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Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme«

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Ergebnisse der Studie»<strong>Ethische</strong> <strong>Fragen</strong> <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong><strong>Altersgerechter</strong> Assistenzsysteme«A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau


IMPRESSUMDiese Studie entstand <strong>im</strong> Auftrag der VDI/VDE Innovation +Technik GmbH <strong>im</strong> Rahmen der vom Bundesministerium fürBildung und Forschung (BMBF) beauftragten BegleitforschungAAL.ProjektleitungPD Dr. theol. habil. Arne ManzeschkeLeiter der Fachstelle fürEthik und Anthropologie <strong>im</strong> GesundheitswesenInstitut Technik · Theologie · Naturwissenschaften an derLudwig-Max<strong>im</strong>ilians-Universität MünchenMarsstr. 19/V80331 MünchenAutorenPD Dr. theol. habil. Arne ManzeschkeInstitut für Technik · Theologie · Naturwissenschaften an derLMU MünchenProf. Dr. phil. habil. Karsten WeberAllgemeine Technikwissenschaften, BrandenburgischeTechnische Universität CottbusElisabeth Rother, BAInstitut für Technik · Theologie · Naturwissenschaften an derLMU MünchenProf. Dr. med. Heiner FangerauInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin derUniversität UlmGestaltungVDI/VDE Innovation + Technik GmbHDruckDruckerei Thiel Gruppe LudwigsfeldeISBN-13: 978-3-89750-169-0StandJanuar 2013


TECHNISCHER WANDEL UND ERNSTE MORALISCHE FRAGEN 3GliederungTechnischer Wandel und ernste moralische <strong>Fragen</strong>.................................................... 51. Ethik als Bearbeitung ernster moralischer <strong>Fragen</strong> –Ziele und Aufbau der Begleitstudie.......................................................................... 62. Altersgerechte Assistenzsysteme – Eine pragmatische Annäherung .................. 73. Strukturelle Rahmenbedingungen – Assistenzsysteme und ihrgesellschaftlicher Kontext......................................................................................... 104. MEESTAR: Ein Modell zur ethischen Evaluation sozio-technischerArrangements.............................................................................................................. 135. <strong>Ethische</strong> Leitlinien für den Einsatz von altersgerechtenAssistenzsystemen...................................................................................................... 226. <strong>Ethische</strong> Kipppunkte und Spannungsfelder ........................................................... 27Fazit und Ausblick............................................................................................................. 32Literatur............................................................................................................................. 34


TECHNISCHER WANDEL UND ERNSTE MORALISCHE FRAGEN 5Technischer Wandel und ernstemoralische <strong>Fragen</strong>Technik ist zu unserer alltäglichen Begleiteringeworden. In enormem Maße hat sie unsere Handlungsmöglichkeitenerweitert und geholfen, kleineund große Probleme zu lösen. Zugleich erfahren wirTechnik auch als Teil von Problemen, die offenbarmit Technik nicht gelöst werden können. Menschund Technik stehen in einem spannungsvollenWechselverhältnis, bei dem der Mensch die Technikhervorbringt und mit ihr die Welt und auch sichselbst gestaltet. Zugleich formt Technik aber auchden Menschen in seiner Selbst- und Weltwahrnehmung,in seinem Urteilen und Handeln. Der wissenschaftlich-technischeFortschritt verlangt vomeinzelnen Menschen wie von der Gesellschaft alsganzer, einem <strong>im</strong>mer stärker sich beschleunigendenWandel standzuhalten. Das ist nicht nur eine intellektuelle,physische oder psychische Herausforderung,sondern auch eine moralische. Die »ernstenmoralischen <strong>Fragen</strong>« (Böhme 1997), die sich hierstellen, verweisen uns auf das Fundament unseresDaseins: »Wie wir uns in diesen <strong>Fragen</strong> entscheiden,entscheidet darüber, wer wir sind und was fürMenschen wir sind [und] in welcher Gesellschaft wirleben« (ebd.: 17).che Gefüge und die darin wirkenden Bindekräfte?Die vorliegende Broschüre bietet eine Zusammenfassungder Begleitstudie »<strong>Ethische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong>altersgerechter Assistenzsysteme«, die <strong>im</strong> Rahmender Fördermaßnahme »Altersgerechte Assistenzsystemefür ein gesundes und unabhängiges Leben«vom Bundesministerium für Bildung und Forschung(BMBF) initiiert wurde. Sie will Interessierte undBetroffene informieren und dazu beitragen, dassnotwendige <strong>Fragen</strong> an den geeigneten Orten undzur rechten Zeit gestellt und konstruktiv bearbeitetwerden. Sie bietet Informationen und ein Instrumentarium,um auf strukturierte Weise die auftretendenProbleme identifizieren und sie <strong>im</strong> jeweiligen Kontextverantwortbar entscheiden zu können.Der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme wirftsolche ernsten moralischen <strong>Fragen</strong> auf: Wie wirdman älteren Menschen in ihrer Bedürftigkeit gerechtund unterstützt sie darin, ihr ›eigenes‹ Leben zu führen.Ein Leben, das gegebenenfalls mit Gebrechlichkeitverbunden ist, sicher aber mit Endlichkeit. EinLeben, das mit aller zur Verfügung stehenden Individualitätund Freiheit zu führen ist. Damit steht zurDebatte, welche politischen, moralischen und ökonomischenRessourcen eine Gesellschaft für die Unterstützungvon Menschen <strong>im</strong> Alter zur Verfügungstellt. Ob und in welchem Maße die Unterstützungin technischer Form geleistet wird, ist nicht nur eineFrage der moralischen und politischen Verpflichtungen,die in einer Gesellschaft binden, sondern aucheine Frage des technischen Charakters der Unterstützung:Wie verändert die Technik das gesellschaftli-Dieser Text verzichtet aus sprachlichen Gründen auf eine durchgehendeNennung beider Geschlechter. Wo nicht explizit anderesformuliert wird, sind <strong>im</strong>mer beide Geschlechter gemeint.


6 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau1. Ethik als Bearbeitung ernster moralischer <strong>Fragen</strong> –Ziele und Aufbau der BegleitstudieEine ethische Bewertung altersgerechter Assistenzsystemegestaltet sich als Bearbeitung der »ernstenmoralischen <strong>Fragen</strong>« (Böhme 1997). Hierbei geht eszum einen um die Beschreibung der sozialen undtechnischen Voraussetzungen, die zur Entwicklungund dem möglichen Einsatz dieser Systeme führt.Zum anderen spielt die Prognostik eine wesentlicheRolle, welche unerwünschten Folgen eine Technikentfalten könnte, die man durch entsprechende Technikgestaltungzu vermeiden sucht. Für Prognostikund Technikgestaltung liefert die Studie mit ihrem InstrumentariumAnsätze zu einer Bearbeitung. Dabeiist zu berücksichtigen, dass das von uns vorgestellteInstrumentarium mit dem technischen Wandel sowieden Veränderungen <strong>im</strong> Sozialen weiterzuentwickelnist – also einer dynamischen Ausgestaltung bedarf.Da Prognosen prinzipiell schwierig sind, steht eineethische Bewertung vor der Herausforderung, substanziellsauber und nachvollziehbar zu argumentieren.D. h. die ernsten moralischen <strong>Fragen</strong> müssenso formuliert und ausgearbeitet werden, dass angesichtsder möglichen Folgen einer technischenEntwicklung keine Szenarien beschworen werden,die alle weitere Entwicklung von vornherein als zubedenklich abschnüren. Auf der anderen Seite kannEthik sozio-technischen Wandel nicht per se – dasheißt ohne fundierte Reflexion – gutheißen.Moderne Technik ist in der Regel ein komplexer Verbundvon Maschinen, Prozessen und Akteuren. Dieresultierenden ›Verbundhandlungen‹ haben einearbeitsteilige Grundlage, die zu einer Verantwortungsteilungführt. Das darf jedoch nicht zu »Verantwortungsverdünnung«(Hastedt 1991) oder garzu »organisierter Unverantwortlichkeit« (Beck 1988)führen. Für die Ethik ist Verantwortung ein starkesElement bei der Reflexion auf Handlungen (und Unterlassungen),weswegen sie darauf bestehen muss,dass Verantwortungsträger identifizierbar bleiben(Manzeschke 2011).Zudem verbindet sich mit Technik der Anspruch,dass sie ›für alle‹ zur Verfügung stehen soll. Gestaltetwird sie aber vorrangig von Experten. Gerade beialtersgerechten Assistenzsystemen ist aus einer ethischenPerspektive darauf zu achten, dass sie nichtnur für, sondern mit der Zielgruppe entwickelt werden.Im Weiteren ist zu bedenken, dass bereits die Entwicklungbest<strong>im</strong>mter technischer Systeme einemoralische Entscheidung beinhaltet und ihre ImplementierungStrukturen von großer Dauer festschreibtund Revisionen oder Alternativen – wennnicht ausschließt –, so doch nur in pfadabhängigerWeise zulässt (vgl. Winner 1980). Damit verbundenist ein Problem, das unter dem Begriff ›Collingridge-Dilemma‹ Eingang in die Fachdiskussionen gefundenhat: Die möglichen Folgen einer technischenEntwicklung sind nur schwer abschätzbar und deswegenauch nur sehr bedingt gestaltbar. Ist die Technikaber einmal etabliert, so sind ihre Strukturenbereits so verfestigt, dass ihre Veränderbarkeit odergar Rückholbarkeit nahezu ausgeschlossen sind (vgl.Collingridge 1980).Ziele und Ergebnisse der vorgelegtenEthik-StudieZiel der zehnmonatigen Begleitstudie (Januar-Oktober 2012) war es,• die maßgeblichen ethischen Probleme be<strong>im</strong>Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemenanhand der laufenden Förderprojekte sowie mitempirischen Untersuchungen und theoretischenArbeiten zu identifizieren,• den Akteuren <strong>im</strong> Feld (Forschung & Entwicklung,Anbieter und Nutzer) ein ethisches Instrumentariuman die Hand zu geben, das sie befähigt,selbstverantwortlich ethische Probleme zu identifizierenund sie konstruktiv zu bearbeiten,


ETHIK ALS BEARBEITUNG ERNSTER MORALISCHER FRAGEN – ZIELE UND AUFBAU DER BEGLEITSTUDIE7• Leitlinien zu formulieren, welche die öffentlichewie auch die individuelle Beschäftigung mit demThema ethisch orientieren. Darüber hinaus liefertdie Studie• eine kritische Reflexion auf zentrale ethischeKipppunkte und Spannungsfelder, die sich be<strong>im</strong>Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme auftunkönnen und die deshalb frühzeitig berücksichtigtwerden müssen. Letzteres verbindet sich• mit einem Ausblick auf notwendige weitere Forschung.Die vorliegende Broschüre gibt in sechs Hauptkapitelndie Arbeitsweise und Ergebnisse der Studie <strong>im</strong>Wesentlichen wieder. Für einen vollständigen Einblick,insbesondere in die Methodik und die verwendeteLiteratur, sei auf die Begleitstudie verwiesen,die 2013 <strong>im</strong> Internet zum Download zur Verfügungstehen wird (Manzeschke et al. 2013).Das erste Kapitel liefert nach einigen grundlegendenÜberlegungen zu Ethik und Technikbewertung bzw.Technikgestaltung einen Überblick über die Zieleund den Aufbau der Studie.Das zweite Kapitel nähert sich dem Begriff »AmbientAssisted Living« bzw. »Altersgerechte Assistenzsysteme«und skizziert die spezifischen Charakteristikaund realen oder potenziellen ethischen Probleme,die sich aus ihrem Einsatz ergeben können.Das dritte Kapitel widmet sich den politischen, kulturellen,rechtlichen sowie ökonomischen Kontexten,in denen diese Systeme zum Einsatz kommen(sollen). Über den demographischen Wandel hinauswerden hier strukturelle Bedingungen dargestellt,die in ihren Wechselwirkungen und Pfadabhängigkeitenreflektiert werden müssen, wenn der Einsatzvon altersgerechten Assistenzsystemen theoretischgerechtfertigt und praktisch erfolgreich durchgeführtwerden soll.Das vierte Kapitel stellt das während der Studie entwickelteethische Evaluationsinstrument MEESTARvor. Das Akronym steht für »Modell zur ethischenEvaluation sozio-technischer Arrangements«. DiesesModell repräsentiert ein dreid<strong>im</strong>ensionales Bewertungsinstrument,das in strukturierter Weise zurethischen Reflexion und Urteilsbildung be<strong>im</strong> Einsatzaltersgerechter Assistenzsysteme anleitet. Es handeltsich auch um ein heuristisches Instrument, um ineinem strukturierten Dialog (idealer Weise in Workshops)anhand eines konkreten sozio-technischenSzenarios die Anwendung zu analysieren und aufder Grundlage identifizierter moralischer ProblemeLösungsansätze für den Einsatz zu entwickeln.Das fünfte Kapitel stellt die ethischen Leitlinien vor,die <strong>im</strong> Verlauf der Studie aus den theoretischenÜberlegungen einerseits und der empirischen Validation<strong>im</strong> Rahmen von Experteninterviews undFokusgruppen andererseits erstellt wurden. DieseLeitlinien dokumentieren einen ›work in progress‹und laden zu ihrer kritischen Reflexion und Weiterentwicklungein.Das sechste Kapitel n<strong>im</strong>mt die sogenannten ›<strong>Ethische</strong>nKipppunkte‹ und Spannungsfelder genauer inden Blick, die sich in der Studie als moralisch sensibelherauskristallisiert haben, und deshalb aufmerksambeobachtet werden sollten. Hierbei handelt es sicherstens um Veränderungen <strong>im</strong> sozio-technischen Arrangementüber die Zeit, die eine gute und hilfreicheAssistenz in eine problematische und belastende kippenlassen können. Zweitens geht es um Zielkonflikteoder Dilemmata, die nicht einfach und allgemeinaufgelöst werden können.Zum Schluss bietet die Broschüre noch eine Zusammenfassungund einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen,die sich <strong>im</strong> Rahmen der aktuellenStudie ergeben haben.


