schwangerschaft kein erhöhtes<br />
Risiko einer Erkrankung besteht im Vergleich zu ande-<br />
ren Lebensabschnitten einer Frau. Nach der Entbindung<br />
gibt es dagegen ein relevantes Erkrankungsrisiko, sowohl<br />
für gesunde Frauen – im Sinne einer erhöhten Anfällig-<br />
keit nach einem bedeutenden Lebensereignis im Zusam-<br />
menwirken mit den ausgeprägten hormonellen Verände-<br />
rungen – als auch im Sinne eines Rückfallrisikos für alle<br />
vorbestehenden psychischen Störungen.<br />
Frauenspezifische und psychosoziale Faktoren<br />
Während der Menopause gilt ein erhöhtes Depressions-<br />
risiko signifikant für die Zeit der sogenannten Perimeno-<br />
pause, wenn die Hormonniveaus zu schwanken beginnen<br />
und sich Zyklusunregelmässigkeiten und andere typische<br />
klimakterische Beschwerden bemerkbar machen. Nach<br />
überstandener Umstellungsphase sinkt das Depressions-<br />
risiko. Neben diesen frauenspezifischen Umstellungspha-<br />
sen gibt es eine Reihe weiterer, vor allem psychosozialer<br />
Faktoren, die für die doppelt so hohen Vorkommen ver-<br />
antwortlich gemacht werden. Stichwort in diesem Zusam-<br />
menhang ist die geschlechtsspezifische Erziehung und<br />
Sozialisation von Knaben und Mädchen: Mädchen wer-<br />
den eher zu gelernter Hilflosigkeit mit geringem Selbst-<br />
vertrauen erzogen. Ausserdem sind Frauen einem grös-<br />
seren psychosozialen Stress ausgesetzt – dies durch den<br />
unterschiedlichen sozialen Status sowie durch die multi-<br />
plen, sich miteinander konkurrierenden Rollen als Mut-<br />
ter, Ehefrau, Geliebte, Tochter, Berufsfrau usw. Dadurch<br />
haben Frauen weniger geregelte Freizeit und sind mit<br />
mehrfachen Belastungen aus diesen Beziehungen kon-<br />
frontiert. Auch sind Frauen häufiger Opfer von körper-<br />
licher und sexueller Gewalt, was das Depressionsrisiko<br />
ebenfalls ansteigen lässt.<br />
Und die Männer?<br />
Heute geht man auch bei den Männern von einem hö-<br />
heren Auftreten depressiver Erkrankungen aus. Man<br />
vermutet eine krasse Unterdiagnostizierung und folg-<br />
lich auch Unterbehandlung der männlichen Depression.<br />
Ein Argument für diese Behauptung findet man beim Be-<br />
trachten der um ein Mehrfaches höheren Suizidrate bei<br />
Männern (3,5-mal höher als bei Frauen in der Schweiz<br />
im Jahr 2000). Geht man gleichzeitig davon aus, dass ca.<br />
70 Prozent der Suizide als Folge depressiver Störungen<br />
begangen werden, zweifelt man an den bestehenden Prä-<br />
valenzzahlen. Gründe für die Unterdiagnostizierung sieht<br />
man darin, dass Männer seltener Hilfe suchen, Stress<br />
oft dysfunktional verarbeiten (Stichwort Suchtmittelkon-<br />
sum statt Sport), aber auch im Rollenstereotyp der Di-<br />
agnostizierenden, die bei Männern weniger depressive<br />
Symptome erwarten. Als zusätzliche Leitsymptome der<br />
männlichen Depression gelten heute als empirisch be-<br />
legt: erhöhtes Risikoverhalten, Substanzmissbrauch, Ir-<br />
ritabilität und Aggressivität.<br />
Dr. med. Michèle Abelovsky, Oberärztin,<br />
Frauenspezifische Angebote, Psychiatrische Poliklinik<br />
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