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Apostolisches Schreiben 'Evangelii gaudium', Papst Franziskus

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APOSTOLISCHES SCHREIBENEVANGELII GAUDIUMDES HEILIGEN VATERSPAPST FRANZISKUSAN DIE BISCHÖFEAN DIE PRIESTER UND DIAKONEAN DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENSUND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIENÜBER DIE VERKÜNDIGUNGDES EVANGELIUMSIN DER WELT VON HEUTE


VATIKANISCHE DRUCKEREI


1. Die Freude des Evangeliums erfüllt dasHerz und das gesamte Leben derer, die Jesusbegegnen. Diejenigen, die sich von ihm rettenlassen, sind befreit von der Sünde, von derTraurigkeit, von der inneren Leere und von derVereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer– und immer wieder – die Freude. In diesem<strong>Schreiben</strong> möchte ich mich an die Christgläubigenwenden, um sie zu einer neuen Etappe derEvangelisierung einzuladen, die von dieser Freudegeprägt ist, und um Wege für den Lauf derKirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.I. Freude, die sich erneuert und sich mitteilt2. Die große Gefahr der Welt von heute mit ihremvielfältigen und erdrückenden Konsumangebotist eine individualistische Traurigkeit, die auseinem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht,aus der krankhaften Suche nach oberflächlichenVergnügungen, aus einer abgeschottetenGeisteshaltung. Wenn das innere Leben sich inden eigenen Interessen verschließt, gibt es keinenRaum mehr für die anderen, finden die Armenkeinen Einlass mehr, hört man nicht mehr dieStimme Gottes, genießt man nicht mehr die innigeFreude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung,das Gute zu tun. Auch die Gläubigen3


laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr.Viele erliegen ihr und werden zu gereizten,unzufriedenen, empfindungslosen Menschen.Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfülltenLebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, dasist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzendes auferstandenen Christus hervorsprudelt.3. Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchemOrt und in welcher Lage er sich befindet,noch heute seine persönliche Begegnung mitJesus Christus zu erneuern oder zumindest denEntschluss zu fassen, sich von ihm finden zulassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.Es gibt keinen Grund, weshalb jemand meinenkönnte, diese Einladung gelte nicht ihm, denn»niemand ist von der Freude ausgeschlossen,die der Herr uns bringt«. 1 Wer etwas wagt, denenttäuscht der Herr nicht, und wenn jemand einenkleinen Schritt auf Jesus zu macht, entdeckter, dass dieser bereits mit offenen Armen aufsein Kommen wartete. Das ist der Augenblick,um zu Jesus Christus zu sagen: „Herr, ich habemich täuschen lassen, auf tausenderlei Weisebin ich vor deiner Liebe geflohen, doch hier binich wieder, um meinen Bund mit dir zu erneuern.Ich brauche dich. Kaufe mich wieder frei,nimm mich noch einmal auf in deine erlösendenArme.“ Es tut uns so gut, zu ihm zurückzukehren,wenn wir uns verloren haben! Ich beharre1Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Gaudete in Domino (9.Mai 1975), 22: AAS 67 (1975), 297.4


noch einmal darauf: Gott wird niemals müde zuverzeihen; wir sind es, die müde werden, um seinErbarmen zu bitten. Der uns aufgefordert hat,»siebenundsiebzigmal« zu vergeben (Mt 18,22),ist uns ein Vorbild: Er vergibt siebenundsiebzigmal.Ein ums andere Mal lädt er uns wieder aufseine Schultern. Niemand kann uns die Würdenehmen, die diese unendliche und unerschütterlicheLiebe uns verleiht. Mit einem Feingefühl,das uns niemals enttäuscht und uns immer dieFreude zurückgeben kann, erlaubt er uns, dasHaupt zu erheben und neu zu beginnen. Fliehenwir nicht vor der Auferstehung Jesu, geben wiruns niemals geschlagen, was auch immer geschehenmag. Nichts soll stärker sein als sein Leben,das uns vorantreibt!4. Die Bücher des Alten Testaments hatten dieFreude des Heils angekündigt, die es dann in denmessianischen Zeiten im Überfluss geben sollte.Der Prophet Jesaja wendet sich an den erwartetenMessias und begrüßt ihn voll Freude: »Duerregst lauten Jubel und schenkst große Freude.Man freut sich in deiner Nähe…« (9,2). Under ermuntert die Bewohner von Zion, ihn mitGesängen zu empfangen: »Jauchzt und jubelt!«(12,6). Den, der ihn schon am Horizont gesehenhat, lädt der Prophet ein, zu einem Botenfür die anderen zu werden: »Steig auf einen hohenBerg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deineStimme mit Macht, Jerusalem, du Botin derFreude!« (40,9). Die ganze Schöpfung nimmt andieser Freude des Heils teil: »Jubelt, ihr Himmel,5


jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn derHerr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armenerbarmt« (49,13).Sacharja sieht den Tag des Herrn und fordertdazu auf, den König hochleben zu lassen,der »demütig« kommt und »auf einem Esel reitet«:»Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, TochterJerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er istgerecht und hilft« (9,9).Aber die am stärksten mitreißende Aufforderungist wohl die des Propheten Zefanja, deruns Gott selbst wie einen leuchtenden Mittelpunktdes Festes und der Fröhlichkeit vor Augenführt, der seinem Volk diese heilbringende Freudevermittelt. Es ergreift mich, wenn ich diesenText wieder lese: »Der Herr, dein Gott, ist in deinerMitte, ein Held, der Rettung bringt. Er freutsich und jubelt über dich, er erneuert seine Liebezu dir, er jubelt über dich und frohlockt« (3,17).Es ist die Freude, die man in den kleinenDingen des Alltags erlebt, als Antwort auf die liebevolleEinladung Gottes, unseres Vaters: »MeinSohn, wenn du imstande bist, pflege dich selbst[…] Versag dir nicht das Glück des heutigen Tages«(Sir 14,11.14). Wie viel zärtliche Vaterliebeist in diesen Worten zu spüren!5. Das Evangelium, in dem das Kreuz Christi„glorreich“ erstrahlt, lädt mit Nachdruck zurFreude ein. Nur einige Beispiele: »Chaire – freuedich« ist der Gruß des Engels an Maria (Lk1,28). Der Besuch Marias bei Elisabet lässt Johannesim Mutterschoß vor Freude hüpfen (vgl.6


Lk 1,41). In ihrem Lobgesang bekundet Maria:»Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter«(Lk 1,47). Als Jesus sein öffentliches Wirkenbeginnt, ruft Johannes aus: »Nun ist diese meineFreude vollkommen« (Joh 3,29). Jesus selber»rief […] vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freudeaus…« (Lk 10,21). Seine Botschaft ist Quelleder Freude: »Dies habe ich euch gesagt, damitmeine Freude in euch ist und damit eure Freudevollkommen wird« (Joh 15,11). Unsere christlicheFreude entspringt der Quelle seines überfließendenHerzens. Er verheißt seinen Jüngern: »Ihrwerdet bekümmert sein, aber euer Kummer wirdsich in Freude verwandeln« (Joh 16,20), und beharrtdarauf: »Ich werde euch wiedersehen; dannwird euer Herz sich freuen, und niemand nimmteuch eure Freude« (Joh 16,22). Als sie ihn späterals Auferstandenen sahen, »freuten« sie sich (Joh20,20). Die Apostelgeschichte erzählt von derersten Gemeinde: Sie »hielten miteinander Mahlin Freude« (2,46). Wo die Jünger vorbeikamen,»herrschte große Freude« (8,8), und sie selberwaren mitten in der Verfolgung »voll Freude«(13,52). Ein äthiopischer Hofbeamter zog, nachdemer die Taufe empfangen hatte, »voll Freude«weiter (8,39), und der Gefängniswärter »war mitseinem ganzen Haus voll Freude, weil er zumGlauben an Gott gekommen war« (16,34). Warumwollen nicht auch wir in diesen Strom derFreude eintreten?6. Es gibt Christen, deren Lebensart wie eineFastenzeit ohne Ostern erscheint. Doch ich gebe7


zu, dass man die Freude nicht in allen Lebensabschnittenund -umständen, die manchmal sehrhart sind, in gleicher Weise erlebt. Sie passt sichan und verwandelt sich, und bleibt immer wenigstenswie ein Lichtstrahl, der aus der persönlichenGewissheit hervorgeht, jenseits von allemgrenzenlos geliebt zu sein. Ich verstehe die Menschen,die wegen der schweren Nöte, unter denensie zu leiden haben, zur Traurigkeit neigen,doch nach und nach muss man zulassen, dass dieGlaubensfreude zu erwachen beginnt, wie einegeheime, aber feste Zuversicht, auch mitten inden schlimmsten Ängsten: »Du hast mich ausdem Frieden hinausgestoßen; ich habe vergessen,was Glück ist […] Das will ich mir zu Herzennehmen, darauf darf ich harren: Die Hulddes Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmenist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen;groß ist deine Treue […] Gut ist es, schweigendzu harren auf die Hilfe des Herrn« (Klgl 3,17.21-13.26).7. Die Versuchung erscheint häufig in Formvon Entschuldigungen und Beanstandungen, alsmüssten unzählige Bedingungen erfüllt sein, damitFreude möglich ist. Denn »es ist der technologischenGesellschaft gelungen, die Vergnügungsangebotezu vervielfachen, doch es fälltihr sehr schwer, Freude zu erzeugen«. 2 Ich kannwohl sagen, dass die schönsten und spontansten2Ebd., 8: AAS 67 (1975), 292.8


Freuden, die ich im Laufe meines Lebens gesehenhabe, die ganz armer Leute waren, die wenighaben, an das sie sich klammern können. Icherinnere mich auch an die unverfälschte Freudederer, die es verstanden haben, sogar inmittenbedeutender beruflicher Verpflichtungen eingläubiges, großzügiges und einfaches Herz zubewahren. Auf verschiedene Weise schöpfendiese Freuden aus der Quelle der stets größerenLiebe Gottes, die sich in Jesus Christus kundgetanhat. Ich werde nicht müde, jene Worte BenediktsXVI. zu wiederholen, die uns zum Zentrumdes Evangeliums führen: »Am Anfang desChristseins steht nicht ein ethischer Entschlussoder eine große Idee, sondern die Begegnungmit einem Ereignis, mit einer Person, die unseremLeben einen neuen Horizont und damit seineentscheidende Richtung gibt.« 38. Allein dank dieser Begegnung – oder Wiederbegegnung– mit der Liebe Gottes, die zu einerglücklichen Freundschaft wird, werden wirvon unserer abgeschotteten Geisteshaltung undaus unserer Selbstbezogenheit erlöst. Unser vollesMenschsein erreichen wir, wenn wir mehr alsnur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben,uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wirzu unserem eigentlicheren Sein gelangen. Dortliegt die Quelle der Evangelisierung. Wenn näm-3Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS98 (2006), 217.9


lich jemand diese Liebe angenommen hat, dieihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann erdann den Wunsch zurückhalten, sie den anderenmitzuteilen?II. Die innige und tröstliche Freude derVerkündigung des Evangeliums9. Das Gute neigt immer dazu, sich mitzuteilen.Jede echte Erfahrung von Wahrheit undSchönheit sucht von sich aus, sich zu verbreiten,und jeder Mensch, der eine tiefe Befreiungerfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für dieBedürfnisse der anderen. Wenn man das Gutemitteilt, fasst es Fuß und entwickelt sich. Darumgibt es für jeden, der ein würdiges und erfülltesLeben zu führen wünscht, keinen anderen Weg,als den anderen anzuerkennen und sein Wohl zusuchen. So dürften uns also einige Worte des heiligenPaulus nicht verwundern: »Die Liebe Christidrängt uns« (2 Kor 5,14); »Weh mir, wenn ichdas Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).10. Der Vorschlag lautet, auf einer höherenEbene zu leben, jedoch nicht weniger intensiv:»Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt;es verkümmert, wenn man sich isoliert und essich bequem macht. In der Tat, die größte Freudeam Leben erfahren jene, die sich nicht um jedenPreis absichern, sondern sich vielmehr leidenschaftlichdazu gesandt wissen, anderen Leben10


zu geben.« 4 Wenn die Kirche zum Einsatz in derVerkündigung aufruft, tut sie nichts anderes, alsden Christen die wahre Dynamik der Selbstverwirklichungaufzuzeigen: »Hier entdecken wirein weiteres Grundgesetz der Wirklichkeit: DasLeben wird reifer und reicher, je mehr man eshingibt, um anderen Leben zu geben. Darin bestehtletztendlich die Mission.« 5 Folglich dürfteein Verkünder des Evangeliums nicht ständig einGesicht wie bei einer Beerdigung haben. Gewinnenwir den Eifer zurück, mehren wir ihn undmit ihm »die innige und tröstliche Freude derVerkündigung des Evangeliums, selbst wenn wirunter Tränen säen sollten […] Die Welt von heute,die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf derSuche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus demMunde trauriger und mutlos gemachter Verkünderhören, die keine Geduld haben und ängstlichsind, sondern von Dienern des Evangeliums, derenLeben voller Glut erstrahlt, die als erste dieFreude Christi in sich aufgenommen haben.« 6Eine ewige Neuheit11. Eine erneuerte Verkündigung schenkt denGläubigen – auch den lauen oder nicht praktizierenden– eine neue Freude im Glauben und eine4V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni2007), 360.5Ebd.6Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi (8.Dezember 1975), 80: AAS 68 (1976), 75.11


missionarische Fruchtbarkeit. In Wirklichkeit istdas Zentrum und das Wesen des Glaubens immerdasselbe: der Gott, der seine unermessliche Liebeim gestorbenen und auferstandenen Christusoffenbart hat. Er lässt seine Gläubigen immerneu sein, wie alt sie auch sein mögen; sie »schöpfenneue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler.Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen undwerden nicht matt« (Jes 40,31). Christus ist das»ewige Evangelium« (Offb 14,6), und er ist »derselbegestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8),aber sein Reichtum und seine Schönheit sind unerschöpflich.Er ist immer jung und eine ständigeQuelle von Neuem. Die Kirche hört nicht auf zustaunen über die »Tiefe des Reichtums, der Weisheitund der Erkenntnis Gottes« (Röm 11,33).Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: »DiesesDickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist sotief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenner noch so viel davon weiß, immer noch tiefereindringen kann.« 7 Oder mit den Worten desheiligen Irenäus: »[Christus] hat jede Neuheit gebracht,indem er sich selber brachte.« 8 Er kannmit seiner Neuheit immer unser Leben und unsereGemeinschaft erneuern, und selbst dann,wenn die christliche Botschaft dunkle Zeitenund kirchliche Schwachheiten durchläuft, altertsie nie. Jesus Christus kann auch die langweiligenSchablonen durchbrechen, in denen wir uns an-7Geistlicher Gesang, 36, 10.8Adversus haereses, IV, Kap. 34, Nr. 1: PG 7, 1083: »Omnemnovitatem attulit, semetipsum afferens.«12


maßen, ihn gefangen zu halten, und überraschtuns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität.Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehrenund die ursprüngliche Frische desEvangeliums wiederzugewinnen, tauchen neueWege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen,aussagekräftigere Zeichen und Worte reichan neuer Bedeutung für die Welt von heute auf.In der Tat, jedes echte missionarische Handelnist immer „neu“.12. Obwohl dieser Auftrag uns einen großherzigenEinsatz abverlangt, wäre es ein Irrtum, ihnals heldenhafte persönliche Aufgabe anzusehen,da es vor allem sein Werk ist, jenseits von dem,was wir herausfinden und verstehen können.Jesus ist »der allererste und größte Künder desEvangeliums«. 9 In jeglicher Form von Evangelisierungliegt der Vorrang immer bei Gott, der unszur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit derKraft seines Geistes angespornt hat. Die wahreNeuheit ist die, welche Gott selber geheimnisvollhervorbringen will, die er eingibt, die er erweckt,die er auf tausenderlei Weise lenkt und begleitet.Im ganzen Leben der Kirche muss man immerdeutlich machen, dass die Initiative bei Gott liegt,dass »er uns zuerst geliebt« hat (1 Joh 4,19) unddass es »nur Gott [ist], der wachsen lässt« (1 Kor3,7). Diese Überzeugung erlaubt uns, inmitteneiner so anspruchsvollen und herausfordernden9Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi (8.Dezember 1975), 7: AAS 68 (1976), 9.13


Aufgabe, die unser Leben ganz und gar vereinnahmt,die Freude zu bewahren. Sie verlangt vonuns alles, aber zugleich bietet sie uns alles.13. Wir dürfen die Neuheit dieses Auftragsauch nicht wie eine Entwurzelung verstehen, wieein Vergessen der lebendigen Geschichte, die unsaufnimmt und uns vorantreibt. Das Gedächtnisist eine Dimension unseres Glaubens, die wir„deuteronomisch“ nennen könnten, in Analogiezum Gedächtnis Israels. Jesus hinterlässt uns dieEucharistie als tägliches Gedächtnis der Kirche,das uns immer mehr in das Paschageheimnis einführt(vgl. Lk 22,19). Die Freude der Verkündigungerstrahlt immer auf dem Hintergrund derdankbaren Erinnerung: Es ist eine Gnade, die wirerbitten müssen. Die Apostel haben nie den Momentvergessen, in dem Jesus ihr Herz anrührte:»Es war um die zehnte Stunde« (Joh 1,39). Gemeinsammit Jesus vergegenwärtigt uns das Gedächtniseine wahre »Wolke von Zeugen« (Hebr12,1). Unter ihnen heben sich einige Personenhervor, die besonders prägend dazu beigetragenhaben, dass unsere Glaubensfreude aufkeimte:»Denkt an eure Vorsteher, die euch das WortGottes verkündet haben« (Hebr 13,7). Manchmalhandelt es sich um einfache Menschen in unsererNähe, die uns in das Glaubensleben eingeführthaben: »Ich denke an deinen aufrichtigen Glauben,der schon in deiner Großmutter Loïs undin deiner Mutter Eunike lebendig war« (2 Tim1,5). Der Gläubige ist grundsätzlich ein „Erinnerungsmensch“.14


III. Die neue Evangelisierung für die Weitergabedes Glaubens14. Im Hören auf den Geist, der uns hilft, gemeinschaftlichdie Zeichen der Zeit zu erkennen,wurde vom 7. bis zum 28. Oktober 2012die XIII. Ordentliche Vollversammlung der Bischofssynodeunter dem Thema Die neue Evangelisierungfür die Weitergabe des christlichen Glaubensabgehalten. Dort wurde daran erinnert, dass dieneue Evangelisierung alle aufruft und dass siesich grundsätzlich in drei Bereichen abspielt. 10An erster Stelle erwähnen wir den Bereich der gewöhnlichenSeelsorge, »die mehr vom Feuer des HeiligenGeistes belebt sein muss, um die Herzender Gläubigen zu entzünden, die sich regelmäßigin der Gemeinde zusammenfinden und sicham Tag des Herrn versammeln, um sich vomWort Gottes und vom Brot ewigen Lebens zuernähren«. 11 In diesen Bereich sind ebenso dieGläubigen einzubeziehen, die einen festen undehrlichen katholischen Glauben bewahren undihn auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen,auch wenn sie nicht häufig am Gottesdienstteilnehmen. Diese Seelsorge ist auf das Wachstumder Gläubigen ausgerichtet, damit sie immerbesser und mit ihrem ganzen Leben auf die LiebeGottes antworten.10Vgl. Propositio 7.11Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zumAbschluss der XIII. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode(28. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 890.15


An zweiter Stelle erwähnen wir den Bereichder »Getauften, die jedoch in ihrer Lebensweise den Ansprüchender Taufe nicht gerecht werden«, 12 keine innereZugehörigkeit zur Kirche haben und nicht mehrdie Tröstung des Glaubens erfahren. Als stetsaufmerksame Mutter setzt sich die Kirche dafürein, dass sie eine Umkehr erleben, die ihnen dieFreude am Glauben und den Wunsch, sich mitdem Evangelium zu beschäftigen, zurückgibt.Schließlich unterstreichen wir, dass dieEvangelisierung wesentlich verbunden ist mitder Verkündigung des Evangeliums an diejenigen,die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnthaben. Viele von ihnen suchen Gott insgeheim,bewegt von der Sehnsucht nach seinem Angesicht,auch in Ländern alter christlicher Tradition.Alle haben das Recht, das Evangelium zu empfangen.Die Christen haben die Pflicht, es ausnahmslosallen zu verkünden, nicht wie jemand,der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondernwie jemand, der eine Freude teilt, einen schönenHorizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahlanbietet. Die Kirche wächst nicht durch Prosyletismus,sondern »durch Anziehung«. 1315. Johannes Paul II. hat uns ans Herz gelegtanzuerkennen, dass »die Kraft nicht verloren gehen[darf] für die Verkündigung« an jene, die fern12Ebd.13Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zurEröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik im Heiligtum »La Aparecida« (13. Mai 2007): AAS99 (2007), 437.16


sind von Christus, denn dies ist »die erste Aufgabeder Kirche«. 14 »Die Missionstätigkeit stellt auchheute noch die größte Herausforderung für die Kirchedar« 15 , und so »muss das missionarische Anliegendas erste sein«. 16 Was würde geschehen, wennwir diese Worte wirklich ernst nehmen würden?Wir würden einfach erkennen, dass das missionarischeHandeln das Paradigma für alles Wirkender Kirche ist. Auf dieser Linie haben die lateinamerikanischenBischöfe bekräftigt: »Wir könnennicht passiv abwartend in unseren Kirchenräumensitzen bleiben«, 17 und die Notwendigkeitbetont, »von einer rein bewahrenden Pastoralzu einer entschieden missionarischen Pastoralüberzugehen«. 18 Diese Aufgabe ist weiterhindie Quelle der größten Freuden für die Kirche:»Ebenso wird auch im Himmel mehr Freudeherrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt,als über neunundneunzig Gerechte, die esnicht nötig haben umzukehren« (Lk 15,7).Anliegen und Grenzen dieses <strong>Schreiben</strong>s16. Ich habe die Einladung der Synodenväter,dieses <strong>Schreiben</strong> zu verfassen, gerne angenom-14Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 34:AAS 83 (1991), 280.15Ebd., 40: AAS 83 (1991), 287.16Ebd., 86: AAS 83 (1991), 333.17V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni2007), 548.18Ebd., 370.17


men. 19 Indem ich es tue, ernte ich den Reichtumder Arbeiten der Synode. Ich habe auch verschiedenePersonen zu Rate gezogen, und ich beabsichtigeaußerdem, die Besorgnisse zum Ausdruckzu bringen, die mich in diesem konkretenMoment des Evangelisierungswerkes der Kirchebewegen. Zahllos sind die mit der Evangelisierungin der Welt von heute verbundenen Themen,die man hier entwickeln könnte. Doch ichhabe darauf verzichtet, diese vielfältigen Fragenausführlich zu behandeln; sie müssen Gegenstanddes Studiums und der sorgsamen Vertiefung sein.Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichenLehramt eine endgültige oder vollständige Aussagezu allen Fragen erwarten muss, welche dieKirche und die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht,dass der <strong>Papst</strong> die örtlichen Bischöfe inder Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die inihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüreich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „Dezentralisierung“voranzuschreiten.17. Hier habe ich die Wahl getroffen, einige Linienvorzuschlagen, die in der gesamten Kircheeiner neuen Etappe der Evangelisierung vollerEifer und Dynamik Mut und Orientierung verleihenkönnen. In diesem Rahmen und auf derBasis der Lehre der dogmatischen KonstitutionLumen gentium habe ich mich entschieden, unter19Vgl. Propositio 1.18


den anderen Themen die folgenden Fragen ausführlichzu behandeln:a) Die Reform der Kirche im missionarischenAufbruchb) Die Versuchungen der in der Seelsorge Tätigenc) Die Kirche, verstanden als die Gesamtheit desevangelisierenden Gottesvolkesd) Die Predigt und ihre Vorbereitunge) Die soziale Eingliederung der Armenf) Der Friede und der soziale Dialogg) Die geistlichen Beweggründe für den missionarischenEinsatz18. Ich habe diese Themen in einer Ausführlichkeitbehandelt, die vielleicht übertriebenerscheinen mag. Aber ich habe es nicht in derAbsicht getan, eine Abhandlung vorzulegen,sondern nur, um die bedeutende praktische Auswirkungdieser Argumente in der gegenwärtigenAufgabe der Kirche zu zeigen. Sie alle helfennämlich, einen bestimmten Stil der Evangelisierungzu umreißen, und ich lade ein, diesenin allem, was getan wird, zu übernehmen. Und sokönnen wir auf diese Weise inmitten unserer täglichenArbeit der Aufforderung des Wortes Gottesnachkommen: »Freut euch im Herrn zu jederZeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!« (Phil 4,4).19


ERSTES KAPITELDIE MISSIONARISCHE UMGESTAL-TUNG DER KIRCHE19. Die Evangelisierung folgt dem MissionsauftragJesu: »Darum geht zu allen Völkern undmacht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauftsie auf den Namen des Vaters und des Sohnesund des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zubefolgen, was ich euch geboten habe« (Mt 28,19-20). In diesen Versen ist der Moment dargestellt,in dem der Auferstandene die Seinen aussendet,das Evangelium zu jeder Zeit und an allen Ortenzu verkünden, so dass der Glaube an ihn sich bisan alle Enden der Erde ausbreite.I. Eine Kirche „im Aufbruch“20. Im Wort Gottes erscheint ständig diese Dynamikdes „Aufbruchs“, die Gott in den Gläubigenauslösen will. Abraham folgte dem Aufruf,zu einem neuen Land aufzubrechen (vgl. Gen12,1-3). Mose gehorchte dem Ruf Gottes: »Geh!Ich sende dich« (Ex 3,10), und führte das Volkhinaus, dem verheißenen Land entgegen (vgl. Ex3,17). Zu Jeremia sagte Gott: »Wohin ich dichauch sende, dahin sollst du gehen« (Jer 1,7). Heutesind in diesem „Geht“ Jesu die immer neuenSituationen und Herausforderungen des Evangelisierungsauftragsder Kirche gegenwärtig, undwir alle sind zu diesem neuen missionarischen21


„Aufbruch“ berufen. Jeder Christ und jede Gemeinschaftsoll unterscheiden, welches der Wegist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert,diesen Ruf anzunehmen: hinauszugehenaus der eigenen Bequemlichkeit und denMut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, diedas Licht des Evangeliums brauchen.21. Die Freude aus dem Evangelium, die dasLeben der Gemeinschaft der Jünger erfüllt, isteine missionarische Freude. Die zweiundsiebzigJünger, die voll Freude von ihrer Sendung zurückkehren,erfahren sie (vgl. Lk 10,17). Jesus erlebtsie, als er im Heiligen Geist vor Freude jubeltund den Vater preist, weil seine Offenbarung dieArmen und die Kleinsten erreicht (vgl. Lk 10,21).Voll Verwunderung spüren sie die Ersten, diesich bekehren, als am Pfingsttag, in der Predigtder Apostel, »jeder sie in seiner Sprache reden«hört (Apg 2,6). Diese Freude ist ein Zeichen, dassdas Evangelium verkündet wurde und bereitsFrucht bringt. Aber sie hat immer die Dynamikdes Aufbruchs und der Gabe, des Herausgehensaus sich selbst, des Unterwegsseins und des immerneuen und immer weiteren Aussäens. DerHerr sagt: »Lasst uns anderswohin gehen, in diebenachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige;denn dazu bin ich gekommen!« (Mk 1,38).Wenn der Same an einem Ort ausgesät ist, hältJesus sich dort nicht mehr auf, um etwas besserzu erklären oder um weitere Zeichen zu wirken,sondern der Geist führt ihn, zu anderen Dörfernaufzubrechen.22


22. Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, diewir nicht voraussehen können. Das Evangeliumspricht von einem Samen, der, wenn er einmalausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn derBauer schläft (vgl. Mk 4,26-29). Die Kirche mussdiese unfassbare Freiheit des Wortes akzeptieren,das auf seine Weise und in sehr verschiedenenFormen wirksam ist, die gewöhnlich unserePrognosen übertreffen und unsere Schablonensprengen.23. Die innige Verbundenheit der Kirche mitJesus ist eine Verbundenheit auf dem Weg, unddie Gemeinschaft »stellt sich wesentlich als missionarischeCommunio dar«. 20 In der Treue zumVorbild des Meisters ist es lebenswichtig, dass dieKirche heute hinausgeht, um allen an allen Ortenund bei allen Gelegenheiten ohne Zögern, ohneWiderstreben und ohne Angst das Evangeliumzu verkünden. Die Freude aus dem Evangeliumist für das ganze Volk, sie darf niemanden ausschließen.So verkündet es der Engel den Hirtenvon Bethlehem: »Fürchtet euch nicht, denn ichverkünde euch eine große Freude, die dem ganzenVolk zuteil werden soll« (Lk 2,10). Die Offenbarungdes Johannes spricht davon, dass »denBewohnern der Erde ein ewiges Evangelium zuverkünden [ist], allen Nationen, Stämmen, Sprachenund Völkern« (Offb 14,6).20Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Christifideles laici (30. Dezember 1988), 32: AAS 81(1989), 451.23


Die Initiative ergreifen, sich einbringen, begleiten, Fruchtbringen und feiern24. Die Kirche „im Aufbruch“ ist die Gemeinschaftder missionarischen Jünger, die die Initiativeergreifen, die sich einbringen, die begleiten,die Frucht bringen und feiern. „Primerear – dieInitiative ergreifen“: Entschuldigt diesen Neologismus!Die evangelisierende Gemeinde spürt,dass der Herr die Initiative ergriffen hat, ihr inder Liebe zuvorgekommen ist (vgl. 1 Joh 4,10),und deshalb weiß sie voranzugehen, versteht sie,furchtlos die Initiative zu ergreifen, auf die anderenzuzugehen, die Fernen zu suchen und zuden Wegkreuzungen zu gelangen, um die Ausgeschlosseneneinzuladen. Sie empfindet einenunerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten– eine Frucht der eigenen Erfahrung derunendlichen Barmherzigkeit des himmlischenVaters und ihrer Tragweite. Wagen wir ein wenigmehr, die Initiative zu ergreifen! Als Folgeweiß die Kirche sich „einzubringen“. Jesus hatseinen Jüngern die Füße gewaschen. Der Herrbringt sich ein und bezieht die Seinen ein, indemer vor den anderen niederkniet, um sie zu waschen.Aber dann sagt er zu den Jüngern: »Seligseid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt«(Joh 13,17). Die evangelisierende Gemeinde stelltsich durch Werke und Gesten in das Alltagslebender anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigtsich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmtdas menschliche Leben an, indem sie im Volkmit dem leidenden Leib Christi in Berührung24


kommt. So haben die Evangelisierenden den„Geruch der Schafe“, und diese hören auf ihreStimme. Die evangelisierende Gemeinde stelltsich also darauf ein, zu „begleiten“. Sie begleitetdie Menschheit in all ihren Vorgängen, so hartund langwierig sie auch sein mögen. Sie kenntdas lange Warten und die apostolische Ausdauer.Die Evangelisierung hat viel Geduld und vermeidet,die Grenzen nicht zu berücksichtigen.In der Treue zur Gabe des Herrn weiß sie auch„Frucht zu bringen“. Die evangelisierende Gemeindeachtet immer auf die Früchte, denn derHerr will, dass sie fruchtbar ist. Sie nimmt sichdes Weizens an und verliert aufgrund des Unkrautsnicht ihren Frieden. Wenn der Sämanninmitten des Weizens das Unkraut aufkeimensieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik.Er findet den Weg, um dafür zu sorgen, dass dasWort Gottes in einer konkreten Situation Gestaltannimmt und Früchte neuen Lebens trägt, auchwenn diese scheinbar unvollkommen und unvollendetsind. Der Jünger weiß sein ganzes Lebenhinzugeben und es als Zeugnis für Jesus Christusaufs Spiel zu setzen bis hin zum Martyrium, dochsein Traum ist nicht, Feinde gegen sich anzusammeln,sondern vielmehr, dass das Wort Gottesaufgenommen werde und seine befreiende underneuernde Kraft offenbare. Und schließlichversteht die fröhliche evangelisierende Gemeindeimmer zu „feiern“. Jeden kleinen Sieg, jedenSchritt vorwärts in der Evangelisierung preist undfeiert sie. Die freudige Evangelisierung wird zur25


Schönheit in der Liturgie inmitten der täglichenAnforderung, das Gute zu fördern. Die Kircheevangelisiert und evangelisiert sich selber mit derSchönheit der Liturgie, die auch Feier der missionarischenTätigkeit und Quelle eines erneuertenImpulses zur Selbsthingabe ist.II. Seelsorge in Neuausrichtung25. Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumentenicht dasselbe Interesse wecken wie zuanderen Zeiten und schnell vergessen werden.Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zusagen beabsichtige, eine programmatische Bedeutunghat und wichtige Konsequenzen beinhaltet.Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafürsorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, umauf dem Weg einer pastoralen und missionarischenNeuausrichtung voranzuschreiten, der dieDinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetztdient uns nicht eine »reine Verwaltungsarbeit«. 21Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde ineinen »Zustand permanenter Mission«. 2226. Paul VI. forderte, den Aufruf zur Erneuerungauszuweiten, um mit Nachdruck zu sagen,dass er sich nicht nur an Einzelpersonen wandte,sondern an die gesamte Kirche. Wir erinnern an21V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29.Juni2007), 201.22Ebd., 551.26


diesen denkwürdigen Text, der seine interpellierendeKraft nicht verloren hat: »Die Kirchemuss das Bewusstsein um sich selbst vertiefenund über das ihr eigene Geheimnis nachsinnen[…] Aus diesem erleuchteten und wirkenden Bewusstseinerwächst ein spontanes Verlangen, dasIdealbild der Kirche wie Christus sie sah, wollteund liebte, als seine heilige und makellose Braut(vgl. Eph 5,27), mit dem wirklichen Gesicht,das die Kirche heute zeigt, zu vergleichen […]Es erwächst deshalb ein großherziges und fastungeduldiges Bedürfnis nach Erneuerung, dasheißt nach Berichtigung der Fehler, die diesesBewusstsein aufzeigt und verwirft, gleichsam wieeine innere Prüfung vor dem Spiegel des Vorbildes,das Christus uns von sich hinterlassen hat.« 23Das Zweite Vatikanische Konzil hat diekirchliche Neuausrichtung dargestellt als dieÖffnung für eine ständige Reform ihrer selbstaus Treue zu Jesus Christus: »Jede Erneuerungder Kirche besteht wesentlich im Wachstum derTreue gegenüber ihrer eigenen Berufung […]Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaftvon Christus zu dieser dauernden Reform gerufen,deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschlicheund irdische Einrichtung ist.« 24Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dynamikder Evangelisierung beeinträchtigen können;23Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 3:AAS 56 (1964), 611-612.24Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatisredintegratio über den Ökumenismus, 6.27


gleicherweise können die guten Strukturen nützlichsein, wenn ein Leben da ist, das sie beseelt,sie unterstützt und sie beurteilt. Ohne neues Lebenund echten, vom Evangelium inspiriertenGeist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrereigenen Berufung“ wird jegliche neue Struktur inkurzer Zeit verderben.Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung27. Ich träume von einer missionarischen Entscheidung,die fähig ist, alles zu verwandeln, damitdie Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, derSprachgebrauch und jede kirchliche Struktur einKanal werden, der mehr der Evangelisierung derheutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. DieReform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtungerforderlich ist, kann nur in diesemSinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass siealle missionarischer werden, dass die gewöhnlicheSeelsorge in all ihren Bereichen expansiver undoffener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen ineine ständige Haltung des „Aufbruchs“ versetztund so die positive Antwort all derer begünstigt,denen Jesus seine Freundschaft anbietet. Wie JohannesPaul II. zu den Bischöfen Ozeaniens sagte,muss »jede Erneuerung in der Kirche […] aufdie Mission abzielen, um nicht einer Art kirchlicherIntroversion zu verfallen.« 2525Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 19: AAS 94(2002), 390.28


28. Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur;gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt,kann sie ganz verschiedene Formen annehmen,die die innere Beweglichkeit und die missionarischeKreativität des Pfarrers und der Gemeindeerfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzigeevangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wennsie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzupassen,weiterhin »die Kirche [sein], die inmittender Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt«. 26 Dassetzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mitden Familien und dem Leben des Volkes stehtund nicht eine weitschweifige, von den Leutengetrennte Struktur oder eine Gruppe von Auserwähltenwird, die sich selbst betrachten. DiePfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territorium,ein Bereich des Hörens des Wortes Gottes,des Wachstums des christlichen Lebens, des Dialogs,der Verkündigung, der großherzigen Nächstenliebe,der Anbetung und der liturgischenFeier. 27 Durch all ihre Aktivitäten ermutigt undformt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktivHandelnde in der Evangelisierung sind. 28 Sie isteine Gemeinde der Gemeinschaft, ein Heiligtum,wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ihrenWeg fortzusetzen, und ein Zentrum ständigermissionarischer Aussendung. Wir müssen jedochzugeben, dass der Aufruf zur Überprüfung26Ders., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Christifideleslaici (30. Dezember 1988), 26: AAS 81 (1989), 438.27Vgl. Propositio 26.28Vgl. Propositio 44.29


und zur Erneuerung der Pfarreien noch nichtgenügend gefruchtet hat, damit sie noch näherbei den Menschen sind, Bereiche lebendiger Gemeinschaftund Teilnahme bilden und sich völligauf die Mission ausrichten.29. Die anderen kirchlichen Einrichtungen,Basisgemeinden und kleinen Gemeinschaften,Bewegungen und andere Formen von Vereinigungensind ein Reichtum der Kirche, den derGeist erweckt, um alle Umfelder und Bereiche zuevangelisieren. Oftmals bringen sie einen neuenEvangelisierungs-Eifer und eine Fähigkeit zumDialog mit der Welt ein, die zur Erneuerung derKirche beitragen. Aber es ist sehr nützlich, dasssie nicht den Kontakt mit dieser so wertvollenWirklichkeit der örtlichen Pfarrei verlieren unddass sie sich gerne in die organische Seelsorgeder Teilkirche einfügen. 29 Diese Integration wirdvermeiden, dass sie nur mit einem Teil des Evangeliumsund der Kirche verbleiben oder zu Nomadenohne Verwurzelung werden.30. Jede Teilkirche ist als Teil der katholischenKirche unter der Leitung ihres Bischofs ebenfallszur missionarischen Neuausrichtung aufgerufen.Sie ist der wichtigste Träger der Evangelisierung30 , insofern sie der konkrete Ausdruckder einen Kirche an einem Ort der Welt ist undin ihr »die eine, heilige, katholische und aposto-29Vgl. Propositio 26.30Vgl. Propositio 41.30


lische Kirche Christi wahrhaft wirkt und gegenwärtigist«. 31 Es ist die Kirche, die in einem bestimmtenRaum Gestalt annimmt, mit allen vonChristus geschenkten Heilsmitteln versehen ist,zugleich jedoch ein lokales Angesicht trägt. IhreFreude, Jesus Christus bekannt zu machen, findetihren Ausdruck sowohl in ihrer Sorge, ihn ananderen, noch bedürftigeren Orten zu verkünden,als auch in einem beständigen Aufbruch zuden Peripherien des eigenen Territoriums oderzu den neuen soziokulturellen Umfeldern. 32 Siesetzt sich dafür ein, immer dort gegenwärtig zusein, wo das Licht und das Leben des Auferstandenenam meisten fehlen. 33 Damit dieser missionarischeImpuls immer stärker, großherzigerund fruchtbarer sei, fordere ich auch jede Teilkircheauf, in einen entschiedenen Prozess derUnterscheidung, der Läuterung und der Reformeinzutreten.31. Der Bischof muss immer das missionarischeMiteinander in seiner Diözese fördern,indem er das Ideal der ersten christlichen Gemeindenverfolgt, in denen die Gläubigen einHerz und eine Seele waren (vgl. Apg 4,32). Darumwird er sich bisweilen an die Spitze stellen,31Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret ChristusDominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, 11.32Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer amInternationalen Kongress zum 40. Jahrestag des Konzilsdekrets Adgentes über die Missionstätigkeit der Kirche (11. März 2006): AAS 98(2006), 337.33Vgl. Propositio 42.31


um den Weg anzuzeigen und die Hoffnung desVolkes aufrecht zu erhalten, andere Male wird ereinfach inmitten aller sein mit seiner schlichtenund barmherzigen Nähe, und bei einigen Gelegenheitenwird er hinter dem Volk hergehen,um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind,und – vor allem – weil die Herde selbst ihrenSpürsinn besitzt, um neue Wege zu finden. Inseiner Aufgabe, ein dynamisches, offenes undmissionarisches Miteinander zu fördern, wird erdie Reifung der vom Kodex des Kanonischen Rechts 34vorgesehenen Mitspracheregelungen sowie andererFormen des pastoralen Dialogs anregenund suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören undnicht nur einige, die ihm Komplimente machen.Doch das Ziel dieser Prozesse der Beteiligungsoll nicht vornehmlich die kirchliche Organisationsein, sondern der missionarische Traum, allezu erreichen.32. Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ichvon den anderen verlange, muss ich auch an eineNeuausrichtung des <strong>Papst</strong>tums denken. MeineAufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zubleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtetsind, dass eine Ausübung meines Amtes derBedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte,treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeitender Evangelisierung entspricht. JohannesPaul II. bat um Hilfe, um »eine Form der Pri-34Vgl. Canones 460-468; 492-502; 511-514; 536-537.32


matsausübung zu finden, die zwar keineswegs aufdas Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sichaber einer neuen Situation öffnet«. 35 In diesemSinn sind wir wenig vorangekommen. Auch das<strong>Papst</strong>tum und die zentralen Strukturen der Universalkirchehaben es nötig, dem Aufruf zu einerpastoralen Neuausrichtung zu folgen. Das ZweiteVatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Weisewie die alten Patriarchatskirchen »die Bischofskonferenzenvielfältige und fruchtbare Hilfe leisten[können], um die kollegiale Gesinnung zukonkreter Verwirklichung zu führen«. 36 Aber dieserWunsch hat sich nicht völlig erfüllt, denn esist noch nicht deutlich genug eine Satzung derBischofskonferenzen formuliert worden, die sieals Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichenversteht, auch einschließlich einer gewissen authentischenLehrautorität. 37 Eine übertriebeneZentralisierung kompliziert das Leben der Kircheund ihre missionarische Dynamik, anstatt ihrzu helfen.33. Die Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunktverlangt, das bequeme pastoraleKriterium des „Es wurde immer so gemacht“aufzugeben. Ich lade alle ein, wagemutig undkreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, dieStrukturen, den Stil und die Evangelisierungs-35Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 95: AAS 87(1995), 977-978.36Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 23.37Vgl. Johannes Paul II., Motu proprio Apostolos suos(21. Mai 1998): AAS 90 (1998), 641-658.33


Methoden der eigenen Gemeinden zu überdenken.Eine Bestimmung der Ziele ohne eineangemessene gemeinschaftliche Suche nach denMitteln, um sie zu erreichen, ist dazu verurteilt,sich als bloße Fantasie zu erweisen. Ich rufe alleauf, großherzig und mutig die Anregungen diesesDokuments aufzugreifen, ohne Beschränkungenund Ängste. Wichtig ist, Alleingänge zu vermeiden,sich immer auf die Brüder und Schwesternund besonders auf die Führung der Bischöfe zuverlassen, in einer weisen und realistischen pastoralenUnterscheidung.III. Aus dem Herzen des Evangeliums34. Wenn wir alles unter einen missionarischenGesichtspunkt stellen wollen, dann gilt das auchfür die Weise, die Botschaft bekannt zu machen.In der Welt von heute mit der Schnelligkeit derKommunikation und der eigennützigen Auswahlder Inhalte durch die Medien ist die Botschaft,die wir verkünden, mehr denn je in Gefahr, verstümmeltund auf einige ihrer zweitrangigenAspekte reduziert zu werden. Daraus folgt, dasseinige Fragen, die zur Morallehre der Kirche gehören,aus dem Zusammenhang gerissen werden,der ihnen Sinn verleiht. Das größte Problementsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden,dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleichgesetztwird, die, obwohl sie relevant sind, für sichallein nicht das Eigentliche der Botschaft JesuChristi ausdrücken. Es ist also besser, realistisch34


zu sein und nicht davon auszugehen, dass unsereGesprächspartner den vollkommenen Hintergrunddessen kennen, was wir sagen, oder dasssie unsere Worte mit dem wesentlichen Kern desEvangeliums verbinden können, der ihnen Sinn,Schönheit und Anziehungskraft verleiht.35. Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunktsteht nicht unter dem Zwang derzusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahlvon Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeitaufzudrängen sucht. Wenn man einpastorales Ziel und einen missionarischen Stilübernimmt, der wirklich alle ohne Ausnahmenund Ausschließung erreichen soll, konzentriertsich die Verkündigung auf das Wesentliche, aufdas, was schöner, größer, anziehender und zugleichnotwendiger ist. Die Aussage vereinfachtsich, ohne dadurch Tiefe und Wahrheit einzubüßen,und wird so überzeugender und strahlender.36. Alle offenbarten Wahrheiten entspringenaus derselben göttlichen Quelle und werden mitein und demselben Glauben geglaubt, doch einigevon ihnen sind wichtiger, um unmittelbarer dasEigentliche des Evangeliums auszudrücken. Indiesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet,die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich imgestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbarthat. In diesem Sinn hat das Zweite VatikanischeKonzil gesagt, »dass es eine Rangordnung oder„Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der katholischenLehre gibt, je nach der verschiedenen35


Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundamentdes christlichen Glaubens«. 38 Das gilt sowohl fürdie Glaubensdogmen als auch für das Ganze derLehre der Kirche, einschließlich der Morallehre.37. Der heilige Thomas von Aquin lehrte, dasses auch in der moralischen Botschaft der Kircheeine Hierarchie gibt, in den Tugenden und in denTaten, die aus ihnen hervorgehen. 39 Hier ist das,worauf es ankommt, vor allem »den Glauben zuhaben, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,6).Die Werke der Nächstenliebe sind der vollkommensteäußere Ausdruck der inneren Gnade desGeistes: »Das Hauptelement des neuen Gesetzesist die Gnade des Heiligen Geistes, die deutlichwird durch den Glauben, der durch die Liebehandelt.« 40 Darum behauptet der heilige Thomas,dass in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeitdie größte aller Tugenden ist: »An sichist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden.Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich aufdie anderen ergießt und – was mehr ist – derSchwäche der anderen aufhilft; und das geradeist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird dasErbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt;und es heißt, dass darin am meisten seineAllmacht offenbar wird.« 4138Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatisredintegratio über den Ökumenismus, 11.39Vgl. Summa Theologiae I-II, q. 66, a. 4-6.40Summa Theologiae I-II, q. 108, a. 1.41Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4. Vgl. ebd., q. 30, a. 4,ad 1: »Wir ehren Gott durch die äußeren Opfer und Geschenke36


38. Es ist wichtig, die pastoralen Konsequenzenaus der Konzilslehre zu ziehen, die einealte Überzeugung der Kirche aufnimmt. Vor allemist zu sagen, dass in der Verkündigung desEvangeliums notwendigerweise ein rechtes Maßherrschen muss. Das kann man an der Häufigkeitfeststellen, mit der einige Themen behandeltwerden, und an den Akzenten, die in derPredigt gesetzt werden. Wenn zum Beispiel einPfarrer während des liturgischen Jahres zehnmalüber die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimalüber die Liebe oder über die Gerechtigkeitspricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das dieTugenden, die in den Schatten gestellt werden,genau diejenigen sind, die in der Predigt und inder Katechese mehr vorkommen müssten. DasGleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz alsvon der Gnade, mehr von der Kirche als von JesusChristus, mehr vom <strong>Papst</strong> als vom Wort Gottesgesprochen wird.39. Ebenso wie der organische Zusammenhangzwischen den Tugenden verhindert, irgendeinevon ihnen aus dem christlichen Ideal auszuschließen,wird auch keine Wahrheit geleugnet.Man darf die Vollständigkeit der Botschaft desnicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächstenwegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dasssie ihm dargebracht werden um unserer Hingabe und um desNutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Erbarmen, durchdas wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer,das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem Nutzen des Nächstennäher kommt.«37


Evangeliums nicht verstümmeln. Außerdem verstehtman jede Wahrheit besser, wenn man siein Beziehung zu der harmonischen Ganzheitder christlichen Botschaft setzt, und in diesemZusammenhang haben alle Wahrheiten ihre Bedeutungund erhellen sich gegenseitig. Wenn diePredigttätigkeit treu gegenüber dem Evangeliumist, zeigt sich in aller Klarheit die Zentralität einigerWahrheiten, und es wird deutlich, dass diechristliche Morallehre keine stoische Ethik ist,dass sie mehr ist als eine Askese, dass sie wedereine bloße praktische Philosophie ist, noch einKatalog von Sünden und Fehlern. Das Evangeliumlädt vor allem dazu ein, dem Gott zu antworten,der uns liebt und uns rettet – ihm zu antworten,indem man ihn in den anderen erkennt undaus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zusuchen. Diese Einladung darf unter keinen Umständenverdunkelt werden! Alle Tugenden stehenim Dienst dieser Antwort der Liebe. Wenndiese Einladung nicht stark und anziehend leuchtet,riskiert das moralische Gebäude der Kirche,ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsereschlimmste Gefahr. Denn dann wird es nichteigentlich das Evangelium sein, was verkündetwird, sondern einige lehrmäßige oder moralischeSchwerpunkte, die aus bestimmten theologischenOptionen hervorgehen. Die Botschaftläuft Gefahr, ihre Frische zu verlieren und nichtmehr „den Duft des Evangeliums“ zu haben.38


IV. Die Mission, die in den menschlichen BegrenzungenGestalt annimmt40. Die Kirche, die eine missionarische Jüngerinist, muss in ihrer Interpretation des offenbartenWortes und in ihrem Verständnis der Wahrheitwachsen. Die Aufgabe der Exegeten und derTheologen trägt dazu bei, dass »das Urteil derKirche reift«. 42 Auf andere Weise tun dies auchdie anderen Wissenschaften. In Bezug auf dieSozialwissenschaften, zum Beispiel, hat JohannesPaul II. gesagt, dass die Kirche ihren BeiträgenAchtung schenkt, »um daraus konkrete Hinweisezu gewinnen, die ihr helfen, ihre Aufgabe desLehramtes zu vollziehen«. 43 Außerdem gibt esinnerhalb der Kirche unzählige Fragen, über diemit großer Freiheit geforscht und nachgedachtwird. Die verschiedenen Richtungen des philosophischen,theologischen und pastoralen Denkenskönnen, wenn sie sich vom Geist in der gegenseitigenAchtung und Liebe in Einklang bringenlassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weilsie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortesbesser deutlich zu machen. Denjenigen, die sicheine monolithische, von allen ohne Nuancierungenverteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheitund Zersplitterung erscheinen.Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenenAspekte des unerschöpflichen Reich-42Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. DeiVerbum über die göttliche Offenbarung, 12.43Motu proprio Socialium Scientiarum (1. Januar 1994):AAS 86 (1994), 209.39


tums des Evangeliums besser zu zeigen und zuentwickeln. 4441. Zugleich erfordern die enormen undschnellen kulturellen Veränderungen, dass wirstets unsere Aufmerksamkeit darauf richtenund versuchen, die ewigen Wahrheiten in einerSprache auszudrücken, die deren ständige Neuheitdurchscheinen lässt. Denn im Glaubensgutder christlichen Lehre »ist das eine die Substanz[…] ein anderes die Art und Weise, dieseauszudrücken«. 45 Manchmal ist das, was die Gläubigenbeim Hören einer vollkommen musterhaftenSprache empfangen, aufgrund ihres eigenenSprachgebrauchs und -verständnisses etwas, wasnicht dem wahren Evangelium Jesu Christi entspricht.In der heiligen Absicht, ihnen die Wahrheitüber Gott und den Menschen zu vermitteln,geben wir ihnen bei manchen Gelegenheiten einenfalschen „Gott“ und ein menschliches Ideal,44Der heilige Thomas von Aquin betonte, »dass dieUnterscheidung und Vielheit der Dinge aus der Absicht desersten Wirkenden stammt«, dessen, der will, »dass das, wasdem einen Geschöpfe in der Darstellung der göttlichen Gütefehlt, aus einem anderen ergänzt wird«, weil seine Güte »durchein einzelnes Geschöpf nicht hinreichend dargestellt werdenkann« (Summa Theologiae I, q. 47, a. 1). Deshalb müssen wirdie Vielheit der Dinge in ihren vielfachen Beziehungen (vgl.Summa Theologiae I, q. 47, a. 2, ad 1; q. 47, a. 3) erfassen. Ausähnlichen Gründen haben wir es nötig, einander zu hören unduns in unserer partiellen Wahrnehmung der Wirklichkeit unddes Evangeliums gegenseitig zu ergänzen.45Johannes XXIII., Ansprache zur feierlichen Eröffnung desZweiten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962),792: »Est enim aliud ipsum depositum Fidei, seu veritates, quae venerandadoctrina nostra continentur, aliud modus, quo eaedem enuntiantur«.40


das nicht wirklich christlich ist. Auf diese Weisesind wir einer Formulierung treu, überbringenaber nicht die Substanz. Das ist das größte Risiko.Denken wir daran: »Die Ausdrucksformder Wahrheit kann vielgestaltig sein. Und die Erneuerungder Ausdrucksformen erweist sich alsnotwendig, um die Botschaft vom Evangelium inihrer unwandelbaren Bedeutung an den heutigenMenschen weiterzugeben.« 4642. Das hat eine große Relevanz in der Verkündigungdes Evangeliums, wenn es uns wirklicham Herzen liegt zu erreichen, dass seine Schönheitbesser wahrgenommen und von allen angenommenwird. In jedem Fall können wir dieLehren der Kirche nie zu etwas machen, dasleicht verständlich ist und die uneingeschränkteWürdigung aller erfährt. Der Glaube behält immereinen Aspekt des Kreuzes, eine gewisse Unverständlichkeit,die jedoch die Festigkeit der innerenZustimmung nicht beeinträchtigt. Es gibtDinge, die man nur von dieser inneren Zustimmungher versteht und schätzt, die eine Schwesterder Liebe ist, jenseits der Klarheit, mit derman ihre Gründe und Argumente erfassen kann.Darum ist daran zu erinnern, dass jede Unterweisungin der Lehre in einer Haltung der Evangelisierunggeschehen muss, die durch die Nähe,die Liebe und das Zeugnis die Zustimmung desHerzens weckt.46Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai1995), 19: AAS 87 (1995), 933.41