8 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau2. Altersgerechte Assistenzsysteme – Eine pragmatischeAnnäherungAltersgerechte Assistenzsysteme werden in Deutschland(und Europa) häufig mit dem Begriff »AmbientAssisted Living« (AAL) assoziiert. Dieser verweist aufeinen breiten Strom von technologischen Ansätzenwie Ambient Intelligence, Ubiquitous Computingoder Pervasive Computing; Technologien, die informations-und kommunikationsorientierte Dienstleistungenerbringen sollen, ohne dass die entsprechendenGeräte als technische Artefakte erkennbarwären. Die jeweilige Umgebung selbst soll mit technischerFunktionalität ausgestattet und verwobensein (vgl. Weber et al. 2009; Weber 2012) und demBenutzer seine Umgebung informatisch erschließen(vgl. Wiegerling 2012). Marc Weiser hatte diese Ideein seinem Aufsatz »The Computer for the Twenty-First Century« bereits <strong>im</strong> Jahr 1991 entwickelt:»The most profound technologies arethose that disappear. They weave themselvesinto the fabric of everyday life untilthey are indistinguishable from it.« (Weiser 1991: 94)Seit geraumer Zeit wird die Entwicklung von informations-und kommunikationstechnologisch unterstütztenSystemen in der Medizin und Pflege vorangetrieben.Sie spielen in <strong>im</strong>mer mehr Anwendungsbereicheneine wichtige Rolle, insbesondere dort, wofür die Versorgung kein entsprechend ausgebildetesPersonal vor Ort verfügbar ist (vgl. Flesche, Jalowy,Inselmann 2004). Die Anwendungen rangieren vonder Beratung von Patienten, die keinen oder nurbeschränkten Zugang zu medizinischem und pflegerischemPersonal haben, über technische Unterstützungsleistungenzur Aufrechterhaltung physischerund psychischer Kompetenzen bis hin zur computerundrobotergestützten Operation, bei der Arzt undPatient durch große Distanzen getrennt sind (bspw.Merrell 2005; Satava 2005). Darüber hinaus gewinnenmedizinische Notfallmaßnahmen (z. B. Skorninget al. 2011) ebenso wie die Prävention von Unfällenzunehmend an Bedeutung (vgl. Leis 2008). In vielendieser Fälle ist die Grenze zum Telemonitoring alsÜberwachung von Vitaldaten schwer zu ziehen (alsÜberblick siehe Meystre 2005). Als Sammelbegrifffür die vielen Ansätze und Anwendungsbereiche derInformations- und Kommunikationstechnologie <strong>im</strong>Gesundheitssektor wird oft von eHealth gesprochen(vgl. Oh et al. 2005; Jähn, Nagel 2004).Die Vielfalt der Ansätze kann an dieser Stelle nichtweiter verfolgt werden. Es soll aber angezeigt werden,dass sich die Entwicklung altersgerechter Assistenzsystemein einem weiten Feld vollzieht, bei demdie Grenzlinien zwischen Technologien, Zielgruppenund Anwendungsfeldern nicht <strong>im</strong>mer klar gezogenwerden können. Im Rahmen der Studie haben wiruns auf Anwendungen konzentriert, die in ersterLinie für ältere Menschen entwickelt und zur Verfügunggestellt werden, damit diese mit ihrer Hilfe längerselbstbest<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> eigenen häuslichen <strong>Bereich</strong>leben können. Dazu haben wir uns auf die Definitiondes BMBF für Ambient Assisted Living bezogen:»Unter ›Ambient Assisted Living‹(AAL) werden Konzepte, Produkte undDienstleistungen verstanden, die neueTechnologien und soziales Umfeldmiteinander verbinden und verbessernmit dem Ziel, die Lebensqualität fürMenschen in allen Lebensabschnitten,vor allem <strong>im</strong> Alter, zu erhöhen.Übersetzen könnte man AAL am bestenmit ›Altersgerechte Assistenzsysteme fürein gesundes und unabhängiges Leben‹.Damit wird auch schon skizziert, dass AALin erster Linie etwas mit dem Individuumin seiner direkten Umwelt zu tun hat.«(AAL Deutschland o.J.)Diese Definition verweist durch »gesundes Leben«auf Institutionen und Prozeduren des Gesundheitswesens;»unabhängiges Leben« muss als Aufnahmeder sozialpolitischen Leitbegriffe von »Selbstbest<strong>im</strong>-


ALTERSGERECHTE ASSISTENZSYSTEME – EINE PRAGMATISCHE ANNÄHERUNG9mung« und »gesellschaftlicher Teilhabe« verstandenwerden. Um sie in der Praxis umzusetzen, sollentechnische Assistenzsysteme »vor allem« <strong>im</strong> Lebensumfeldvon alten Menschen eingesetzt werden.Altersgerechte Assistenzsysteme sind damit nicht alsrein technische Artefakte zu verstehen und zu beurteilen,sondern als sozio-technische Arrangementsmit potenziell weitreichenden Auswirkungen aufden Einzelnen wie die Gesellschaft. Das Verständnisals sozio-technische Arrangements ergibt sichdaraus, dass altersgerechte Assistenzsysteme indoppelter Hinsicht als Unterstützung von Menschengesehen werden: Zum einen sollen alte und hochbetagtePersonen diese Systeme selbst nutzen, um aufdiese Weise eine Verbesserung der Lebensqualitätin ihrem jeweiligen Alltagskontext zu erfahren. Zumanderen aber sollen diese Systeme Angehörige ebensowie das Gesundheits- und Pflegepersonal <strong>im</strong> sorgendenUmgang mit diesen alten und hochbetagtenMenschen unterstützen.also nicht nur als technisch auszustattende Unterkunftbetrachtet werden. Vielmehr wird sie in ersterLinie als Lebensraum und als Treffpunkt sozialerBeziehungen sowie als Ort von die Person konstituierendenErinnerungen zu bedenken und zu berücksichtigensein (Manzeschke 2010).In vielen Fällen basieren altersgerechte Assistenzsystemeauf der Idee der unsichtbaren, zugleich allgegenwärtigen,wirkungsvollen und weitreichendenInformations- und Kommunikationstechnik. Da dieNutzer möglicherweise in ihren sensomotorischenMöglichkeiten eingeschränkt sind, soll die Mensch-Maschine-Interaktion nicht nur auf die Ein- undAusgabemöglichkeiten von Bildschirm und Tastaturbeschränkt sein, sondern mult<strong>im</strong>odale Kanäle bieten,die intelligente, mitunter auch (voll-)automatischeInteraktionen ausführen bzw. ermöglichen. DieTechnologien werden zu Hintergrund-Technologien,die in ihrer gesamten Tragweite und in ihrem Funktionsumfangwomöglich nicht mehr vollständig zuüberblicken sind.Wenn Assistenz alte Menschen in ihrem häuslichenUmfeld unterstützen soll, dann ist dieser Einsatzortzudem ein symbolischer Ort, wo ein Mensch ›zu Hause‹ist (vgl. Betz et al. 2010a: 58f.). Be<strong>im</strong> Einsatz einesAssistenzsystems darf das Zuhause eines Menschen


10 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau3. Strukturelle Rahmenbedingungen – Assistenz systemeund ihr gesellschaftlicher KontextIn den Sozialwissenschaften ist von einer dreifachenAlterung der Bevölkerung die Rede, d. h. alte Menschennehmen relativ und absolut in der Bevölkerungzu und erreichen zudem ein <strong>im</strong>mer höheres Lebensalter(vgl. Weber, Haug 2005). So erstrebenswert daseinerseits ist, so bedeutet es doch andererseits, dassein steigender Bedarf an medizinischer und pflegerischerVersorgung finanziell und organisatorischdargestellt werden muss. Depner et al. (2010: 33)konstatieren, »dass der Anteil an pflegebedürftigenPersonen wächst, die alleine leben und sich zu Hauseauf kein oder nur ein labiles Versorgungsnetzwerkstützen können«. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken,dass der Gesetzgeber selbst die kostengünstigereVersorgung in § 3 SGB XI vorgeschrieben hat(weiterführend Gerhard 2010; Bleses 2009; Cappell2005). Der darin enthaltene Grundsatz »ambulant vorstationär« sieht außerdem eine Stärkung der informellenHelferstrukturen vor. Die sogenannte ›Zivilgesellschaft‹in Gestalt von Ruheständlern, Nachbarn,Freunden oder auch ehrenamtlichen Organisationensoll die Angehörigen bei der Pflege zu Hause unterstützen.Derzeit wird der Großteil der Personen, die<strong>im</strong> Sinne des SGB XI als pflegebedürftig gelten, durchAngehörige unter Verwendung von Pflegegeldleistungenversorgt (Statistisches Bundesamt 2011).Hier besteht ein strukturelles Dilemma, das SabineBartholomeyczik (2010: 141) auf den Begriff der »Janusköpfigkeitder Pflege« gebracht hat. Sie meintdamit, dass mit Einführung der sozialen Pflegeversicherung1997 die Pflege als professionelle Handlungerstmalig neben ärztliche Leistungen gestellt undihr nicht mehr untergeordnet wurde. Zugleich aberliege dem Gesetz eine Vorstellung von Pflege zugrunde,wonach diese grundsätzlich von jedermann,insbesondere den Angehörigen ohne professionelleAusbildung, geleistet werden könne. Pr<strong>im</strong>är seienes – nach diesem Verständnis – die Angehörigen,welche die Pflege verrichten, und nur aus Kapazitäts-,nicht aus Kompetenzgründen könne noch professionellePflege hinzugezogen werden.In dieser Situation sollen altersgerechte Assistenzsystemedazu beitragen, dass a) ältere Menschen längerzu Hause leben können, b) ihre Angehörigen undNachbarn in ihrer Hilfeleistung unterstützt werdenund c) die Kosten für die Versorgung gesenkt oderzumindest stabil gehalten werden können.Finanzierung der altersgerechtenAssistenzsystemeDerzeit ist noch offen, wie die neuen altersgerechtenAssistenzsysteme finanziert werden sollen (vgl. Gast2013). Die gegenwärtige Struktur der Pflege <strong>im</strong> häuslichen<strong>Bereich</strong> (die Pflege wird einerseits erbrachtdurch professionelle Dienstleister sowie andererseitsdurch inoffizielle, private Pflegenetzwerke) machtes nahezu unmöglich, die realen Kosten dieser Pflegearrangementszu beziffern. MakroökonomischeBerechnungen stellen die hohen Kosten für formellePflegekräfte den Kosten durch Pflege mithilfevon Technik gegenüber. Jenseits der Frage, ob undwelche <strong>Bereich</strong>e der Pflege technisch substituiertwerden können, steht ein Nachweis zur Kosteneffizienzder technischen Systeme noch aus. In derökonomischen Begleitstudie ist die Frage nach demMarktpotenzial jener Systeme behandelt worden.Die Zahlungsbereitschaft der potenziellen Nutzervon altersgerechten Assistenzsystemen wird als erheblicheBarriere für einen schnellen Markteintrittangeführt. Es fehle derzeit an Geschäftsmodellenmit tragfähigen Finanzierungskonzepten (Fachingeret al. 2012: 42f.). Da auch die Kranken- und Pflegekassenaktuell sehr zurückhaltend mit Finanzierungszusagensind, so die Studie, sei zu erwarten, dass dieProdukte zunächst ausschließlich privat finanziertwürden und erst bei Nachweis eines ökonomischenoder gesundheitlichen Nutzens eine Aufnahme inden Leistungskatalog der Kranken- und Pflegekasseerwogen werde (ebd.: 51).Es ist noch offen, wie diese Finanzierungslücke geschlossenwird. Aus ethischer Perspektive ist vor al-


