10 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau3. Strukturelle Rahmenbedingungen – Assistenz systemeund ihr gesellschaftlicher KontextIn den Sozialwissenschaften ist von einer dreifachenAlterung der Bevölkerung die Rede, d. h. alte Menschennehmen relativ und absolut in der Bevölkerungzu und erreichen zudem ein <strong>im</strong>mer höheres Lebensalter(vgl. Weber, Haug 2005). So erstrebenswert daseinerseits ist, so bedeutet es doch andererseits, dassein steigender Bedarf an medizinischer und pflegerischerVersorgung finanziell und organisatorischdargestellt werden muss. Depner et al. (2010: 33)konstatieren, »dass der Anteil an pflegebedürftigenPersonen wächst, die alleine leben und sich zu Hauseauf kein oder nur ein labiles Versorgungsnetzwerkstützen können«. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken,dass der Gesetzgeber selbst die kostengünstigereVersorgung in § 3 SGB XI vorgeschrieben hat(weiterführend Gerhard 2010; Bleses 2009; Cappell2005). Der darin enthaltene Grundsatz »ambulant vorstationär« sieht außerdem eine Stärkung der informellenHelferstrukturen vor. Die sogenannte ›Zivilgesellschaft‹in Gestalt von Ruheständlern, Nachbarn,Freunden oder auch ehrenamtlichen Organisationensoll die Angehörigen bei der Pflege zu Hause unterstützen.Derzeit wird der Großteil der Personen, die<strong>im</strong> Sinne des SGB XI als pflegebedürftig gelten, durchAngehörige unter Verwendung von Pflegegeldleistungenversorgt (Statistisches Bundesamt 2011).Hier besteht ein strukturelles Dilemma, das SabineBartholomeyczik (2010: 141) auf den Begriff der »Janusköpfigkeitder Pflege« gebracht hat. Sie meintdamit, dass mit Einführung der sozialen Pflegeversicherung1997 die Pflege als professionelle Handlungerstmalig neben ärztliche Leistungen gestellt undihr nicht mehr untergeordnet wurde. Zugleich aberliege dem Gesetz eine Vorstellung von Pflege zugrunde,wonach diese grundsätzlich von jedermann,insbesondere den Angehörigen ohne professionelleAusbildung, geleistet werden könne. Pr<strong>im</strong>är seienes – nach diesem Verständnis – die Angehörigen,welche die Pflege verrichten, und nur aus Kapazitäts-,nicht aus Kompetenzgründen könne noch professionellePflege hinzugezogen werden.In dieser Situation sollen altersgerechte Assistenzsystemedazu beitragen, dass a) ältere Menschen längerzu Hause leben können, b) ihre Angehörigen undNachbarn in ihrer Hilfeleistung unterstützt werdenund c) die Kosten für die Versorgung gesenkt oderzumindest stabil gehalten werden können.Finanzierung der altersgerechtenAssistenzsystemeDerzeit ist noch offen, wie die neuen altersgerechtenAssistenzsysteme finanziert werden sollen (vgl. Gast2013). Die gegenwärtige Struktur der Pflege <strong>im</strong> häuslichen<strong>Bereich</strong> (die Pflege wird einerseits erbrachtdurch professionelle Dienstleister sowie andererseitsdurch inoffizielle, private Pflegenetzwerke) machtes nahezu unmöglich, die realen Kosten dieser Pflegearrangementszu beziffern. MakroökonomischeBerechnungen stellen die hohen Kosten für formellePflegekräfte den Kosten durch Pflege mithilfevon Technik gegenüber. Jenseits der Frage, ob undwelche <strong>Bereich</strong>e der Pflege technisch substituiertwerden können, steht ein Nachweis zur Kosteneffizienzder technischen Systeme noch aus. In derökonomischen Begleitstudie ist die Frage nach demMarktpotenzial jener Systeme behandelt worden.Die Zahlungsbereitschaft der potenziellen Nutzervon altersgerechten Assistenzsystemen wird als erheblicheBarriere für einen schnellen Markteintrittangeführt. Es fehle derzeit an Geschäftsmodellenmit tragfähigen Finanzierungskonzepten (Fachingeret al. 2012: 42f.). Da auch die Kranken- und Pflegekassenaktuell sehr zurückhaltend mit Finanzierungszusagensind, so die Studie, sei zu erwarten, dass dieProdukte zunächst ausschließlich privat finanziertwürden und erst bei Nachweis eines ökonomischenoder gesundheitlichen Nutzens eine Aufnahme inden Leistungskatalog der Kranken- und Pflegekasseerwogen werde (ebd.: 51).Es ist noch offen, wie diese Finanzierungslücke geschlossenwird. Aus ethischer Perspektive ist vor al-
