28 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. FangerauKonzeptionen von Teilhabe, Eigenverantwortungoder Selbstbest<strong>im</strong>mung müssen auf die faktischenKönnensbedingungen reflektieren. So steht bspw.bei der Teilhabeförderung von Menschen mit Behinderungin der Regel die Idee der Reintegration inden Arbeitsmarkt leitend <strong>im</strong> Hintergrund. Die Möglichkeit,sich mit eigener Arbeit den Lebensunterhaltzu verdienen und so die eigene Lebensgestaltungökonomisch disponieren zu können, ist eine starkeund plausible Leitidee. Doch wohin sollen Menschenintegriert werden, die nicht mehr erwerbsfähig und-pflichtig sind? Das sind keine <strong>Fragen</strong>, die <strong>im</strong> Rahmendes Einsatzes altersgerechter Assistenzsystemegelöst werden können, aber sie verweisen auf dengrößeren Kontext, der über ihren Einsatz mitentscheidensollte.Schließlich ist be<strong>im</strong> Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemenzu bedenken, dass sie Menschen ineiner Lebensphase unterstützen, in der Aktivitätenzunehmend reduziert werden. Systeme, die Teilhabe,Selbstbest<strong>im</strong>mung, also Aktivität unterstützen, müssenso gestaltet sein, dass sie zugleich der Tendenz zurEntschleunigung oder Passivität nicht <strong>im</strong> Weg stehen.Technik als Disziplinierungsmaßnahme?Das Ziel vieler altersgerechter Assistenzsysteme istes, Sicherheit in einer Weise herzustellen, die körperlicheUnversehrtheit garantiert. Das, was für denEinzelnen als sicher gilt, ist jedoch kein starres Regelwerk,welches sich in ein Arrangement überführenlässt und dann den individuellen Bedürfnissen einesgroßen Anwenderkreises gerecht werden kann. Legtman bspw. für die Überwachung von VitaldatenSchwellenwerte fest, die einen Korridor des ›Normalen‹flankieren, so darf dies nicht unter Missachtungindividueller Besonderheiten der Lebensführungund der gesundheitlichen Verfassung stattfinden.Zudem ist zu beachten, dass selbst bei der Abweichungvon definierten Grenzen und Schwellenwerten(aber auch bei deren Unauffälligkeit) letztlichdie Verfassung des Nutzers und sein persönlicherWunsch nach Unterstützung entscheidend seinsollten. Die Festlegung von Werten, die dabei hilft,das Verhalten des Nutzers oder seinen Zustand aufdem Kontinuum von Normalität und Abweichungauszumachen, greift daher die Frage nach dem normierendenCharakter solcher Systeme auf.Belastung und Entlastung in soziotechnischenArrangementsEntlastende Technik, die die längere selbständigeLebensführung in den eigenen vier Wänden ermöglichensoll, führt unter Umständen gerade zum Verlustvon Fähigkeiten, die für ein solches selbständigesLeben vonnöten sind – etwa wenn die Technik derartdie Menschen entlastet, dass diese grundständigeFähigkeiten langfristig abbauen (Regression). Einekurzfristige Entlastung kann in einer Langfristperspektiveso zu einer Belastung umschlagen. Dies kannindividuell gewünscht, gesellschaftlich aber wenigerstrebenswert sein (und umgekehrt). Hier sind dieverschiedenen Betrachterebenen (individuell, organisational,gesellschaftlich) zusammenzufügen, umethische Problem- und Kipppunkte zu identifizieren.Wie sind altersbedingte Einschränkungengegenüber Behinderung abzugrenzen?Die sozialpolitisch sinnvolle Unterscheidung vonAlter und Behinderung (SGB XI und XII bzw. SGB IX)kann dazu führen, dass für beide PersonengruppenAssistenzsysteme parallel entwickelt werden; dieswäre förderpolitisch wie in Bezug auf die verwendetenRessourcen begründungsbedürftig. Assistenzsystemesollten entsprechend dem Hilfebedarf entwickeltund angeboten werden, sofern sie über diePflege- oder Krankenkassen finanziert werden sollen.Hierbei wirft das Phänomen des Alters ein Problemauf: Mit dem Alter treten unterschiedlich, aber dochunvermeidlich Abbauprozesse be<strong>im</strong> Menschen ein,die als ›normal‹ anzusehen sind. Es ist fraglich, ob undin welchem Maße bzw. bis zu welchem Punkt gegen