STRUKTURELLE RAHMENBEDINGUNGEN – ASSISTENZ SYSTEME UND GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT11lem unter Gerechtigkeitsaspekten zu fragen, wie denMitgliedern der Gesellschaft eine ihren politischenRechten und moralischen Ansprüchen entsprechendeVersorgung bereitgestellt wird. Der Staat musshierfür die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen,in denen eine gleiche, gerechte und »humaneKrankenbehandlung« (§ 70 SGB V) ermöglicht wird.Veränderung von PrivatheitDer technische Charakter vieler Assistenzsystemewirft eine Reihe juristischer <strong>Fragen</strong> auf, die zugleichauf ethische D<strong>im</strong>ensionen – wie etwa der Privatheitoder der Gerechtigkeit – verweisen. Die juristischeBegleitforschung zu altersgerechten Assistenzsystemenhat in der Bewertung solcher Systeme hervorgehoben,dass eine Vielzahl der Systeme die Erhebungund Auswertung bzw. Weiterleitung sensibler gesundheitsbezogenerDaten ermöglicht (ULD 2010:54). Dieser oftmals automatisierte Vorgang zeigtkritische Eigenschaften, die über die rechtliche D<strong>im</strong>ensionhinaus ethisch eruiert werden müssen. Eineambiente Datenverarbeitung entzieht dem Nutzerzunehmend Einblick und Einfluss auf die ihn umgebendenund mit ihm inhaltlich assoziierten Daten.Personen, die in Folge einer demenziellen Erkrankungkognitiv beeinträchtigt sind, dürften dabei andie Grenzen ihrer informationellen Selbstbest<strong>im</strong>mungstoßen. Nun sind Fälle einer eingeschränktenoder nicht gegebenen Zust<strong>im</strong>mungsfähigkeit zwarüber rechtliche Vertretungen regelbar, es muss aberdaran erinnert werden, dass die Notwendigkeitder informierten Zust<strong>im</strong>mung (informed consent)durch den Nutzer oder seinen gesetzlich bestelltenVertreter vor Nutzung der Systeme gegeben seinmuss. Zweitens ist die Frage zu stellen, ob diese Bedingung,die auch haftungsrechtlich bedeutsamist, erfüllt werden kann (ebd.: 4). Der Verbleib in derhäuslichen Umgebung wäre in einem solchen Falldurch Einbußen bei der Privatheit ›erkauft‹, wasauch als Einschränkung der Selbstbest<strong>im</strong>mung zuverstehen ist. Der Verbleib <strong>im</strong> häuslichen Umfeldkann aber – als Alternative zum He<strong>im</strong>eintritt –gleichwohl als höhere Form der Selbstbest<strong>im</strong>mungin der täglichen Lebensführung angesehen werden.Ähnliche Verschiebungen lassen sich bereits beider ›normalen‹ Versorgung durch einen personalenPflegedienst erkennen, wenngleich sich die Quantitätund Qualität der Datenerhebung durch einePflegekraft anders gestaltet. Dieser kurze Ausblickmacht bereits deutlich, wie diffizil und komplex dieVeränderungen durch ein technisch unterstütztesPflegearrangement für die Lebensführung und dasSelbstverständnis dieser Personen sind (vgl. Manzeschke,Oehmichen 2010).Mobilität <strong>im</strong> AlterDie familiäre Situation in den Haushalten unterliegteinem Wandel. Es wird erwartet, dass die Zahlvon Singlehaushalten (bei jungen wie bei altenMenschen) weiter steigt – mit Folgen für die Versorgung(vgl. Depner et al. 2010: 13ff.). In diesemZusammenhang ist auf die regionalen Unterschiedeund das Stadt-Land-Gefälle hinzuweisen. Zusätzlichverändern sich gesellschaftliche Mobilitätsmuster(z.B. durch Ausbildung oder Beruf). Ältere Menschenweisen ein anderes Mobilitätsverhalten aufals jüngere. Die meisten ihrer Wege finden in einemRadius von ein bis drei Kilometer statt (vgl. Depneret al. 2010: 18f.). Im ländlichen Raum könnte sich dereingeschränkte Bewegungsradius negativ auf dieErreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen undauf die Lebensqualität auswirken. Das bedeutet <strong>im</strong>Umkehrschluss, dass gerade <strong>im</strong> ländlichen Raum dieUnterstützung in der Mobilität für ältere Menscheneine ganz zentrale Bedeutung hat, um ein selbstbest<strong>im</strong>mtesLeben zu führen und effektiv an der Gesellschaftteilhaben zu können (vgl. Betz et al. 2010a: 48).Nutzereinbindung und NutzerakzeptanzTechnik soll sich dem Nutzer und seinen individuellenBedürfnissen anpassen – und nicht umgekehrt.


12 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. FangerauDas gilt <strong>im</strong> Besonderen für ältere Menschen, diesonst unter Umständen von (technischen) Neuerungenüberfordert würden und damit von ihrenMöglichkeiten ausgeschlossen blieben. Das legt einepartizipative Technikentwicklung nahe, die nichtnur die unmittelbar Betroffenen integriert, sondernauch die Beteiligten innerhalb von Pflegenetzwerken(vgl. Wagner 2010). Dass eine partizipativeTechnikentwicklung unerlässlich ist, bestätigt auchdie Begleitstudie »Nutzerabhängige Innovationsbarrieren«(vgl. Friesdorf et al. 2011: 5). Die untersuchtenAAL-Produkte sind nach dieser Erhebung nicht bzw.nur sehr wenig auf die Bedürfnisse von älteren Nutzernabgest<strong>im</strong>mt. Die »Entwicklung […] erfolgt bisherstark technologiegetrieben« (Friesdorf et al. 2011:3). Schließlich ist für eine erfolgreiche Einführungund Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemenwichtig, dass die technischen Systeme auch <strong>im</strong>fortgeschrittenen Alter noch bedien- und verstehbarsind – ohne dass es zu Funktionsausfällen, Fehlernoder sonstigen Komplikationen kommt; Aspektewie Robustheit oder Leistungsfähigkeit der Systemekönnen exemplarisch als Erfolgsfaktoren genanntwerden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Nutzergruppeneine große Heterogenität aufweisen(vgl. Betz et al. 2010b: 102).markiert wird: Diejenigen, welche über das intellektuelleKapital verfügen, um für sich in Gesundheitsdingenzu sorgen, sind in der Regel auch die, welcheüber das nötige finanzielle Kapital verfügen, umentsprechende Gesundheitsdienstleistungen kaufenzu können – und umgekehrt (Behrens 2008). Solangealtersgerechte Assistenzsysteme vor allem übereinen Zuzahler- oder Selbstzahlermarkt organisiertwerden, ist zu erwarten, dass die Menschen mit einergeringen Ausstattung an Kapital (sozial, ökonomischund intellektuell) an dieser Versorgung nur unzureichendbeteiligt sein werden (vgl. Bauer, Büscher2008). Das wirft aus ethischer Perspektive <strong>Fragen</strong> derGerechtigkeit auf.Veränderte AnspruchshaltungDer medizinisch-technische Fortschritt, die zugeschriebeneund auch zunehmende Mündigkeit vonMenschen, die sich um ihre Gesundheit selbst zukümmern lernen, aber auch die durch Fachdiskussionengesteigerte ethische Sensibilität <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> gesundheitlicherVersorgung tragen dazu bei, dass dieAnsprüche der Gesellschaft an eine gute Versorgungsteigen (vgl. Depner et al. 2010: 33f.). Es ist aber bishernoch unklar, wie diese steigenden Erwartungenbefriedigt, d.h. vor allem bezahlt werden können.Unter diesen Bedingungen könnte ein sozialer Effektnicht unerheblich werden, der oft in der Debatte


MEESTAR: EIN MODELL ZUR ETHISCHEN EVALUATION SOZIO-TECHNISCHER ARRANGEMENTS134. MEESTAR: Ein Modell zur ethischen Evaluationsozio-technischer ArrangementsDie Untersuchung und Bewertung ethischer Fragestellungen<strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> altersgerechter Assistenzsystemegehört zu den Kernanliegen der vorgelegten Studie.Dabei besteht die erste Aufgabe in der Identifikationund Beschreibung der ethischen D<strong>im</strong>ensioneneines Anwendungsfalls. Dieser ist <strong>im</strong>mer bezogen aufein konkretes sozio-technisches Arrangement: Einekonkrete Person mit ihrem konkreten sozialen Umfeldhat einen konkreten Assistenzbedarf, der durcheine Verbindung von personalen und technischenArrangements geleistet werden soll. Die Bewertungdieses sozio-technischen Arrangements ist abhängigvon der Perspektive des jeweils Evaluierenden; einNutzer wird hier ganz anders wahrnehmen und urteilenals jemand, der diese Assistenzsysteme anbietetoder entwickelt. Entsprechend ist diese Perspektivengebundenheitder Urteile offenzulegen und dafürSorge zu tragen, dass <strong>im</strong> Evaluationsprozess die unterschiedlichenPerspektiven zum Tragen kommen.Im Folgenden stellen wir MEESTAR als Analyseinstrument(siehe Abb. 1) vor, das die Reflexion über denTechnikeinsatz anleitet. Dieses Modell zur ethischenEvaluation sozio-technischer Arrangements hilft instrukturierter Weise, ethisch problematische Effektezu identifizieren und darauf aufbauend Wege zuihrer Lösung zu entwickeln. Entsprechend werdennegative Effekte fokussiert, weil die ethische Min<strong>im</strong>alanforderunglautet, dass altersgerechte Assistenzsystemekeinen oder nur geringen Schaden produzierensollen. Letzteres darf nur <strong>im</strong> Einverständnismit den Betroffenen geschehen und sollte danneiner Schaden-Nutzen-Kalkulation entspringen, beider ein Schaden aufgrund eines größeren Nutzensin Kauf genommen wird. Das Instrument MEESTARweist deshalb nur eine neutrale und drei negativeEinstufungen auf, aber keine positiven. Auf dieseWeise sichert es die Einsätze ›nach unten‹ hin ab; positiveEffekte der altersgerechten Assistenzsystemekönnen und sollen mit MEESTAR nicht direkt gegengerechnetwerden.Die Arbeit mit MEESTAR (am besten in Form voninterdisziplinären Workshops) erfolgt über die systematischeBerücksichtigung dreier Achsen. Hierbeiliegen auf der x-Achse sieben ethische D<strong>im</strong>ensionen(Fürsorge, Selbstbest<strong>im</strong>mung, Sicherheit, Gerechtigkeit,Privatheit, Teilhabe und Selbstverständnis), die<strong>im</strong> Rahmen der Studie als zentral herausgearbeitetworden sind. Mit der y-Achse werden den Problemenvier Stufen der ethischen Sensibilität zugewiesen.Die z-Achse liefert drei Perspektiven der Beobachtung(individuell, organisational, gesellschaftlich).Die leitenden <strong>Fragen</strong> bei der Anwendung von MEE-STAR lauten:• Ist der Einsatz eines best<strong>im</strong>mten altersgerechtenAssistenzsystems ethisch bedenklich oder unbedenklich?• Welche spezifisch ethischen Herausforderungenergeben sich durch den Einsatz eines oder mehrereraltersgerechter Assistenzsysteme?• Lassen sich ethische Probleme, die sich be<strong>im</strong> Einsatzvon altersgerechten Assistenzsystemen ergeben,abmildern oder gar ganz auflösen? Wenn ja,wie sehen potenzielle Lösungsansätze aus?• Gibt es best<strong>im</strong>mte Momente be<strong>im</strong> Einsatz einesaltersgerechten Assistenzsystems, die ethisch sobedenklich sind, dass das ganze System nicht installiertund genutzt werden sollte?• Haben sich bei der Nutzung des Systems neue,unerwartete ethische Problempunkte ergeben,die vorher – bei der Planung oder Konzeption desSystems – noch nicht absehbar waren?• Auf welche Aspekte und Funktionalitäten desuntersuchten altersgerechten Assistenzsystemsmuss aus ethischer Sicht besonders geachtet werden?


14 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. FangerauDie sieben Bewertungsd<strong>im</strong>ensionen desModells (x-Achse)Anhand der sieben Bewertungsd<strong>im</strong>ensionen solles den Evaluierenden ermöglicht werden, in einemkonkreten Szenario eine oder mehrere ethischeFragestellungen zu identifizieren und sachlich zuordnenzu können. Die Bewertungsd<strong>im</strong>ensionen, diesich einerseits aus den Ergebnissen der ethisch-theoretischenArbeit und andererseits aus einer Reihequalitativer Interviews ableiten, sollen die ethischeEvaluation thematisch und inhaltlich begleiten undauf unterschiedliche Diskussionszusammenhängeverweisen, die entscheidend für eine angemesseneAnwendung altersgerechter Assistenzsysteme sind.Die sieben D<strong>im</strong>ensionen sind: Fürsorge, Selbstbest<strong>im</strong>mung,Sicherheit, Gerechtigkeit, Privatheit, Teilhabeund Selbstverständnis. Überblicksartig werdendiese sieben D<strong>im</strong>ensionen folgend beschrieben undanhand von Kernfragen charakterisiert.FürsorgeGerechtigkeitSelbstbest<strong>im</strong>mungSicherheitPrivatheitTeilhabeStufe I: Anwendung ist aus ethischer Sichtvöllig unbedenklichStufe II: Anwendung weist ethische Sensibilitätauf, was aber in der Praxis entsprechendberücksichtigt werdenkannStufe III: Anwendung ethisch äußerst sensibelund bedarf entweder permanenterAufmerksamkeit oder Abstand vonihrer EinführungStufe IV: Anwendung ist aus ethischer SichtabzulehnenOrganisationale EbeneSelbstverständnisIndividuelle EbeneAbbildung 1:MEESTAR: x-Achse: D<strong>im</strong>ensionen der ethischen Bewertung;y-Achse: Stufen der ethischen Bewertung; z-Achse: Ebenen derethischen Bewertung.Gesellschaftliche EbeneFÜRSORGEDer Begriff der Fürsorge wird zum einen mit derchristlichen Tradition der Barmherzigkeit assoziiert(vgl. Bayer 1998), in der man sich zwar schon langeum bedürftige Menschen kümmert. Dies allerdingsnicht <strong>im</strong>mer so altruistisch wie es auf den erstenBlick scheint – das ›Helfersyndrom‹ (vgl. Schmidbauer1977) wurzelt in dieser Mentalität. Teilweise wirdFürsorge mit einem Paternalismus in Verbindunggebracht, der gerade nicht die Selbstbest<strong>im</strong>mungdes bedürftigen Menschen achtet, sondern ›schonweiß, was für ihn gut ist‹ (vgl. Neumann 2006).Zum anderen hat sich über die feministische Ethikund die mit ihr verbundene Pflegeethik aus demenglischsprachigen Raum der Begriff ›Care‹ in denaktuellen, auch deutschen Debatten etabliert (vgl.Conradi 2001; Schnabl 2005), der am besten mit Fürsorgeübersetzt wird.Fürsorge <strong>im</strong>pliziert, dass für den Anderen, den Bedürftigen,Sorge, Entscheidung und Verantwortungübernommen wird in dem Maße, in dem der bedürftigeMensch dazu selbst nicht mehr in der Lageist – »not to turn away from someone in need«, wie esCarol Gilligan (1995: 32) programmatisch formulierthat. Es ist eine Sorge, die der Selbstbest<strong>im</strong>mung desBedürftigen nicht entgegen-, sondern zuarbeitet.Damit sind eine personale Haltung und ein zwischenmenschlichesVerhältnis verbunden. Allerdingskann eine solche Sorge auch technisch unterstütztwerden; das ergibt sich aus der theoretischenEinsicht, dass Technik menschliche Handlungsmöglichkeitenschon <strong>im</strong>mer erweitert hat. Es kommt hinzu,dass einige Menschen in best<strong>im</strong>mten Situationenund Anforderungen eine technische Hilfe einer personalenUnterstützung vorziehen mögen – das giltoffenbar besonders für schambesetzte Ereignisse.Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ensionFürsorge:


MEESTAR: EIN MODELL ZUR ETHISCHEN EVALUATION SOZIO-TECHNISCHER ARRANGEMENTS15––An welchem Punkt wird eine technisch unterstützteSorge für hilfebedürftige Menschen problematisch,weil sie das Selbstverhältnis und dasWeltverhältnis dieser Menschen auf eine Weiseverändert, die diese selbst nicht wünschen bzw.die wir Anderen <strong>im</strong> Blick auf diese Menschennicht wünschen sollen?––Welche Grade der Abhängigkeit in Fürsorgestrukturensind noch akzeptabel bzw. gewünschtund ab welchem Punkt wird aus positiv gemeinterFürsorgehaltung eine Bevormundung bzw.eine negativ bewertete paternalistische Einstellung,die unter Umständen technisch unterstütztbzw. hergestellt werden kann?SELBSTBESTIMMUNG/AUTONOMIEDer Begriff der Autonomie in einem moralischgehaltvollen Sinne entstammt wesentlich den ethischenDebatten des 18. und 19. Jahrhunderts und hatvon dort seinen Weg in die Alltagssprache gefunden,wo er heute oft mit einer max<strong>im</strong>alen Entscheidungs-und Handlungsfreiheit des Einzelnen gleichgesetztwird. Zudem hat der Begriff als eines der vier bioethischenPrinzipien befruchtend auf die ethischen undpolitischen Debatten <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> des Gesundheitswesensgewirkt (vgl. Beauchamp, Childress 2009).Ein dritter Faktor ist der sozialpolitische Diskurs umdie Integration bzw. Inklusion von Menschen mitBehinderungen, in dem die Begriffe Selbstbest<strong>im</strong>mungund soziale Teilhabe zu Leitbegriffen gewordensind. Hierzu hat nicht zuletzt die InternationaleBehindertenrechtskonvention beigetragen. In derenglischsprachigen Debatte wird nicht <strong>im</strong>mer scharfzwischen ›autonomy‹ und ›self-determination‹ unterschieden(vgl. Agich 1993, bes.: 7ff.), was auch beiden Übersetzungen ins Deutsche und den deutschsprachigenDebatten seinen Niederschlag findet(vgl. Quante 2010). Zugleich genießt die Selbstbest<strong>im</strong>mungin Deutschland einen hohen Stellenwert,wird sie doch aus der unveräußerlichen Würde desEinzelnen (Art. 1 GG) abgeleitet (vgl. auch Art. 1 SGBIX und hierzu Dau 2009: 47, Rn 9).Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ensionSelbstbest<strong>im</strong>mung (Autonomie):––Wie können – in Anlehnung an eine konsequentam Selbstbest<strong>im</strong>mungsrecht des Einzelnen orientiertePraxis – Menschen bei der Ausübung ihrerSelbstbest<strong>im</strong>mung unterstützt werden?––Wie können Menschen in ihrer Selbstbest<strong>im</strong>mungunterstützt werden, bei denen die ›normalen‹Kriterien selbstbest<strong>im</strong>mten Entscheidensund Handelns fraglich oder gar hinfällig gewordensind?––Wie gehen wir damit um, dass die Zuschreibungvon Selbstbest<strong>im</strong>mung mit dem Anspruch aufFürsorge und Unterstützung in Konflikt tretenkann?SICHERHEITSicherheit wird in Redewendungen und Ausdrückenwie ›soziale Sicherheit‹, ›Betriebssicherheit‹, ›Sicherheitsgefühl‹,›Angriffssicherheit‹ oder ›Datensicherheit‹verwendet. Diese Gebrauchsweisen spannen einensehr großen Bedeutungsraum auf, besitzen aberkeinen diskreten Kern (vgl. Glaeßner 2002). Trotz derbegrifflichen Unschärfe ist die Erhöhung von Sicherheitein wichtiges Ziel des Einsatzes altersgerechterAssistenzsysteme. Da solche Systeme die Lebens-,Pflege- oder Gesundheitsversorgung von Patientenverbessern bzw. unterstützen sollen (vgl. Schäufeleet al. 2012), bedeutet Sicherheit in erster Linie derSchutz der Patienten vor Schaden. Ein Schaden kannauf verschiedene Art entstehen: Patienten könnenaufgrund ihrer Erkrankung in eine gesundheitlicheNotfallsituation geraten, die eine möglichst rascheReaktion des medizinischen Versorgungssystemserfordert. Die Erhöhung von Sicherheit bedeutet,automatisch einen Alarm auszulösen und entspre-


16 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerauchende Hilfemaßnahmen einzuleiten. In diesem Fallmeint Sicherheit, über die Fähigkeiten des Bewohnershinaus eine schnellstmögliche Versorgungssicherheitzu gewährleisten. Gleichzeitig sollenaltersgerechte Assistenzsysteme ermöglichen, dassMenschen trotz ihrer Hilfs- und Pflegebedürftigkeitmöglichst lange in ihren eigenen vier Wänden lebenkönnen. Begreift man die Wohnung oder das Hausals mehr oder minder komplexes sozio-technischesArrangement, zielt Sicherheit in diesem Fall auf dieErhöhung von Betriebssicherheit. Die Haustechniksoll so gestaltet bzw. gesteuert werden, dass Fehlbedienungendurch die Bewohner, technische Ausfälleoder Kombinationen nicht zur Gefährdung der Bewohnerführen. In beiden Fällen geht es nicht nurum die objektive Erhöhung der Sicherheit, sonderngleichzeitig um die Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühlsder betroffenen Personen. Zugleichist das Sicherheitsempfinden der Pflegenden zuberücksichtigen, da die Bereitschaft zur Nutzungtechnischer Assistenzsysteme von diesen vermutlichmit beeinflusst wird.Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ension Sicherheit:––Wie ist dem zu begegnen, das die Herstellungvon Sicherheit unter Umständen zur Verringerungvorhandener Fähigkeiten führt, d.h. wennMenschen beginnen, sich auf Technik zu verlassen,hören sie vielleicht auf, sich selbst um best<strong>im</strong>mteDinge – in einem produktiven Sinn – zusorgen?––Wie ist es zu bewerten, wenn durch ein Assistenzsystemdas subjektive Sicherheitsgefühl steigt,ohne dass objektiv die Sicherheit erhöht wurde?––Wie können Konflikte zwischen Sicherheit undPrivatheit oder Sicherheit und Selbstbest<strong>im</strong>mung(Freiheit) gelöst werden?PRIVATHEITEin erheblicher Teil der philosophischen, sozial- undkulturwissenschaftlichen Literatur zur Privatheit –englisch »privacy« – betrachtet diese aus einerPerspektive, die nichts oder nur wenig mit demUmgang mit Daten und Informationen zu tun hat.Privatheit soll einen unverletzlichen <strong>Bereich</strong> umPersonen schaffen (bspw. Volkman 2003) und gehörtin den Wirkungsraum der negativen Freiheiten undAbwehrrechte (siehe hierzu Berlin 2002). SolcheRechte und Freiheiten sollen garantieren, dass sichPersonen ohne Zwang so verhalten und entsprechendeLebenspläne entwickeln können, wie sie eswünschen, solange dies nicht mit den Rechten undFreiheiten anderer Personen kollidiert. Privatheitist damit ein Garant für individuelle Freiheit undAutonomie (bspw. Cooke 1999). Der Umgang mitpersönlichen Daten ist nur ein Aspekt unter vielenanderen: Pedersen (1997; 1999) spricht von Typen derPrivatheit und zählt hierbei Einsamkeit, Distanziertheit,Isolation, Anonymität, Int<strong>im</strong>ität mit Freundensowie mit der Familie auf; darüber hinaus nennt erverschiedene psychologische Funktionen, die Privatheiterfüllen soll: Autonomie, Zutrauen, Besinnung,Erholung und Kreativität. Bei diesen Kategorien magdie Kontrolle über den Fluss von Daten und Informationeneine Rolle spielen, doch ganz offensichtlicherschöpfen sich weder Typen noch Funktionen vonPrivatheit in einer solchen Kontrolle. Das (westliche)Konzept der Privatheit ist weit älter als die Möglichkeitder Datenverarbeitung in großen Mengen – esentstammt der bürgerlichen Emanzipation und demliberalen Denken des 17. bis 19. Jahrhunderts (vgl.Gobetti 1997). Allerdings muss angemerkt werden,dass die Unterscheidung von öffentlicher und privaterSphäre nicht in allen Kulturen gezogen oderaber anders behandelt wird und diesbezüglich auchandere Verhaltensmuster vorliegen (bspw. Nakada,Tamura 2005; Whitman 2004).


MEESTAR: EIN MODELL ZUR ETHISCHEN EVALUATION SOZIO-TECHNISCHER ARRANGEMENTS17Altersgerechte Assistenzsysteme sollen möglichstunaufdringlich bzw. unsichtbar Dienstleistungen erbringen;sie basieren zudem fast <strong>im</strong>mer auf der Erhebung,Verarbeitung und Bewertung sensibler personenbezogenerDaten. Beide Aspekte zusammen können<strong>im</strong> Widerspruch zur zentralen moralischen Forderungeines informierten Konsenses stehen. Die mitihrer Funktion verbundene potenziell normierendeWirkung könnte zudem den Autonomiegewinn, dervom Einsatz solcher Systeme gerade in Bezug auf diePrivatheit erhofft wird, zunichtemachen.Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ension Privatheit:––Wie kann die Privatsphäre des Einzelnen überdie informationelle Selbstbest<strong>im</strong>mung hinaus alsmoralischer Anspruch bei der Gestaltung altersgerechterAssistenzsysteme zur Geltung gebrachtwerden?––Wie kann die Privatheit kognitiv eingeschränkterMenschen geschützt werden?––Wie ist mit kulturellen Unterschieden in derBewertung von privater und öffentlicher Sphäreumzugehen – z.B. bei Einführung von altersgerechtenAssistenzsystemen bei Menschen mitMigrationshintergrund?GERECHTIGKEITFür die D<strong>im</strong>ension der Gerechtigkeit ist insbesonderedie soziale Gerechtigkeit wichtig. <strong>Fragen</strong> nach demZugang zu altersgerechten Assistenzsystemen sindaus individueller, organisationaler und gesellschaftlicherEbene zu bedenken. Man kann mindestensdrei Modelle der Lastenverteilung <strong>im</strong> Gesundheitsversorgungssystemunterscheiden: Zunächst ist aufdas Markt- oder libertäre Modell hinzuweisen, dasausschließlich auf marktkonformen Prozessen aufbaut(bspw. Engelhardt 1996); die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungenwird von den Nachfragernvollständig selbst finanziert. Die Nachfrager müssenselbst entscheiden, welche Ressourcen sie aufbringenwollen und welche Leistungen sie entsprechend ihrereigenen Präferenzen tatsächlich erwerben. Wenn Gesundheitsrisikennicht durch eine private Krankenversicherungabgedeckt werden, so erhalten Versichertekeine Leistungen <strong>im</strong> Fall einer entsprechenden Erkrankung.Das reine Marktmodell ist nicht solidarischangelegt und orientiert sich am Leistungsprinzip.Demgegenüber soll das liberal-egalitäre Modell derGesundheitsversorgung garantieren, dass Nachteilein Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen,die von den Betroffenen nicht selbst verschuldetwurden, durch ein solidarisches Versicherungssystemausgeglichen werden (vgl. Buchanan1985; Daniels 1985), um bspw. angeborene Krankheitenund Behinderungen soweit zu kompensieren,dass die Betroffenen autonom und selbstbest<strong>im</strong>mtleben können. Auch müssen gemeinschaftlich Mittelbereitgestellt werden, um jenen Mitgliedern derGesellschaft, die nicht über das notwendige Einkommenverfügen, eine adäquate Gesundheitsversorgungzukommen zu lassen. Das Gerechtigkeitsprinzipist das der Bedürftigkeit.Kommunitaristische Modelle der Gesundheitsversorgungteilen das Ziel, soziale Grundgüter gerecht zuverteilen, doch verbinden sie dies mit der Vorgabeeines inhaltlich best<strong>im</strong>mten Guten. Best<strong>im</strong>mte Lebensentwürfesind aus kommunitaristischer Sichtvorzugswürdiger als andere; daher müssen solcheLebensentwürfe auch aktiv vom Gemeinwesen unterstütztwerden. Staatliche Institutionen haben ausdieser Perspektive die Pflicht, steuernd einzugreifen.Als beispielhaft für eine kommunitaristische Haltungbezüglich des Gesundheitsversorgungssystemskann Ezekiel J. Emanuel (1998) angesehen werden.Hier liegt ein normativ konditioniertes Gerechtigkeitsprinzipder Bedürftigkeit vor.Neben der intragenerationellen Gerechtigkeit müssen<strong>Fragen</strong> der intergenerationellen Gerechtigkeit