STRUKTURELLE RAHMENBEDINGUNGEN – ASSISTENZ SYSTEME UND GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT11lem unter Gerechtigkeitsaspekten zu fragen, wie denMitgliedern der Gesellschaft eine ihren politischenRechten und moralischen Ansprüchen entsprechendeVersorgung bereitgestellt wird. Der Staat musshierfür die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen,in denen eine gleiche, gerechte und »humaneKrankenbehandlung« (§ 70 SGB V) ermöglicht wird.Veränderung von PrivatheitDer technische Charakter vieler Assistenzsystemewirft eine Reihe juristischer <strong>Fragen</strong> auf, die zugleichauf ethische D<strong>im</strong>ensionen – wie etwa der Privatheitoder der Gerechtigkeit – verweisen. Die juristischeBegleitforschung zu altersgerechten Assistenzsystemenhat in der Bewertung solcher Systeme hervorgehoben,dass eine Vielzahl der Systeme die Erhebungund Auswertung bzw. Weiterleitung sensibler gesundheitsbezogenerDaten ermöglicht (ULD 2010:54). Dieser oftmals automatisierte Vorgang zeigtkritische Eigenschaften, die über die rechtliche D<strong>im</strong>ensionhinaus ethisch eruiert werden müssen. Eineambiente Datenverarbeitung entzieht dem Nutzerzunehmend Einblick und Einfluss auf die ihn umgebendenund mit ihm inhaltlich assoziierten Daten.Personen, die in Folge einer demenziellen Erkrankungkognitiv beeinträchtigt sind, dürften dabei andie Grenzen ihrer informationellen Selbstbest<strong>im</strong>mungstoßen. Nun sind Fälle einer eingeschränktenoder nicht gegebenen Zust<strong>im</strong>mungsfähigkeit zwarüber rechtliche Vertretungen regelbar, es muss aberdaran erinnert werden, dass die Notwendigkeitder informierten Zust<strong>im</strong>mung (informed consent)durch den Nutzer oder seinen gesetzlich bestelltenVertreter vor Nutzung der Systeme gegeben seinmuss. Zweitens ist die Frage zu stellen, ob diese Bedingung,die auch haftungsrechtlich bedeutsamist, erfüllt werden kann (ebd.: 4). Der Verbleib in derhäuslichen Umgebung wäre in einem solchen Falldurch Einbußen bei der Privatheit ›erkauft‹, wasauch als Einschränkung der Selbstbest<strong>im</strong>mung zuverstehen ist. Der Verbleib <strong>im</strong> häuslichen Umfeldkann aber – als Alternative zum He<strong>im</strong>eintritt –gleichwohl als höhere Form der Selbstbest<strong>im</strong>mungin der täglichen Lebensführung angesehen werden.Ähnliche Verschiebungen lassen sich bereits beider ›normalen‹ Versorgung durch einen personalenPflegedienst erkennen, wenngleich sich die Quantitätund Qualität der Datenerhebung durch einePflegekraft anders gestaltet. Dieser kurze Ausblickmacht bereits deutlich, wie diffizil und komplex dieVeränderungen durch ein technisch unterstütztesPflegearrangement für die Lebensführung und dasSelbstverständnis dieser Personen sind (vgl. Manzeschke,Oehmichen 2010).Mobilität <strong>im</strong> AlterDie familiäre Situation in den Haushalten unterliegteinem Wandel. Es wird erwartet, dass die Zahlvon Singlehaushalten (bei jungen wie bei altenMenschen) weiter steigt – mit Folgen für die Versorgung(vgl. Depner et al. 2010: 13ff.). In diesemZusammenhang ist auf die regionalen Unterschiedeund das Stadt-Land-Gefälle hinzuweisen. Zusätzlichverändern sich gesellschaftliche Mobilitätsmuster(z.B. durch Ausbildung oder Beruf). Ältere Menschenweisen ein anderes Mobilitätsverhalten aufals jüngere. Die meisten ihrer Wege finden in einemRadius von ein bis drei Kilometer statt (vgl. Depneret al. 2010: 18f.). Im ländlichen Raum könnte sich dereingeschränkte Bewegungsradius negativ auf dieErreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen undauf die Lebensqualität auswirken. Das bedeutet <strong>im</strong>Umkehrschluss, dass gerade <strong>im</strong> ländlichen Raum dieUnterstützung in der Mobilität für ältere Menscheneine ganz zentrale Bedeutung hat, um ein selbstbest<strong>im</strong>mtesLeben zu führen und effektiv an der Gesellschaftteilhaben zu können (vgl. Betz et al. 2010a: 48).Nutzereinbindung und NutzerakzeptanzTechnik soll sich dem Nutzer und seinen individuellenBedürfnissen anpassen – und nicht umgekehrt.
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