ETHISCHE KIPPPUNKTE UND SPANNUNGSFELDER29diese Abbauprozesse unterstützt werden soll, undwann eine Unterstützung vielleicht zu einer Überforderungund Belastung für den Betroffenen wird.Was jetzt als Assistenzsysteme deutlich auf dieGruppe der älteren Mitbürger zielt, ließe sich unterUmständen genauso gut von Menschen mit Behinderungnutzen. Im Rahmen des SGB IX sind die Unterstützungsleistungender Kassen vollumfänglich,anders als bei der Pflegekasse nach SGB XI, die nurals Teilkaskoversicherung angelegt ist. Um Ungerechtigkeitenzu vermeiden, wären sozialpolitischeKlärungen <strong>im</strong> Vorfeld der Einführung der Systemevorzunehmen.Entlastung des Personals oder steigenderPersonalbedarf?Der projektierte Einsatz von Assistenzsystemen zeigt,dass viele technische Arrangements einen hohenPersonalaufwand aufweisen. Dieser muss nicht nurfinanziert, sondern auch und vor allem mit mitarbeitendenPersonen bewältigt werden. Das Ziel,mithilfe von Technik das Pflegepersonal zumindestzu entlasten und damit zu einer Entschärfung desPflegekräftemangels beizutragen, erscheint vor diesemHintergrund wiederum infrage gestellt. Selbstwenn der Technikeinsatz zu einer Stabilisierung desBedarfs an Pflegepersonal führen sollte, könnte ananderer Stelle ein womöglich deutlich kostenträchtigererBedarf bspw. an Wartungspersonal für dietechnischen Systeme entstehen. Daher müsste einevolkswirtschaftliche Gesamtrechnung hinsichtlichdes finanziellen Aufwands und Nutzens durchgeführtund die für den Arbeitsmarkt relevantenEffekte abgeschätzt werden. Auf Basis dann besserabgesicherter Abschätzungen muss die Frage nachder ethisch, sozial, politisch und ökonomisch vertretbarenMittelverteilung gestellt werden.Ebenso ist auf die Problematik des ›Instant Care‹-Ansatzes hinzuweisen, der große strukturelle Veränderungenauf der Anbieterseite fordert. Instant Caremeint den spontanen Einsatz von Pflege(hilfs)kräftenbei älteren Menschen. Die hierbei angestrebtesofortige Hilfe wird mit dem aktuellen Personal vermutlichnicht zu leisten sein. So wird seitens der Anbieterdie Einbindung informeller Helfer vorbereitet.Hieraus ergibt sich jedoch eine durchaus riskanteAbhängigkeitssituation. Das private, ehrenamtlicheoder auch zivilgesellschaftliche Engagement fürältere Hilfebedürftige wird einen sehr großen Poolvon Hilfewilligen brauchen, um die spontanen, nichtplanbaren Einsätze leisten zu können. Es sind abervor allem nicht arbeitstätige oder gering beschäftigtePersonen, die über ein relativ großes und verlässlichabrufbares Zeitbudget verfügen. So besteht dieGefahr, dass die Pflege und Unterstützung vulnerablerMenschen auf ebenso vulnerable Personengruppendelegiert wird.Die Perspektiven und Interessen der Angehörigensind derzeit noch wenig erforscht. Daher wäre zuklären, welche Form der Entlastung und Hilfe sie sichals mittelbar Betroffene von altersgerechten Assistenzsystemenerhoffen. Hieraus ließen sich Hinweisezur Erfolgswahrscheinlichkeit und Einsatzbreiteableiten: Die Systeme und Lösungen sollten einenNutzen aufweisen, der direkt für die verschiedenenAnwendergruppen und Kostenträger erkennbar ist.Stadt-Land-Gefälle?Schon jetzt leiden ländliche und dünner besiedelteRegionen unter erheblichen Infrastrukturproblemenbspw. <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> des öffentlichen Personennahverkehrsoder der Versorgung mit leistungsfähigenDatennetzen hoher Bandbreite. Mobilität und informationelleKonnektivität sind jedoch zentrale Bausteinesowohl altersgerechter Assistenzsysteme alsauch der normativen Forderungen nach Fürsorge, Sicherheitund Teilhabe. Die Gesundheitsversorgungssystemewären allerdings überfordert, entsprechendeInfrastrukturmaßnahmen zu finanzieren; vor
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