18 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerauthematisiert werden. Als Folge des demografischenWandels wird befürchtet (vgl. Weber, Haug 2005),dass die jeweils jüngeren Generationen ökonomisch<strong>im</strong>mer stärker belastet werden, sofern sich die Bevölkerungsgrößeund -struktur nicht stabilisiert (vgl.Bleses 2009). Dies stellt die Legit<strong>im</strong>ität eines solidarischfinanzierten Gesundheits- und Pflegeversorgungssystemsauf eine harte Probe, auch, weil altersgerechteAssistenzsysteme erhebliche (Mehr-)Kostenin diesem System erzeugen könnten. Bei Auslagerungdes Angebots altersgerechter Assistenzsystemein den zweiten Gesundheitsmarkt, um die genannteMehrbelastung der Jüngeren zu vermeiden, wäreder Zugang zu solchen Systemen nicht mehr diskr<strong>im</strong>inierungsfreigewährleistet, sofern nicht weiterepolitische Maßnahmen ergriffen werden würden.Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ensionGerechtigkeit:––Wer bekommt Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen?––Wie soll die Finanzierung von altersgerechtenAssistenzsystemen gestaltet werden (wer zahltwie viel)?––Welches Verständnis von intragenerationellerund intergenerationeller Gerechtigkeit liegt vor?Ausgehend von den Debatten um die Integrationvon Menschen mit Behinderung (SGB IX) ist derGedanke der Teilhabe in den vergangenen Jahrenauch auf Menschen mit altersbedingten Einschränkungenübertragen worden (SGB XI). Die sogenannten›Disability Studies‹ und die daraus resultierendeBehindertenrechtscharta haben den Gedankeneiner selbstbest<strong>im</strong>mten Lebensführung in ganzgrundsätzlicher Weise zu einem politischen Themaerhoben, das die Umsetzung der allgemeinenMenschenrechte für einen sehr konkreten <strong>Bereich</strong>fordert. Deutschland steht mit der Unterzeichnungder Behindertenrechtscharta in der Pflicht, die sichdaraus ergebenden Ansprüche von Menschen mitBehinderungen umzusetzen.Der Begriff der Teilhabe ist außerdem angelehnt anden Begriff ›participation‹ der International Classificationof Functioning, Disability and Health (ICF)der WHO (vgl. Dau 2009: 48, Rn 10). Er steht <strong>im</strong> Gegensatzzu Ausgrenzung und Ausschluss und zieltauf die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in derGesellschaft. Wichtige Aspekte sind die rechtlicheEinbeziehung, die tatsächliche Teilnahme am gesellschaftlichenLeben und die Einbindung in funktionaleAbläufe wie bspw. das Arbeitsleben (ebd,: 47,Rn 10).TEILHABETeilhabe in der modernen sozial-staatlichen Gemeinschaftmeint, einem Menschen Zugänge, Rechteund Güter zuzubilligen, die ihn als Menschen in derGemeinschaft mit anderen Menschen leben lassen.Jemanden von diesen Rechten, Gütern und Zugängenauszuschließen hieße, ihm seine Best<strong>im</strong>mung alsMensch zu bestreiten. Teilhabe ist also essentiell fürdas menschliche Leben. Das jüngere deutsche Sozialrechtversucht dieser Einsicht zu entsprechen, indemes Teilhabe für alle Menschengruppen durchdekliniertund als Rechtsanspruch formuliert.Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ension Teilhabe:––Welche Teilhabe besteht für ältere Menschen, dienicht mehr in das Arbeitsleben integriert werden(sollen)? Welche Teilhabe wünschen sie sich?––Welche Art und Weise der Teilhabe wird durchaltersgerechte Assistenzsysteme a) anvisiert undb) tatsächlich gefördert?––Inwiefern werden durch technische Assistenzsystemebest<strong>im</strong>mte Teilhabevarianten be- oderverhindert?


MEESTAR: EIN MODELL ZUR ETHISCHEN EVALUATION SOZIO-TECHNISCHER ARRANGEMENTS19SELBSTVERSTÄNDNISDer Begriff des Selbstverständnisses beschreibt dieBewertung und Wahrnehmung eines Subjektesgegenüber sich selbst. Dabei wirken Faktoren wieKrankheit, Alter und Gebrechen auf das Selbstverständnisdes Menschen. Ein wichtiges Moment spieltbei der Selbstkonstitution die Anerkennung oderMissachtung von Krankheit oder Alterserscheinungendurch andere (vgl. Honneth 1990; 1992). Wesentlichist für den Anerkennungsprozess und das damitverbundene Selbstverständnis das gesellschaftlicheBild vom ›normalen‹, ›gesunden‹, ›angemessenen‹Zustand. Einem subjektiven Erleben eines Zustandsals ›alt‹, ›gesund‹ oder ›krank‹ steht zumindest in dermedizinischen Betrachtung ein objektivierenderBlick gegenüber. Wenn diese beiden Perspektivensich entsprechen, fällt es leichter, ein entwickeltesSelbstverständnis zu pflegen, andernfalls besteht einHarmonisierungszwang, der in beide Richtungenwirken kann (zu Gesundheitskonzeptionen vgl. füreine Übersicht Fangerau, Martin 2011).Es gibt vielfältige kulturelle Diskurse und Debatten,die sich mit Altern und Altersprozessen beschäftigen(Fangerau et al. 2007), so dass eine einheitliche, allgemeingültigeAntwort auf die Frage, wann ein Menschalt ist, zumindest aus historischer Perspektive schwerzu beantworten ist. In den vergangenen Jahren rücktezunehmend eine Medikalisierung des Alter(n)s <strong>im</strong>öffentlichen Diskurs in den Vordergrund, die auf dasSelbstbild alter Menschen zurückwirkt. Unter Medikalisierungwird zunächst wertfrei die Ausweitungeines medizinischen Deutungsbereichs in früher anderengesellschaftlichen Systemen zugeordnete Aufgaben-und Handlungsbereiche verstanden (Conrad2007). Wehling et al. (2007) beschreiben vier D<strong>im</strong>ensionender Medikalisierung, die das Selbstverständnisalter Menschen als ›alt‹ berühren. Einerseits trägt dieExpansion medizinischer Diagnostik zur Pathologisierungvon Alterserscheinungen bei, andererseitsführt eine Ausweitung medizinischer Therapie dazu,dass nicht pathologische Alterserscheinungen, diesubjektiv als störend empfunden werden, therapiertwerden. Die Entzeitlichung von Krankheit z.B. durchprädiktive Diagnostik erzeugt ›gesunde Kranke‹, die<strong>im</strong> Alter damit rechnen, in Kürze zu erkranken. Diemedizinische Opt<strong>im</strong>ierung der ›menschlichen Natur‹zielt darauf ab, altersassoziierte physiologischeErscheinungen schon <strong>im</strong> Vorfeld und grundsätzlichzu modifizieren und in Richtung einer (jeweils zu best<strong>im</strong>menden)Leistungsverbesserung zu lenken.Gerade <strong>im</strong> medikalisierten Blick ist das Alter vornehmlichnegativ besetzt: So werden mit dem Alterkörperliche Abbauprozesse und sensomotorischesowie kognitive Verlangsamungserscheinungenassoziiert, die Einschränkungen der Mobilität, derSinnes-Modalitäten (Geruchs-, Geschmacks-, Hör-,Seh-, Tastsinn), der Kraft und Ausdauer oder auch derLibido mit sich bringen. Gleichfalls können <strong>im</strong> AlterLangeweile und Vereinsamung durch Passivität,fehlende Aktivierung und Interaktion zum Problemwerden. In einem solchen Kontext wird mitunteraus medikalisierter Sicht die Schlussfolgerunggezogen, dass nicht nur soziale und menschliche,sondern auch medizinische und technische Hilfenin Anspruch genommen werden müssten, um denals negativ und defizitär bewerteten Zuständen desAlter(n)s zu begegnen. Allerdings decken sich solchedefizitär angelegten Bilder über weite Strecken nichtmit dem aktuellen philosophisch-anthropologischenoder theologischen Diskurs über das Altern (vgl. exemplarischGabriel et al. 2011).Ethisch relevante <strong>Fragen</strong> sind in der D<strong>im</strong>ensionSelbstverständnis:––Wie wird der Sinnfrage, die <strong>im</strong> Alter verstärktauftreten mag, Raum und Perspektive in soziotechnischenArrangements geboten?––Inwiefern verändert die Tendenz zur Medikalisierungdes Lebens auch die Haltung zum Alter undAltern?


20 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau––Welche (direkten oder auch indirekten) sozialenZwänge entstehen durch dominante Bilder desmedikalisierten bzw. technisch unterstütztenAlter(n)s?––Inwiefern werden durch altersgerechte TechnikNormierungsroutinen etabliert?ZUR ANWENDUNG VON MEESTARNach der Vorstellung der sieben D<strong>im</strong>ensionen sollennun die beiden anderen Achsen des Modells zur ethischenEvaluation sozio-technischer Arrangementsvorgestellt werden.y-Achse: <strong>Ethische</strong> BewertungsstufenAusgehend von einem Eskalationsmodell zur Bewertunggentechnischer Eingriffe am Menschen (Hackeret al. 2009) sollen die gerade genannten D<strong>im</strong>ensionenin vier Stufen normativ evaluiert werden, umeine Einschätzung darüber zu gewinnen, ob undin welchem Maße ein altersgerechtes Assistenzsystembzw. ein Verbund mehrerer Assistenzsystemeethische Probleme aufweisen. Für die sinnvolle undaussagekräftige Verwendung der Eskalationsstufenist die Kenntnis von Detailinformationen wie bspw.Finanzierung, Ausfallsicherheit, Art und Umfangtransferierter Daten, Helferstruktur u.a. notwendig.Bei der Anwendung des Modells ist weiter zu bedenken,dass die sieben ethischen D<strong>im</strong>ensionen (auf derx-Achse) untereinander <strong>im</strong> Konflikt stehen können.So kann bspw. eine starke Betonung der Fürsorge ineinem altersgerechten Assistenzsystem sowohl diePrivatheit als auch die Selbstbest<strong>im</strong>mung einer Personauf ungewünschte Weise tangieren. Die ethischeEvaluierung eines altersgerechten Assistenzsystemswird nur in den seltensten Fällen zu einer generellenund eindeutigen Bewertung auf einer der Stufenführen, sondern eher Hinweise darauf geben, anwelchen Stellen und bezüglich welcher D<strong>im</strong>ensionenKonflikte bestehen.Bei den vier Stufen des Modells (I–IV) gilt nur dieStufe I aus ethischer Sicht als unbedenklich. Die Ergebnisseaus den in der Ethik-Studie durchgeführtenFokusgruppen-Workshops sowie den qualitativenInterviews legen den Schluss nahe, dass diese Bewertung<strong>im</strong> realen Einsatz eher unwahrscheinlichist. Bei der Einschätzung einer exemplarischen Anwendungaltersgerechter Assistenzsysteme in denFokusgruppen wurden <strong>im</strong>mer auch die Stufen II–IVverwendet. Somit ›funktioniert‹ das hier erweiterteModell anders als das für biomedizinische Eingriffeam Menschen entwickelte Eskalationsschema. Hackeret al. betrachten bioethische Anwendungenund versuchen, »den unproblematischen Fall zudefinieren und abzugrenzen von den zunehmendproblematischeren Fällen« (Hacker et al. 2009: 47).Bei der Übertragung des Eskalationsschemas auf denEinsatz altersgerechter Assistenzsysteme hingegengeschieht die Einordnung bzw. Abgrenzung voneiner zur nächsten Stufe, indem die konkrete, vorgegebeneSituation samt des technischen Systems nachund nach unter einer D<strong>im</strong>ension (z. B. Fürsorge) undauf einer Ebene (z. B. individuelle Ebene) betrachtetund einer Stufe (I–IV) zugeordnet wird. Bei der Bewertungwird kein Vergleich zu einer anderen hypothetischenSituation vorgenommen. Es bleibt <strong>im</strong>merbei der Betrachtung des konkreten Einzelfalls. Wiebereits von Hacker et al. festgestellt wurde, kann dieVerwendung des Eskalationsmodells nur in einemdefinierten Zeitfenster erfolgen. Veränderungen, diesich bspw. <strong>im</strong> sozialen Umfeld ergeben, der Verlustoder Gewinn persönlicher Ressourcen, aber auchtechnische und politische Entwicklungen greifenmaßgeblich in die Bewertung hinein und unterliegeneiner Dynamik, die gleichwohl berücksichtigtwerden muss (vgl. Hacker et al. 2009: 49).


