30 A. Manzeschke, K. Weber, E. Rother, H. Fangerauallem aber entspräche dies nicht ihrem Auftrag. DieFrage nach einer fairen Lastenverteilung, die sich invielen sozialen Kontexten (Kosten für Wohnraumund Mobilität, Umweltbelastung, Lebensqualität)stellt, wird durch den Einsatz altersgerechter Assistenzsystemeaktualisiert. Bisher werden solche <strong>Fragen</strong>aber nicht genügend gewürdigt und diskutiert.Gerechter Zugang zu den benötigtenAssistenzsystemen?Wenn altersgerechte Assistenzsysteme nicht überKrankenkassen finanziert werden, werden dieseKosten die Privathaushalte direkt zu tragen haben.Hier würde dann auf eine Angebots- und Nachfragestrukturvertraut, die überfordert sein kann: Decktder Markt für altersgerechte Assistenzsysteme nichtalle <strong>Bereich</strong>e ab, die aber notwendigerweise bedientwerden müssten, so müsste den Hilfsbedürftigen aufandere und adäquate Weise geholfen werden. Wiedies gerecht zu finanzieren wäre, ist bisher unklar.Es sind auf die eine oder andere Weise stets die Patientenund Pflegebedürftigen, die die Kosten altersgerechterAssistenzsysteme werden aufbringen müssen.Sie benötigen diese Systeme aber nicht zuletztdeshalb, weil Ausbildung und Berufstätigkeit dazubeitragen, dass soziale Verbände – in erster Linie Familien– oftmals nur noch in rud<strong>im</strong>entärer Form existierenund soziale Netzwerke – Freunde, Bekannte,Nachbarschaften, Vereine etc. – schwächer werden,da räumliche Mobilität den Aufbau und konstantenErhalt solcher Netze erschwert. Gleichzeitig bringtprivate Pflege andere soziale Probleme mit sich, weilmeist Frauen Betreuungsleistungen erbringen undin der Entwicklung eigener Lebenspläne behindertwerden. Es bleibt daher die grundsätzliche Frage,welche sozialen Ressourcen wir gesellschaftlichmobilisieren können und wollen, um der sozialenD<strong>im</strong>ension des Pflegeproblems gerecht zu werden.Medizin- oder Lifestyle-Produkt?Nutzer interessieren sich mitunter offenbar erst dannfür die Möglichkeiten und Grenzen altersgerechterAssistenzsysteme, wenn sie akuten Unterstützungsbedarfhaben. Daraus resultiert das Problem, kurzfristigagieren zu müssen. Idealerweise sollte die Gewöhnungan altersgerechte Assistenzsysteme frühzeitigstattfinden, so dass der Nutzer gut die Funktionenkennenlernen und eine informierte Einwilligunggeben kann. Zu diesem Zeitpunkt ist aber der Hilfebedarfnoch nicht so klar ausgeprägt, dass eine entsprechendemedizinische Indikation erfolgt, die es erlaubenwürde, die Assistenzleistungen über die Kasse zufinanzieren. Diese zeitliche Diskrepanz muss von denverschiedenen Dienstleistern produktiv gemeinsammit den Betroffenen bearbeitet werden.Die als altersgerechte Assistenzsysteme entwickeltenProdukte lassen sich in einigen Fällen aber auchjenseits von Alter und Behinderung als komfortableLife-Style-Produkte vermarkten. Hier wäre eine reinprivate Finanzierung zu erwarten. Allerdings sindbe<strong>im</strong> Übergang von der Unabhängigkeit in die Unterstützungswürdigkeiteines Nutzers <strong>Fragen</strong> nachder teilweisen Erstattung der selbst finanziertenAssistenzsysteme zu erwarten. Hier sollte eine klareGrenze gezogen werden zwischen dem, was solidarischund was privat finanziert wird. Dazu wird esunerlässlich sein, den Status von altersgerechtenAssistenzsystemen festzulegen: Wann handelt essich um Medizinprodukte und wann um Lifestyle-Produkte?Selbstbest<strong>im</strong>mung, Assistenz undFehlbedienungAuch wenn in den analysierten Projekten unterschiedlichekognitive und motorische Fähigkeitenvorausgesetzt werden (z. B. eigenständige Blutdruckmessung),so ist gerade bei demenziell verändertenPersonen davon auszugehen, dass Fehlbedienungen