43. In ihrem bewährten Unterscheidungvermögenkann die Kirche auch dazu gelangen, eigene,nicht direkt mit dem Kern des Evangeliumsverbundene, zum Teil tief in der Geschichteverwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nichtmehr in derselben Weise interpretiert werden undderen Botschaft gewöhnlich nicht entsprechendwahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leistenjedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblickauf die Weitergabe des Evangeliums. Habenwir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicherWeise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften,die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesensein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherischeKraft als Richtlinien des Lebens besitzen.Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass dieVorschriften, die dem Volk Gottes von Christusund den Aposteln gegeben wurden, »ganz wenige«sind. 47 Indem er den heiligen Augustinus zitierte,schrieb er, dass die von der Kirche späterhinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordernsind, »um den Gläubigen das Leben nichtschwer zu machen« und unsere Religion nichtin eine Sklaverei zu verwandeln, während »dieBarmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei«. 48Diese Warnung, die vor einigen Jahrhundertengegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität.Sie müsste eines der Kriterien sein, die inBetracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform47Summa Theologiae I-II, q. 107, a. 4.48Ebd.42


der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedachtwird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.44. Andererseits dürfen sowohl die Hirten alsauch alle Gläubigen, die ihre Brüder im Glaubenoder auf einem Weg der Öffnung auf Gott hinbegleiten, nicht vergessen, was der Katechismus derKatholischen Kirche mit großer Klarheit lehrt: »DieAnrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortungfür sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit,Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßigeAffekte sowie weitere psychische odergesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogaraufgehoben sein.« 49Daher muss man, ohne den Wert des vomEvangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern,die möglichen Wachstumsstufen der Menschen,die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barmherzigkeitund Geduld begleiten. 50 Die Priestererinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keineFolterkammer sein darf, sondern ein Ort derBarmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, dasmögliche Gute zu tun. Ein kleiner Schritt inmittengroßer menschlicher begrenzungen kannGott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrekteLeben dessen, der seine Tage verbringt, ohneauf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen.Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn49Nr. 1735.50Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Familiaris consortio (22. November 1981), 34: AAS 74(1982), 123-125.43


der heilbringenden Liebe Gottes erreicht werden,der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt,jenseits seiner Mängel und Verfehlungen.45. So sehen wir, dass der evangelisierendeEinsatz sich innerhalb der Grenzen der Spracheund der Umstände bewegt. Er versucht immer,die Wahrheit des Evangeliums in einembestimmten Kontext bestmöglich mitzuteilen,ohne auf die Wahrheit, das Gute und das Lichtzu verzichten, die eingebracht werden können,wenn die Vollkommenheit nicht möglich ist. Einmissionarisches Herz weiß um diese Grenzenund wird »den Schwachen ein Schwacher […]allen alles« (vgl. 1 Kor 9,22). Niemals verschließtes sich, niemals greift es auf die eigenen Sicherheitenzurück, niemals entscheidet es sich für dieStarrheit der Selbstverteidigung. Es weiß, dass esselbst wachsen muss im Verständnis des Evangeliumsund in der Unterscheidung der Wege desGeistes, und so verzichtet es nicht auf das möglicheGute, obwohl es Gefahr läuft, sich mit demSchlamm der Straße zu beschmutzen.V. Eine Mutter mit offenem Herzen46. Eine Kirche „im Aufbruch“ ist eine Kirchemit offenen Türen. Zu den anderen hinauszugehen,um an die menschlichen Randgebiete zugelangen, bedeutet nicht, richtungs- und sinnlosauf die Welt zuzulaufen. Oftmals ist es besser,den Schritt zu verlangsamen, die Ängstlichkeitabzulegen, um dem anderen in die Augen zu se-44


hen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeitenzu verzichten, um den zu begleiten, der am Straßenrandgeblieben ist. Manchmal ist sie wie derVater des verlorenen Sohns, der die Türen offenlässt, damit der Sohn, wenn er zurückkommt,ohne Schwierigkeit eintreten kann.47. Die Kirche ist berufen, immer das offeneHaus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zeichendieser Öffnung ist es, überall Kirchen mitoffenen Türen zu haben. So stößt einer, wenn ereiner Eingebung des Geistes folgen will und näherkommt,weil er Gott sucht, nicht auf die Kälteeiner verschlossenen Tür. Doch es gibt noch andereTüren, die ebenfalls nicht geschlossen werdendürfen. Alle können in irgendeiner Weise amkirchlichen Leben teilnehmen, alle können zurGemeinschaft gehören, und auch die Türen derSakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigenGrund geschlossen werden. Das gilt vorallem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt,das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist,obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebensdarstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen,sondern ein großzügiges Heilmittel undeine Nahrung für die Schwachen. 51 Diese Über-51Vgl. Ambrosius, De Sacramentis, IV, 6, 28: PL 16, 464:»Ich muss ihn immer empfangen, damit er immer meineSünden vergibt. Wenn ich ständig sündige, muss ich immer einHeilmittel haben«; ebd., IV, 5, 24: PL 16, 463: »Wer das Mannaaß, starb; wer von diesem Leib isst, wird die Vergebung seinerSünden erhalten.« Cyrill von Alexandrien, In Joh. Evang. IV, 2:PG 73, 584-585: »Ich habe mich geprüft und erkannt, dass ich45


zeugungen haben auch pastorale Konsequenzen,und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit undWagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhaltenwir uns wie Kontrolleure der Gnade und nichtwie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keineZollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist fürjeden mit seinem mühevollen Leben.48. Wenn die gesamte Kirche diese missionarischeDynamik annimmt, muss sie alle erreichen,ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevorzugen?Wenn einer das Evangelium liest, findeter eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr diereichen Freunde und Nachbarn, sondern vor allemdie Armen und die Kranken, diejenigen, diehäufig verachtet und vergessen werden, die »esdir nicht vergelten können« (Lk 14,14). Es dürfenweder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungenstand, die diese so klare Botschaft schwächenkönnten. Heute und immer gilt: »Die Armensind die ersten Adressaten des Evangeliums«, 52und die unentgeltlich an sie gerichtete Evangelisierungist ein Zeichen des Reiches, das zu bringenJesus gekommen ist. Ohne Umschweife istzu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indiunwürdigbin. Denen, die so reden, sage ich: Und wann werdetihr würdig sein? Wann werdet ihr also vor Christus erscheinen?Und wenn eure Sünden euch hindern, näherzukommen, undwenn ihr niemals aufhört zu fallen – wer bemerkt seine eigenenFehler, sagt der Psalm – werdet ihr schließlich nicht teilhaben ander Heiligung, die Leben schenkt für die Ewigkeit?«52Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Begegnung mit denbrasilianischen Bischöfen in der Kathedrale von São Paulo, Brasilien (11.Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 428.46


ens lehren – ein untrennbares Band zwischen unseremGlauben und den Armen besteht. Lassenwir die Armen nie allein!49. Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allendas Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wiederholehier für die ganze Kirche, was ich vieleMale den Priestern und Laien von Buenos Airesgesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, dieverletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßenhinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche,die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrerBequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheitenzu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, diedarum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, undschließlich in einer Anhäufung von fixen Ideenund Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwasin heilige Sorge versetzen und unser Gewissenbeunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dassso viele unserer Brüder und Schwestern ohne dieKraft, das Licht und den Trost der Freundschaftmit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft,die sie aufnimmt, ohne einen Horizontvon Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehrals die Furcht, einen Fehler zu machen, unserBeweggrund die Furcht sei, uns einzuschließenin die Strukturen, die uns einen falschen Schutzgeben, in die Normen, die uns in unnachsichtigeRichter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denenwir uns ruhig fühlen, während draußen einehungrige Menschenmenge wartet und Jesus unspausenlos wiederholt: »Gebt ihr ihnen zu essen!«(Mk 6,37).47


ZWEITES KAPITELIN DER KRISE DES GEMEINSCHAFTLI-CHEN ENGAGEMENTS50. Bevor wir über einige grundlegende Fragenin Bezug auf das evangelisierende Handeln sprechen,sollte kurz erwähnt werden, welches derRahmen ist, in dem wir zu leben und zu wirken haben.Heute wird gewöhnlich von einem „diagnostischenÜberhang“ gesprochen, der nicht immervon wirklich anwendbaren Lösungsvorschlägenbegleitet ist. Andererseits würde uns auch eine reinsoziologische Sicht nicht nützen, die den Ansprucherhebt, die ganze Wirklichkeit mit ihrer Methodologiein einer nur hypothetisch neutralen und unpersönlichenWeise zu umfassen. Was ich vorzulegengedenke, geht vielmehr in die Richtung einerUnterscheidung anhand des Evangeliums. Es ist die Sichtdes missionarischen Jüngers, die »lebt vom Lichtund von der Kraft des Heiligen Geistes«. 5351. Es ist nicht Aufgabe des <strong>Papst</strong>es, eine detaillierteund vollkommene Analyse der gegenwärtigenWirklichkeit zu bieten, aber ich forderealle Gemeinschaften auf, sich um »eine immerwachsame Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zuerforschen« 54 zu bemühen. Wir stehen hier vor53Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992),673.54Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964),19: AAS 56 (1964), 632.49


einer großen Verantwortung, weil einige gegenwärtigeSituationen, falls sie keine guten Lösungenfinden, Prozesse einer Entmenschlichungauslösen können, die dann nur schwer rückgängigzu machen sind. Es ist angebracht zu klären,was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, undauch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließtnicht nur ein, die Eingebungen des guten unddes bösen Geistes zu erkennen und zu interpretieren,sondern – und hier liegt das Entscheidende– die des guten Geistes zu wählen und die desbösen Geistes zurückzuweisen. Ich setze die verschiedenenAnalysen voraus, welche die anderenDokumente des universalen Lehramtes dargebotenhaben, wie auch die, welche die regionalenund nationalen Bischofskonferenzen vorgestellthaben. In diesem <strong>Schreiben</strong> will ich nur kurzund unter pastoralem Gesichtspunkt auf einigeAspekte der Wirklichkeit eingehen, welche dieDynamiken der missionarischen Erneuerung derKirche anhalten oder schwächen können, sei es,weil sie das Leben und die Würde des Gottesvolkesbetreffen, sei es, weil sie sich auch auf diePersonen auswirken, die unmittelbarer zu denkirchlichen Institutionen gehören und Evangelisierungsaufgabenerfüllen.I. Einige Herausforderungen der Welt vonheute52. Die Menschheit erlebt im Moment eine historischeWende, die wir an den Fortschritten able-50


sen können, die auf verschiedenen Gebieten gemachtwerden. Lobenswert sind die Erfolge, diezum Wohl der Menschen beitragen, zum Beispielauf dem Gebiet der Gesundheit, der Erziehungund der Kommunikation. Wir dürfen jedochnicht vergessen, dass der größte Teil der Männerund Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicherheitlebt, mit unheilvollen Konsequenzen. EinigePathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflungergreifen das Herz vieler Menschen, sogar in densogenannten reichen Ländern. Häufig erlischtdie Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit undGewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immerklarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben– und oft wenig würdevoll zu leben. Dieser epochaleWandel ist verursacht worden durch dieenormen Sprünge, die in Bezug auf Qualität,Quantität, Schnelligkeit und Häufung im wissenschaftlichenFortschritt sowie in den technologischenNeuerungen und ihren promptenAnwendungen in verschiedenen Bereichen derNatur und des Lebens zu verzeichnen sind. Wirbefinden uns im Zeitalter des Wissens und derInformation, einer Quelle neuer Formen einersehr oft anonymen Macht.Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung53. Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“eine deutliche Grenze setzt, um den Wertdes menschlichen Lebens zu sichern, müssenwir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der51


Ausschließung und der Disparität der Einkommen“sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich,dass es kein Aufsehen erregt, wenn einalter Mann, der gezwungen ist, auf der Straßezu leben, erfriert, während eine Baisse um zweiPunkte in der Börse Schlagzeilen macht. Dasist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerieren,dass Nahrungsmittel weggeworfen werden,während es Menschen gibt, die Hunger leiden.Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich allesnach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeitund nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo derMächtigere den Schwächeren zunichte macht.Als Folge dieser Situation sehen sich große Massender Bevölkerung ausgeschlossen und an denRand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten,ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie einKonsumgut betrachtet, das man gebrauchen unddann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerfkultur“eingeführt, die sogar gefördert wird. Esgeht nicht mehr einfach um das Phänomen derAusbeutung und der Unterdrückung, sondernum etwas Neues: Mit der Ausschließung ist dieZugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der manlebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch siebefindet man sich nicht in der Unterschicht, amRande oder gehört zu den Machtlosen, sondernman steht draußen. Die Ausgeschlossenen sindnicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.54. In diesem Zusammenhang verteidigen einigenoch die „Überlauf“-Theorien (trickle-downTheorie), die davon ausgehen, dass jedes vom52


freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstumvon sich aus eine größere Gleichheit und sozialeEinbindung in der Welt hervorzurufen vermag.Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigtwurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauenauf die Güte derer aus, die die wirtschaftlicheMacht in Händen halten, wie auch auf diesakralisierten Mechanismen des herrschendenWirtschaftssystems. Inzwischen warten die Ausgeschlossenenweiter. Um einen Lebensstil vertretenzu können, der die anderen ausschließt,oder um sich für dieses egoistische Ideal begeisternzu können, hat sich eine Globalisierungder Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zumerken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfindengegenüber dem schmerzvollen Aufschreider anderen, wir weinen nicht mehr angesichtsdes Dramas der anderen, noch sind wir daraninteressiert, uns um sie zu kümmern, als sei alldas eine uns fern liegende Verantwortung, dieuns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstandsbetäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wennder Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekaufthaben, während alle diese wegen fehlenderMöglichkeiten unterdrückten Leben uns wie einbloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keinerWeise erschüttert.Nein zur neuen Vergötterung des Geldes55. Einer der Gründe dieser Situation liegtin der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt53


haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaftüber uns und über unsere Gesellschaften.Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässtuns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefeanthropologische Krise steht: die Leugnung desVorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzengeschaffen. Die Anbetung des antiken goldenenKalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue underbarmungslose Form gefunden im Fetischismusdes Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaftohne Gesicht und ohne ein wirklich menschlichesZiel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesenund die Wirtschaft erfasst, macht ihre Unausgeglichenheitenund vor allem den schwerenMangel an einer anthropologischen Orientierungdeutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nureines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.56. Während die Einkommen einiger wenigerexponentiell steigen, sind die der Mehrheit immerweiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichenMinderheit. Dieses Ungleichgewicht gehtauf Ideologien zurück, die die absolute Autonomieder Märkte und die Finanzspekulation verteidigen.Darum bestreiten sie das Kontrollrechtder Staaten, die beauftragt sind, über den Schutzdes Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eineneue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei,die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze undihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen dieSchulden und ihre Zinsen die Länder von denpraktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und54


die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all demkommt eine verzweigte Korruption und eine egoistischeSteuerhinterziehung hinzu, die weltweiteDimensionen angenommen haben. Die Giernach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. Indiesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen,um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwachewie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessendes vergöttlichten Marktes, die zur absolutenRegel werden.Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen57. Hinter dieser Haltung verbergen sich dieAblehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes.Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissenspöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird alskontraproduktiv und zu menschlich angesehen,weil sie das Geld und die Macht relativiert. Manempfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteiltdie Manipulierung und die Degradierung derPerson. Schließlich verweist die Ethik auf einenGott, der eine verbindliche Antwort erwartet, dieaußerhalb der Kategorien des Marktes steht. Fürdiese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gottunkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogargefährlich, da er den Menschen zu seiner vollenVerwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit vonjeder Art von Unterjochung. Die Ethik – einenicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleichgewichtund eine menschlichere Gesellschaftsordnungzu schaffen. In diesem Sinn rufe ich55


die Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenenLänder auf, die Worte eines Weisendes Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güternicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zubestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. DieGüter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondernihnen.« 5558. Eine Finanzreform, welche die Ethik nichtignoriert, würde einen energischen Wechsel derGrundeinstellung der politischen Führungskräfteerfordern, die ich aufrufe, diese Herausforderungmit Entschiedenheit und Weitblick anzunehmen,natürlich ohne die Besonderheit einesjeden Kontextes zu übersehen. Das Geld mussdienen und nicht regieren! Der <strong>Papst</strong> liebt alle,Reiche und Arme, doch im Namen Christi hater die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichenden Armen helfen, sie achten und fördern müssen.Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidaritätund zu einer Rückkehr von Wirtschaftund Finanzleben zu einer Ethik zugunsten desMenschen.Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt59. Heute wird von vielen Seiten eine größereSicherheit gefordert. Doch solange die Ausschließungund die soziale Ungleichheit in derGesellschaft und unter den verschiedenen Völ-55Johannes Chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG48, 992 D.56


kern nicht beseitigt werden, wird es unmöglichsein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen unddie ärmsten Bevölkerungen werden der Gewaltbeschuldigt, aber ohne Chancengleichheit findendie verschiedenen Formen von Aggression undKrieg einen fruchtbaren Boden, der früher oderspäter die Explosion verursacht. Wenn die lokale,nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teilihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksalüberlässt, wird es keine politischen Programme,noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, dieunbeschränkt die Ruhe gewährleisten können.Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheitgewaltsame Reaktionen derer provoziert, dievom System ausgeschlossen sind, sondern weildas gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeman der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazuneigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, demman einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit,dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen undim Stillen die Grundlagen jeden politischen undsozialen Systems aus den Angeln zu heben, sogefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tatihre Folgen hat, dann enthält ein in den Struktureneiner Gesellschaft eingenistetes Böses immerein Potenzial der Auflösung und des Todes.Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturenkristallisierte Böse ist der Grund, warum mansich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wirbefinden uns weit entfernt vom sogenannten„Ende der Geschichte“, da die Bedingungen füreine vertretbare und friedliche Entwicklung noch57


nicht entsprechend in die Wege geleitet und verwirklichtsind.60. Die Mechanismen der augenblicklichenWirtschaft fördern eine Anheizung des Konsums,aber es stellt sich heraus, dass der zügelloseKonsumismus, gepaart mit der sozialen Ungleichheitdas soziale Gefüge doppelt schädigt.Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheitfrüher oder später eine Gewalt, die der Rüstungswettlaufnicht löst, noch jemals lösen wird. Erdient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen,die größere Sicherheit fordern, als wüssten wirnicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrückung,anstatt Lösungen herbeizuführen, neueund schlimmere Konflikte schaffen. Einige findenschlicht Gefallen daran, die Armen und diearmen Länder mit ungebührlichen Verallgemeinerungender eigenen Übel zu beschuldigenund sich einzubilden, die Lösung in einer „Erziehung“zu finden, die sie beruhigt und in gezähmte,harmlose Wesen verwandelt. Das wirdnoch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen jenengesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, derdie in vielen Ländern – in den Regierungen, imUnternehmertum und in den Institutionen – tiefverwurzelte Korruption ist, unabhängig von derpolitischen Ideologie der Regierenden.Einige kulturelle Herausforderungen61. Wir evangelisieren auch dann, wenn wirversuchen, uns den verschiedenen Herausfor-58


derungen zu stellen, die auftauchen können. 56Manchmal zeigen sie sich in echten Angriffenauf die Religionsfreiheit oder in neuen Situationender Christenverfolgung, die in einigen Ländernallarmierende Stufen des Hasses und derGewalt erreicht haben. An vielen Orten handeltes sich eher um eine verbreitete relativistischeGleichgültigkeit, verbunden mit der Ernüchterungund der Krise der Ideologien, die als Reaktionauf alles, was totalitär erscheint, eingetretenist. Das schadet nicht nur der Kirche, sonderndem Gesellschaftsleben allgemein. Geben wir zu,dass in einer Kultur, in der jeder Träger einer eigenensubjektiven Wahrheit sein will, die Bürgerschwerlich das Verlangen haben, sich an einemgemeinsamen Projekt zu beteiligen, das die persönlichenInteressen und Wünsche übersteigt.62. In der herrschenden Kultur ist der erstePlatz besetzt von dem, was äußerlich, unmittelbar,sichtbar, schnell, oberflächlich und provisorischist. Das Wirkliche macht dem AnscheinPlatz. In vielen Ländern hat die Globalisierungmit der Invasion von Tendenzen aus anderen,wirtschaftlich entwickelten, aber ethisch geschwächtenKulturen einen beschleunigten Verfallder kulturellen Wurzeln bedingt. Das habenin mehreren Synoden die Bischöfe verschiedenerKontinente zum Ausdruck gebracht. Die afrikanischenBischöfe haben zum Beispiel in An-56Vgl. Propositio 13.59


knüpfung an die Enzyklika Sollicitudo rei socialisvor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass manoftmals die Länder Afrikas zu bloßen »Rädern einesMechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Maschinerie«umfunktionieren will. »Das geschiehtoft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommunikationsmittel:Weil diese meistens von Zentrenim Norden der Welt aus geleitet werden, berücksichtigensie nicht immer in gebührender Weisedie eigenen vorrangigen Anliegen und Problemedieser Länder, noch achten sie deren kulturelleEigenart.« 57 In gleicher Weise haben die BischöfeAsiens »die von außen auf die asiatischen Kultureneinwirkenden Einflüsse« hervorgehoben.»Neue Verhaltensformen kommen auf, die aufden übertriebenen Gebrauch von Kommunikationsmitteln[…] zurückzuführen sind […] Indirekter Folge sind die negativen Aspekte derMedien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahrfür die traditionellen Werte.« 5863. Der katholische Glaube vieler Völker stehtheute vor der Herausforderung der Verbreitungneuer religiöser Bewegungen, von denen einigezum Fundamentalismus tendieren und andereeine Spiritualität ohne Gott anzubieten scheinen.Das ist einerseits das Ergebnis einer menschli-57Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Africa (14. September 1995), 52: AAS88 (1996), 32-33; Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30.Dezember 1987), 22: AAS 80 (1988), 539.58Ders., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Ecclesiain Asia (6. November 1999), 7: AAS 92 (2000), 458.60


chen Reaktion auf die materialistische, konsumorientierteund individualistische Gesellschaftund andererseits eine Ausnutzung der Notsituationder Bevölkerung, die an den Peripherienund in den verarmten Zonen lebt, die inmittengroßer menschlicher Leiden überlebt und unmittelbareLösungen für die eigenen Bedürfnissesucht. Diese religiösen Bewegungen, die durchihr subtiles Eindringen gekennzeichnet sind, fülleninnerhalb des herrschenden Individualismuseine Leere aus, die der laizistische Rationalismushinterlassen hat. Außerdem müssen wir zugeben,dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eigeneZugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet,das auch manchen Strukturen und einem wenigaufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfarreienund Gemeinden zuzuschreiben ist oder einembürokratischen Verhalten, mit dem auf dieeinfachen oder auch komplexen Probleme desLebens unserer Völker geantwortet wird. Vielerortsbesteht eine Vorherrschaft des administrativenAspekts vor dem seelsorglichen sowie eineSakramentalisierung ohne andere Formen derEvangelisierung.64. Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, denGlauben und die Kirche auf den privaten, ganzpersönlichen Bereich zu beschränken. Außerdemhat er mit der Leugnung jeglicher Transzendenzeine zunehmende ethische Deformation, eineSchwächung des Bewusstseins der persönlichenund sozialen Sünde und eine fortschreitende Zunahmedes Relativismus verursacht, die Anlass61


geben zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit,besonders in der Phase des Heranwachsensund der Jugend, die gegenüber Veränderungen soanfällig ist. Während die Kirche auf der Existenzobjektiver, für alle geltender moralischer Normenbesteht, gibt es, wie die Bischöfe der VereinigtenStaaten von Amerika zu Recht festgestellt haben,»solche, die diese Lehre als ungerecht bzw. als mitden menschlichen Grundrechten unvereinbardarstellen. Diese Argumentationen entspringengewöhnlich aus einer Form von moralischem Relativismus,der sich – nicht ohne inneren Widerspruch– mit einem Vertrauen auf die absolutenRechte des Einzelnen verbindet. In dieser Sichtweisenimmt man die Kirche wahr, als fördere sieein besonderes Vorurteil und als greife sie in dieindividuelle Freiheit ein.« 59 Wir leben in einer Informationsgesellschaft,die uns wahllos mit Datenüberhäuft, alle auf derselben Ebene, und unsschließlich in eine erschreckende Oberflächlichkeitführt, wenn es darum geht, die moralischenFragen anzugehen. Folglich wird eine Erziehungnotwendig, die ein kritisches Denken lehrt und einenWeg der Reifung in den Werten bietet.65. Trotz der ganzen laizistischen Strömung,die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kirchein vielen Ländern – auch dort, wo das Christentumin der Minderheit ist – in der öffentlichen59United States Conference of Catholic Bishops,Ministry to Persons with a Homosexual Inclination: Guidelines forPastoral Care. (2006), 17.62


Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuverlässigin Bezug auf den Bereich der Solidaritätund der Sorge für die am meisten Bedürftigen.Bei vielen Gelegenheiten hat sie als Mittlerin gedient,um die Lösung von Problemen zu fördern,die den Frieden, die Eintracht, die Umwelt, denSchutz des Lebens, die Menschenrechte und dieZivilrechte usw. betreffen. Und wie groß ist derBeitrag der katholischen Schulen und Universitätenin der ganzen Welt! Es ist sehr positiv, dassdas so ist. Doch wenn wir andere Fragen zurSprache bringen, die weniger öffentliche Zustimmunghervorrufen, fällt es uns schwer zu zeigen,dass wir das aus Treue zu den gleichen Überzeugungenbezüglich der Würde der Person und desGemeinwohls tun.66. Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krisedurch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen.Im Fall der Familie wird die Brüchigkeitder Bindungen besonders ernst, denn es handeltsich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft,um den Ort, wo man lernt, in der Verschiedenheitzusammenzuleben und anderen zu gehören,und wo die Eltern den Glauben an die Kinderweitergeben. Die Ehe wird tendenziell als einebloße Form affektiver Befriedigung gesehen, diein beliebiger Weise gegründet und entsprechendder Sensibilität eines jeden verändert werdenkann. Doch der unverzichtbare Beitrag der Ehezur Gesellschaft geht über die Ebene der Emotivitätund der zufälligen Bedürfnisse des Paareshinaus. Wie die französischen Bischöfe darlegen,63


geht sie nicht hervor »aus dem Gefühl der Liebe,das definitionsgemäß vergänglich ist, sondernaus der Tiefe der von den Brautleuten übernommenVerbindlichkeit, die zustimmen, eine umfassendeLebensgemeinschaft einzugehen.« 6067. Der postmoderne und globalisierte Individualismusbegünstigt einen Lebensstil, der dieEntwicklung und die Stabilität der Bindungenzwischen den Menschen schwächt und die Naturder Familienbande zerstört. Das seelsorglicheTun muss noch besser zeigen, dass die Beziehungzu unserem himmlischen Vater eine Communiofordert und fördert, die die zwischenmenschlichenBindungen heilt, begünstigt und stärkt.Während in der Welt, besonders in einigen Ländern,erneut verschiedene Formen von Kriegenund Auseinandersetzungen aufkommen, beharrenwir Christen auf dem Vorschlag, den anderenanzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brückenzu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einanderzu helfen, so dass »einer des anderen Last trage«(Gal 6,2). Andererseits entstehen heute viele Formenvon Verbänden für den Rechtsschutz undzur Erreichung edler Ziele. Auf diese Weise zeigtsich deutlich das Verlangen zahlreicher Bürgernach Mitbestimmung – Bürger, die Erbauer dessozialen und kulturellen Fortschritts sein wollen.60Conférence des Évêques de France, Conseil Familleet Société, Elargir le mariage aux personnes de même sexe? Ouvrons ledébat! (28. September 2012).64


Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens68. Die christliche Basis einiger Völker – besondersin der westlichen Welt – ist eine lebendigeWirklichkeit. Hier finden wir, vor allem unter denam meisten Notleidenden, eine moralische Reserve,die Werte eines authentischen christlichen Humanismusbewahrt. Ein Blick des Glaubens aufdie Wirklichkeit kann nicht umhin, das anzuerkennen,was der Heilige Geist sät. Es würde bedeuten,kein Vertrauen auf sein freies und großzügigesHandeln zu haben, wenn man meinte, es gebe keineechten christlichen Werte dort, wo ein Großteilder Bevölkerung die Taufe empfangen hat undseinen Glauben und seine brüderliche Solidaritätin vielerlei Weise zum Ausdruck bringt. Hier mussman viel mehr als „Samen des Wortes“ erkennen,angesichts der Tatsache, dass es sich um einenauthentischen katholischen Glauben handelt miteigenen Modalitäten des Ausdrucks und der Zugehörigkeitzur Kirche. Es ist nicht gut, die entscheidendeBedeutung zu übersehen, welche einevom Glauben gezeichnete Kultur hat, denn dieseevangelisierte Kultur besitzt jenseits ihrer Grenzenviel mehr Möglichkeiten als eine einfache Summevon Gläubigen, die den Angriffen des heutigenSäkularismus ausgesetzt ist. Eine evangelisierteVolkskultur enthält Werte des Glaubens und derSolidarität, die die Entwicklung einer gerechterenund gläubigeren Gesellschaft auslösen können.Zudem besitzt sie eine besondere Weisheit, undman muss verstehen, diese mit einem Blick vollerDankbarkeit zu erkennen.65


69. Es ist dringend notwendig, die Kulturen zuevangelisieren, um das Evangelium zu inkulturieren.In den Ländern katholischer Tradition wirdes sich darum handeln, den bereits bestehendenReichtum zu begleiten, zu pflegen und zu stärken,und in den Ländern anderer religiöser Traditionenoder tiefgreifender Säkularisierung wirdes darum gehen, neue Prozesse der Evangelisierungder Kultur zu fördern, auch wenn sie sehrlangfristige Planungen verlangen. Wir dürfenjedoch nicht übersehen, dass immer ein Aufrufzum Wachstum besteht. Jede Kultur und jede gesellschaftlicheGruppe bedarf der Läuterung undder Reifung. Im Fall von Volkskulturen katholischerBevölkerungen können wir einige Schwächenerkennen, die noch vom Evangelium geheiltwerden müssen: Chauvinismus, Alkoholismus,häusliche Gewalt, geringe Teilnahme an der Eucharistie,Schicksalsgläubigkeit oder Aberglaube,die auf Zauberei und Magie zurückgreifen lassen,und anderes. Doch gerade die Volksfrömmigkeitist der beste Ausgangspunkt, um dieseSchwächen zu heilen und von ihnen zu befreien.70. Es stimmt auch, dass der Schwerpunktmanchmal mehr auf äußeren Formen von Traditioneneiniger Gruppen oder auf hypothetischenPrivatoffenbarungen liegt, die absolutgesetzt werden. Es gibt ein gewisses, aus Frömmigkeitsübungenbestehendes Christentum, demeine individuelle und gefühlsbetonte Weise, denGlauben zu leben, zugrunde liegt, die in Wirklichkeitnicht einer echten „Volksfrömmigkeit“66


entspricht. Manche fördern diese Ausdrucksformen,ohne sich um die soziale Förderung unddie Bildung der Gläubigen zu kümmern, undin gewissen Fällen tun sie es, um wirtschaftlicheVorteile zu erlangen oder eine Macht überdie anderen zu gewinnen. Wir dürfen auch nichtübersehen, dass in den letzten Jahrzehnten einBruch in der generationenlangen Weitergabedes christlichen Glaubens im katholischen Volkstattgefunden hat. Es ist unbestreitbar, dass vielesich enttäuscht fühlen und aufhören, sich mitder katholischen Tradition zu identifizieren; dassdie Zahl der Eltern steigt, die ihre Kinder nichttaufen lassen und sie nicht beten lehren und dasseine gewisse Auswanderung in andere Glaubensgemeinschaftenzu verzeichnen ist. Einige Ursachendieses Bruches sind: der Mangel an Raumfür den Dialog in der Familie, der Einfluss derKommunikationsmittel, der relativistische Subjektivismus,der ungehemmte Konsumismus,der den Markt anregt, das Fehlen einer pastoralenBegleitung für die Ärmsten, der Mangel anherzlicher Aufnahme in unseren Einrichtungenund unsere Schwierigkeit, in einer multireligiösenUmgebung den übernatürlichen Zugang zumGlauben neu zu schaffen.Herausforderungen der Stadtkulturen71. Das neue Jerusalem, die heilige Stadt (vgl.Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesamteMenschheit unterwegs ist. Es ist interessant,67


dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfüllungder Menschheit und der Geschichte sich ineiner Stadt verwirklicht. Wir müssen die Stadtvon einer kontemplativen Sicht her, das heißt miteinem Blick des Glaubens erkennen, der jenenGott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihrenStraßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die GegenwartGottes begleitet die aufrichtige Suche,die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Haltund Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unterden Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeitund das Verlangen nach dem Guten,nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwartmuss nicht hergestellt, sondern entdeckt,enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen,die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auchwenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifigeWeise tun.72. In der Stadt wird der religiöse Aspekt durchverschiedene Lebensstile und durch Gebräuchevermittelt, die mit einem Gefühl für die Zeit,das Territorium und die Beziehungen verbundensind, das sich von dem Stil der Landbevölkerungenunterscheidet. Im Alltag kämpfen die Bürgeroftmals ums Überleben, und in diesem Kampfverbirgt sich ein tiefes Empfinden für das Leben,das gewöhnlich auch ein tiefes religiöses Empfindeneinschließt. Das müssen wir berücksichtigen,um einen Dialog zu erzielen wie den, welchen derHerr mit der Samariterin am Brunnen führte, wosie ihren Durst zu stillen suchte (vgl. Joh 4,7-26).68


73. Es entstehen fortwährend neue Kulturenin diesen riesigen menschlichen Geographien,wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenigeist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige,der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche,Symbole, Botschaften und Paradigmenempfängt, die neue Lebensorientierungen bieten,welche häufig im Gegensatz zum EvangeliumJesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert inder Stadt und wird in ihr konzipiert. Die Synodehat festgestellt, dass heute die Verwandlungendieser großen Gebiete und die Kultur, in der sieihren Ausdruck finden, ein vorzüglicher Ort fürdie neue Evangelisierung sind. 61 Das erfordert,neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaftzu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen anziehenderund bedeutungsvoller sind. Aufgrunddes Einflusses der Massenkommunikationsmittelsind die ländlichen Bereiche von diesen kulturellenVerwandlungen, die auch bedeutsame Veränderungenin ihrer Lebensweise bewirken, nichtausgenommen.74. Das macht eine Evangelisierung nötig,welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderenund mit der Umgebung in Beziehung zutreten, erleuchtet und die grundlegenden Wertewachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen,wo die neuen Geschichten und Paradigmenentstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten61Vgl. Propositio 25.69


Kern der Seele der Städte zu erreichen. Man darfnicht vergessen, dass die Stadt ein multikulturellerBereich ist. In den großen Städten kann manein „Bindegewebe“ beobachten, in dem Gruppenvon Personen die gleichen Lebensträumeund ähnliche Vorstellungswelten miteinanderteilen und sich zu neuen menschlichen Sektoren,zu Kulturräumen und zu unsichtbarenStädten zusammenschließen. UnterschiedlicheKulturformen leben de facto zusammen, handelnaber häufig im Sinne der Trennung und wendenGewalt an. Die Kirche ist berufen, sich in denDienst eines schwierigen Dialogs zu stellen. Esgibt Bürger, die die angemessenen Mittel für dieEntwicklung des persönlichen und familiärenLebens erhalten, andererseits gibt es aber sehrviele „Nicht-Bürger“, „Halbbürger“ oder „Stadtstreicher“.Die Stadt erzeugt eine Art ständigerAmbivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgernunendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinenauch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebensentfaltungvieler. Dieser Widerspruch verursachterschütterndes Leiden. In vielen Teilender Welt sind die Städte Schauplatz von Massenprotesten,in denen Tausende von BewohnernFreiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordernsowie verschiedene Ansprüche geltend machen,die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Verständnisstoßen, auch mit Gewalt nicht zumSchweigen gebracht werden können.75. Wir dürfen nicht übersehen, dass sich inden Städten der Drogen- und Menschenhandel,70


der Missbrauch und die Ausbeutung Minderjähriger,die Preisgabe Alter und Kranker sowieverschiedene Formen von Korruption und Kriminalitätleicht vermehren. Zugleich verwandeltsich das, was ein kostbarer Raum der Begegnungund der Solidarität sein könnte, häufig in einenOrt der Flucht und des gegenseitigen Misstrauens.Häuser und Quartiere werden mehr zur Absonderungund zum Schutz als zur Verbindungund zur Eingliederung gebaut. Die Verkündigungdes Evangeliums wird eine Grundlage sein,um in diesen Zusammenhängen die Würde desmenschlichen Lebens wiederherzustellen, dennJesus möchte in den Städten Leben in Fülle verbreiten(vgl. Joh 10,10). Der einmalige und volleSinn des menschlichen Lebens, den das Evangeliumverkündet, ist das beste Heilmittel gegen dieÜbel der Stadt, auch wenn wir bedenken müssen,dass ein Evangelisierungsprogramm undein einheitlicher, starrer Evangelisierungsstil fürdiese Wirklichkeit nicht angemessen sind. Dochdas Menschliche bis zum Grunde zu leben undals ein Ferment des Zeugnisses ins Innerste derHerausforderungen einzudringen, in jeder beliebigenKultur, in jeder beliebigen Stadt, lässt denChristen besser werden und befruchtet die Stadt.II. Versuchungender in der Seelsorge Tätigen76. Ich bin unendlich dankbar für den Einsatzaller, die in der Kirche arbeiten. Ich möchte mich71


jetzt nicht dabei aufhalten, die Aktivitäten der verschiedenenin der Seelsorge Tätigen darzustellen,von den Bischöfen bis hin zum bescheidenstenund am meisten verborgenen der kirchlichenDienste. Stattdessen möchte ich gerne über dieHerausforderungen nachdenken, denen sie allesich im Kontext der augenblicklichen globalisiertenKultur stellen müssen. Doch zuallererst undder Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass derBeitrag der Kirche in der heutigen Welt enormist. Unser Schmerz und unsere Scham wegen derSünden einiger Glieder der Kirche und wegenunserer eigenen Sünden dürfen nicht vergessenlassen, wie viele Christen ihr Leben aus Liebehingeben. Sie helfen vielen Menschen, sich inunsicheren Krankenhäusern behandeln zu lassenoder dort in Frieden zu sterben; in den ärmstenGegenden der Erde begleiten sie Menschen, dieSklaven verschiedener Abhängigkeiten gewordensind; sie opfern sich auf in der Erziehung vonKindern und Jugendlichen; sie kümmern sich umalte Menschen, die von allen verlassen sind; sieversuchen, in feindlicher Umgebung Werte zuvermitteln oder sie widmen sich auf viele andereArten, die die grenzenlose Liebe zur Menschheitdeutlich machen, die der Mensch gewordeneGott uns eingegeben hat. Ich danke für dasschöne Beispiel, das viele Christen mir geben, dieihr Leben und ihre Zeit freudig hingeben. DiesesZeugnis tut mir sehr gut und unterstützt michin meinem persönlichen Streben, den Egoismus72


zu überwinden, um mich noch intensiver meinerAufgabe widmen zu können.77. Trotzdem sind wir als Kinder unserer Zeitalle irgendwie unter dem Einfluss der gegenwärtigenglobalisierten Kultur, die, obwohl sieWerte und neue Möglichkeiten bietet, uns aucheinschränken, beeinflussen und sogar krank machenkann. Ich gebe zu, dass wir Räume schaffenmüssen, die geeignet sind, die in der SeelsorgeTätigen zu motivieren und zu heilen, »Orte, woman den eigenen Glauben an den gekreuzigtenund auferstandenen Christus erneuern kann, woman die eigenen innersten Fragen und Alltagssorgenmiteinander teilen kann, wo man sein Lebenund seine Erfahrungen einer tiefgreifendenÜberprüfung im Licht des Evangeliums unterziehenkann, mit dem Ziel, die eigenen individuellenund gesellschaftlichen Entscheidungen aufdas Gute und das Schöne hin auszurichten«. 62Zugleich möchte ich auf einige Versuchungenaufmerksam machen, die besonders heute die inder Seelsorge Tätigen befallen.Ja zur Herausforderung einer missionarischen Spiritualität78. Heute kann man bei vielen in der SeelsorgeTätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen,eine übertriebene Sorge um die persönlichen62Azione Cattolica Italiana, Messaggio della XIVAssemblea Nazoinale alla Chiesa ed al Paese (8. Mai 2011).73


Räume der Selbständigkeit und der Entspannungfeststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgabenwie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben,als gehörten sie nicht zur eigenen Identität.Zugleich wird das geistliche Leben mit einigenreligiösen Momenten verwechselt, die einen gewissenTrost spenden, aber nicht die Begegnungmit den anderen, den Einsatz in der Welt und dieLeidenschaft für die Evangelisierung nähren. Sokann man bei vielen in der Verkündigung Tätigen,obwohl sie beten, eine Betonung des Individualismus,eine Identitätskrise und einen Rückgangdes Eifers feststellen. Das sind drei Übel, die sichgegenseitig fördern.79. Die Medienkultur und manche intellektuelleKreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtesMisstrauen gegenüber der Botschaft der Kircheund eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin entwickelnviele in der Seelsorge Tätige, obwohl siebeten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, dersie dazu führt, ihre christliche Identität und ihreÜberzeugungen zu relativieren oder zu verbergen.Dann entsteht ein Teufelskreis, denn so sindsie nicht glücklich über das, was sie sind und wassie tun, identifizieren sich nicht mit dem Verkündigungsauftrag,und das schwächt ihren Einsatz.Schließlich ersticken sie die Missionsfreude ineiner Art Besessenheit, so zu sein wie alle anderenund das zu haben, was alle anderen besitzen.Auf diese Weise wird die Aufgabe der Evangelisierungals Zwang empfunden, man widmet ihrwenig Mühe und eine sehr begrenzte Zeit.74


80. Es entwickelt sich bei den in der SeelsorgeTätigen jenseits des geistlichen Stils oder der gedanklichenLinie, die sie haben mögen, ein Relativismus,der noch gefährlicher ist als der, welcherdie Lehre betrifft. Es hat etwas mit den tiefstenund aufrichtigsten Entscheidungen zu tun, die eineLebensform bestimmen. Dieser praktische Relativismusbesteht darin, so zu handeln, als gäbe esGott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armennicht, so zu träumen, als gäbe es die anderennicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die dieVerkündigung noch nicht empfangen haben. Esist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anscheinnach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungenhat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazuführt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder anRäume der Macht und des menschlichen Ruhmszu klammern, die man sich auf jede beliebige Weiseverschafft, anstatt das Leben für die anderen inder Mission hinzugeben. Lassen wir uns die missionarischeBegeisterung nicht nehmen!Nein zur egoistischen Trägheit81. Wenn wir mehr missionarische Dynamikbrauchen, die der Erde Salz und Licht bringt,fürchten viele Laien, jemand könne sie einladen,irgendeine apostolische Aufgabe zu erfüllen, undversuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen,die ihnen ihre Freizeit nehmen könnte. Heute istes zum Beispiel sehr schwierig geworden, qualifizierteKatechisten für die Pfarreien zu finden,75


die in ihrer Aufgabe über mehrere Jahre hin ausharren.Doch etwas Ähnliches geschieht bei denPriestern, die wie besessen um ihre persönlicheZeit besorgt sind. Das ist oft darauf zurückzuführen,dass sie das dringende Bedürfnis haben,ihre Freiräume zu bewahren, als sei ein Evangelisierungsauftragein gefährliches Gift anstatt einefreudige Antwort auf die Liebe Gottes, der unszur Mission ruft und uns erfüllt und fruchtbarmacht. Einige sträuben sich dagegen, die Freudean der Mission bis auf den Grund zu erfahrenund bleiben in eine lähmende Trägheit eingehüllt.82. Das Problem ist nicht immer das Übermaßan Aktivität, sondern es sind vor allem dieschlecht gelebten Aktivitäten, ohne die entsprechendenBeweggründe, ohne eine Spiritualität,die die Tätigkeit prägt und wünschenswertmacht. Daher kommt es, dass die Pflichten übermäßigermüdend sind und manchmal krank machen.Es handelt sich nicht um eine friedvoll-heitereAnstrengung, sondern um eine angespannte,drückende, unbefriedigende und letztlich nichtakzeptierte Mühe. Diese pastorale Trägheit kannverschiedene Ursachen haben. Einige verfallenihr, weil sie nicht realisierbaren Plänen nachgehenund sich nicht gerne dem widmen, was siemit Gelassenheit tun könnten. Andere, weil siedie schwierige Entwicklung der Vorgänge nichtakzeptieren und wollen, dass alles vom Himmelfällt. Andere, weil sie sich an Projekte oder anErfolgsträume klammern, die von ihrer Eitelkeitgehegt werden. Wieder andere, weil sie den76


wirklichen Kontakt zu den Menschen verlorenhaben, in einer Entpersönlichung der Seelsorge,die dazu führt, mehr auf die Organisation als aufdie Menschen zu achten, so dass sie die „Marschroute“mehr begeistert als die Wegstrecke selber.Andere fallen in die Trägheit, weil sie nicht wartenkönnen und den Rhythmus des Lebens beherrschenwollen. Das heutige Verlangen, unmittelbareErgebnisse zu erzielen, bewirkt, dass diein der Seelsorge Tätigen das Empfinden irgendeinesWiderspruchs, ein scheinbares Scheitern,eine Kritik, ein Kreuz nicht leicht ertragen.83. So nimmt die größte Bedrohung Form an,der »graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags,bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht,in Wirklichkeit aber der Glaube verbrauchtwird und ins Schäbige absinkt« 63 . Es entwickeltsich die Grabespsychologie, die die Christen allmählichin Mumien für das Museum verwandelt.Enttäuscht von der Wirklichkeit, von der Kircheoder von sich selbst, leben sie in der ständigenVersuchung, sich an eine hoffnungslose, süßliche,Traurigkeit zu klammern, die sich des Herzensbemächtigt wie »das kostbarste der Elixiere63Joseph Ratzinger, Die augenblickliche Situation desGlaubens und der Theologie. Vortrag während des Treffenszwischen der Glaubenskongregation und den Präsidentender Glaubenskommissionen der BischofskonferenzenLateinamerikas, Guadalajara, Mexico, 1996. Veröffentlicht in:L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 26 (1996), Nr. 47 (22. November1996), S. 9; Vgl. V. Generalversammlung der Bischöfe vonLateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29.Juni 2007), 12.77


des Dämons« 64 . Berufen, um Licht und Leben zuvermitteln, lassen sie sich schließlich von Dingenfaszinieren, die nur Dunkelheit und innere Müdigkeiterzeugen und die apostolische Dynamikschwächen. Aus diesen Gründen erlaube ich mir,darauf zu beharren: Lassen wir uns die Freudeder Evangelisierung nicht nehmen!Nein zum sterilen Pessimismus84. Die Freude aus dem Evangelium kann nichtsund niemand uns je nehmen (vgl. Joh 16,22). DieÜbel unserer Welt – und die der Kirche – dürftenniemals Entschuldigungen sein, um unseren Einsatzund unseren Eifer zu verringern. Betrachtenwir sie als Herausforderungen, um zu wachsen.Außerdem ist der Blick des Glaubens fähig, dasLicht zu erkennen, das der Heilige Geist immerinmitten der Dunkelheit verbreitet. Er vergisstnicht, dass »wo die Sünde mächtig wurde, dieGnade übergroß geworden ist« (Röm 5,20). UnserGlaube ist herausgefordert, den Wein zu erahnen,in den das Wasser verwandelt werden kann, undden Weizen zu entdecken, der inmitten des Unkrautswächst. Fünfzig Jahre nach dem ZweitenVatikanischen Konzil darf der größte Realismusnicht weniger Vertrauen auf den Geist, noch wenigerGroßherzigkeit bedeuten, auch wenn dieSchwächen unserer Zeit uns schmerzen und wirweit entfernt sind von naiven Optimismen. In64Georges Bernanos, Journal d’un curé de campagne, Paris1936, Éditions Plon 1974, S. 135.78


diesem Sinn können wir die Worte des seligen JohannesXXIII. an jenem denkwürdigen Tag des11. Oktober 1962 noch einmal hören: Es »dringenbisweilen betrübliche Stimmen an Unser Ohr, diezwar von großem Eifer zeugen, aber weder genügendSinn für die rechte Beurteilung der Dingenoch ein kluges Urteil walten lassen. Sie sehen inden modernen Zeiten nur Unrecht und Niedergang.[…] Doch Wir können diesen Unglücksprophetennicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolleEreignisse vorhersagen, so, als ob das Ende derWelt bevorstünde. In der gegenwärtigen Weltordnungführt uns die göttliche Vorsehung vielmehrzu einer neuen Ordnung der Beziehungen unterden Menschen. Sie vollendet so durch das Werkder Menschen selbst und weit über ihre Erwartungenhinaus in immer größerem Maß ihre Pläne,die höher sind als menschliche Gedanken undsich nicht berechnen lassen – und alles, auch dieMeinungsverschiedenheiten unter den Menschen,dienen so dem größeren Wohl der Kirche.« 6585. Eine der ernsthaftesten Versuchungen, dieden Eifer und den Wagemut ersticken, ist dasGefühl der Niederlage, das uns in unzufriedeneund ernüchterte Pessimisten mit düsterem Gesichtverwandelt. Niemand kann einen Kampfaufnehmen, wenn er im Voraus nicht voll aufden Sieg vertraut. Wer ohne Zuversicht beginnt,hat von vornherein die Schlacht zur Hälfte verlo-65Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils(11. Oktober 1962), 4, 2-4: AAS 54 (1962), 789.79


en und vergräbt die eigenen Talente. Auch wennman sich schmerzlich der eigenen Schwäche bewusstist, muss man vorangehen, ohne sich geschlagenzu geben, und an das denken, was derHerr dem heiligen Paulus sagte: »Meine Gnadegenügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in derSchwachheit« (2 Kor 12,9). Der christliche Sieg istimmer ein Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleichein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpferischenSanftmut gegen die Angriffe des Bösenträgt. Der böse Geist der Niederlage ist ein Bruderder Versuchung, den Weizen vorzeitig vomUnkraut zu trennen, und er ist das Produkt einesängstlichen egozentrischen Misstrauens.86. Es ist offenkundig, dass an einigen Orteneine geistliche „Wüstenbildung“ stattgefundenhat; sie ist das Ergebnis des Planes von Gesellschaften,die sich ohne Gott aufbauen wollenoder die ihre christlichen Wurzeln zerstören.Dort »wird die christliche Welt unfruchtbar undverbraucht wie ein völlig ausgelaugter Boden,der zu Sand geworden ist« 66 . In anderen Ländernzwingt der gewaltsame Widerstand gegendas Christentum die Christen, ihren Glaubengleichsam verborgen zu leben in dem Land, dassie lieben. Das ist eine andere, sehr schmerzlicheForm von Wüste. Auch die eigene Familieoder der eigene Arbeitsplatz können diese tro-66John Henry Newman, Letter of 26 January 1833, in: TheLetters and Diaries of John Henry Newman, Bd. III, Oxford 1979,S. 204.80


ckene Umgebung sein, in der man den Glaubenbewahren und versuchen muss, ihn auszustrahlen.»Doch gerade von der Erfahrung der Wüsteher, von dieser Leere her können wir erneut dieFreude entdecken, die im Glauben liegt, seine lebensnotwendigeBedeutung für uns Menschen.In der Wüste entdeckt man wieder den Wertdessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt esin der heutigen Welt unzählige, oft implizit odernegativ zum Ausdruck gebrachte Zeichen desDurstes nach Gott, nach dem letzten Sinn desLebens. Und in der Wüste braucht man vor allemglaubende Menschen, die mit ihrem eigenen Lebenden Weg zum Land der Verheißung weisenund so die Hoffnung wach halten.« 67 In jedemFall sind wir unter diesen Umständen berufen,wie große Amphoren zu sein, um den anderen zutrinken zu geben. Manchmal verwandelt sich dasAmphoren-Dasein in ein schweres Kreuz, dochgerade am Kreuz hat der Herr, durchbohrt vonder Lanze, sich uns als Quelle lebendigen Wassersübereignet. Lassen wir uns die Hoffnungnicht nehmen!Ja zu den neuen, von Jesus Christus gebildeten Beziehungen87. Heute, da die Netze und die Mittel menschlicherKommunikation unglaubliche Entwicklungenerreicht haben, spüren wir die Her-67Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zurEröffnung des Jahrs des Glaubens (11. Oktober 2012): AAS 104(2012), 881.81


ausforderung, die „Mystik“ zu entdecken undweiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben,uns unter die anderen zu mischen, einanderzu begegnen, uns in den Armen zu halten, unsanzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischenMenge, die sich in eine wahre Erfahrungvon Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarischeKarawane, in eine heilige Wallfahrt. Aufdiese Weise werden sich die größeren Möglichkeitender Kommunikation als größere Möglichkeitender Begegnung und der Solidarität zwischenallen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgenkönnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heilsames,sehr Befreiendes, eine große Quelle derHoffnung! Aus sich selbst herausgehen, um sichmit den anderen zusammenzuschließen, tut gut.Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, dasbittere Gift der Immanenz zu kosten, und in jederegoistischen Wahl, die wir treffen, wird dieMenschlichkeit den kürzeren ziehen.88. Das christliche Ideal wird immer dazu auffordern,den Verdacht, das ständige Misstrauen,die Angst überschwemmt zu werden, die defensivenVerhaltensweisen, die die heutige Welt unsauferlegt, zu überwinden. Viele versuchen, vorden anderen in ein bequemes Privatleben oderin den engen Kreis der Vertrautesten zu fliehen,und verzichten auf den Realismus der sozialenDimension des Evangeliums. Ebenso wie nämlicheinige einen rein geistlichen Christus ohneLeib und ohne Kreuz wollen, werden zwischenmenschlicheBeziehungen angestrebt, die nur82


durch hoch entwickelte Apparate vermittelt werden,durch Bildschirme und Systeme, die manauf Kommando ein- und ausschalten kann. Unterdessenlädt das Evangelium uns immer ein,das Risiko der Begegnung mit dem Angesichtdes anderen einzugehen, mit seiner physischenGegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerzund seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freudein einem ständigen unmittelbar physischenKontakt. Der echte Glaube an den Mensch gewordenenSohn Gottes ist untrennbar von derSelbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft,vom Dienst, von der Versöhnungmit dem Leib der anderen. Der Sohn Gotteshat uns in seiner Inkarnation zur Revolution derzärtlichen Liebe eingeladen.89. Die Isolierung, die eine Version des Immanentismusist, kann sich in einer falschenAutonomie ausdrücken, die Gott ausschließtund die doch auch im Religiösen eine Art spirituellenKonsumismus finden kann, der ihremkrankhaften Individualismus entgegenkommt.Die Rückkehr zum Sakralen und die spirituelleSuche, die unsere Zeit kennzeichnen, sind doppeldeutigeErscheinungen. Mehr als im Atheismusbesteht heute für uns die Herausforderungdarin, in angemessener Weise auf den Durst vielerMenschen nach Gott zu antworten, damit sienicht versuchen, ihn mit irreführenden Antwortenoder mit einem Jesus Christus ohne Leib undohne Einsatz für den anderen zu stillen. Wennsie in der Kirche nicht eine Spiritualität finden,83