MEESTAR: EIN MODELL ZUR ETHISCHEN EVALUATION SOZIO-TECHNISCHER ARRANGEMENTS21z-Achse: Die individuelle, organisationaleund gesellschaftliche BetrachtungsebenenInsbesondere in der Technik- und der Wirtschaftsethikist es etabliert, normativ relevantes Handelnnicht nur auf einer individuellen Ebene zu analysieren,sondern die organisationale wie gesellschaftlicheEbene genauso einzubeziehen (vgl. Ropohl 1996;Ulrich 2008). Deshalb wurde die Bewertungsmatrixum eine dritte D<strong>im</strong>ension erweitert, so dass individuelle,organisationale und gesellschaftliche Perspektivenanalysiert werden können. Nicht nur Individuenmüssen ihre Handlungen verantworten, sondernauch korporative Akteure wie Unternehmen. Zudemmuss man über eine gesellschaftliche Ebene derVerantwortung sprechen. Die Verantwortung derGesellschaft liegt – kurz gesagt – in der politischenDeliberation, wie man in dieser Gesellschaft lebenwill und welche Rechte und Pflichten man gegeneinanderhat (vgl. Heidbrink, Hirsch 2006). Das Modellerlaubt zudem, die Sichtweisen von möglichst vielenStakeholdern zu erfragen und in der Bewertung zuberücksichtigen (vgl. Bleisch, Huppenbauer 2011).Reichweite und Nutzen von MEESTARMEESTAR dient dazu, einen Überblick über ethischeProbleme und Konfliktfelder eines konkreten Arrangementseines oder mehrerer altersgerechterAssistenzsysteme zu schaffen. Diese Sensibilität fürethische Fragestellungen und Handlungsfelder wirddurch MEESTAR strukturiert und systematisiert. Sosollen blinde Flecken vermieden werden. Gleichzeitigverlangt MEESTAR, dass der in einer ethischenReflexion übliche Perspektivenwechsel und dieÜbernahme anderer Standpunkte praktiziert werden.Hierfür sind die drei Reflexionsebenen eingeführtworden, um sicherzustellen, dass ethische Problemfeldernicht nur einseitig eruiert werden.Das Modell sollte stets in einen iterativen Prozesseingebettet werden. Dies soll helfen, den ethischenStatus quo auch entlang der Entwicklung von gesellschaftlichen,individuellen und technischenPhänomenen zu beobachten und fortlaufend zuevaluieren.MEESTAR liefert keine Bewertungen, die allgemeineund zeitlose Gültigkeit beanspruchen können. Es istvielmehr ein Instrument, mit dem jederzeit aktuelleethische Verortungen und Klärungen vorgenommenwerden können, um sich über ethische Bedenklichkeitenbzw. Unbedenklichkeiten für konkreteAnwendungen altersgerechter Assistenzsystemezu verständigen. MEESTAR kann keine quantitativeEvaluation der untersuchten Szenarien liefern.<strong>Ethische</strong> Evaluationen sind qualitativer Natur, in diezwar quantitative Merkmale und Aspekte einfließenkönnen, die aber nicht in ein quantitatives Bewertungsergebnismünden. Notwendige Werte- undGüterabwägungen sind darüber hinaus <strong>im</strong>mer wiederneu zu verhandeln. Diese Aushandlungsprozessewerden, so der Grundgedanke von MEESTAR, inGruppen erarbeitet. Dies soll sicherstellen, dass dieverschiedenen Perspektiven nicht nur identifiziertund dokumentiert, sondern auch dynamisch diskutiertwerden. Erst in der gegenseitigen Spiegelungvon Pro- und Contra-Argumenten zu den siebenethischen Bewertungsd<strong>im</strong>ensionen wird die nötigeReflexionstiefe für die Bewertung des betrachtetenSzenarios erreicht.


22 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau5. <strong>Ethische</strong> Leitlinien für den Einsatz vonaltersgerechten AssistenzsystemenZweck der Leitlinien ist es, Orientierung <strong>im</strong> Umgangmit Assistenzsystemen <strong>im</strong> Alltag von älteren Menschenzu geben und Sensibilität zu schaffen für dasethisch orientierte Entscheiden, Urteilen und Handeln.Bei der Formulierung der Leitlinien sind anderweitigbereits entwickelte und vorgestellte Leitlinienund Handlungsanforderungen berücksichtigt worden(Bondolfi et al. 2003; Gothe et al. 2010; Meyer,Mollenkopf 2010).Die Leitlinien sind nicht starr fixiert, sondern als Vorschlagzur Verständigung über altersgerechte Assistenzsystemezu verstehen. Ihre Weiterentwicklung,Überarbeitung oder Korrektur ist explizit erwünscht.Jede Leitlinie besteht aus einem Leit-Kernsatz, demeine detaillierte Beschreibung folgt.1 – SELBSTBESTIMMUNGAltersgerechte Assistenzsysteme sollen den Nutzern helfen, ein selbstbest<strong>im</strong>mtes Leben zu führen.Altersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet werden, dass ihre Nutzer innerhalb der technisch unterstütztenLebensbereiche weiterhin selbstbest<strong>im</strong>mt entscheiden und agieren können. Von altersgerechtenAssistenzsystemen sollen keine Entscheidungen ausgehen, wenn dieser Systemschritt nicht vorab mit Einverständnisdes Nutzers festgelegt wurde. Der Einsatz von vollautomatisch agierenden, selbstentscheidendenSystemen soll daher einer besonderen Prüfung unterliegen. Zudem soll es dem Nutzer prinzipiell möglichsein, die Systeme (vorübergehend oder dauerhaft) selbständig abzustellen. Anbieter wie Nutzer sollen überdiese möglichen Abschaltungsmechanismen informiert werden.Im Falle einer selbstgewählten Abschaltung durch die Nutzer müssen die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeitenund Haftungsfragen geregelt und allgemeinverständlich kommuniziert werden.2 – EINGESCHRÄNKTE SELBSTBESTIMMUNG/ AUTONOMIEDer Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen bei kognitiv beeinträchtigten Personen sollnur nach gesonderter Prüfung und unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Personenerfolgen.Nutzer, die an kognitiven Einbußen leiden, wie z. B. an Demenz erkrankte Personen, sollten mit ihren Angehörigenoder Bevollmächtigten bzw. durch anderweitige Regelungen (z.B. Patientenverfügungen) frühzeitigihren eigenen Willen und ihre Haltung zum Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen festlegen (bzw.eine Betreuungsperson benennen).Bei Personen, die nicht mehr entscheidungsfähig sind, sollen technische Assistenz-Anwendungen erst nachausdrücklicher Rücksprache mit den Angehörigen bzw. den Betreuungspersonen und unter Wahrung gesetzlicherVorschriften zum Einsatz kommen.


ETHISCHE LEITLINIEN FÜR DEN EINSATZ VON ALTERSGERECHTEN ASSISTENZSYSTEMEN233 – TEILHABEAltersgerechte Assistenzsysteme sollen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Integrationin gesellschaftliche und soziale Verbindungen unterstützen.Mithilfe von altersgerechten Assistenzsystemen soll ein (vereinfachter) Zugang zum gesellschaftlichen Lebenermöglicht werden (z. B. Unterstützung der Kommunikation und Mobilität). Hierbei haben individuelle Vorstellungenzur Teilhabe Vorrang, d. h. es soll keine systemseitige Lenkung stattfinden, wie Teilhabe gestaltetwird. Es geht dabei sowohl um die Teilhabe der Nutzer, aber auch um die Teilhabe derer, die Betreuungs- undHilfsangebote offerieren. Assistenzsysteme sollen außerdem nicht andere Formen der Teilhabeermöglichung(z. B. durch persönliche Freundschaften) verdrängen oder behindern.4 – GERECHTIGKEITDer Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen soll diskr<strong>im</strong>inierungsfrei gestaltet werden.Ein vom Einkommen, sozialem Status, Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Technikaffinität unabhängiger,gleichberechtigter und barrierefreier Zugang zu altersgerechten Systemen ist anzustreben.5 – SICHERHEITDer Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen muss für alle Nutzergruppen sicher sein, sowohlbei der normalen Anwendung als auch bei potenziellen Fehlern und Ausfällen der gesamten Technikoder einzelner Prozessketten.Altersgerechte Assistenzsysteme sollen nicht die Sicherheit i. S. v. körperlicher oder geistiger Integrität derNutzer und Anbieter beeinträchtigen. Auch Fehler, Funktionsausfälle, prozessuale Unterbrechungen, Netzwerkproblemeoder anderweitige technische Defekte oder menschliche Irrtümer dürfen die Gesundheit derBeteiligten nicht beeinträchtigen oder gar gefährden. Altersgerechte technische Assistenzsysteme dürfennicht zu zusätzlichen physischen oder psychischen Belastungen wie etwa Stress, Überforderung, Diskr<strong>im</strong>inierungoder Stigmatisierung führen.6 – PRIVATHEITAltersgerechte Assistenzsysteme sollen die persönliche Lebensgestaltung nicht negativbeeinträchtigen.Die Erhebung und Weiterverarbeitung von Daten, die aus dem privaten Umfeld der Nutzer von altersgerechtenAssistenzsystemen an Dritte geleitet werden, müssen so aufbereitet werden, dass keine weiterführendenInformationen (z. B. Verknüpfung der Daten) abgeleitet werden können. Warnsignale oder -nachrichten solltenpseudonymisiert und – wo <strong>im</strong>mer möglich – anonymisiert werden.Die Erhebung und Weiterleitung von Daten aus dem Kernbereich der Privatsphäre der Nutzer durch altersgerechteAssistenzsysteme ist wie bei allen datenverarbeitenden Systemen durch besondere Schutzmaßnahmenabzusichern. Der Schutz dieser Daten, auch durch die Vermeidung der Zusammenführung der Datenmehrerer Nutzer, ist hierbei besonders wichtig.


24 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau7 – DATENSCHUTZPersonenbezogene und sonstige vertraulich zu behandelnde Daten, die <strong>im</strong> Kontext von altersgerechtenAssistenzsystemen erhoben, dokumentiert, ausgewertet oder gespeichert werden, sollenvor dem Zugriff unbefugter Dritter sowie vor Missbrauch bestmöglich geschützt werden.Dritte dürfen nicht unbefugt auf persönliche Daten von Nutzern zugreifen oder diese verarbeiten. Diesschließt auch den Zugriff auf Daten des ärztlichen oder pflegerischen Personals ein (Mitarbeiterdatenschutz).Datenschutzerklärungen sollen einfach und klar verständlich verfasst sein. Im Zweifel ist <strong>im</strong>mer zugunstender Person zu entscheiden, von der die Daten originär stammen. Die für die Einhaltung des Datenschutzesund des Rechtes auf informationelle Selbstbest<strong>im</strong>mung notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und Handlungsanleitungenfür einen richtigen Umgang mit solchen sensiblen Daten sind in verständlicher Form zu kommunizierenund transparent zu machen.8 – AUFKLÄRUNG & INFORMATIONELLE SELBSTBESTIMMUNGNutzer von altersgerechten, technischen Assistenzsystemen sollen vollständig über die Funktion undErhebung der sie betreffenden Daten und die Funktion des Systems informiert werden und erst aufdieser Basis eine informierte Einwilligung geben.Über Umfang, Rahmen, Eingriffstiefe, Funktionalität und Datennutzung der jeweiligen altersgerechten Assistenzsystemesollen Nutzer ausführlich, vollständig, verständlich und angemessen informiert werden. Erst aufBasis dieser Aufklärung und Information sollen Nutzer über den Einsatz von Assistenztechniken entscheiden.9 – HAFTUNGVerantwortungsübernahme und Haftung <strong>im</strong> Fall einer fehlerhaften Funktion von altersgerechtenAssistenzsystemen müssen transparent und verbindlich geregelt werden.Die Verantwortlichkeiten und Haftungsrisiken bei hochkomplexen systemischen Lösungen sind genau zudefinieren. Ein Verantwortungsvakuum sollte vermieden werden. Zu jedem altersgerechten Assistenzsystemund seinen Funktionen sollen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten klar definiert werden (siehe auchULD 2010)10 – ALTERSBILDERAltersgerechte Assistenzsysteme sollen möglichst vielfältige Bilder vom Alter zulassen.Ein einseitiges, etwa defizitär gezeichnetes Bild vom alten Menschen soll genauso vermieden werden wie eineinseitig positiv gezeichnetes Bild vom alten Menschen als vitaler, leistungsfähiger, disziplinierter Mensch.Vereinseitigungen werden dem vielschichtigen Phänomen des Alter(n)s nicht gerecht. Vielmehr ist es notwendig,alle Facetten des Alters <strong>im</strong> gesellschaftlichen Diskurs zu berücksichtigen, ohne dabei vorab selektiveund/oder diskr<strong>im</strong>inierende Positionen und/oder Normen aufzustellen. Der Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemenkann daher als inspirierende Anregung verstanden werden, um gesamtgesellschaftliche, offeneDiskurse über das »gute Alter(n)« zu initiieren.


ETHISCHE LEITLINIEN FÜR DEN EINSATZ VON ALTERSGERECHTEN ASSISTENZSYSTEMEN2511 – VERMEIDEN VON DISKRIMINIERUNG UND NORMIERUNGStigmatisierungen oder Diskr<strong>im</strong>inierungen <strong>im</strong> Kontext der Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemensind unerwünscht. Genauso unerwünscht ist es, wenn von den Systemen (direkte oder indirekte)Normierungen ausgehen.Es ist eine individuelle Lebensentscheidung, ob sich eine Person für ein altersgerechtes Assistenzsystem entscheidetoder nicht. Hier soll als Maßstab der Gleichheitsgrundsatz gelten zur Vermeidung von Diskr<strong>im</strong>inierungen.Der Einsatz von Technik kann (versteckt) normierend wirken, z.B. indem sich Menschen an technischeRhythmen und Routinen anpassen und/oder sich in ihrem Alltag an Messwerten orientieren und ihre Handlungendaran ausrichten. Solche (subtilen) Wirkungen sind offen zu legen. Wenn sie als unerwünschte Eingriffe indie individuelle Lebensführung empfunden werden, sind solche unterschwelligen oder offenen Normierungenzu vermeiden.12 – ANWENDUNGSFREUNDLICHKEITAltersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet sein, dass der Umgang für die Anwender einfach,intuitiv und gut nachvollziehbar ist.Entscheidend für die Gebrauchstauglichkeit und -freundlichkeit (engl. »Usability«) altersgerechter Assistenzsystemeist eine einfache und eingängige Bedienung, bei der auch die entlastende und/oder unterstützendeEigenschaft des Systems zu erkennen ist. Dies muss vor allem vor dem Hintergrund der potenziell älterenNutzer Berücksichtigung finden, die z. B. durch verschlechterte Sensomotorik, eingeschränkte Mobilität oderreduzierte kognitive Fähigkeiten (etwa Gedächtnisleistung) andere Nutzungsanforderungen an technischeSysteme stellen. Anforderungen und Nutzerinteressen sind bei der Planung, Konzeption, Testung, Vermarktung,Anwendung sowie Weiterentwicklung und Wartung von altersgerechten Assistenzsystemen einzubeziehen(siehe auch Friesdorf et al. 2011)13 – VERTRAGSBESTIMMUNGENNutzer von altersgerechten Assistenzsystemen soll die Möglichkeit gegeben sein, aus dem Vertragsverhältnisauszutreten.Bei der Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemen soll die Möglichkeit bestehen, aus dem Vertragsverhältnisaussteigen zu können, sollte ein Nutzer sich verunsichert, unwohl, beobachtet, in seiner Privatsphärebeeinträchtigt fühlen oder anderweitige Bedenken haben. Dabei sind die allgemein geltenden vertragsrechtlichenGrundlagen einzuhalten, damit auch die Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen Planungssicherheithaben. Nutzer von Assistenzsystemen sollen zunächst in einem Testlauf die technische Anwendungausgiebig testen können, bevor sie sich für den langfristigen Einsatz bzw. die langfristige Nutzungentscheiden. Modular aufgebaute Assistenzsysteme können helfen, hier eine größtmögliche Flexibilität zuerzielen.