ETHISCHE KIPPPUNKTE UND SPANNUNGSFELDER31auftreten können, die unerwünschte Folgen odergar folgenschwere Fehler produzieren. Eine denkbareLösung wäre es, die Systeme so weiterzuentwickeln,dass von diesen Nutzern keine manipulativeEinflussnahme ausgehen kann (oder muss). Sokönnte ein modular bzw. graduell aufgebautes Assistenzsystemunterschiedlichen Graden von Selbstbest<strong>im</strong>mungentsprechen. Folglich wäre in einemkontinuierlichen Evaluationsprozess zu eruieren, obder Grad der Selbstbest<strong>im</strong>mung des Nutzers nochmit dem Assistenzgrad des Systems korreliert.Verändern sich individuelle undgesellschaftliche Fürsorgestrukturen?Es zeichnet Menschen als moralische Wesen aus,dass sie zur Fürsorge fähig sind. Menschliche Fürsorgegeschieht nicht nur bilateral, sondern kann überNahbeziehungen (Familie, Freunde, Dorfgemeinschaft)hinaus in großräumigen sozialen Einheitenorganisiert werden. Fürsorge ist über die zwischenmenschlicheD<strong>im</strong>ension hinaus ein Merkmal desWohlfahrtsstaates und so auch als Bindemittel derGesellschaft zu verstehen. Ethisch relevant ist nun,ob durch den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme<strong>im</strong> <strong>Bereich</strong> der häuslichen Unterstützung vonälteren Menschen Fürsorge und damit insgesamt diegesellschaftliche Kohäsion verändert werden. Aufder Grundlage unserer Studie lassen sich zumindestHinweise dafür finden, dass durch Assistenzsystemedie Gestalt der Fürsorge verändert und Mitmenschlichkeitdurch Technik ersetzt werden könnte. Dasresultiert jedoch nicht aus der Technik als solcher,sondern aus den falschen Hoffnungen und fehlgeleitetenErwartungen, die mit dem Einsatz der Technikverbunden werden (Manzeschke 2011).Lässt sich Fürsorge an Technik delegieren?Neben der so grundsätzlich gestellten Frage ist diepragmatischere Frage danach zu stellen, wie altersgerechteAssistenzsysteme gestaltet und eingesetztwerden müssen, damit sie das Moment der Fürsorgenicht unterlaufen und korrumpieren. Fürsorge darfnicht durch Rahmenbedingungen eines Sorgesystemsunterlaufen werden, das – in guter Absicht –das sorgende Handeln in die Autonomie und Selbstverantwortungdes Umsorgten (zurück-)geben will– und sei es auch als technische Unterstützung.Es muss darum gehen, die Strukturen des Sorgesystemsso zu gestalten, dass beiden Polen, der Selbstbest<strong>im</strong>mungund der Fürsorge, sensibel Rechnung getragenwird, und so die Fürsorge nicht zur ›fürsorglichenBelagerung‹ wird, und die Selbstbest<strong>im</strong>mungnicht zum Deckmantel einer Ignoranz gegenüberder Not des Bedürftigen.Wie fragil ist das Pflege- bzw. Versorgungssystem?Altersgerechte Assistenzsysteme sollen entlastenbzw. unterstützen. Da sind in erster Linie die bedürftigenälteren Menschen, in zweiter Linie ihreAngehörigen und ihr nachbarschaftliches Umfeld, indritter Linie auch professionell Sorgende. Assistenzsystemekönnen einzelne oder auch alle diese Personengruppenentlasten, aber zugleich auch einzelnePersonen bzw. Personengruppen belasten. Bei derBilanzierung der Be- und Entlastungsmomente wirdman nicht von vornherein festlegen können, werwie entlastet werden soll. In jedem Falle sollte einevorgenommene Abwägung transparent und <strong>im</strong> gegenseitigenEinvernehmen der Beteiligten geschehen.Weiter sollte das sozio-technische Arrangementüber die Zeit hin betrachtet und evaluiert werden, daes kippen und eine einmal erreichte Entlastung <strong>im</strong>zeitlichen Verlauf auch zu einer Belastung werdenkann – und umgekehrt. Diese Veränderung hängteng damit zusammen, was als altersgemäße Einschränkunghingenommen und was demgegenüberals unterstützenswerte bzw. unterstützensnotwendigeEinschränkung betrachtet wird.
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