die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Friedenerfüllt und die sie zugleich zum solidarischenMiteinander und zur missionarischen Fruchtbarkeitruft, werden sie schließlich der Täuschungvon Angeboten erliegen, die weder die Menschlichkeitfördern, noch Gott die Ehre geben.90. Die besonderen Formen der Volksfrömmigkeitsind inkarniert, denn sie sind aus derInkarnation des christlichen Glaubens in eineVolkskultur hervorgegangen. Eben deshalbschließen sie eine persönliche Beziehung nichtetwa zu harmonisierenden Energien, sondern zuGott, zu Jesus Christus, zu Maria oder zu einemHeiligen ein. Sie besitzen Leiblichkeit, haben Gesichter.Sie sind geeignet, Möglichkeiten der Beziehungzu fördern und nicht individualistischeFlucht. In anderen Teilen unserer Gesellschaftensteigt die Wertschätzung für Formen einer „Spiritualitätdes Wohlbefindens“ ohne Gemeinschaft,für eine „Theologie des Wohlstands“ ohne brüderlichenEinsatz oder für subjektive Erfahrungenohne Gesicht, die sich auf eine immanentistischeinnere Suche beschränken.91. Eine wichtige Herausforderung ist, zu zeigen,dass die Lösung niemals darin besteht, einerpersönlichen und engagierten Beziehung zuGott, die sich zugleich für die anderen einsetzt,auszuweichen. Das ist es, was heute geschieht,wenn die Gläubigen sich so verhalten, dass siesich gleichsam verstecken und den anderen ausden Augen gehen, und wenn sie spitzfindig von84


einem Ort zum anderen oder von einer Aufgabezur anderen flüchten, ohne tiefe und feste Bindungenzu schaffen: »Imaginatio locorum et mutatiomultos fefellit« 68 . Es ist eine falsche Abhilfe, die dasHerz und manchmal auch den Leib krank macht.Es ist nötig, zu der Einsicht zu verhelfen, dassder einzige Weg darin besteht zu lernen, den Mitmenschenin der rechten Haltung zu begegnen,indem man sie schätzt und als Weggefährten akzeptiertohne innere Widerstände. Noch besser:Es geht darum zu lernen, Jesus im Gesicht deranderen, in ihrer Stimme, in ihren Bitten zu erkennen.Und auch zu lernen, in einer Umarmungmit dem gekreuzigten Jesus zu leiden, wenn wirungerechte Aggressionen oder Undankbarkeitenhinnehmen, ohne jemals müde zu werden, dieBrüderlichkeit zu wählen. 6968Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi, LiberPrimus, IX, 5: »Die Einbildung, mit dem Wechsel des Orteswürde es besser, hat schon viele getäuscht«.69Wertvoll ist das Zeugnis der heiligen Therese vonLisieux in Bezug auf ihre Beziehung zu jener Mitschwester, dieihr besonders unangenehm war, wobei eine innere Erfahrungeine entscheidende Wirkung hatte: »Eines Abends im Winterverrichtete ich wie gewöhnlich meinen kleinen Dienst, es war kalt, es wardunkel… plötzlich hörte ich aus der Ferne den harmonischen Klang einesMusikinstrumentes, das stellte ich mir einen wohlerleuchteten Salon vor,glänzend in Goldschmuck, worin elegant gekleidete Mädchen Artigkeitenund weltliche Höflichkeiten austauschten; dann fiel mein Blick auf diearme Kranke, die ich stützte; statt einer Melodie vernahm ich von Zeitzu Zeit ihr klagendes Stöhnen […] Ich vermag nicht in Worte zu fassen,was in meiner Seele vorging; was ich weiß, ist, dass der Herr sie mit denStrahlen der Wahrheit erleuchtete, die den trüben Glanz irdischer Festederart übertreffen, dass ich mein Glück nicht zu fassen vermochte«:Manuscrit C, 29 v o - 30 r o , in: Œvres complètes,, Éditions du Cerfet Desclée De Brouwer, Paris 1992, S. 274-275; (deutsche85


92. Dort liegt die wahre Heilung, da die wirklichgesund und nicht krank machende Weise,mit anderen in Beziehung zu treten, eine mystische,kontemplative Brüderlichkeit ist, die die heiligeGröße des Nächsten zu sehen weiß; die injedem Menschen Gott zu entdecken weiß; diedie Lästigkeiten des Zusammenlebens zu ertragenweiß, indem sie sich an die Liebe Gottesklammert; die das Herz für die göttliche Liebezu öffnen versteht, um das Glück der anderen zusuchen, wie es ihr guter himmlischer Vater sucht.Gerade in dieser Zeit und auch dort, wo sie eine»kleine Herde« sind (Lk 12,32), sind die Jüngerdes Herrn berufen, als eine Gemeinschaft zu leben,die Salz der Erde und Licht der Welt ist (vgl.Mt 5,13-16). Sie sind berufen, auf immer neueWeise Zeugnis für eine evangelisierende Zugehörigkeitzu geben. 70 Lassen wir uns die Gemeinschaftnicht nehmen!Nein zur spirituellen Weltlichkeit93. Die spirituelle Weltlichkeit, die sich hinterdem Anschein der Religiosität und sogar derLiebe zur Kirche verbirgt, besteht darin, anstattdie Ehre des Herrn die menschliche Ehre unddas persönliche Wohlergehen zu suchen. Es istdas, was der Herr den Pharisäern vorwarf: »Wiekönnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eureAusgabe: Selbstbiographie, Manuskript C, Johannes VerlagEinsiedeln 13 1996, S. 262].70Vgl. Propositio 8.86


Ehre voneinander empfangt, nicht aber die Ehresucht, die von dem einen Gott kommt?« (Joh5,44). Es handelt sich um eine subtile Art, »deneigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi« zusuchen (Phil 2,21). Sie nimmt viele Formen an, jenach dem Naturell des Menschen und der Lage,in die sie eindringt. Da sie an die Suche des Anscheinsgebunden ist, geht sie nicht immer mitöffentlichen Sünden einher, und äußerlich erscheintalles korrekt. Doch wenn diese Mentalitätauf die Kirche übergreifen würde, »wäre dasunendlich viel verheerender als jede andere bloßmoralische Weltlichkeit«. 7194. Diese Weltlichkeit kann besonders aus zweizutiefst miteinander verbundenen Quellen gespeistwerden. Die eine ist die Faszination desGnostizismus, eines im Subjektivismus eingeschlossenenGlaubens, bei dem einzig eine bestimmteErfahrung oder eine Reihe von Argumentationenund Kenntnissen interessiert, vondenen man meint, sie könnten Trost und Lichtbringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenzseiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühleeingeschlossen bleibt. Die andere ist derselbstbezogene und prometheische Neu-Pelagianismusderer, die sich letztlich einzig auf dieeigenen Kräfte verlassen und sich den anderenüberlegen fühlen, weil sie bestimmte Normeneinhalten oder weil sie einem gewissen katholi-71Henry De Lubac, Méditation sur l’Église, Paris 1953.Éditions Montaigne, Lyon 1968, S. 321.87


schen Stil der Vergangenheit unerschütterlichtreu sind. Es ist eine vermeintliche doktrinelleoder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibtzu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein,wo man, anstatt die anderen zuevangelisieren, sie analysiert und bewertet und,anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, dieEnergien im Kontrollieren verbraucht. In beidenFällen existiert weder für Jesus Christus noch fürdie Menschen ein wirkliches Interesse. Es sindErscheinungen eines anthropozentrischen Immanentismus.Es ist nicht vorstellbar, dass ausdiesen schmälernden Formen von Christentumeine echte Evangelisierungsdynamik hervorgehenkönnte.95. Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich invielen Verhaltensweisen, die scheinbar einanderentgegengesetzt sind, aber denselben Ansprucherheben, „den Raum der Kirche zu beherrschen“.Bei einigen ist eine ostentative Pflegeder Liturgie, der Lehre und des Ansehens derKirche festzustellen, doch ohne dass ihnen diewirkliche Einsenkung des Evangeliums in dasGottesvolk und die konkreten Erfordernisse derGeschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weiseverwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstückoder in ein Eigentum einiger weniger.Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelleWeltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftlicheoder politische Errungenschaften vorweisen zukönnen, oder in einer Ruhmsucht, die mit demManagement praktischer Angelegenheiten ver-88


unden ist, oder darin, sich durch die Dynamikender Selbstachtung und der Selbstverwirklichungangezogen zu fühlen. Sie kann auch ihrenAusdruck in verschiedenen Weisen finden, sichselbst davon zu überzeugen, dass man in ein intensivesGesellschaftsleben eingespannt ist, angefülltmit Reisen, Versammlungen, Abendessenund Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einemManager-Funktionalismus, der mit Statistiken,Planungen und Bewertungen überladen ist undwo der hauptsächliche Nutznießer nicht das VolkGottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation.In allen Fällen fehlt dieser Mentalität dasSiegel des Mensch gewordenen, gekreuzigten undauferstandenen Christus, sie schließt sich in Elitegruppenein und macht sich nicht wirklich aufdie Suche nach den Fernstehenden, noch nachden unermesslichen, nach Christus dürstendenMenschenmassen. Da ist kein Eifer mehr für dasEvangelium, sondern der unechte Genuss eineregozentrischen Selbstgefälligkeit.96. In diesem Kontext wird die Ruhmsuchtderer gefördert, die sich damit zufrieden geben,eine gewisse Macht zu besitzen, und lieber Generälevon geschlagenen Heeren sein wollen, alseinfache Soldaten einer Schwadron, die weiterkämpft.Wie oft erträumen wir peinlich genaueund gut entworfene apostolische Expansionsprojekte,typisch für besiegte Generäle! So verleugnenwir unsere Kirchengeschichte, die ruhmreichist, insofern sie eine Geschichte der Opfer,der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im89


Dienst aufgeriebenen Lebens, der Beständigkeitin mühevoller Arbeit ist, denn jede Arbeit geschieht„im Schweiß unseres Angesichts“. Stattdessenunterhalten wir uns eitel und sprechenüber „das, was man tun müsste“ – die Sünde des„man müsste tun“ – wie spirituelle Lehrer undExperten der Seelsorge, die einen Weg weisen,ihn selber aber nicht gehen. Wir pflegen unseregrenzenlose Fantasie und verlieren den Kontaktzu der durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubigenVolkes.97. Wer in diese Weltlichkeit gefallen ist, schautvon oben herab und aus der Ferne, weist die Prophetieder Brüder ab, bringt den, der ihn in Fragestellt, in Misskredit, hebt ständig die Fehler deranderen hervor und ist besessen vom Anschein.Er hat den Bezugspunkt des Herzens verkrümmtauf den geschlossenen Horizont seiner Immanenzund seiner Interessen, mit der Konsequenz,dass er nicht aus seinen Sünden lernt, noch wirklichoffen ist für Vergebung. Es ist eine schrecklicheKorruption mit dem Anschein des Guten.Man muss sie vermeiden, indem man die Kirchein Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht,in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission,in den Einsatz für die Armen. Gott befreie unsvon einer weltlichen Kirche unter spirituellenoder pastoralen Drapierungen! Diese erstickendeWeltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reineLuft des Heiligen Geistes kostet, der uns davonbefreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in90


einem religiösen Anschein über gottloser Leere.Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!Nein zum Krieg unter uns98. Wie viele Kriege innerhalb des Gottesvolkesund in den verschiedenen Gemeinschaften!Im Wohnviertel, am Arbeitsplatz – wie vieleKriege aus Neid und Eifersucht, auch unterChristen! Die spirituelle Weltlichkeit führt einigeChristen dazu, im Krieg mit anderen Christen zusein, die sich ihrem Streben nach Macht, Ansehen,Vergnügen oder wirtschaftlicher Sicherheitin den Weg stellen. Außerdem hören einige auf,sich von Herzen zur Kirche gehörig zu fühlen,um einen Geist der Streitbarkeit zu nähren. Mehrals zur gesamten Kirche mit ihrer reichen Vielfalt,gehören sie zu dieser oder jener Gruppe, diesich als etwas Anderes oder etwas Besonderesempfindet.99. Die Welt wird von Kriegen und von Gewaltheimgesucht oder ist durch einen verbreitetenIndividualismus verletzt, der die Menschentrennt und sie gegeneinander stellt, indem jederdem eigenen Wohlstand nachjagt. In verschiedenenLändern leben Konflikte und alte Spaltungenwieder auf, die man teilweise für überwundenhielt. Die Christen aller Gemeinschaftender Welt möchte ich besonders um ein Zeugnisbrüderlichen Miteinanders bitten, das anziehendund erhellend wird. Damit alle bewundern können,wie ihr euch umeinander kümmert, wie ihr91


euch gegenseitig ermutigt und wie ihr einanderbegleitet: »Daran werden alle erkennen, dass ihrmeine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Joh13,35). Das ist es, was Jesus mit intensivem Gebetvom Vater erbeten hat: »Alle sollen eins sein …in uns … damit die Welt glaubt« (Joh 17,21). Achtenwir auf die Versuchung des Neids! Wir sindim selben Boot und steuern denselben Hafen an!Erbitten wir die Gnade, uns über die Früchte deranderen zu freuen, die allen gehören.100. Für diejenigen, die durch alte Spaltungenverletzt sind, ist es schwierig zu akzeptieren, dasswir sie zur Vergebung und zur Versöhnung aufrufen,weil sie meinen, dass wir ihren Schmerznicht beachten oder uns anmaßen, sie in den Verlustihrer Erinnerung und ihrer Ideale zu führen.Wenn sie aber das Zeugnis von wirklich brüderlichenund versöhnten Gemeinschaften sehen, istdas immer ein Licht, das anzieht. Darum tut esmir so weh festzustellen, dass in einigen christlichenGemeinschaften und sogar unter gottgeweihtenPersonen Platz ist für verschiedeneFormen von Hass, Spaltung, Verleumdung, übleNachrede, Rache, Eifersucht und den Wunsch,die eigenen Vorstellungen um jeden Preis durchzusetzen,bis hin zu Verfolgungen, die eine unversöhnlicheHexenjagd zu sein scheinen. Wenwollen wir mit diesem Verhalten evangelisieren?101. Bitten wir den Herrn, dass er uns das Gesetzder Liebe verstehen lässt. Wie gut ist es, diesesGesetz zu besitzen! Wie gut tut es uns, ein-92


ander zu lieben, über alles hinweg! Ja, über alleshinweg! An jeden von uns ist die Mahnung desheiligen Paulus gerichtet: »Lass dich nicht vomBösen besiegen, sondern besiege das Böse durchdas Gute!« (Röm 12,21). Und weiter: »Lasst unsnicht müde werden, das Gute zu tun« (Gal 6,9).Alle haben wir Sympathien und Antipathien,und vielleicht sind wir gerade in diesem Momentzornig auf jemanden. Sagen wir wenigstens zumHerrn: „Herr, ich bin zornig auf diesen, auf jene.Ich bitte dich für ihn und für sie.“ Für den Menschen,über den wir ärgerlich sind, zu beten, istein schöner Schritt auf die Liebe zu, und es isteine Tat der Evangelisierung. Tun wir es heute!Lassen wir uns nicht das Ideal der Bruderliebenehmen!Weitere kirchliche Herausforderungen102. Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheitdes Gottesvolkes. In ihrem Dienst stehteine Minderheit: die geweihten Amtsträger. DasBewusstsein der Identität und des Auftrags derLaien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügenüber ein zahlenmäßig starkes, wenn auch nichtausreichendes Laientum mit einem verwurzeltenGemeinschaftssinn und einer großen Treue zumEinsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, derFeier des Glaubens. Doch die Bewusstwerdungder Verantwortung der Laien, die aus der Taufeund der Firmung hervorgeht, zeigt sich nichtüberall in gleicher Weise. In einigen Fällen, weil93


sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungenzu übernehmen, in anderen Fällen,weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenenKlerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungeneinbezieht, keinen Raum gefundenhaben, um sich ausdrücken und handeln zu können.Auch wenn eine größere Teilnahme vieleran den Laiendiensten zu beobachten ist, wirktsich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicherWerte in die soziale, politische und wirtschaftlicheWelt aus. Er beschränkt sich vielmalsauf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirklichesEngagement für die Anwendung des Evangeliumszur Verwandlung der Gesellschaft. DieBildung der Laien und die Evangelisierung derberuflichen und intellektuellen Klassen stelleneine bedeutende pastorale Herausforderung dar.103. Die Kirche erkennt den unentbehrlichenBeitrag an, den die Frau in der Gesellschaft leistet,mit einem Feingefühl, einer Intuition undgewissen charakteristischen Fähigkeiten, die gewöhnlichtypischer für die Frauen sind als für dieMänner. Zum Beispiel die besondere weiblicheAufmerksamkeit gegenüber den anderen, diesich speziell, wenn auch nicht ausschließlich, inder Mutterschaft ausdrückt. Ich sehe mit Freude,wie viele Frauen pastorale Verantwortungengemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Beitragzur Begleitung von Einzelnen, von Familienoder Gruppen leisten und neue Anstöße zurtheologischen Reflexion geben. Doch müssendie Räume für eine wirksamere weibliche Gegen-94


wart in der Kirche noch erweitert werden. Denn»das weibliche Talent ist unentbehrlich in allenAusdrucksformen des Gesellschaftslebens; ausdiesem Grund muss die Gegenwart der Frauenauch im Bereich der Arbeit garantiert werden« 72und an den verschiedenen Stellen, wo die wichtigenEntscheidungen getroffen werden, in derKirche ebenso wie in den sozialen Strukturen.104. Die Beanspruchung der legitimen Rechteder Frauen aufgrund der festen Überzeugung,dass Männer und Frauen die gleiche Würde besitzen,stellt die Kirche vor tiefe Fragen, die sieherausfordern und die nicht oberflächlich umgangenwerden können. Das den Männern vorbehaltenePriestertum als Zeichen Christi, desBräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt,ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht,kann aber Anlass zu besonderen Konflikten geben,wenn die sakramentale Vollmacht zu sehrmit der Macht verwechselt wird. Man darf nichtvergessen, dass wir uns, wenn wir von priesterlicherVollmacht reden, »auf der Ebene der Funktionund nicht auf der Ebene der Würde und derHeiligkeit« 73 befinden. Das Amtspriestertum isteines der Mittel, das Jesus zum Dienst an seinemVolk einsetzt, doch die große Würde kommt vonder Taufe, die allen zugänglich ist. Die Gleichge-72Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 295.73Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51: AAS 81(1989), 493.95


staltung des Priesters mit Christus, dem Haupt– das heißt als Hauptquelle der Gnade – schließtnicht eine Erhebung ein, die ihn an die Spitzealles Übrigen setzt. In der Kirche begründen dieFunktionen »keine Überlegenheit der einen überdie anderen«. 74 Tatsächlich ist eine Frau, Maria,bedeutender als die Bischöfe. Auch wenn dieFunktion des Amtspriestertums sich als „hierarchisch“versteht, muss man berücksichtigen, dasssie »ganz für die Heiligkeit der Glieder Christibestimmt« ist. 75 Ihr Dreh- und Angelpunkt istnicht ihre als Herrschaft verstandene Macht, sondernihre Vollmacht, das Sakrament der Eucharistiezu spenden; darauf beruht ihre Autorität,die immer ein Dienst am Volk ist. Hier erscheinteine große Herausforderung für die Hirten undfür die Theologen, die helfen könnten, besser zuerkennen, was das dort, wo in den verschiedenenBereichen der Kirche wichtige Entscheidungengetroffen werden, in Bezug auf die möglicheRolle der Frau mit sich bringt.105. Die Jugendpastoral, wie wir sie gewohnheitsmäßigentwickelten, ist von der Welle dergesellschaftlichen Veränderungen getroffen wor-74Kongregation für die Glaubenslehre, ErklärungInter Insignores zur Frage der Zulassung der Frau zumAmtspriestertum (15. Oktober 1976), VI: AAS 69 (1977) 115.Zitiert in: Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51, Anm. 190:AAS 81 (1989), 493.75Johannes Paul II., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Mulierisdignitatem (15. August 1988), 27: AAS 80 (1988), 1718.96


den. Die Jugendlichen finden in den üblichenStrukturen oft keine Antworten auf ihre Sorgen,Nöte, Probleme und Verletzungen. Uns Erwachsenenverlangt es etwas ab, ihnen geduldig zuzuhören,ihre Sorgen und ihre Forderungen zuverstehen und zu lernen, mit ihnen eine Sprachezu sprechen, die sie verstehen. Aus ebendiesemGrund bringen die Erziehungsvorschläge nichtdie erhofften Ergebnisse. Die Vermehrung unddas Wachsen von Verbänden und Bewegungenvornehmlich junger Menschen kann als ein Wirkendes Heiligen Geistes interpretiert werden,der neue Wege öffnet, die mit ihren Erwartungenund ihrer Suche nach einer tiefen Spiritualität undnach dem Gefühl einer konkreteren Zugehörigkeitim Einklang stehen. Es ist jedoch notwendig,die Beteiligung dieser Gruppen innerhalb derGesamtpastoral der Kirche zu festigen. 76106. Auch wenn es nicht immer einfach ist, dieJugendlichen heranzuführen, sind doch in zweiBereichen Fortschritte erzielt worden: in demBewusstsein, dass die gesamte Gemeinschaft sieevangelisiert und erzieht, und in der Dringlichkeit,dass sie mehr zur Geltung kommen. Manmuss anerkennen, dass es im gegenwärtigenKontext der Krise des Engagements und der gemeinschaftlichenBindungen doch viele Jugendlichegibt, die angesichts der Leiden in der Weltihre solidarische Hilfe leisten und verschiedene76Vgl. Propositio 51.97


Formen von Aktivität und Volontariat ergreifen.Einige beteiligen sich am Leben der Gemeindeund rufen in ihren Diözesen oder an anderenOrten Dienstleistungsgruppen und verschiedenemissionarische Initiativen ins Leben. Wie schön,wenn die Jugendlichen „Weggefährten des Glaubens“sind, glücklich, Jesus auf jede Straße, aufjeden Platz, in jeden Winkel der Erde zu bringen!107. Vielerorts mangelt es an Berufungen zumPriestertum und zum geweihten Leben. Das isthäufig auf das Fehlen eines ansteckenden apostolischenEifers in den Gemeinden zurückzuführen,so dass diese Berufungen nicht begeisternund keine Anziehungskraft ausüben. Wo es Leben,Eifer und den Willen gibt, Christus zu denanderen zu bringen, entstehen echte Berufungen.Sogar in Pfarreien, wo die Priester nicht sehr engagiertund fröhlich sind, ist es das geschwisterlicheund eifrige Gemeinschaftsleben, das denWunsch erweckt, sich ganz Gott und der Evangelisierungzu weihen, vor allem, wenn diese lebendigeGemeinde inständig um Berufungenbetet und den Mut besitzt, ihren Jugendlicheneinen Weg besonderer Weihe vorzuschlagen. Andererseitssind wir uns heute trotz des Mangelsan Berufungen deutlicher der Notwendigkeit einerbesseren Auswahl der Priesteramtskandidatenbewusst. Man darf die Seminare nicht aufder Basis jeder beliebigen Art von Motivationfüllen, erst recht nicht, wenn diese mit affektiverUnsicherheit oder mit der Suche nach Formen98


der Macht, der menschlichen Ehre oder des wirtschaftlichenWohlstands verbunden ist.108. Wie ich schon sagte, war es nicht meineAbsicht, eine vollständige Analyse anzubieten,sondern ich lade die Gemeinschaften ein, dieseAusblicke, ausgehend vom Bewusstsein derHerausforderungen, die sie selbst und die ihnenNahestehenden betreffen, zu vervollständigenund zu bereichern. Ich hoffe, dass sie bei diesemTun berücksichtigen, dass es jedes Mal, wenn wirversuchen, in der jeweils gegenwärtigen Lage dieZeichen der Zeit zu erkennen, angebracht ist, dieJugendlichen und die Alten anzuhören. Beidesind die Hoffnung der Völker. Die Alten bringendas Gedächtnis und die Weisheit der Erfahrungein, die dazu einlädt, nicht unsinnigerweise dieselbenFehler der Vergangenheit zu wiederholen.Die Jugendlichen rufen uns auf, die Hoffnungwieder zu erwecken und sie zu steigern, dennsie tragen die neuen Tendenzen in sich und öffnenuns für die Zukunft, so dass wir nicht in derNostalgie von Strukturen und Gewohnheitenverhaftet bleiben, die in der heutigen Welt keineÜberbringer von Leben mehr sind.109. Die Herausforderungen existieren, umüberwunden zu werden. Seien wir realistisch,doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und diehoffnungsvolle Hingabe zu verlieren! Lassen wiruns die missionarische Kraft nicht nehmen!99