26 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerau14 – QUALIFIZIERUNG UND WEITERBILDUNGAlle Akteure <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> altersgerechter Assistenzsysteme sollen an regelmäßigen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmenteilnehmen.Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen sollten sich zur ständigen Weiterbildung und Weiterqualifizierung<strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> der altersgerechten Assistenztechniken verpflichtet fühlen. Das <strong>im</strong>pliziert auch die Berücksichtigungvon Nutzer-Akzeptanzstudien und Nutzer-Wünschen sowie Grundkenntnisse in juristischen,ökonomischen, ethischen und sozialen <strong>Fragen</strong>.15 – VERANTWORTUNG & BESTMÖGLICHE UNTERSTÜTZUNG DURCH TECHNIKAnbieter altersgerechter Assistenzsysteme sollen verantwortlich agieren; assistive Technologiensollten stets zum Nutzen und Wohl der Nutzer eingesetzt werden.Das vorrangige Ziel von altersgerechten Assistenzsystemen ist, menschliche Hilfe, Pflege und Betreuung beiälteren Menschen sinnvoll zu ergänzen und dabei einen eindeutigen Mehrwert für die Beteiligten zu bieten.Die Technik dient dem Menschen und sollte sich seinen Bedürfnissen, Wünschen und Lebensprozessenanpassen – nicht umgekehrt (siehe auch »11 – Vermeiden von Diskr<strong>im</strong>inierung und Normierung«). Techniksoll nicht Lebensvollzüge in unerwünschter Weise einengen oder von den Nutzern eine zu starke Anpassungverlangen. Daher ist es besonders wichtig, dass Nutzen und Mehrwert von technischen Assistenzsystemenfür alle Beteiligten klar ersichtlich und nachvollziehbar sind. Der Mehrwert kann sich für unterschiedlicheNutzergruppen (Hilfs- und Pflegebedürftige, »professionell/semi-professionell« Pflegende, Dienstleister, Kostenträger,etc.) in unterschiedlicher Weise manifestieren und ist transparent darzustellen. Dienste und/odertechnische Optionen sollen stets nur mit Zust<strong>im</strong>mung der jeweils betroffenen Nutzer verwendet werden.Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzergruppen sollen offen und proaktiv kommuniziert werden, umeine Lösung herbeizuführen.


ETHISCHE KIPPPUNKTE UND SPANNUNGSFELDER276. <strong>Ethische</strong> Kipppunkte und SpannungsfelderDer Begriff Kipppunkt beschreibt eine visuelle Dynamik;so ist bei Vexierbildern je nach Perspektive nurdas eine oder andere Teilbild zu sehen, nie könnenjedoch beide Teilbilder gleichzeitig in den Blick kommen.Mit Kipppunkten bezeichnen wir jene heiklenÜbergänge, an denen die technisch positiven Effekteund moralisch vorzugswürdigen Momente altersgerechterAssistenzsysteme in ihr Gegenteil umschlagen.Dabei geht es weniger um eine prinzipielleAmbivalenz, die der Technik als solcher innewohnt,sondern vielmehr um eine Veränderung des soziotechnischenArrangements über die Zeit hinweg, inderen Verlauf es von einer hilfreichen Unterstützungin eine kontraproduktive Belastung umschlägt. Fürdie Broschüre haben wir einige Kipppunkte exemplarischherausgestellt und beschrieben. Wir orientierenuns hierbei an den sieben D<strong>im</strong>ensionen und dendrei Ebenen des Bewertungsinstruments MEESTAR.Wie Teilhabe gestalten?Woran sollen Menschen in welcher Art und Weise(mehr) teilhaben? Hier lassen sich mehr oder wenigeranspruchsvolle Varianten skizzieren, die zum Teildas Potenzial in sich tragen, als Überforderung wahrgenommenzu werden. Auch wenn die wirklichenTeilhabebedürfnisse von älteren Menschen in ihrerVielfalt noch nicht genügend erforscht worden sind,so lässt sich aus ethischer Perspektive fordern, dassTeilhabeermöglichung nicht in Teilhabezwang – z. B.in Form einer allgemeinen gesellschaftlichen Erwartung– umschlagen darf.Wie fragil istdas Pflegebzw.Versorgungssystem?Technik alsDisziplinierungsmaßnahme?Belastung undEntlastung insozio-technischenArrangementsStadt-Land-GefälleWieTeilhabegestalten?MedizinoderLifestyle-Produkt?FürsorgeSicherheit Gerechtigkeit Privatheit TeilhabeSelbstbest<strong>im</strong>mungSelbstverständnisIndividuellOrganisationalGesellschaftlichLässt sich Fürsorgean Technikdelegieren?Selbstbest<strong>im</strong>mung,Assistenz undFehlbedienungGerechter Zugangzu den benötigtenAssistenzsystemenVerändern sich individue lleund gesellschaftlicheFürsorgestrukturen?Entlastung des Personals odersteigender Personalbedarf?Wie sind altersbedingteEinschränkungengegenüber Behinderungabzugrenzen?Abbildung 2:<strong>Ethische</strong> Kipppunkte und Spannungsfelder – exemplarisch aufgeführt in der MEESTAR-Struktur


28 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. FangerauKonzeptionen von Teilhabe, Eigenverantwortungoder Selbstbest<strong>im</strong>mung müssen auf die faktischenKönnensbedingungen reflektieren. So steht bspw.bei der Teilhabeförderung von Menschen mit Behinderungin der Regel die Idee der Reintegration inden Arbeitsmarkt leitend <strong>im</strong> Hintergrund. Die Möglichkeit,sich mit eigener Arbeit den Lebensunterhaltzu verdienen und so die eigene Lebensgestaltungökonomisch disponieren zu können, ist eine starkeund plausible Leitidee. Doch wohin sollen Menschenintegriert werden, die nicht mehr erwerbsfähig und-pflichtig sind? Das sind keine <strong>Fragen</strong>, die <strong>im</strong> Rahmendes Einsatzes altersgerechter Assistenzsystemegelöst werden können, aber sie verweisen auf dengrößeren Kontext, der über ihren Einsatz mitentscheidensollte.Schließlich ist be<strong>im</strong> Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemenzu bedenken, dass sie Menschen ineiner Lebensphase unterstützen, in der Aktivitätenzunehmend reduziert werden. Systeme, die Teilhabe,Selbstbest<strong>im</strong>mung, also Aktivität unterstützen, müssenso gestaltet sein, dass sie zugleich der Tendenz zurEntschleunigung oder Passivität nicht <strong>im</strong> Weg stehen.Technik als Disziplinierungsmaßnahme?Das Ziel vieler altersgerechter Assistenzsysteme istes, Sicherheit in einer Weise herzustellen, die körperlicheUnversehrtheit garantiert. Das, was für denEinzelnen als sicher gilt, ist jedoch kein starres Regelwerk,welches sich in ein Arrangement überführenlässt und dann den individuellen Bedürfnissen einesgroßen Anwenderkreises gerecht werden kann. Legtman bspw. für die Überwachung von VitaldatenSchwellenwerte fest, die einen Korridor des ›Normalen‹flankieren, so darf dies nicht unter Missachtungindividueller Besonderheiten der Lebensführungund der gesundheitlichen Verfassung stattfinden.Zudem ist zu beachten, dass selbst bei der Abweichungvon definierten Grenzen und Schwellenwerten(aber auch bei deren Unauffälligkeit) letztlichdie Verfassung des Nutzers und sein persönlicherWunsch nach Unterstützung entscheidend seinsollten. Die Festlegung von Werten, die dabei hilft,das Verhalten des Nutzers oder seinen Zustand aufdem Kontinuum von Normalität und Abweichungauszumachen, greift daher die Frage nach dem normierendenCharakter solcher Systeme auf.Belastung und Entlastung in soziotechnischenArrangementsEntlastende Technik, die die längere selbständigeLebensführung in den eigenen vier Wänden ermöglichensoll, führt unter Umständen gerade zum Verlustvon Fähigkeiten, die für ein solches selbständigesLeben vonnöten sind – etwa wenn die Technik derartdie Menschen entlastet, dass diese grundständigeFähigkeiten langfristig abbauen (Regression). Einekurzfristige Entlastung kann in einer Langfristperspektiveso zu einer Belastung umschlagen. Dies kannindividuell gewünscht, gesellschaftlich aber wenigerstrebenswert sein (und umgekehrt). Hier sind dieverschiedenen Betrachterebenen (individuell, organisational,gesellschaftlich) zusammenzufügen, umethische Problem- und Kipppunkte zu identifizieren.Wie sind altersbedingte Einschränkungengegenüber Behinderung abzugrenzen?Die sozialpolitisch sinnvolle Unterscheidung vonAlter und Behinderung (SGB XI und XII bzw. SGB IX)kann dazu führen, dass für beide PersonengruppenAssistenzsysteme parallel entwickelt werden; dieswäre förderpolitisch wie in Bezug auf die verwendetenRessourcen begründungsbedürftig. Assistenzsystemesollten entsprechend dem Hilfebedarf entwickeltund angeboten werden, sofern sie über diePflege- oder Krankenkassen finanziert werden sollen.Hierbei wirft das Phänomen des Alters ein Problemauf: Mit dem Alter treten unterschiedlich, aber dochunvermeidlich Abbauprozesse be<strong>im</strong> Menschen ein,die als ›normal‹ anzusehen sind. Es ist fraglich, ob undin welchem Maße bzw. bis zu welchem Punkt gegen


ETHISCHE KIPPPUNKTE UND SPANNUNGSFELDER29diese Abbauprozesse unterstützt werden soll, undwann eine Unterstützung vielleicht zu einer Überforderungund Belastung für den Betroffenen wird.Was jetzt als Assistenzsysteme deutlich auf dieGruppe der älteren Mitbürger zielt, ließe sich unterUmständen genauso gut von Menschen mit Behinderungnutzen. Im Rahmen des SGB IX sind die Unterstützungsleistungender Kassen vollumfänglich,anders als bei der Pflegekasse nach SGB XI, die nurals Teilkaskoversicherung angelegt ist. Um Ungerechtigkeitenzu vermeiden, wären sozialpolitischeKlärungen <strong>im</strong> Vorfeld der Einführung der Systemevorzunehmen.Entlastung des Personals oder steigenderPersonalbedarf?Der projektierte Einsatz von Assistenzsystemen zeigt,dass viele technische Arrangements einen hohenPersonalaufwand aufweisen. Dieser muss nicht nurfinanziert, sondern auch und vor allem mit mitarbeitendenPersonen bewältigt werden. Das Ziel,mithilfe von Technik das Pflegepersonal zumindestzu entlasten und damit zu einer Entschärfung desPflegekräftemangels beizutragen, erscheint vor diesemHintergrund wiederum infrage gestellt. Selbstwenn der Technikeinsatz zu einer Stabilisierung desBedarfs an Pflegepersonal führen sollte, könnte ananderer Stelle ein womöglich deutlich kostenträchtigererBedarf bspw. an Wartungspersonal für dietechnischen Systeme entstehen. Daher müsste einevolkswirtschaftliche Gesamtrechnung hinsichtlichdes finanziellen Aufwands und Nutzens durchgeführtund die für den Arbeitsmarkt relevantenEffekte abgeschätzt werden. Auf Basis dann besserabgesicherter Abschätzungen muss die Frage nachder ethisch, sozial, politisch und ökonomisch vertretbarenMittelverteilung gestellt werden.Ebenso ist auf die Problematik des ›Instant Care‹-Ansatzes hinzuweisen, der große strukturelle Veränderungenauf der Anbieterseite fordert. Instant Caremeint den spontanen Einsatz von Pflege(hilfs)kräftenbei älteren Menschen. Die hierbei angestrebtesofortige Hilfe wird mit dem aktuellen Personal vermutlichnicht zu leisten sein. So wird seitens der Anbieterdie Einbindung informeller Helfer vorbereitet.Hieraus ergibt sich jedoch eine durchaus riskanteAbhängigkeitssituation. Das private, ehrenamtlicheoder auch zivilgesellschaftliche Engagement fürältere Hilfebedürftige wird einen sehr großen Poolvon Hilfewilligen brauchen, um die spontanen, nichtplanbaren Einsätze leisten zu können. Es sind abervor allem nicht arbeitstätige oder gering beschäftigtePersonen, die über ein relativ großes und verlässlichabrufbares Zeitbudget verfügen. So besteht dieGefahr, dass die Pflege und Unterstützung vulnerablerMenschen auf ebenso vulnerable Personengruppendelegiert wird.Die Perspektiven und Interessen der Angehörigensind derzeit noch wenig erforscht. Daher wäre zuklären, welche Form der Entlastung und Hilfe sie sichals mittelbar Betroffene von altersgerechten Assistenzsystemenerhoffen. Hieraus ließen sich Hinweisezur Erfolgswahrscheinlichkeit und Einsatzbreiteableiten: Die Systeme und Lösungen sollten einenNutzen aufweisen, der direkt für die verschiedenenAnwendergruppen und Kostenträger erkennbar ist.Stadt-Land-Gefälle?Schon jetzt leiden ländliche und dünner besiedelteRegionen unter erheblichen Infrastrukturproblemenbspw. <strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> des öffentlichen Personennahverkehrsoder der Versorgung mit leistungsfähigenDatennetzen hoher Bandbreite. Mobilität und informationelleKonnektivität sind jedoch zentrale Bausteinesowohl altersgerechter Assistenzsysteme alsauch der normativen Forderungen nach Fürsorge, Sicherheitund Teilhabe. Die Gesundheitsversorgungssystemewären allerdings überfordert, entsprechendeInfrastrukturmaßnahmen zu finanzieren; vor


