«Man weiss nicht, was man tun soll» 18 Hans U.* ist heute 72 Jahre alt. Seine Ehepartnerin er- lebte über Jahrzehnte und in unterschiedlichen Abstän- den immer wieder Phasen einer Depression. Die letz- te Phase begann mit seiner Pensionierung und dauerte fast fünf Jahre an. Er erzählt, wie er die Krankheit sei- ner Partnerin erlebte. Das erste Mal kam es wirklich schleichend. Meine Frau war so energielos und ständig müde. Es war sehr schwierig, etwas mit ihr zu unternehmen. Sie war völlig antriebslos und lag eine ganze Woche im Bett. Immer wieder probierte ich, sie rauszuholen – auch mit der Hilfe von Freunden. Wir hatten keine Ahnung, was vor sich ging. Via einen Seel- sorger sind wir schliesslich zu einer Psychiaterin gelangt. Sie empfahl einen stationären Aufenthalt in einer Klinik. Ein schwieriger Entscheid. Zuerst sträubte ich mich da- gegen, doch dann begleitete ich meine Frau in eine Kli- nik in Meilen, wo sie vorübergehend in eine geschlossene Abteilung kommen sollte. Es war hart, sie dort zurück- lassen zu müssen, und ich kam ziemlich deprimiert zu- rück. Es ging dann aber stetig aufwärts, sie wurde von einem sehr guten Arzt betreut. Nach vier Wochen konn- te sie schliesslich wieder nach Hause. Die Frage nach dem «Warum» Es vergingen einige Jahre, dann kam wieder eine solche Phase. Meine Frau kam morgens kaum mehr aus dem Bett, am liebsten wäre sie gar nicht aufgestanden. Es war schwer für mich: Man leidet mit, aber man weiss nicht, was man tun soll. Ich fühlte mich ohnmächtig. Manchmal musste ich einfach ins Auto steigen und irgendwohin fa- hren, weil ich es nicht mehr aushielt zu Hause. Ich muss- te aufpassen, dass ich nicht die Geduld verlor. Die Gedan- ken meiner Frau kreisten oft ununterbrochen um ein und dasselbe Thema. Ich fragte mich immer wieder: Warum kann sie sich nicht lösen von diesen Gedanken? Ich habe alles probiert, las viel Fachliteratur, versuchte, sie abzu- lenken. Erfolglos. Ich glaube, man wird diese Krankheit als Aussenstehender nie ganz verstehen. Weitere Krankheitsphasen kamen und gingen. Ich habe viel über das Warum nachgedacht; woher kommt das al- les? Denn bis ca. ins 45. Lebensjahr waren keine Anzei- chen von Depression vorhanden, ausser vielleicht nach der Geburt. Meine Frau war damals ziemlich am Boden, und es brauchte sehr lange Zeit, bis sie wieder auf die Bei- ne kam. Ich fragte mich, ob die schwere Geburt unseres Sohnes mit den folgenden Depressionsphasen zu tun ha- ben könnte. Doch eine Antwort auf das Warum, und ob es wirklich einen konkreten Auslöser für die Krankheit gibt, habe ich bis heute nicht. Mir fiel auf, dass sich ihr Zustand meistens nach einschneidenden Erlebnissen verschlech- terte: nach dem Tod ihres Vaters, der Diagnose für eine Operation, nach grösseren Renovationen an unserem Haus und nicht zuletzt nach dem Auszug des Sohnes. Den richtigen Arzt finden Ich habe mit vielen Ärzten und Psychologen gesprochen. Wichtig finde ich, dass man möglichst rasch einen ge- eigneten Arzt aufsucht. Das ist nicht ganz einfach, denn man muss das Gefühl haben, wirklich ernst genommen zu werden und dass der Arzt ein ehrliches Interesse daran hat, dem Betroffenen zu helfen. Leider erlebte ich nicht alle so. Selber wurde mir erst bei der Betreuung meiner Frau durch eine Professorin an der Psychiatrischen Uni- klinik so richtig klar, dass eine Depression wirklich ein Stoffwechselproblem im Hirn ist. Daher befürwortete ich auch den Einsatz unterschiedlichster Medikamente. Ich unterstützte die Ärztin dabei, indem ich zu Hause genau dokumentierte, wie meine Partnerin auf welches Medika- ment reagierte. Wir fanden dann zusammen ein Medika- ment, auf welches sie sehr gut ansprach. Als wir die Do- sis erhöhten, machte es plötzlich «Klick», und sie sagte: «Es war, als träte ich aus einem dunklen in einen hellen Raum hinüber.» Nach fast fünf Jahren war die akute De- pression wie weggewischt, und ich war erlöst: Endlich ging es ihr wieder besser. Leider ist meine Frau ca. ein Jahr später, im Sommer 2007, nach einer sehr guten Ge- sundheitsphase, mit 68 Jahren nach einer Operation ver- storben. Ärzte sind meiner Meinung nach manchmal et- was zu wenig mutig und probieren wenig aus. Leute aus unserem Umfeld haben mich oft gefragt, wie ich das überhaupt aushalte und warum ich das alles mit- mache. Ja, was soll man denn tun? Ich habe meine Frau ja geliebt. Wir organisierten schon bald einmal den Spi- tex; die Frau, die jeweils kam und den Haushalt machte, war Gold wert. Mehr als einmal war sie es, die es schaff- te, meine Frau aus dem Bett zu holen, nachdem es mir einfach nicht gelungen war. Nach meiner Pensionierung
unterstützte ich meine Frau im Haushalt, beim Einkaufen, ich brachte sie zu den Arztterminen, ging mit ihr spazieren. Zum Glück hatten wir auch Freunde, die uns immer wie- der halfen; auch von der Kirche erfuhren wir in unserem christlichen Glauben Unterstützung. Dazu kamen die re- gelmässigen und wertvollen Gespräche in der Tagesklinik mit Psychologen. Generell konnten wir mit Freunden und Verwandten über die Krankheit meiner Frau sprechen, das war ebenfalls wichtig und nicht selbstverständlich. Aber ja, es ist schon so: Man hat Wünsche und Pläne und kann vieles nicht verwirklichen mit dem Partner, weil ihm da- zu einfach die Motivation und die Kraft fehlt. *Name geändert. Gespräch und Aufzeichnung: Susanne Gimmi 19