DRITTES KAPITELDIE VERKÜNDIGUNGDES EVANGELIUMS110. Nachdem ich einigen Herausforderungender gegenwärtigen Situation Beachtung geschenkthabe, möchte ich nun an die Aufgabeerinnern, die uns in jeder Epoche und an jedemOrt drängt; denn »es kann keine wahre Evangelisierunggeben ohne eindeutige Verkündigung, dassJesus der Herr ist«, und ohne »den Primat derVerkündigung Jesu Christi […] wie auch immerdie Evangelisierung geschehen mag« 77 . JohannesPaul II. hat die Sorgen der asiatischen Bischöfeaufgegriffen und bekräftigt: »Wenn die Kirchein Asien die ihr von der Vorsehung zugedachteAufgabe erfüllen soll, dann muss die Evangelisierungals freudige, geduldige und fortgesetzteVerkündigung des Erlösungswerks des Todesund der Auferstehung Jesu Christi eure absolutePriorität sein.« 78 Das gilt für alle.I. Das ganze Volk Gottes verkündet dasEvangelium111. Die Evangelisierung ist Aufgabe der Kirche.Aber dieses Subjekt der Evangelisierung ist77Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Asia (6. November 1999), 19: AAS 92(2000), 478.78Ebd., 2: AAS 92 (2000), 451.101


weit mehr als eine organische und hierarchischeInstitution, da es vor allem ein Volk auf demWeg zu Gott ist. Gewiss handelt es sich um einGeheimnis, das in der Heiligsten Dreifaltigkeit verwurzeltist, dessen historisch konkrete Gestaltaber ein pilgerndes und evangelisierendes Volkist, das immer jeden, wenn auch notwendigeninstitutionellen Ausdruck übersteigt. Ich schlagevor, dass wir ein wenig bei dieser Weise, die Kirchezu verstehen, verweilen, die ihr letztes Fundamentin der freien und ungeschuldeten InitiativeGottes hat.Ein Volk für alle112. Das Heil, das Gott uns anbietet, istein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt keinmenschliches Tun, so gut es auch sein mag, dasuns ein so großes Geschenk verdienen ließe. Ausreiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sichzu vereinen. 79 Er sendet seinen Geist in unsereHerzen, um uns zu seinen Kindern zu machen,um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen,mit unserem Leben auf seine Liebe zu antworten.Die Kirche ist von Jesus Christus gesandtals das von Gott angebotene Sakrament des Heiles.80 Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitetsie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, dieunaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kon-79Vgl. Propositio 4.80Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Lumen gentium über die Kirche, 1.102


trolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zumAusdruck gebracht, als er die Überlegungen derSynode eröffnete: »Daher ist es wichtig, immerzu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initiative,das wahre Tun von Gott kommt, und nurindem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen,nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten,können auch wir – mit ihm und in ihm– zu Evangelisierern werden.« 81 Das Prinzip desPrimats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, dasunsere Überlegungen zur Evangelisierung ständigerhellt.113. Dieses Heil, das Gott verwirklicht unddas die Kirche freudig verkündet, gilt allen 82 , undGott hat einen Weg geschaffen, um sich mit jedemeinzelnen Menschen aus allen Zeiten zu vereinen.Er hat die Wahl getroffen, sie als Volk undnicht als isolierte Wesen zusammenzurufen. 83Niemand erlangt das Heil allein, das heißt wederals isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft.Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigenVerlauf der zwischenmenschlichen Beziehungenberücksichtigt, den das Leben in einer menschlichenGemeinschaft mit sich bringt. Dieses Volk,das Gott sich erwählt und zusammengerufen hat,81Meditation bei der ersten Generalkongregation der XIII.Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober2012): AAS 104 (2012), 897.82Vgl. Propositio 6; Zweites Vatikanisches Konzil, Past.Konst. Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 22.83Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Lumen gentium über die Kirche, 9.103


ist die Kirche. Jesus sagt den Aposteln nicht, eineexklusive Gruppe, eine Elitetruppe zu bilden. Jesussagt: »Geht zu allen Völkern und macht alleMenschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19). Derheilige Paulus bekräftigt, dass es im Volk Gottes»nicht mehr Juden und Griechen [gibt] … dennihr alle seid „einer“ in Christus Jesus« (Gal 3,28).Zu denen, die sich fern von Gott und von derKirche fühlen, würde ich gerne sagen: Der Herrruft auch dich, Teil seines Volkes zu sein, und ertut es mit großem Respekt und großer Liebe!114. Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, inÜbereinstimmung mit dem großen Plan der Liebedes Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottesinmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet,das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkündenund es hineinzutragen in diese unsere Welt,die sich oft verliert, die es nötig hat, Antwortenzu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung geben,die auf dem Weg neue Kraft verleihen. DieKirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeitsein, wo alle sich aufgenommen undgeliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahrenund sich ermutigt fühlen können, gemäßdem guten Leben des Evangeliums zu leben.Ein Volk der vielen Gesichter115. Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkernder Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker besitztseine eigene Kultur. Der Begriff der Kulturist ein wertvolles Instrument, um die verschie-104


denen Ausdrucksformen des christlichen Lebenszu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Eshandelt sich um den Lebensstil einer bestimmtenGesellschaft, um die charakteristische Weiseihrer Glieder, miteinander, mit den anderenGeschöpfen und mit Gott in Beziehung zu treten.So verstanden, umfasst die Kultur die Gesamtheitdes Lebens eines Volkes. 84 Jedes Volkentwickelt in seinem geschichtlichen Werdegangdie eigene Kultur in legitimer Autonomie. 85 Dasist darauf zurückzuführen, dass die menschlichePerson »von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichenLebens durchaus bedarf« 86 und immerauf die Gesellschaft bezogen ist, wo sie einekonkrete Weise lebt, mit der Wirklichkeit in Beziehungzu treten. Der Mensch ist immer kulturellbeheimatet: »Natur und Kultur hängen engstenszusammen.« 87 Die Gnade setzt die Kulturvoraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt anin der Kultur dessen, der sie empfängt.116. In diesen zwei Jahrtausenden des Christentumshaben unzählige Völker die Gnade desGlaubens empfangen, haben sie in ihrem täglichenLeben erblühen lassen und sie entsprechendihrer eigenen kulturellen Beschaffenheit weiter-84Vgl. III. Generalversammlung der Bischöfe vonLateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März1979), 386-387.85Zweites Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudiumet spes der Welt von heute, 36.86Ebd., 25.87Ebd., 53.105


gegeben. Wenn eine Gemeinschaft die Verkündigungdes Heils aufnimmt, befruchtet der HeiligeGeist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraftdes Evangeliums. So verfügt das Christentum,wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können,nicht über ein einziges kulturelles Modell,sondern »es bewahrt voll seine eigene Identitätin totaler Treue zur Verkündigung des Evangeliumsund zur Tradition der Kirche und trägt auchdas Angesicht der vielen Kulturen und Völker, indie es hineingegeben und verwurzelt wird« 88 . Inden verschiedenen Völkern, die die Gabe Gottesentsprechend ihrer eigenen Kultur erfahren,drückt die Kirche ihre authentische Katholizitätaus und zeigt die »Schönheit dieses vielseitigenGesichtes« 89 . In den christlichen Ausdrucksformeneines evangelisierten Volkes verschönert derHeilige Geist die Kirche, indem er ihr neue Aspekteder Offenbarung zeigt und ihr ein neuesGesicht schenkt. In der Inkulturation führt dieKirche »die Völker mit ihren Kulturen in die Gemeinschaftmit ihr ein« 90 , denn »jede Kultur bietetWerte und positive Formen, welche die Weise,das Evangelium zu verkünden, zu verstehenund zu leben, bereichern können« 91 . Auf diese88Johannes Paul II., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> NovoMillennio ineunte (6. Januar 2001), 40: AAS 93 (2001), 294-295.89Ebd., 40: AAS 93 (2001), 295.90Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7.Dezember 1990), 52: AAS 83 (1991), 300; vgl. <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 53: AAS 71(1979), 1321.91Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong>106


Weise wird die Kirche »zur sponsa ornata monilibussuis, „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes61,10)« 92 .117. Wenn sie richtig verstanden wird, bedrohtdie kulturelle Verschiedenheit die Einheitder Kirche nicht. Der vom Vater und vom Sohngesandte Heilige Geist ist es, der unsere Herzenverwandelt und uns fähig macht, in die vollkommeneGemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeiteinzutreten, wo alles zur Einheit findet. Er schafftdie Gemeinschaft und die Harmonie des Gottesvolkes.Der Heilige Geist ist selbst die Harmonie,so wie er das Band der Liebe zwischen dem Vaterund dem Sohn ist. 93 Er ist derjenige, der einenvielfältigen und verschiedenartigen Reichtumder Gaben hervorruft und zugleich eine Einheitaufbaut, die niemals Einförmigkeit ist, sondernvielgestaltige Harmonie, die anzieht. Die Evangelisierungerkennt freudig diesen vielfältigenReichtum, den der Heilige Geist in der Kirche erzeugt.Es würde der Logik der Inkarnation nichtgerecht, an ein monokulturelles und eintönigesChristentum zu denken. Obwohl es zutrifft,dass einige Kulturen eng mit der Verkündigung<strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 16: AAS 94(2002), 384.92Ders., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Ecclesiain Africa (14. September 1995), 61: AAS 88 (1996), 39.93Vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 39, a. 8 cons. 2:»Wenn man den Heiligen Geist ausschließt, der die Verbindungzwischen dem Vater und dem Sohn ist, kann man die Einigkeitbeider nicht verstehen«; vgl. auch I, q. 37, a. 1, ad 3.107


des Evangeliums und mit der Entwicklung deschristlichen Denkens verbunden waren, identifiziertsich die offenbarte Botschaft mit keinervon ihnen und besitzt einen transkulturellen Inhalt.Darum kann man bei der Evangelisierungneuer Kulturen oder solcher, die die christlicheVerkündigung noch nicht aufgenommen haben,darauf verzichten, zusammen mit dem Angebotdes Evangeliums eine bestimmte Kulturformdurchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auchsein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weistimmer irgendeine kulturelle Einkleidung vor,doch manchmal verfallen wir in der Kirche derselbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur,und damit können wir mehr Fanatismus alsechten Missionseifer erkennen lassen.118. Die Bischöfe Ozeaniens haben gefordert,dass die Kirche dort »ein Verständnis und eineDarstellung der Wahrheit Christi entwickelt, welchedie Traditionen und Kulturen der Regioneinbezieht«. Sie haben alle Missionare ermahnt,»in Harmonie mit den einheimischen Christenzu wirken, um sicherzustellen, dass der Glaubeund das Leben der Kirche sich in legitimen,jeder einzelnen Kultur angemessenen Formenausdrücken«. 94 Wir können nicht verlangen, dassalle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruckdes christlichen Glaubens die Modalitäten nach-94Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 17: AAS 94(2002), 385.108


ahmen, die die europäischen Völker zu einembestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommenhaben, denn der Glaube kann nicht in dieGrenzen des Verständnisses und der Ausdrucksweiseeiner besonderen Kultur eingeschlossenwerden. 95 Es ist unbestreitbar, dass eine einzigeKultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfenddarstellt.Alle sind wir missionarische Jünger119. In allen Getauften, vom ersten bis zumletzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes,die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottesist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung,die es „in credendo“ unfehlbar macht. Das bedeutet,dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auchwenn es keine Worte findet, um seinen Glaubenauszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheitund führt es zum Heil. 96 Als Teil seines Geheimnissesder Liebe zur Menschheit begabt Gott dieGesamtheit der Gläubigen mit einem Instinktdes Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft,das zu unterscheiden, was wirklich von Gottkommt. Die Gegenwart des Geistes gewährt denChristen eine gewisse Wesensgleichheit mit dengöttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die95Vgl. Ders., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong>Ecclesia in Asia (6. November 1999), 20: AAS 92 (2000), 478-482.96Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Lumen gentium über die Kirche, 12.109


ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohlsie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, siegenau auszudrücken.120. Kraft der empfangenen Taufe ist jedesMitglied des Gottesvolkes ein missionarischerJünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufteist, unabhängig von seiner Funktion in der Kircheund dem Bildungsniveau seines Glaubens,aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäreunangemessen, an einen Evangelisierungsplanzu denken, der von qualifizierten Mitarbeiternumgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigenVolkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Dieneue Evangelisierung muss ein neues Verständnisder tragenden Rolle eines jeden Getaufteneinschließen. Diese Überzeugung wird zu einemunmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dassniemand von seinem Einsatz in der Evangelisierungablasse; wenn einer nämlich wirklich dieihn rettende Liebe Gottes erfahren hat, brauchter nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzumachenund sie zu verkündigen; er kann nichtdarauf warten, dass ihm viele Lektionen erteiltoder lange Anweisungen gegeben werden. JederChrist ist in dem Maß Missionar, in dem er derLiebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist; wirsagen nicht mehr, dass wir „Jünger“ und „Missionare“sind, sondern immer, dass wir „missionarischeJünger“ sind. Wenn wir nicht überzeugtsind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sichunmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennengelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude110


zu verkünden: »Wir haben den Messias gefunden«(Joh 1,41). Kaum hatte die Samariterin ihrGespräch mit Jesus beendet, wurde sie Missionarin,und viele Samariter kamen zum Glaubenan Jesus »auf das Wort der Frau hin« (Joh 4,39).Nach seiner Begegnung mit Jesus Christus machtesich auch der heilige Paulus auf, »und sogleichverkündete er Jesus … und sagte: Er ist der SohnGottes.« (Apg 9,20). Und wir, worauf warten wir?121. Gewiss sind wir alle gerufen, als Verkünderdes Evangeliums zu wachsen. Zugleichbemühen wir uns um eine bessere Ausbildung,eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutlicheresZeugnis für das Evangelium. Daher müssenwir uns alle gefallen lassen, dass die anderenuns ständig evangelisieren. Das bedeutetjedoch nicht, dass wir unterdessen von unsererAufgabe zu evangelisieren absehen müssen, sondernwir sollen die Weise finden, die der Situationangemessen ist, in der wir uns befinden.In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderenein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe desHerrn zu geben, der uns jenseits unserer Unvollkommenheitenseine Nähe, sein Wort und seineKraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht.Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nichtdasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu lebenhilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du denanderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheitdarf keine Entschuldigung sein; im Gegenteil,die Aufgabe ist ein ständiger Anreiz, sich nichtder Mittelmäßigkeit hinzugeben, sondern wei-111


ter zu wachsen. Das Glaubenszeugnis, das jederChrist zu geben berufen ist, schließt ein, wie derheilige Paulus zu bekräftigen: »Nicht dass ich esschon erreicht hätte oder dass ich schon vollendetwäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen… und strecke mich nach dem aus, was vor mirist« (Phil 3,12-13).Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit122. In gleicher Weise können wir uns vorstellen,dass die verschiedenen Völker, in die dasEvangelium inkulturiert worden ist, aktive kollektiveTräger und Vermittler der Evangelisierungsind. Das ist tatsächlich so, weil jedes Volkder Schöpfer der eigenen Kultur und der Protagonistder eigenen Geschichte ist. Die Kultur istetwas Dynamisches, das von einem Volk ständigneu erschaffen wird; und jede Generation gibt andie folgende eine Gesamtheit von auf die verschiedenenLebenssituationen bezogenen Einstellungenweiter, die diese angesichts ihrer eigenenHerausforderungen überarbeiten muss. DerMensch »ist zugleich Kind und Vater der Kultur,in der er eingebunden ist«. 97 Wenn in einem Volkdas Evangelium inkulturiert worden ist, gibt esin seinem Prozess der Übermittlung der Kulturauch den Glauben auf immer neue Weise weiter;daher die Wichtigkeit der als Inkulturation verstandenenEvangelisierung. Jeder Teil des Got-97Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14.September 1998), 71 : AAS 91 (1999), 60.112


tesvolkes gibt, indem er die Gabe Gottes demeigenen Geist entsprechend in sein Leben überträgt,Zeugnis für den empfangenen Glaubenund bereichert ihn mit neuen, aussagekräftigenAusdrucksformen. Man kann sagen: »Das Volkevangelisiert fortwährend sich selbst.« 98 Hier istdie Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein authentischerAusdruck des spontanen missionarischenHandelns des Gottesvolkes ist. Es handeltsich um eine in fortwährender Entwicklung begriffeneWirklichkeit, in der der Heilige Geist derProtagonist ist. 99123. In der Volksfrömmigkeit kann man dieWeise erfassen, in der der empfangene Glaube ineiner Kultur Gestalt angenommen hat und ständigweitergegeben wird. Während sie zeitweisemit Misstrauen betrachtet wurde, war sie in denJahrzehnten nach dem Konzil Gegenstand einerNeubewertung. Paul VI. hat in seinem Apostolischen<strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi einen entscheidendenImpuls in diesem Sinn gegeben.Dort erklärt er, dass in der Volksfrömmigkeit»ein Hunger nach Gott zum Ausdruck [kommt],wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen« 100 ,98III. Generalversammlung der Bischöfe vonLateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März1979), 450; vgl. V. Generalversammlung der Bischöfe vonateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29.Juni 2007), 264.99Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Asia (6. November 1999), 21: AAS 92(2000), 482-484.100Nr. 48: AAS 68 (1976), 38.113


und fährt fort: »Sie befähigt zur Großmut undzum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, denGlauben zu bekunden« 101 . Näher an unseren Tagenhat Benedikt XVI. in Lateinamerika daraufhingewiesen, dass sie »ein kostbarer Schatz derkatholischen Kirche« ist und dass in ihr »die Seeleder lateinamerikanischen Völker zum Vorscheinkommt«. 102124. Im Dokument von Aparecida werden dieReichtümer beschrieben, die der Heilige Geistin der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichenInitiative entfaltet. In jenem geliebten Kontinent,wo viele Christen ihren Glauben durchdie Volksfrömmigkeit zum Ausdruck bringen,nennen die Bischöfe sie auch »Volksspiritualität«oder »Volksmystik«. 103 Es handelt sich um einewahre »in der Kultur der Einfachen verkörperteSpiritualität« 104 . Sie ist nicht etwa ohne Inhalte,sondern sie entdeckt und drückt diese mehr aufsymbolischem Wege als durch den Gebrauch desfunktionellen Verstandes aus, und im Glaubensaktbetont sie mehr das credere in Deum als das credereDeum 105 . Es ist »eine legitime Weise, den Glau-101Ebd.102Ansprache während der Eröffnungssitzung der V.Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik(13. Mai 2007), 1: AAS 99 (2007), 446-447.103V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni2007), 262.104Ebd., 263.105Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 2,a. 2.114


en zu leben, eine Weise, sich als Teil der Kirchezu fühlen und Missionar zu sein« 106 ; sie bringtdie Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Dasgemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten unddie Teilnahme an anderen Ausdrucksformen derVolksfrömmigkeit, wobei man auch die Kindermitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt,ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung.« 107Tun wir dieser missionarischen Kraft keinenZwang an und maßen wir uns nicht an, sie zukontrollieren!125. Um diese Wirklichkeit zu verstehen, mussman sich ihr mit dem Blick des Guten Hirtennähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen,sondern zu lieben. Allein von der natürlichenHinneigung her, die die Liebe schenkt, könnenwir das gottgefällige Leben würdigen, das in derFrömmigkeit der christlichen Völker, besondersbei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an denfesten Glauben jener Mütter am Krankenbettdes Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern,auch wenn sie die Sätze des Credo nichtzusammenbringen; oder an den enormen Gehaltan Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet,die in einer bescheidenen Wohnung angezündetwird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene106V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni2007), 264.107Ebd.115


von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigtenChristus. Wer das heilige gläubige VolkGottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzigals eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen.Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligenLebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes,der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl.Röm 5,5).126. Da die Volksfrömmigkeit Frucht des inkulturiertenEvangeliums ist, ist in ihr eine aktivevangelisierende Kraft eingeschlossen, die wirnicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würdenwir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen.Wir sind vielmehr aufgerufen, sie zu fördern undzu verstärken, um den Prozess der Inkulturationzu vertiefen, der niemals abgeschlossen ist. DieAusdrucksformen der Volksfrömmigkeit habenvieles, das sie uns lehren können, und für den,der imstande ist, sie zu deuten, sind sie ein theologischerOrt. Diesem sollen wir Aufmerksamkeitschenken, besonders im Hinblick auf die neueEvangelisierung.Von Mensch zu Mensch127. Nun, da die Kirche eine tiefe missionarischeErneuerung vollziehen möchte, gibt es eineForm der Verkündigung, die uns allen als täglichePflicht zukommt. Es geht darum, das Evangeliumzu den Menschen zu bringen, mit denen jederzu tun hat, zu den Nächsten wie zu den Unbekannten.Es ist die informelle Verkündigung, die116


man in einem Gespräch verwirklichen kann, undes ist auch die, welche ein Missionar handhabt,wenn er ein Haus besucht. Jünger sein bedeutet,ständig bereit zu sein, den anderen die Liebe Jesuzu bringen, und das geschieht spontan an jedembeliebigen Ort, am Weg, auf dem Platz, bei derArbeit, auf einer Straße.128. Der erste Schritt dieser stets respektvollenund freundlichen Verkündigung besteht aus einempersönlichen Gespräch, in dem der andereMensch sich ausdrückt und seine Freuden, seineHoffnungen, die Sorgen um seine Lieben undviele Dinge, von denen sein Herz voll ist, mitteilt.Erst nach diesem Gespräch ist es möglich, dasWort Gottes vorzustellen, sei es mit der Lesungirgendeiner Schriftstelle oder erzählenderweise,aber immer im Gedanken an die grundlegendeVerkündigung: die persönliche Liebe Gottes,der Mensch geworden ist, sich für uns hingegebenhat und als Lebender sein Heil und seineFreundschaft anbietet. Es ist die Verkündigung,die man in einer demütigen, bezeugenden Haltungmitteilt wie einer, der stets zu lernen weiß,im Bewusstsein, dass die Botschaft so reich undso tiefgründig ist, dass sie uns immer überragt.Manchmal drückt man sie auf direktere Weiseaus, andere Male durch ein persönliches Zeugnis,eine Erzählung, eine Geste oder die Form,die der Heilige Geist selbst in einem konkretenUmstand hervorrufen kann. Wenn es vernünftigerscheint und die entsprechenden Bedingungengegeben sind, ist es gut, wenn diese brüderliche117


und missionarische Begegnung mit einem kurzenGebet abgeschlossen wird, das die Sorgen aufnimmt,die der Gesprächspartner zum Ausdruckgebracht hat. Er wird dann deutlicher spüren,dass er angehört und verstanden wurde, dass seineSituation in Gottes Hand gelegt wurde, under wird erkennen, dass das Wort Gottes wirklichsein Leben anspricht.129. Man darf nicht meinen, die Verkündigungdes Evangeliums müsse immer mit bestimmtenfesten Formeln oder mit genauen Worten übermitteltwerden, die einen absolut unveränderlichenInhalt ausdrücken. Sie wird in so verschiedenenFormen weitergegeben, dass es unmöglichwäre, sie zu beschreiben oder aufzulisten; in ihnenist das Volk Gottes mit seinen unzähligenGesten und Zeichen ein kollektives Subjekt.Folglich wird das Evangelium, wenn es in einerKultur Gestalt angenommen hat, nicht mehr nurdurch die Verkündigung von Mensch zu Menschbekannt gemacht. Das muss uns daran denkenlassen, dass die Teilkirchen in jenen Ländern, wodas Christentum eine Minderheit ist, nicht nurjeden Getauften zur Verkündigung des Evangeliumsermutigen, sondern darüber hinaus aktivzumindest anfängliche Formen der Inkulturationfördern müssen. Letztlich ist eine Verkündigungdes Evangeliums anzustreben, welche eine neueSynthese des Evangeliums mit der Kultur, in deres mit deren Kategorien verkündet wird, hervorruft.Obwohl diese Prozesse immer langwierigsind, lähmt uns manchmal zu sehr die Angst.118


Wenn wir den Zweifeln und Befürchtungen erlauben,jeden Wagemut zu ersticken, kann esgeschehen, dass wir, anstatt kreativ zu sein, einfachin unserer Bequemlichkeit verharren, ohneirgendeinen Fortschritt zu bewirken. Und in demFall werden wir nicht mit unserer Mitarbeit an historischenProzessen teilhaben, sondern schlichtBeobachter einer sterilen Stagnation der Kirchesein.Charismen im Dienst der evangelisierenden Gemeinschaft130. Der Heilige Geist bereichert die ganzeevangelisierende Kirche auch mit verschiedenenCharismen. Diese Gaben erneuern die Kircheund bauen sie auf. 108 Sie sind kein verschlossenerSchatz, der einer Gruppe anvertraut wird, damitsie ihn hütet; es handelt sich vielmehr um Geschenkedes Geistes, die in den Leib der Kircheeingegliedert und zur Mitte, die Christus ist, hingezogenwerden, von wo aus sie in einen Evangelisierungsimpulseinfließen. Ein deutliches Zeichenfür die Echtheit eines Charismas ist seineKirchlichkeit, seine Fähigkeit, sich harmonisch indas Leben des heiligen Gottesvolkes einzufügenzum Wohl aller. Eine authentische vom Geist erweckteNeuheit hat es nicht nötig, einen Schattenauf andere Spiritualitäten und Gaben zu werfen,um sich durchzusetzen. Je mehr ein Charismaseinen Blick auf den Kern des Evangeliums rich-108Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Lumen gentium über die Kirche, 12.119


tet, um so kirchlicher wird seine Ausübung sein.Auch wenn es Mühe kostet: Die Gemeinschaftist der Ort, wo ein Charisma sich als echt und geheimnisvollfruchtbar erweist. Wenn die Kirchesich dieser Herausforderung stellt, kann sie einVorbild für den Frieden in der Welt sein.131. Die Unterschiede zwischen den Menschenund den Gemeinschaften sind manchmallästig, doch der Heilige Geist, der diese Verschiedenheitenhervorruft, kann aus allem etwasGutes ziehen und es in eine Dynamik derEvangelisierung verwandeln, die durch Anziehungwirkt. Die Verschiedenheit muss mit Hilfedes Heiligen Geistes immer versöhnt sein; nur erkann die Verschiedenheit, die Pluralität, die Vielfalthervorbringen und zugleich die Einheit verwirklichen.Wenn hingegen wir es sind, die aufder Verschiedenheit beharren, und uns in unserePartikularismen, in unsere Ausschließlichkeitenzurückziehen, verursachen wir die Spaltung, undwenn andererseits wir mit unseren menschlichenPlänen die Einheit schaffen wollen, zwingen wirschließlich die Eintönigkeit, die Vereinheitlichungauf. Das hilft der Mission der Kirche nicht.Die Welt der Kultur, des Denkens und der Erziehung132. Die Verkündigung an die Welt der Kulturschließt auch eine Verkündigung an die beruflichen,wissenschaftlichen und akademischenKulturen ein. Es geht um die Begegnung zwischendem Glauben, der Vernunft und den Wis-120


senschaften, die anstrebt, ein neues Gesprächüber die Glaubwürdigkeit zu entwickeln, eineursprüngliche Apologetik, 109 die helfen soll, dieVoraussetzungen zu schaffen, damit das Evangeliumvon allen gehört wird. Wenn einige Kategoriender Vernunft und der Wissenschaftenin die Verkündigung der Botschaft aufgenommenwerden, dann werden ebendiese KategorienWerkzeuge der Evangelisierung; es ist das inWein verwandelte Wasser. Wenn dies einmal aufgenommenist, wird es nicht nur erlöst, sondernbildet ein Werkzeug des Geistes, um die Welt zuerleuchten und zu erneuern.133. Da die Sorge des Evangelisierenden, jedenMenschen zu erreichen, nicht genügt unddas Evangelium auch an die Kulturen im Ganzenverkündet wird, kommt der Theologie – undnicht nur der Pastoraltheologie –, die mit anderenWissenschaften und menschlichen Erfahrungenim Dialog steht, eine wichtige Bedeutung bei derÜberlegung zu, wie man das Angebot des Evangeliumsder Vielfalt der kulturellen Kontexte undder Empfänger nahe bringen kann. 110 Die in derEvangelisierung engagierte Kirche würdigt undermutigt das Charisma der Theologen und ihrBemühen in der theologischen Forschung, dieden Dialog mit der Welt der Kultur und der Wissenschaftfördert. Ich rufe die Theologen auf,109Vgl. Propositio 17.110Vgl. Propositio 30.121


diesen Dienst als Teil der Heilssendung der Kirchezu vollbringen. Doch ist es für diese Aufgabenötig, dass ihnen die missionarische Bestimmungder Kirche und der Theologie selbst am Herzenliegt und sie sich nicht mit einer Schreibtisch-Theologie zufrieden geben.134. Die Universitäten sind ein bevorzugterBereich, um dieses Engagement der Evangelisierungauf interdisziplinäre Weise und in wechselseitigerErgänzung zu entfalten. Die katholischenSchulen, die immer versuchen, ihre erzieherischeAufgabe mit der ausdrücklichen Verkündigungdes Evangeliums zu verbinden, stellen einen sehrwertvollen Beitrag zur Evangelisierung der Kulturdar, auch in den Ländern und in den Städten,wo eine ungünstige Situation uns anregt, unsereKreativität einzusetzen, um die geeigneten Wegezu finden. 111II. Die Homilie135. Wenden wir uns jetzt der Verkündigunginnerhalb der Liturgie zu, die von den Hirtensehr ernst genommen werden muss. Ich werdebesonders – und sogar mit einer gewissen Akribie– bei der Homilie und ihrer Vorbereitungverweilen, denn in Bezug auf diesen wichtigenDienst gibt es viele Beschwerden, und wir dürfen111Vgl. Propositio 27.122


unsere Ohren nicht verschließen. Die Homilieist der Prüfstein, um die Nähe und die Kontaktfähigkeiteines Hirten zu seinem Volk zu beurteilen.In der Tat wissen wir, dass die Gläubigenihr große Bedeutung beimessen; und sie, wie diegeweihten Amtsträger selbst, leiden oft, die einenbeim Zuhören, die anderen beim Predigen. Es isttraurig, dass das so ist. Dabei kann die Homiliewirklich eine intensive und glückliche Erfahrungdes Heiligen Geistes sein, eine stärkende Begegnungmit dem Wort Gottes, eine ständige Quelleder Erneuerung und des Wachstums.136. Erneuern wir unser Vertrauen in die Verkündigung,das sich auf die Überzeugung gründet,dass Gott es ist, der die anderen durch denPrediger erreichen möchte, und dass er seineMacht durch das menschliche Wort entfaltet.Der heilige Paulus spricht mit Nachdruck überdie Notwendigkeit zu predigen, weil der Herr dieanderen auch mit unserem Wort erreichen wollte(vgl. Röm 10,14-17). Mit dem Wort hat unser Herrdas Herz der Menschen gewonnen. Von überallherkamen sie, um ihn zu hören (vgl. Mk 1,45).Sie staunten, indem sie seine Lehren gleichsam„aufsogen“ (vgl. Mk 6,2). Sie spürten, dass er zuihnen sprach wie einer, der Vollmacht hat (vgl.Mk 1,27). Mit dem Wort zogen die Apostel, dieer eingesetzt hatte, »die er bei sich haben und dieer dann aussenden wollte, damit sie predigten«(Mk 3,14) alle Völker in den Schoß der Kirche(vgl. Mk 16,15.20).123