30 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerauallem aber entspräche dies nicht ihrem Auftrag. DieFrage nach einer fairen Lastenverteilung, die sich invielen sozialen Kontexten (Kosten für Wohnraumund Mobilität, Umweltbelastung, Lebensqualität)stellt, wird durch den Einsatz altersgerechter Assistenzsystemeaktualisiert. Bisher werden solche <strong>Fragen</strong>aber nicht genügend gewürdigt und diskutiert.Gerechter Zugang zu den benötigtenAssistenzsystemen?Wenn altersgerechte Assistenzsysteme nicht überKrankenkassen finanziert werden, werden dieseKosten die Privathaushalte direkt zu tragen haben.Hier würde dann auf eine Angebots- und Nachfragestrukturvertraut, die überfordert sein kann: Decktder Markt für altersgerechte Assistenzsysteme nichtalle <strong>Bereich</strong>e ab, die aber notwendigerweise bedientwerden müssten, so müsste den Hilfsbedürftigen aufandere und adäquate Weise geholfen werden. Wiedies gerecht zu finanzieren wäre, ist bisher unklar.Es sind auf die eine oder andere Weise stets die Patientenund Pflegebedürftigen, die die Kosten altersgerechterAssistenzsysteme werden aufbringen müssen.Sie benötigen diese Systeme aber nicht zuletztdeshalb, weil Ausbildung und Berufstätigkeit dazubeitragen, dass soziale Verbände – in erster Linie Familien– oftmals nur noch in rud<strong>im</strong>entärer Form existierenund soziale Netzwerke – Freunde, Bekannte,Nachbarschaften, Vereine etc. – schwächer werden,da räumliche Mobilität den Aufbau und konstantenErhalt solcher Netze erschwert. Gleichzeitig bringtprivate Pflege andere soziale Probleme mit sich, weilmeist Frauen Betreuungsleistungen erbringen undin der Entwicklung eigener Lebenspläne behindertwerden. Es bleibt daher die grundsätzliche Frage,welche sozialen Ressourcen wir gesellschaftlichmobilisieren können und wollen, um der sozialenD<strong>im</strong>ension des Pflegeproblems gerecht zu werden.Medizin- oder Lifestyle-Produkt?Nutzer interessieren sich mitunter offenbar erst dannfür die Möglichkeiten und Grenzen altersgerechterAssistenzsysteme, wenn sie akuten Unterstützungsbedarfhaben. Daraus resultiert das Problem, kurzfristigagieren zu müssen. Idealerweise sollte die Gewöhnungan altersgerechte Assistenzsysteme frühzeitigstattfinden, so dass der Nutzer gut die Funktionenkennenlernen und eine informierte Einwilligunggeben kann. Zu diesem Zeitpunkt ist aber der Hilfebedarfnoch nicht so klar ausgeprägt, dass eine entsprechendemedizinische Indikation erfolgt, die es erlaubenwürde, die Assistenzleistungen über die Kasse zufinanzieren. Diese zeitliche Diskrepanz muss von denverschiedenen Dienstleistern produktiv gemeinsammit den Betroffenen bearbeitet werden.Die als altersgerechte Assistenzsysteme entwickeltenProdukte lassen sich in einigen Fällen aber auchjenseits von Alter und Behinderung als komfortableLife-Style-Produkte vermarkten. Hier wäre eine reinprivate Finanzierung zu erwarten. Allerdings sindbe<strong>im</strong> Übergang von der Unabhängigkeit in die Unterstützungswürdigkeiteines Nutzers <strong>Fragen</strong> nachder teilweisen Erstattung der selbst finanziertenAssistenzsysteme zu erwarten. Hier sollte eine klareGrenze gezogen werden zwischen dem, was solidarischund was privat finanziert wird. Dazu wird esunerlässlich sein, den Status von altersgerechtenAssistenzsystemen festzulegen: Wann handelt essich um Medizinprodukte und wann um Lifestyle-Produkte?Selbstbest<strong>im</strong>mung, Assistenz undFehlbedienungAuch wenn in den analysierten Projekten unterschiedlichekognitive und motorische Fähigkeitenvorausgesetzt werden (z. B. eigenständige Blutdruckmessung),so ist gerade bei demenziell verändertenPersonen davon auszugehen, dass Fehlbedienungen


ETHISCHE KIPPPUNKTE UND SPANNUNGSFELDER31auftreten können, die unerwünschte Folgen odergar folgenschwere Fehler produzieren. Eine denkbareLösung wäre es, die Systeme so weiterzuentwickeln,dass von diesen Nutzern keine manipulativeEinflussnahme ausgehen kann (oder muss). Sokönnte ein modular bzw. graduell aufgebautes Assistenzsystemunterschiedlichen Graden von Selbstbest<strong>im</strong>mungentsprechen. Folglich wäre in einemkontinuierlichen Evaluationsprozess zu eruieren, obder Grad der Selbstbest<strong>im</strong>mung des Nutzers nochmit dem Assistenzgrad des Systems korreliert.Verändern sich individuelle undgesellschaftliche Fürsorgestrukturen?Es zeichnet Menschen als moralische Wesen aus,dass sie zur Fürsorge fähig sind. Menschliche Fürsorgegeschieht nicht nur bilateral, sondern kann überNahbeziehungen (Familie, Freunde, Dorfgemeinschaft)hinaus in großräumigen sozialen Einheitenorganisiert werden. Fürsorge ist über die zwischenmenschlicheD<strong>im</strong>ension hinaus ein Merkmal desWohlfahrtsstaates und so auch als Bindemittel derGesellschaft zu verstehen. Ethisch relevant ist nun,ob durch den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme<strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> der häuslichen Unterstützung vonälteren Menschen Fürsorge und damit insgesamt diegesellschaftliche Kohäsion verändert werden. Aufder Grundlage unserer Studie lassen sich zumindestHinweise dafür finden, dass durch Assistenzsystemedie Gestalt der Fürsorge verändert und Mitmenschlichkeitdurch Technik ersetzt werden könnte. Dasresultiert jedoch nicht aus der Technik als solcher,sondern aus den falschen Hoffnungen und fehlgeleitetenErwartungen, die mit dem Einsatz der Technikverbunden werden (Manzeschke 2011).Lässt sich Fürsorge an Technik delegieren?Neben der so grundsätzlich gestellten Frage ist diepragmatischere Frage danach zu stellen, wie altersgerechteAssistenzsysteme gestaltet und eingesetztwerden müssen, damit sie das Moment der Fürsorgenicht unterlaufen und korrumpieren. Fürsorge darfnicht durch Rahmenbedingungen eines Sorgesystemsunterlaufen werden, das – in guter Absicht –das sorgende Handeln in die Autonomie und Selbstverantwortungdes Umsorgten (zurück-)geben will– und sei es auch als technische Unterstützung.Es muss darum gehen, die Strukturen des Sorgesystemsso zu gestalten, dass beiden Polen, der Selbstbest<strong>im</strong>mungund der Fürsorge, sensibel Rechnung getragenwird, und so die Fürsorge nicht zur ›fürsorglichenBelagerung‹ wird, und die Selbstbest<strong>im</strong>mungnicht zum Deckmantel einer Ignoranz gegenüberder Not des Bedürftigen.Wie fragil ist das Pflege- bzw. Versorgungssystem?Altersgerechte Assistenzsysteme sollen entlastenbzw. unterstützen. Da sind in erster Linie die bedürftigenälteren Menschen, in zweiter Linie ihreAngehörigen und ihr nachbarschaftliches Umfeld, indritter Linie auch professionell Sorgende. Assistenzsystemekönnen einzelne oder auch alle diese Personengruppenentlasten, aber zugleich auch einzelnePersonen bzw. Personengruppen belasten. Bei derBilanzierung der Be- und Entlastungsmomente wirdman nicht von vornherein festlegen können, werwie entlastet werden soll. In jedem Falle sollte einevorgenommene Abwägung transparent und <strong>im</strong> gegenseitigenEinvernehmen der Beteiligten geschehen.Weiter sollte das sozio-technische Arrangementüber die Zeit hin betrachtet und evaluiert werden, daes kippen und eine einmal erreichte Entlastung <strong>im</strong>zeitlichen Verlauf auch zu einer Belastung werdenkann – und umgekehrt. Diese Veränderung hängteng damit zusammen, was als altersgemäße Einschränkunghingenommen und was demgegenüberals unterstützenswerte bzw. unterstützensnotwendigeEinschränkung betrachtet wird.


32 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. FangerauFazit und AusblickMenschen sollen Subjekte ihrer eigenen Lebensgestaltungsein. Alter, Behinderung und Pflegebedürftigkeitkönnen ein selbstbest<strong>im</strong>mtes Leben unddie gesellschaftliche Teilhabe massiv einschränken.Altersgerechte Assistenzsysteme sollen diesen Einschränkungenentgegenwirken. Die konsequenteBeachtung ethischer, legaler und sozialer Aspektewird dazu beitragen, dass der Einsatz altersgerechterAssistenzsysteme nicht nur dem Einzelnen dient,sondern auch einen Beitrag zu einer Gesellschaftleistet, in der Menschen in ihrer Verschiedenheitgut miteinander leben können. Für den <strong>Bereich</strong>der ethischen Aspekte be<strong>im</strong> Einsatz altersgerechterAssistenzsysteme haben wir hiermit eine erste Untersuchungvorgelegt. Die drei zentralen Bausteineder Studie zu ethischen <strong>Fragen</strong> <strong>im</strong> Kontext altersgerechterAssistenzsysteme wurden in der vorliegendenBroschüre zusammengefasst: Dabei handelt essich (1) um das Instrument MEESTAR, welches einesystematische Bewertung sozio-technischer Arrangementsunterstützen und begleiten soll. Darüberhinaus (2) wurden 15 ethisch-normative Leitlinienentwickelt und vorgestellt, die allen Beteiligten <strong>im</strong>Kontext von altersgerechten Assistenzsystemen eineOrientierung bei Handlungs- und Entscheidungsoptionengeben sollen. Abschließend (3) finden sichdie detaillierten Ergebnisse in einem ausführlichenAbschlussbericht zusammengefasst. Die vorgelegteBroschüre bündelt die Erkenntnisse und Ergebnisseder Studie und markiert zugleich weiteren Forschungsbedarf.Es wird weitere Arbeit u.a. in folgenden<strong>Bereich</strong>en und Themengebieten zu leisten sein:• So ist eine vertiefte Untersuchung von genderspezifischenund Migrationsaspekten <strong>im</strong> Kontextaltersgerechter Assistenzsysteme vonnöten, umu.a. Divergenzen, Anforderungen, Bedarf undunterschiedliche Wertvorstellungen erfassen zukönnen.• Ebenso wichtig ist es, den Begriff der Behinderung<strong>im</strong> Hinblick auf den Nutzen und die spezifischenAnwendungskontexte von altersgerechtenAssistenzsystemen zu überprüfen. AltersgerechteAssistenzsysteme können nicht ohne Bezugnahmezu Aspekten der Behinderung gedacht,entwickelt und angeboten werden – hier ist einegrundlegende Klärung angeraten.• Zudem erscheint es zentral, die Frage nach denzugrundeliegenden Mechanismen der Etablierungvon Nachfrage- und Angebotsstrukturen <strong>im</strong><strong>Bereich</strong> von altersgerechten Assistenzsystemengenauer zu untersuchen. Dazu gehört auch dieErhebung von Faktoren, die die Akzeptanz solcherSysteme bei den potenziellen Nutzern befördernoder mindern.• Außerdem ist es notwendig, neben der Offerteund Förderung von altersgerechten Assistenzsystemenauch über anderweitige Optionen zurFörderung des Wohlergehens in den eigenen vierWänden bei Älteren nachzudenken und hier dasMöglichkeitsspektrum zu erweitern. <strong>Ethische</strong>Evaluationen sollten zusammen mit juristischen,ökonomischen, sozialwissenschaftlichen undtechnischen Überlegungen zu gangbaren Alternativenzur Problemlösung beitragen.• Ebenso wichtig wird es sein, den gesamten <strong>Bereich</strong>rund um die Frage nach dem ›guten Altern‹(mit Aspekten wie Mobilität, Arbeit, Familie,Ehrenamt usw.) in den Blick zu nehmen. Dabeiwird es nicht genügen, nur einzelne Ausschnitteeines guten Alterns, wie etwa den <strong>Bereich</strong> derAssistenztechniken in den eigenen vier Wänden,zu beleuchten und zu untersuchen. Vielmehrerscheint es notwendig und angeraten, grundlegendeGedanken über die vielfältigen (individuellen,organisationalen wie gesellschaftlichen)


FAZIT UND AUSBLICK33Vorstellungen des guten Alterns anzustellen unddiese in einem Gesamtkontext – eingebettet indie Frage nach dem ›guten Leben‹ – zu betrachtenund zu evaluieren.• Betrachtet man mit Norbert Elias (1939) den »Prozessder Zivilisation« als eine Internalisierungvon zunächst externen Zwängen, so scheint esangeraten, den Komplex von gesundheitspolitischerPrävention, technischen Kontroll- undSteuerungsmomenten sowie ökonomischen Rahmensetzungengenauer zu untersuchen und zivilisatorischeGewinne wie auch Gefährdungen inhistorischen Längsschnittuntersuchungen nebenethisch-anthropologischen Reflexionen differenziertherauszuarbeiten.


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