Jahresbericht 2008 (PDF, 1 MB) - Integrierte Psychiatrie Winterthur ...
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Depression in der hausärztlichen Praxis<br />
Die Depression und ihre Schwester, die Angst, sind in der<br />
Hausarztpraxis oft nicht auf den ersten Blick zu erken-<br />
nen. Sie «tarnen» sich hinter körperlichen Beschwerden<br />
wie Müdigkeit, Schluckstörungen, Verdauungsproble-<br />
men, Kopfschmerzen, chronischen Rückenschmerzen<br />
oder Überlastungsschmerzen der Weichteile. Deshalb<br />
finde ich für das Gespräch mit den Patientinnen und Pa-<br />
tienten den Ausdruck «larvierte Depression» immer noch<br />
hilfreich.<br />
Unsere Patienten verstehen sich in erster Linie als kör-<br />
perlich krank, und sie sind es häufig auch. Als somatisch<br />
tätige Ärzte haben wir das Privileg, sowohl mittels Ge-<br />
spräch als auch körperlich untersuchen und «be-han-<br />
deln» zu können. Um psychische (Mit-)Ursachen von Be-<br />
schwerden herauszuspüren, gibt es Hilfsmittel wie Scree-<br />
ning-Fragen oder Fragebogen. Das Wichtigste ist aber<br />
die Einstellung: «Ich höre Ihnen zu – sagen Sie mir, was<br />
Ihnen fehlt».<br />
Viele Fälle unbehandelt<br />
Gemäss verschiedenen Studien leiden 10 bis 20 Prozent<br />
der Patientinnen und Patienten in Allgemeinpraxen an<br />
Angst und/oder an Depression. Von diesen werden nur<br />
die Hälfte erkannt und nur ein Drittel behandelt. Schauen<br />
Hausärzte zu wenig genau hin?<br />
Um mir ein Bild in meiner eigenen Praxis zu machen, habe<br />
ich 250 Patientenkontakte durchgesehen und folgende<br />
Zahlen gefunden:<br />
− 10 schwer depressive Personen und 2 Angstpatienten,die<br />
sich neben der hausärztlichen Betreuung in regelmässiger<br />
psychiatrischer Psychotherapie und Pharmakotherapie<br />
befinden;<br />
− 4 Personen in psychologischer Beratung ohne antidepressive<br />
Medikation;<br />
− 13 leicht und mittelschwer Depressive unter hausärztlich<br />
verordneten Antidepressiva, seltener Benzodiazepinen;<br />
− 10 Personen mit nicht oder ungenügend behandelter<br />
Angststörung;<br />
− mindestens 10 depressiv Verstimmte, die sich nicht behandeln<br />
lassen wollten.<br />
Das sind über 20 unbehandelte Angst- und Depressionspatientinnen<br />
und -patienten in einem Monat! Wie kommt<br />
es dazu?<br />
Tabus bestehen immer noch<br />
Viele Menschen wollen nicht wahrhaben, dass sie depres-<br />
siv sein könnten, und schon gar nicht, dass sie unter Angst<br />
leiden. Zu kränkend ist der Gedanke, in der Leistungs-<br />
und Spassgesellschaft nicht mithalten zu können. Noch<br />
einigermassen akzeptable Selbstdiagnosen für seelisches<br />
Leiden sind Erschöpfung, Mobbing oder Burn-out. Angst-<br />
patienten mit hartnäckigen Körpersymptomen informieren<br />
sich im Internet oder Bekanntenkreis und drängen dann<br />
auf spezialärztliche Abklärungen oder darauf, mittels mo-<br />
dernster Bild gebender Verfahren wie Computertomogra-<br />
phie oder MRI (Magnetresonanz-Imaging) «durchschaut»<br />
zu werden. Sie hoffen, ihr Leiden abgebildet und benannt<br />
zu bekommen und damit kontrollier- und behandelbar zu<br />
machen. Solche Menschen für eine medikamentöse oder<br />
psychiatrische Therapie zu motivieren, kann schwierig<br />
sein und sich über mehrere Konsultationen hinziehen –<br />
selbst dann, wenn die Hausärztin von der Behandlungs-<br />
notwendigkeit überzeugt ist und die nötigen spezialärzt-<br />
lichen Angebote vorhanden sind.<br />
Am andern Ende des Spektrums gibt es Verstimmungen,<br />
die von selber oder mit Laienhilfe wieder vorbeigehen.<br />
Nicht jede Patientin, die auf die Screening-Frage antwor-<br />
tet, sie habe im letzten Monat deutlicher weniger Freu-<br />
de gehabt, ist depressiv und behandlungsbedürftig. Es<br />
gibt auch die normale Trauer über verlorene Menschen,<br />
Fähigkeiten und Gelegenheiten. Und wenn sich ein le-<br />
benserfahrener Mensch dafür ausspricht, lieber eine<br />
leichte Depression auszuhalten als Medikamente ein-<br />
zunehmen, respektiere ich seine Entscheidung. Ich fra-<br />
ge bei einer späteren Konsultation aber wieder nach, ob<br />
sich seine Einstellung zu einer Behandlung unterdessen<br />
geändert habe.<br />
Dr. med. Fiona Fröhlich Egli,<br />
Fachärztin für Allgemeinmedizin FMH in <strong>Winterthur</strong>