Der liturgische Kontext137. Es muss nun daran erinnert werden, dass»die liturgische Verkündigung des Wortes Gottes,vor allem im Rahmen der Eucharistiefeier, nichtnur ein Augenblick der Erbauung und Katechese,sondern das Gespräch Gottes mit seinem Volkist, ein Gespräch, in dem diesem die Heilswunderverkündet und immer wieder die Ansprüchedes Bundes vor Augen gestellt werden« 112 . Es gibteine besondere Wertschätzung für die Homilie,die aus ihrem eucharistischen Zusammenhangherrührt und sie jede Katechese überragen lässt,da sie den Höhepunkt des Gesprächs zwischenGott und seinem Volk vor der sakramentalenKommunion darstellt. Die Homilie nimmt denDialog auf, der zwischen dem Herrn und seinemVolk bereits eröffnet wurde. Wer predigt, mussdas Herz seiner Gemeinde kennen, um zu suchen,wo die Sehnsucht nach Gott lebendig undbrennend ist und auch wo dieser ursprünglichliebevolle Dialog erstickt worden ist oder keineFrucht bringen konnte.138. Die Homilie darf keine Unterhaltungs-Show sein, sie entspricht nicht der Logik medialerMöglichkeiten, muss aber dem GottesdienstEifer und Sinn geben. Sie ist eine besondere Gattung,da es sich um eine Verkündigung im Rahmeneiner liturgischen Feier handelt; folglich muss112Johannes Paul II., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> DiesDomini (31. Mai 1998), 41: AAS 90 (1998), 738-739.124


sie kurz sein und vermeiden, wie ein Vortragoder eine Vorlesung zu erscheinen. Der Predigermag fähig sein, das Interesse der Leute eine Stundelang wach zu halten, aber auf diese Weise wirdsein Wort wichtiger als die Feier des Glaubens.Wenn die Homilie sich zu sehr in die Länge zieht,schadet sie zwei Merkmalen der liturgischen Feier:der Harmonie zwischen ihren Teilen und ihremRhythmus. Wenn die Verkündigung im Kontextder Liturgie geschieht, wird sie eingefügt alsTeil der Opfergabe, die dem Vater dargebrachtwird, und als Vermittlung der Gnade, die Christusin der Feier ausgießt. Ebendieser Kontextverlangt, dass die Verkündigung die Gemeindeund auch den Prediger auf eine Gemeinschaftmit Christus in der Eucharistie hin ausrichtet, diedas Leben verwandelt. Das erfordert, dass dasWort des Predigers nicht einen übertriebenenRaum einnimmt, damit der Herr mehr erstrahltals der Diener.Das Gespräch einer Mutter139. Wir haben gesagt, dass das Volk Gottesdurch das ständige Wirken des Geistes in ihmfortwährend sich selber evangelisiert. Was bringtdiese Überzeugung für den Prediger mit sich? Sieerinnert uns daran, dass die Kirche Mutter ist undzum Volk so predigt wie eine Mutter, die zu ihremKind spricht im Bewusstsein, dass das Kinddarauf vertraut, dass alles, was sie es lehrt, zuseinem Besten ist, denn es weiß sich geliebt. Au-125


ßerdem weiß die gute Mutter alles anzuerkennen,was Gott in ihr Kind hineingelegt hat, hört seineSorgen an und lernt von ihm. Der Geist der Liebe,der in einer Familie herrscht, leitet die Mutterebenso wie das Kind in ihren Gesprächen, wogelehrt und gelernt wird, wo man korrigiert unddas Gute würdigt; und so geschieht es auch inder Homilie. Der Heilige Geist, der die Evangelieninspiriert hat und der im Volk Gottes wirkt,inspiriert auch die rechte Art, wie man auf denGlauben des Volkes hören muss und wie manin jeder Eucharistie predigen muss. Die christlichePredigt findet daher im Herzen der Kulturdes Volkes eine Quelle lebendigen Wassers, seies, um zu wissen, was sie sagen soll, sei es, umdie angemessene Weise zu finden, es zu sagen.Wie es uns allen gefällt, wenn man in unsererMuttersprache mit uns spricht, so ist es auch imGlauben: Es gefällt uns, wenn man im Schlüsselder „mütterlichen Kultur“, im Dialekt der Mutterzu uns spricht (vgl. 2 Makk 7,21.27), und dasHerz macht sich bereit, besser zuzuhören. DieseSprache ist eine Tonart, die Mut, Ruhe, Kraft undImpuls vermittelt.140. Dieser mütterlich-kirchliche Bereich, indem sich der Dialog des Herrn mit seinem Volkabspielt, muss durch die herzliche Nähe desPredigers, die Wärme des Tons seiner Stimme,die Milde des Stils seiner Sätze und die Freudeseiner Gesten gefördert und gepflegt werden.Auch in den Fällen, wo die Predigt sich als etwaslangweilig herausstellt, wird sie, wenn dieser126


mütterlich-kirchliche Geist gegeben ist, immerfruchtbar sein, so wie die langweiligen Ratschlägeeiner Mutter mit der Zeit im Herzen der KinderFrucht bringen.141. Voll Bewunderung steht man vor denMöglichkeiten, die der Herr eingesetzt hat, ummit seinem Volk ins Gespräch zu kommen, umsein Geheimnis allen zu offenbaren, um die Leutemit so erhabenen und so anspruchsvollenLehren zu faszinieren. Ich glaube, dass sich dasGeheimnis in jenem Blick Jesu auf das Volk verbirgt,der über dessen Schwächen und Sündenhinausgeht: »Fürchte dich nicht, du kleine Herde!Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reichzu geben« (Lk 12,32); in diesem Geist predigt Jesus.Voller Freude im Heiligen Geist preist er denVater, der die Kleinen anzieht: »Ich preise dich,Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil duall das den Weisen und Klugen verborgen, denUnmündigen aber offenbart hast« (Lk 10,21).Der Herr findet wirklich Gefallen daran, sich mitseinem Volk zu unterhalten, und dem Predigerkommt die Aufgabe zu, seine Leute diese Freudedes Herrn erfahren zu lassen.Worte, die die Herzen entfachen142. Ein Dialog ist weit mehr als die Mitteilungeiner Wahrheit. Er kommt zustande aus Freudeam Reden und um des konkreten Gutes willen,das unter denen, die einander lieben, mit Hilfevon Worten mitgeteilt wird. Es ist ein Gut, das127


nicht in Dingen besteht, sondern in den Personenselbst, die sich im Dialog einander schenken.Eine rein moralistische oder unterweisende Verkündigungund auch jene, die zu einer Exegese-Vorlesung wird, schränkt diese Kommunikationzwischen den Herzen ein, die in der Homilie gegebenist und die einen geradezu sakramentalenCharakter haben muss: »So gründet der Glaubein der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi«(Röm 10,17). In der Homilie geht die Wahrheitmit der Schönheit und dem Guten einher.Es handelt sich nicht um abstrakte Wahrheitenoder kalte Syllogismen, denn es wird auch dieSchönheit der Bilder mitgeteilt, die der Herr gebrauchte,um anzuregen, das Gute zu tun. DasGedächtnis des gläubigen Volkes muss wie dasvon Maria von den wunderbaren Taten Gottesüberfließen. In der Hoffnung auf eine freudigeund mögliche Übung der ihm verkündeten Liebespürt sein Herz, dass jedes Wort der Schrift vorallem Geschenk und erst in zweiter Linie Anspruchist.143. Die Herausforderung einer inkulturiertenPredigt besteht darin, die „Synthese“ derBotschaft des Evangeliums und nicht zusammenhangloseIdeen oder Werte zu übermitteln.Wo deine „Synthese“ liegt, da ist dein Herz. DerUnterschied zwischen dem Erklären von Ideenohne inneren Zusammenhang und dem Erkläreneiner „Synthese“ ist derselbe wie der zwischender Langeweile und dem Brennen des Herzens.Der Prediger hat die sehr schöne und schwierige128


Aufgabe, die Herzen, die sich lieben, zu vereinen:das des Herrn und die seines Volkes. DasGespräch zwischen Gott und seinem Volk stärktweiter den Bund zwischen ihnen und festigt dasBand der Liebe. Während der Zeit der Homilieschweigen die Herzen der Gläubigen und lassenihn sprechen. Der Herr und sein Volk reden intausendfacher Weise direkt miteinander, ohneMittler. In der Homilie aber wollen sie, dass jemandsich zum Werkzeug macht und die Empfindungenzum Ausdruck bringt, so dass in derFolge jeder entscheiden kann, wie er das Gesprächfortsetzen will. Das Wort ist wesentlicherMittler und erfordert nicht nur die beiden Gesprächspartner,sondern auch einen Prediger, deres als solches darstellt in der Überzeugung, dass»wir nämlich nicht uns selbst verkündigen, sondernJesus Christus als den Herrn, uns aber alseure Knechte um Jesu willen« (2 Kor 4,5).144. Mit Herz sprechen schließt ein, dass manihm nicht nur das innere Feuer bewahren muss,sondern auch das Licht, das ihm aus der Offenbarungin ihrer Gesamtheit zufließt und aus demWeg, den das Wort Gottes im Herzen der Kircheund unseres gläubigen Volkes im Laufe der Geschichtezurückgelegt hat. Die christliche Identität,die jene Umarmung in der Taufe darstellt, dieder himmlische Vater uns geschenkt hat, als wirnoch klein waren, lässt uns wie „verlorene Söhne“– die in Maria sein besonderes Wohlgefallengenießen – sehnlich die andere Umarmung desbarmherzigen Vaters begehren, der uns in der129


Herrlichkeit erwartet. Dafür zu sorgen, dass unserVolk sich wie inmitten dieser beiden Umarmungenfühlt, ist die schwere, aber schöne Aufgabedessen, der das Evangelium verkündet.III. Die Vorbereitung auf die Predigt145. Die Vorbereitung auf die Predigt ist eineso wichtige Aufgabe, dass es nötig ist, ihr einelängere Zeit des Studiums, des Gebetes, der Reflexionund der pastoralen Kreativität zu widmen.In aller Freundlichkeit möchte ich hier nuneinen Weg der Vorbereitung auf die Homilievorschlagen. Es sind Hinweise, die einigen alsselbstverständlich erscheinen mögen, aber ichhalte es für angebracht, sie zu empfehlen, uman die Notwendigkeit zu erinnern, diesem wertvollenDienst eine bevorzugte Zeit zu widmen.Manche Pfarrer pflegen dagegen einzuwenden,das sei aufgrund der vielen Obliegenheiten, diesie erledigen müssen, nicht möglich. Dennochwage ich zu bitten, dass dieser Aufgabe jede Wochepersönlich wie gemeinschaftlich eine ausreichendlange Zeit gewidmet wird, selbst wenndann für andere, ebenfalls wichtige Aufgabenweniger Zeit übrig bleibt. Das Vertrauen auf denHeiligen Geist, der in der Verkündigung wirkt,ist nicht rein passiv, sondern aktiv und kreativ. Esschließt ein, sich mit allen eigenen Fähigkeiten alsWerkzeug darzubieten (vgl. Röm 12,1), damit sievon Gott genutzt werden können. Ein Prediger,der sich nicht vorbereitet, ist nicht „geistlich“, er130


ist unredlich und verantwortungslos gegenüberden Gaben, die er empfangen hat.Der Dienst der Wahrheit146. Nachdem man den Heiligen Geist angerufenhat, ist der erste Schritt, die ganze Aufmerksamkeitdem biblischen Text zu widmen, der dieGrundlage der Predigt sein muss. Wenn jemandinnehält und zu verstehen versucht, was die Botschafteines Textes ist, übt er den »Dienst derWahrheit« 113 aus. Es ist die Demut des Herzens,die anerkennt, dass das Wort Gottes uns immerübersteigt, dass wir »weder ihre Besitzer nochihre Herren sind, sondern nur ihre Hüter, ihreHerolde, ihre Diener« 114 . Diese Haltung einer demütigenund staunenden Verehrung des WortesGottes äußert sich darin, dabei zu verweilen, essehr sorgfältig zu studieren, in heiliger Furchtdavor, es zu manipulieren. Um einen biblischenText auslegen zu können, braucht es Geduld,muss man alle Unruhe ablegen und Zeit, Interesseund unentgeltliche Hingabe einsetzen. Man mussjegliche Besorgnis, die einen bedrängt, beiseiteschieben, um in ein anderes Umfeld gelassenerAufmerksamkeit einzutreten. Es ist nicht derMühe wert, einen biblischen Text zu lesen, wennman schnelle, einfache oder unmittelbare Ergebnisseerzielen will. Deshalb erfordert die Vorbe-113Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi(8. Dezember 1975), 78: AAS 68 (1976), 71.114Ebd.131


eitung auf die Predigt Liebe. Einzig den Dingenoder Personen, die man liebt, widmet man eineZeit, ohne Gegenleistung zu erwarten und ohneEile; und hier geht es darum, Gott zu lieben, dersprechen wollte. Von dieser Liebe her kann mandie ganze Zeit, die nötig ist, in der Haltung desJüngers verweilen: »Rede, Herr; denn dein Dienerhört« (1 Sam 3,9).147. Vor allem muss man sicher sein, die Bedeutungder Worte, die wir lesen, entsprechendzu verstehen. Ich möchte etwas betonen, das offenkundigscheint, aber nicht immer berücksichtigtwird: Der biblische Text, den wir studieren,ist zwei- oder dreitausend Jahre alt, seine Spracheist ganz verschieden von der, die wir heutebenutzen. So sehr es uns auch scheinen mag,die Worte zu verstehen, die in unsere Spracheübersetzt sind, bedeutet das nicht, dass wir auchrichtig verstehen, was der heilige Verfasser ausdrückenwollte. Die verschiedenen Mittel, die dieliterarische Analyse bietet, sind bekannt: auf dieWorte achten, die sich wiederholen oder die hervorstechen,die Struktur und die eigene Dynamikeines Textes erkennen, den Platz bedenken, dendie Personen einnehmen usw. Aber das Ziel istnicht, alle kleinen Details eines Textes zu verstehen.Das Wichtigste ist zu entdecken, was dieHauptbotschaft ist, die dem Text Struktur und Einheitverleiht. Wenn der Prediger diese Anstrengungnicht unternimmt, dann ist es möglich, dassauch seine Predigt keine Einheit und Ordnunghat; seine Rede wird nur eine Summe verschiede-132


ner unzusammenhängender Ideen sein, die nichtimstande sind, die anderen zu bewegen. Die zentraleBotschaft ist die, welche der Autor an ersterStelle übermitteln wollte, was einschließt, nichtnur den Gedanken zu erkennen, sondern auchdie Wirkung, die jener Autor erzielen wollte.Wenn ein Text geschrieben wurde, um zu trösten,sollte er nicht verwendet werden, um Fehlerzu korrigieren; wenn er geschrieben wurde, umzu ermahnen, sollte er nicht verwendet werden,um zu unterweisen; wenn er geschrieben wurde,um etwas über Gott zu lehren, sollte er nicht verwendetwerden, um verschiedene theologischeMeinungen zu erklären; wenn er geschriebenwurde, um zum Lobpreis oder zur Missionsarbeitanzuregen, lasst ihn uns nicht verwenden,um über die letzten Neuigkeiten zu informieren.148. Gewiss, um den Sinn der zentralen Botschafteines Textes entsprechend zu verstehen,ist es notwendig, ihn mit der von der Kircheüberlieferten Lehre der gesamten Bibel in Zusammenhangzu bringen. Das ist ein wichtigesPrinzip der Bibelauslegung, das die Tatsache berücksichtigt,dass der Heilige Geist nicht nur einenTeil, sondern die ganze Bibel inspiriert hatund dass das Volk in einigen Fragen aufgrundder gemachten Erfahrung in seinem Verständnisdes Willens Gottes gewachsen ist. Auf diese Weisewerden falsche oder parteiische Auslegungenvermieden, die anderen Lehren derselben Schriftwidersprechen. Doch das bedeutet nicht, den eigenenund besonderen Akzent des Textes, über133


den man predigen muss, abzuschwächen. Einerder Fehler einer öden und wirkungslosen Predigtist genau der, nicht imstande zu sein, die eigeneKraft des verkündeten Textes zu übermitteln.Der persönliche Umgang mit dem Wort149. Der Prediger muss »zuallererst selber einegroße persönliche Vertrautheit mit dem WortGottes entwickeln: Für ihn genügt es nicht, dessensprachlichen oder exegetischen Aspekt zukennen, der sicher auch notwendig ist; er musssich dem Wort mit bereitem und betendem Herzennähern, damit es tief in seine Gedanken undGefühle eindringt und in ihm eine neue Gesinnungerzeugt«. 115 Es tut uns gut, jeden Tag, jedenSonntag unseren Eifer in der Vorbereitung derHomilie zu erneuern und zu prüfen, ob in unsdie Liebe zu dem Wort, das wir predigen, wächst.Man sollte nicht vergessen, dass »im Besonderendie größere oder geringere Heiligkeit desDieners tatsächlich die Verkündigung des Wortesbeeinflusst« 116 . Der heilige Paulus sagt: »Wirpredigen nicht […] um den Menschen, sondernum Gott zu gefallen, der unsere Herzen prüft«(1 Thess 2,3-4). Wenn in uns der Wunsch lebendigist, als Erste auf das Wort zu hören, das wirpredigen sollen, wird sich dieses auf die eine115Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Pastores dabo vobis (15. März 1992), 26: AAS 84 (1992),698.116Ebd., 25: AAS 84 (1992), 696.134


oder andere Weise auf das Volk Gottes übertragen:»Wovon das Herz voll ist, davon spricht derMund« (Mt 12,34). Die Sonntagslesungen werdenin ihrem ganzen Glanz im Herzen des Volkes widerhallen,wenn sie zuallererst so im Herzen desHirten erklungen sind.150. Jesus wurde ärgerlich angesichts dieservorgeblichen, den anderen gegenüber sehr anspruchsvollenMeister, die das Wort Gottes lehrten,sich aber nicht von ihm erleuchten ließen:»Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legensie den Menschen auf die Schultern, wollenselber aber keinen Finger rühren, um die Lastenzu tragen« (Mt 23,4). Der Apostel Jakobus mahnte:»Nicht so viele von euch sollen Lehrer werden,meine Brüder. Ihr wisst, dass wir im Gerichtstrenger beurteilt werden« (Jak 3,1). Wer predigenwill, der muss zuerst bereit sein, sich vomWort ergreifen zu lassen und es in seinem konkretenLeben Gestalt werden zu lassen. In demFall besteht das Predigen in der so intensiven undfruchtbaren Tätigkeit, »den anderen das mitzuteilen,was man selber betrachtet hat« 117 . Aus alldiesen Gründen muss man, bevor man konkretvorbereitet, was man sagen wird, akzeptieren, zuerstvon jenem Wort getroffen zu werden, dasdie anderen treffen soll, denn es ist lebendig undkraftvoll, und wie ein Schwert »dringt es durch biszur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk117Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 188, a. 6.135


und Mark; es richtet über die Regungen und Gedankendes Herzens« (Hebr 4,12). Das hat einepastorale Bedeutung. Auch in dieser Zeit ziehendie Menschen vor, die Zeugen zu hören: Man»verlangt geradezu nach Echtheit« und »fordertVerkünder, die von einem Gott sprechen, den sieselber kennen und der ihnen so vertraut ist, alssähen sie den Unsichtbaren« 118 .151. Es wird von uns nicht verlangt, dass wirmakellos sind, sondern vielmehr, dass wir immerim Wachsen begriffen sind, dass wir in dem tiefenWunsch leben, auf dem Weg des Evangeliumsvoranzuschreiten, und den Mut nicht verlieren.Unerlässlich ist für den Prediger, die Gewissheitzu haben, dass Gott ihn liebt, dass Jesus Christusihn gerettet hat und dass seine Liebe immer dasletzte Wort hat. Angesichts solcher Schönheitwird er oft spüren, dass sein Leben ihr nicht vollkommendie Ehre gibt, und wird sich aufrichtigwünschen, auf eine so große Liebe besser zuantworten. Doch wenn er nicht innehält, um dasWort Gottes mit echter Offenheit zu hören, wenner nicht zulässt, dass es sein Leben anrührt, ihnin Frage stellt, ihn ermahnt, ihn aufrüttelt, wenner sich nicht Zeit nimmt, um mit dem Wort Gotteszu beten, dann ist er tatsächlich ein falscherProphet, ein Betrüger oder ein eitler Scharlatan.Auf jeden Fall kann er, wenn er seine Dürftigkeiterkennt und den Wunsch hat, sich mehr zu118Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi(8. Dezember 1975), 76: AAS 68 (1976), 68.136


engagieren, sich immer Jesus Christus schenkenund dabei mit Petrus sagen: »Silber und Gold besitzeich nicht. Doch was ich habe, das gebe ichdir« (Apg 3,6). Der Herr möchte uns einsetzen alslebendige, freie und kreative Menschen, die sichvon seinem Wort durchdringen lassen, bevor siees weitergeben. Seine Botschaft muss wirklichden Weg über den Prediger nehmen, aber nichtnur über seine Vernunft, sondern indem es vonseinem ganzen Sein Besitz ergreift. Der HeiligeGeist, der das Wort der Schrift inspiriert hat, istderjenige, »der heute wie in den Anfängen derKirche in all jenen am Werk ist, die das Evangeliumverkünden und sich von ihm ergreifen undführen lassen; er legt ihnen Worte in den Mund,die sie allein niemals finden könnten« 119 .Die geistliche Lesung152. Es gibt eine konkrete Weise, das zu hören,was der Herr uns in seinem Wort sagen will, unduns von seinem Heiligen Geist verwandeln zulassen. Es ist das, was wir „lectio divina“ nennen.Sie besteht im Lesen des Wortes Gottes innerhalbeiner Zeit des Gebetes, um ihm zu erlauben,uns zu erleuchten und zu erneuern. Dieses betendeLesen der Bibel ist nicht von dem Studiumgetrennt, das der Prediger unternimmt, um diezentrale Botschaft des Textes zu finden; im Gegenteil,es muss von hier ausgehen in dem Ver-119Ebd., 75: AAS 68 (1976), 65.137


such, zu entdecken, was ebendiese Botschaft seinemLeben sagen will. Die geistliche Lesung einesTextes muss von seiner wörtlichen Bedeutungausgehen. Andernfalls geschieht es leicht, dassman den Text das sagen lässt, was angenehm ist,was dazu dient, die eigenen Entscheidungen zubestätigen, was zu den eigenen geistigen Schablonenpasst. Das hieße letztlich, etwas Heiligeszum eigenen Vorteil zu nutzen und diese Verwirrungauf das Volk Gottes zu übertragen. Mandarf nie vergessen, dass manchmal »auch der Satansich als Engel des Lichts tarnt« (2 Kor 11,14).153. Es ist gut, sich in der Gegenwart Gottesbei einer ruhigen Lektüre des Textes zum Beispielzu fragen: Herr, was sagt mir dieser Text?Was möchtest du mit dieser Botschaft an meinemLeben ändern? Was stört mich in diesemText? Warum interessiert mich das nicht? – oder:Was gefällt mir, was spornt mich an in diesemWort? Was zieht mich an? Warum zieht es michan? – Wenn man versucht, auf den Herrn zu hören,ist es normal, Versuchungen zu haben. Einevon ihnen besteht einfach darin, sich gestört oderbeklommen zu fühlen und sich zu verschließen;eine andere sehr verbreitete Versuchung ist, daranzu denken, was der Text den anderen sagt, umzu vermeiden, ihn auf das eigene Leben anzuwenden.Es kommt auch vor, dass man beginnt,Ausreden zu suchen, die einem erlauben, die spezifischeBotschaft eines Textes zu verwässern.Andere Male meinen wir, Gott verlange eine zugroße Entscheidung von uns, die zu fällen wir138


noch nicht in der Lage sind. Das führt bei vielenMenschen dazu, die Freude an der Begegnungmit dem Wort Gottes zu verlieren, doch daswürde bedeuten zu vergessen, dass niemand geduldigerist als Gottvater, dass niemand verstehtund hofft wie er. Er lädt immer ein, einen Schrittmehr zu tun, verlangt aber nicht eine vollständigeAntwort, wenn wir noch nicht den Weg zurückgelegthaben, der ihn ermöglicht. Er möchte einfach,dass wir ehrlich auf unser Leben schauenund es ohne Täuschungen vor seine Augen führen;dass wir bereit sind, weiter zu wachsen, unddass wir ihn um das bitten, was wir noch nicht zuerlangen vermögen.Ein Ohr beim Volk154. Der Prediger muss auch ein Ohr beim Volkhaben, um herauszufinden, was für die Gläubigenzu hören notwendig ist. Ein Prediger ist einKontemplativer, der seine Betrachtung auf dasWort Gottes und auch auf das Volk richtet. Aufdiese Weise macht er sich vertraut, »mit den Wünschen,Reichtümern und Grenzen, mit der Artzu beten, zu lieben, Leben und Welt zu betrachten,wie sie für eine bestimmte Menschengruppecharakteristisch sind« 120 , achtet dabei auf daskonkrete Volk mit seinen Zeichen und Symbolenund antwortet auf seine besonderen Fragen. Esgeht darum, die Botschaft des biblischen Textes120Ebd., 63: AAS 68 (1976), 53.139


mit einer menschlichen Situation zu verbinden,mit etwas aus ihrem Leben, mit einer Erfahrung,die das Licht des Wortes Gottes braucht. DieseSorge entspricht nicht einer opportunistischenoder diplomatischen Haltung, sondern ist zutiefstreligiös und pastoral. Es ist im Grunde eine »innereWachsamkeit, um die Botschaft Gottes ausden Ereignissen herauszulesen« 121 , und das istviel mehr, als etwas Interessantes zu finden, umdarüber zu sprechen. Das, was man zu entdeckensucht, ist, »was der Herr uns in der jeweiligen konkretenSituation zu sagen hat« 122 . So wird also dieVorbereitung auf die Predigt zu einer Übung evangeliumsgemäßerUnterscheidung, bei der man – im Lichtdes Heiligen Geistes – jenen »Anruf« zu erkennensucht, »den Gott gerade in dieser geschichtlichenSituation vernehmen lässt. Auch in ihr und durchsie ruft Gott den Glaubenden« 123 .155. Bei dieser Suche ist es möglich, einfachauf irgendeine häufige menschliche Erfahrungzurückzugreifen wie die Freude über ein Wiedersehen,die Enttäuschungen, die Angst vor derEinsamkeit, das Mitleid mit dem Schmerz anderer,die Unsicherheit angesichts der Zukunft, dieSorge um einen lieben Menschen usw. Es ist jedochnötig, die Sensibilität zu steigern, um daszu erkennen, was wirklich mit ihrem Leben zu121Ebd., 43: AAS 68 (1976), 33.122Ebd.123Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992),672.140


tun hat. Erinnern wir uns daran, dass man niemalsauf Fragen antworten soll, die sich keiner stellt; und esist auch nicht angebracht, Berichte über aktuelleEreignisse zu bieten, um Interesse zu wecken –dafür gibt es bereits die Fernsehprogramme. Aufjeden Fall ist es möglich, von irgendeinem Geschehnisauszugehen, damit das Wort Gottes inseiner Einladung zur Umkehr, zur Anbetung, zukonkreten Haltungen der Brüderlichkeit und desDienstes usw. mit Nachdruck erklingen kann.Manche Menschen hören nämlich ab und zu gernein der Predigt Kommentare zur Wirklichkeit,lassen sich dadurch aber nicht persönlich ansprechen.Pädagogische Mittel156. Einige meinen, gute Prediger sein zu können,weil sie wissen, was sie sagen müssen, vernachlässigenaber das Wie, die konkrete Weise,eine Predigt zu entwickeln. Sie klagen, wenn dieanderen ihnen nicht zuhören oder sie nicht schätzen,aber vielleicht haben sie sich nicht bemüht,die geeignete Weise zu finden, die Botschaft zupräsentieren. Erinnern wir uns daran: »Die offenkundigeBedeutung des Inhalts […] darf jedochnicht die Bedeutung ihrer Wege und Mittelverdecken« 124 . Auch die Sorge um die Art undWeise des Predigens ist eine zutiefst geistlicheHaltung. Es bedeutet, auf die Liebe Gottes zu124Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi(8. Dezember 1975), 40: AAS 68 (1976), 31.141


antworten, indem wir uns mit all unseren Fähigkeitenund unserer Kreativität der Aufgabe widmen,die er uns anvertraut; doch es ist auch einehervorragende Übung der Nächstenliebe, dennwir wollen den anderen nicht etwas Minderwertigesanbieten. In der Bibel finden wir zum Beispielden Rat, die Predigt ordentlich vorzubereiten,um einen geeigneten Umfang einzuhalten:»Dräng die Worte zusammen, fasse dich kurz«(Sir 32,8).157. Nur um durch Beispiele zu erläutern,erwähnen wir einige praktische Mittel, die einePredigt bereichern und anziehender machenkönnen. Eine der nötigsten Anstrengungen istzu lernen, in der Predigt Bilder zu verwenden,das heißt, in Bildern zu sprechen. Manchmal gebrauchtman Beispiele, um etwas, das man erklärenwill, verständlicher zu machen, aber oft zielendiese Beispiele allein auf die Vernunft. DieBilder hingegen helfen, die Botschaft, die manüberbringen will, zu schätzen und anzunehmen.Ein anziehendes Bild lässt die Botschaft als etwasempfinden, das vertraut, nahe, möglich ist undmit dem eigenen Leben in Verbindung gebrachtwird. Ein gelungenes Bild kann dazu führen, dassdie Botschaft, die man vermitteln will, ausgekostetwird; es weckt einen Wunsch und motiviertden Willen im Sinne des Evangeliums. Eine guteHomilie muss, wie mir ein alter Lehrer sagte,„eine Idee, ein Gefühl und ein Bild“ enthalten.142


158. Schon Paul VI. sagte: »Die versammelteGemeinde der Gläubigen […] erwartet undempfängt […] sehr viel von dieser Predigt; siesoll einfach sein, klar, direkt, auf die Menschenbezogen« 125 . Die Einfachheit hat etwas mit derverwendeten Sprache zu tun. Um nicht Gefahr zulaufen, umsonst zu sprechen, muss es die Sprachesein, die die Adressaten verstehen. Es kommt oftvor, dass die Prediger Wörter benutzen, die siewährend ihrer Studien und in bestimmten Kreisengelernt haben, die aber nicht zur gewöhnlichenSprache ihrer Zuhörer gehören. Es gibtWörter, die eigene Begriffe der Theologie oderder Katechese sind und deren Bedeutung derMehrheit der Christen nicht verständlich ist. Diegrößte Gefahr für einen Prediger besteht darin,sich an die eigene Sprache zu gewöhnen und zumeinen, dass alle anderen sie gebrauchen und vonselbst verstehen. Wenn man sich an die Spracheder anderen anpassen will, um sie mit dem WortGottes zu erreichen, muss man viel zuhören, dasLeben der Leute teilen und ihm gerne Aufmerksamkeitwidmen. Einfachheit und Klarheit sindzwei verschiedene Dinge. Die Sprache kann ganzeinfach sein, die Predigt jedoch wenig klar. Siekann sich als unverständlich erweisen wegen ihrerUnordnung, wegen mangelnder Logik oderweil sie verschiedene Themen gleichzeitig behandelt.Daher ist eine andere notwendige Aufgabe,dafür zu sorgen, dass die Predigt thematisch eine125Ebd., 43: AAS 68 (1976), 33.143


Einheit bildet, eine klare Ordnung und Verbindungzwischen den Sätzen besitzt, so dass dieMenschen dem Prediger leicht folgen und dieLogik dessen, was er sagt, erfassen können.159. Ein anderes Merkmal ist die positiveSprache. Sie sagt nicht so sehr, was man nichttun darf, sondern zeigt vielmehr, was wir bessermachen können. Wenn sie einmal auf etwas Negativeshinweist, dann versucht sie immer, aucheinen positiven Wert aufzuzeigen, der anzieht,um nicht bei der Klage, beim Gejammer, bei derKritik oder bei Gewissensbissen stehen zu bleiben.Außerdem gibt eine positive Verkündigungimmer Hoffnung, orientiert auf die Zukunft hinund lässt uns nicht eingeschlossen im Negativenzurück. Wie gut ist es, wenn sich Priester, Diakoneund Laien regelmäßig treffen, um gemeinsamMittel und Wege zu finden, um die Verkündigungattraktiver zu gestalten!IV. Eine Evangelisierung zur Vertiefung desKerygmas160. Die missionarische Sendung des Herrnschließt die Aufforderung zum Wachstum imGlauben ein, wenn es heißt: »Und lehrt sie, alleszu befolgen, was ich euch geboten habe« (Mt28, 20). Damit wird klar, dass die Erstverkündigungauch einen Weg der Bildung und Reifungin Gang setzen muss. Die Evangelisierung suchtauch das Wachstum, und deshalb gilt es, jedeeinzelne Person und den Plan, den Gott für sie144


hat, sehr ernst zu nehmen. Jedes menschlicheWesen braucht Christus mehr und mehr, und dieEvangelisierung dürfte nicht zulassen, dass sichjemand mit Wenigem begnügt. Er sollte vielmehrim Vollsinn sagen können: »Nicht mehr ich lebe,sondern Christus lebt in mir« (Gal 2, 20).161. Es wäre nicht richtig, diesen Aufruf zumWachstum ausschließlich oder vorrangig als Bildungin der Glaubenslehre zu verstehen. Es gehtdarum, das, was der Herr uns geboten hat, alsAntwort auf seine Liebe zu „befolgen”, womitzusammen mit allen Tugenden jenes neue Gebothervorgehoben wird, das das erste und größteist und das uns am meisten als Jünger erkennbarmacht: »Das ist mein Gebot: Liebt einander, sowie ich euch geliebt habe« (Joh 15,12). Es ist offensichtlich:Wenn die Verfasser des Neuen Testamentsdie sittliche Botschaft des Christentumsin einer letzten Synthese auf seinen Wesenskernreduzieren wollen, dann verweisen sie uns aufdie unausweichliche Forderung der Liebe zumNächsten: »Wer den anderen liebt, hat das Gesetzerfüllt [...] Also ist die Liebe die Erfüllung desGesetzes« (Röm 13,8.10). So sagt der heilige Paulus,für den das Liebesgebot nicht nur das Gesetzzusammenfasst, sondern auch sein Herz und seineDaseinsberechtigung ausmacht: »Denn dasganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst:Du sollst deinen Nächsten lieben wie dichselbst!« (Gal 5,14). Und er stellt seinen Gemeindendas Leben der Christen als einen Weg desWachstums in der Liebe vor: »Euch aber lasse145


der Herr wachsen und reich werden in der Liebezueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben«(1 Thess 3,12). Auch der heilige Jakobus ermahntdie Christen, »nach dem Wort der Schrift:Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! daskönigliche Gesetz« (2,8) zu erfüllen, um nicht inirgendeinem der Gebote zu versagen.162. Diesem Weg der Antwort und des Wachstumsgeht andererseits immer die Gabe voraus,denn vorher ist jene andere Aufforderung desHerrn erfolgt: »Tauft sie auf den Namen…« (Mt28,19). Die Kindschaft, die der Vater unentgeltlichschenkt, und die Initiative der Gabe seinerGnade (vgl. Eph 2,8-9; 1 Kor 4,7) sind die Bedingungfür die Möglichkeit dieser fortlaufendenHeiligung, die Gott wohlgefällig ist und ihn verherrlicht.Es geht darum, dass wir uns in Christusumgestalten lassen durch ein fortschreitendesLeben »nach dem Geist« (Röm 8,5).Eine kerygmatische und mystagogische Katechese163. Die Erziehung und die Katechese stehenim Dienst dieses Wachstums. Wir verfügen schonüber eine Reihe lehramtlicher Texte und Arbeitshilfenfür die Katechese, die vom Heiligen Stuhlund einigen Episkopaten angeboten werden. Icherinnere an das Apostolische <strong>Schreiben</strong> Catechesitradendae (1979), das Allgemeine Direktorium fürdie Katechese (1997) und andere Dokumente, derenaktueller Inhalt hier nicht wiederholt werdenmuss. Ich möchte mich nur bei einigen Erwägun-146


gen aufhalten, die hervorzuheben ich für angebrachthalte.164. Wir haben von neuem entdeckt, dassauch in der Katechese die Erstverkündigungbzw. das „Kerygma” eine wesentliche Rolle spielt.Es muss die Mitte der Evangelisierungstätigkeitund jedes Bemühens um kirchliche Erneuerungbilden. Das Kerygma hat trinitarischen Charakter.Es ist das Feuer des Geistes, der sich in derGestalt von Zungen schenkt und uns an Christusglauben lässt, der uns durch seinen Tod undseine Auferstehung die unendliche Barmherzigkeitdes Vaters offenbart und mitteilt. Im Munddes Katechisten erklingt immer wieder die ersteVerkündigung: „Jesus Christus liebt dich, er hatsein Leben hingegeben, um dich zu retten, undjetzt ist er jeden Tag lebendig an deiner Seite, umdich zu erleuchten, zu stärken und zu befreien”.Wenn diese Verkündigung die „erste” genanntwird, dann nicht, weil sie am Anfang steht unddann vergessen oder durch andere Inhalte, diesie übertreffen, ersetzt wird. Sie ist die „erste”im qualitativen Sinn, denn sie ist die hauptsächlicheVerkündigung, die man immer wieder auf verschiedeneWeisen neu hören muss und die manin der einen oder anderen Form im Lauf der Katecheseauf allen ihren Etappen und in allen ihrenMomenten immer wieder verkünden muss. 126Deshalb muss auch »der Priester wie die Kirche126Vgl. Propositio 9.147


in dem Bewusstsein wachsen, dass er es nötighat, selbst ständig evangelisiert zu werden«. 127165. Man darf nicht meinen, dass das Kerygmain der Katechese später zugunsten einer angeblich„solideren” Bildung aufgegeben wird. Esgibt nichts Solideres, nichts Tieferes, nichts Sichereres,nichts Dichteres und nichts Weiseresals diese Verkündigung. Die ganze christliche Bildungist in erster Linie Vertiefung des Kerygmas,das immer mehr und besser assimiliert wird, dasnie aufhört, das katechetische Wirken zu erhellen,und das hilft, jedes Thema, das in der Katecheseentfaltet wird, angemessen zu begreifen.Diese Verkündigung entspricht dem Verlangennach dem Unendlichen, das es in jedem menschlichenHerzen gibt. Die zentrale Stellung des Kerygmasfordert für die Verkündigung Merkmale,die heute überall notwendig sind: Sie muss dieerlösende Liebe Gottes zum Ausdruck bringen,die jeder moralischen und religiösen Pflicht vorausgeht,sie darf die Wahrheit nicht aufzwingenund muss an die Freiheit appellieren, sie mussfreudig, anspornend und lebendig sein und eineharmonische Gesamtsicht bieten, in der die Predigtnicht auf ein paar Lehren manchmal mehrphilosophischen als evangeliumsgemäßen Charaktersverkürzt wird. Von dem, der evangelisiert,werden demnach bestimmte Haltungen verlangt,127Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Pastores dabo vobis (25. März 1992), 26: AAS 84 (1992),698.148


die die Annahme der Verkündigung erleichtern:Nähe, Bereitschaft zum Dialog, Geduld, herzlichesEntgegenkommen, das nicht verurteilt.166. Ein weiteres Merkmal der Katechese, dassich in den letzten Jahrzehnten entfaltet hat, istdas der mystagogischen Einführung, 128 was im Wesentlichenzweierlei bedeutet: die notwendige stufenweiseEntwicklung des Bildungsgeschehens,an dem die ganze Gemeinde beteiligt ist, und eineerneuerte Wertschätzung der liturgischen Zeichenfür die christliche Initiation. Viele Handbücherund Planungen haben die Notwendigkeit einersolchen mystagogischen Erneuerung noch nichtaufgegriffen, die je nach dem Urteil der einzelnenErziehungseinheiten sehr verschiedene Formenannehmen könnte. Die katechetische Begegnungist eine Verkündigung des Wortes und demnachauf das Wort konzentriert, braucht aber immereine angemessene Einbettung und attraktive Motivierung,sie braucht sprechende Symbole, mussin einen breiten Prozess des Wachstums eingebundensein und verlangt die Integration aller Dimensionender Person auf einem gemeinsamenWeg des Hörens und des Antwortens.167. Es ist gut, dass jede Katechese dem „Wegder Schönheit” (via pulchritudinis) besondere Aufmerksamkeitschenkt. 129 Christus zu verkündigen,bedeutet zu zeigen, dass an ihn glauben und ihm128Vgl. Propositio 38.129Vgl. Propositio 20.149


nachfolgen nicht nur etwas Wahres und Gerechtes,sondern etwas Schönes ist, das sogar inmittenvon Prüfungen das Leben mit neuem Glanzund tiefem Glück erfüllen kann. In diesem Sinnkönnen alle Ausdrucksformen wahrer Schönheitals Weg anerkannt werden, der hilft, dem HerrnJesus zu begegnen. Es geht nicht darum, einenästhetischen Relativismus zu fördern, 130 der dasunlösbare Band verdunkeln könnte, das zwischenWahrheit, Güte und Schönheit besteht, sonderndarum, die Wertschätzung der Schönheit wiederzugewinnen,um das menschliche Herz zu erreichenund in ihm die Wahrheit und Güte des Auferstandenenerstrahlen zu lassen. Wenn wir, wieAugustinus sagt, nur das lieben, was schön ist, 131dann ist der Mensch gewordene Sohn, die Offenbarungder unendlichen Schönheit, in höchstemMaß liebenswert und zieht uns mit Banden derLiebe an sich. Dann wird es notwendig, dass dieBildung in der via pulchritudinis sich in die Weitergabedes Glaubens einfügt. Es ist wünschenswert,dass jede Teilkirche in ihrem Evangelisierungswirkenden Gebrauch der Künste fördert,den Reichtum der Vergangenheit fortführend,aber auch die Fülle der Ausdrucksformen derGegenwart aufgreifend, um den Glauben in einerneuen „Rede in Gleichnissen” 132 weiterzugeben.130Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Intermirifica über die sozialen Kommunikationsmittel, 6.131Vgl. De musica, VI, XIII, 38: PL 32, 1183-1184;Confessiones, IV, XIII, 20: PL 32, 701.132Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Ausstrahlungdes Dokumentarfilms „Kunst und Glauben – via pulchritudinis” (25.150


Man muss wagen, die neuen Zeichen zu finden,die neuen Symbole, ein neues Fleisch für die Weitergabedes Wortes, die verschiedenen Formender Schönheit, die in den einzelnen kulturellenBereichen geschätzt werden, sogar jene unkonventionellenWeisen der Schönheit, die für dieEvangelisierenden vielleicht wenig bedeuten, fürandere aber besonders attraktiv geworden sind.168. Was die Darlegung der Moral in der Katechesebetrifft, die zum Wachsen in der Treuegegenüber dem Lebensstil des Evangeliums einlädt,ist es angebracht, immer das erstrebenswerteGute aufzuzeigen, den Entwurf des Lebens, derReife, der Erfüllung, der Fruchtbarkeit, in dessenLicht unsere Anklage der Übel, die ihn verdunkelnkönnen, nachvollzogen werden kann. Esist gut, dass man in uns nicht so sehr Expertenfür apokalyptische Diagnosen sieht bzw. finstereRichter, die sich damit brüsten, jede Gefahr undjede Verirrung aufzuspüren, sondern frohe Boten,die befreiende Lösungen vorschlagen, undHüter des Guten und der Schönheit, die in einemLeben, das dem Evangelium treu ist, erstrahlen.Die persönliche Begleitung der Wachstumsprozesse169. In einer Zivilisation, die an der Anonymitätleidet und paradoxerweise zugleich, schamloskrank an einer ungesunden Neugier, darauf ver-Oktober 2012): L’Osservatore Romano (27. Oktober 2012), S. 7.151


sessen ist, Details aus dem Leben der anderen zuerfahren, braucht die Kirche den Blick der Nähe,um den anderen anzuschauen, gerührt zu werdenund vor ihm Halt zu machen, so oft es nötig ist.In dieser Welt können die geweihten Diener unddie übrigen in der Seelsorge Tätigen den Wohlgeruchder Nähe und Gegenwart Jesu und seinespersönlichen Blicks wahrnehmbar machen. DieKirche wird ihre Glieder – Priester, Ordensleuteund Laien – in diese „Kunst der Begleitung”einführen müssen, damit alle stets lernen, vordem heiligen Boden des anderen sich die Sandalenvon den Füßen zu streifen (vgl. Ex 3,5). Wirmüssen unserem Wandel den heilsamen Rhythmusder Zuwendung geben, mit einem achtungsvollenBlick voll des Mitleids, der aber zugleichheilt, befreit und zum Reifen im christlichen Lebenermuntert.170. Auch wenn das offensichtlich scheint,muss die geistliche Begleitung mehr und mehrzu Gott hinführen, denn in ihm können wir diewahre Freiheit erlangen. Einige halten sich fürfrei, wenn sie abseits von Gott eigene Wege gehen.Aber sie merken nicht, dass sie dabei existentiellverwaisen, dass sie ohne Schutz sind,ohne ein Heim, in das sie immer zurückkehrenkönnen. Sie hören auf, Pilger zu sein, und werdenzu Umherirrenden, die immer um sich selbstkreisen, ohne je an ein Ziel zu gelangen. Die Begleitungwäre allerdings kontraproduktiv, wenn152


sie zu einer Art Therapie würde, die diese Verschlossenheitder Personen in sich selbst fördert,und aufhörte, Wanderschaft mit Christus zumVater zu sein.171. Mehr denn je brauchen wir Männer undFrauen, die aus ihrer Erfahrung als Begleiter dieVorgehensweise kennen, die sich durch Klugheitauszeichnet sowie durch die Fähigkeit zum Verstehen,durch die Kunst des Wartens sowie durchdie Fügsamkeit dem Geist gegenüber, damit wiralle zusammen die Schafe, die sich uns anvertrauen,vor den Wölfen, die die Herde zu zerstreuentrachten, beschützen. Wir müssen uns in derKunst des Zuhörens üben, die mehr ist als Hören.In der Verständigung mit dem anderen stehtan erster Stelle die Fähigkeit des Herzens, welchedie Nähe möglich macht, ohne die es keine wahregeistliche Begegnung geben kann. Zuhören hilftuns, die passende Geste und das passende Wortzu finden, die uns aus der bequemen Position desZuschauers herausholen. Nur auf der Grundlagedieses achtungsvollen, mitfühlenden Zuhörensist es möglich, die Wege für ein echtes Wachstumzu finden, das Verlangen nach dem christlichenIdeal und die Sehnsucht zu wecken, voll auf dieLiebe Gottes zu antworten und das Beste, dasGott im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfalten.Immer aber mit der Geduld dessen, der weiß,was der heilige Thomas von Aquin gelehrt hat:Es kann jemand die Gnade und die Liebe haben,153


trotzdem aber die eine oder andere Tugend »aufgrundeiniger entgegengesetzter Neigungen«, 133die weiter bestehen, nicht gut leben. Mit anderenWorten: Der organische Zusammenhang derTugenden besteht zwar »in habitu« immer undnotwendig, es kann aber Umstände geben, diedie Verwirklichung dieser tugendhaften Anlagenerschweren. Deshalb bedarf es einer »Pädagogik,welche die Personen schrittweise zur vollen Aneignungdes Mysteriums hinführt«. 134 Damit einegewisse Reife erlangt wird, so dass die Personenfähig werden, wirklich freie und verantwortlicheEntscheidungen zu treffen, muss man mit derZeit rechnen und unermessliche Geduld haben.Der selige Petrus Faber sagte: »Die Zeit ist derBote Gottes«.172. Der Begleiter versteht es, die Situation jedesEinzelnen vor Gott anzuerkennen. Sein Lebenin der Gnade ist ein Geheimnis, das niemandvon außen ganz verstehen kann. Das Evangeliumschlägt uns vor, einen Menschen zurechtzuweisenund ihm aufgrund der Kenntnis derobjektiven Bosheit seiner Handlungen wachsenzu helfen (vgl. Mt 18,15), ohne jedoch über seineVerantwortung und seine Schuld zu urteilen (vgl.Mt 7,1; Lk 6,37). Ein guter Begleiter lässt freilichfatalistische Haltungen und Kleinmut nicht133Summa Theologiae I-II q. 65, a. 3, ad 2: »propter aliquasdispositiones contrarias«.134Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Asia (6. November 1999), 20: AAS 92(2000), 481.154


zu. Immer lädt er ein, sich heilen zu lassen, seineBahre zu nehmen (vgl. Joh 5, 8), das Kreuz zuumarmen, alles hinter sich zu lassen, immer neuaufzubrechen, um das Evangelium zu verkünden.Die eigene Erfahrung, uns begleiten und heilenzu lassen, indem es uns gelingt, unser Leben mitvollkommener Aufrichtigkeit vor unserem Begleiterauszubreiten, lehrt uns, mit den anderen Geduldzu haben und verständnisvoll zu sein, undermöglicht uns, die Wege zu finden, um ihr Vertrauenzu wecken, so dass sie sich öffnen undbereit sind zu wachsen.173. Die wahre geistliche Begleitung beginntund entfaltet sich immer im Bereich des Dienstesam Evangelisierungsauftrag. Die Beziehung desPaulus zu Timotheus und Titus ist ein Beispiel dieserBegleitung und Bildung im Zuge des apostolischenWirkens. Während er ihnen den Auftragerteilt, in der Stadt zu bleiben, »damit du das, wasnoch zu tun ist, zu Ende führst« (Tit 1,5; vgl. 1 Tim1,3-5), gibt er ihnen Hinweise für ihr persönlichesLeben und die pastorale Arbeit. Hier liegt ein klarerUnterschied zu jeder Form von intimistischer,auf isolierte Selbstverwirklichung bedachter Begleitung.Missionarische Jünger begleiten missionarischeJünger.Am Wort Gottes orientiert174. Nicht nur die Homilie muss aus dem WortGottes ihre Nahrung schöpfen. Die gesamteEvangelisierung beruht auf dem Wort, das ver-155


nommen, betrachtet, gelebt, gefeiert und bezeugtwird. Die Heilige Schrift ist Quelle der Evangelisierung.Es ist daher notwendig, sich unentwegtdurch das Hören des Wortes zu bilden. Die Kircheevangelisiert nicht, wenn sie sich nicht ständigevangelisieren lässt. Es ist unerlässlich, dass dasWort Gottes »immer mehr zum Mittelpunkt allenkirchlichen Handelns werde«. 135 Das vernommeneund – vor allem in der Eucharistie – gefeierteWort Gottes nährt und kräftigt die Christen innerlichund befähigt sie zu einem echten Zeugnisdes Evangeliums im Alltag. Wir haben den altenGegensatz zwischen Wort und Sakrament bereitsüberwunden. Das lebendige und wirksame verkündeteWort bereitet auf den Empfang des Sakramentesvor, und im Sakrament erreicht diesesWort seine größte Wirksamkeit.175. Das Studium der Heiligen Schrift mussein Tor sein, das allen Gläubigen offensteht. 136Es ist grundlegend, dass das geoffenbarte Wortdie Katechese und alle Bemühungen zur Weitergabedes Glaubens tief greifend befruchtet. 137Die Evangelisierung braucht die Vertrautheitmit dem Wort Gottes. Das verlangt von denDiözesen, den Pfarreien und allen katholischenGruppierungen das Angebot eines ernsten und135Benedikt XVI., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Verbum Domini (30. September 2010), 1: AAS 102(2010), 682.136Vgl. Propositio 11.137Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Dei Verbum über die göttliche Offenbarung, 21- 22.156


eharrlichen Studiums der Bibel sowie die Förderungihrer persönlichen und gemeinschaftlichenLektüre im Gebet. 138 Wir tappen nicht inder Finsternis und müssen nicht darauf warten,dass Gott sein Wort an uns richtet, denn »Gotthat gesprochen, er ist nicht mehr der große Unbekannte,sondern er hat sich gezeigt«. 139 Nehmenwir den erhabenen Schatz des geoffenbartenWortes in uns auf.138Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Verbum Domini (30. September 2010), 86-87: AAS102 (2010), 757-760.139Ders., Ansprache bei der ersten Generalkongregation derXIII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober2012): AAS 104 (2012), 896.157


VIERTES KAPITELDIE SOZIALE DIMENSION DER EVAN-GELISIERUNG176. Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottesin der Welt gegenwärtig machen. »Keine partielleund fragmentarische Definition entsprichtjedoch der reichen, vielschichtigen und dynamischenWirklichkeit, die die Evangelisierung darstellt;es besteht immer die Gefahr, sie zu verarmenund sogar zu verstümmeln.« 140 Nun möchteich meine Besorgnisse im Zusammenhang mitder sozialen Dimension der Evangelisierung mitteilen,und zwar deshalb, weil man, wenn dieseDimension nicht gebührend deutlich dargestelltwird, immer Gefahr läuft, die echte und vollständigeBedeutung des Evangelisierungsauftrags zuentstellen.I. Die gemeinschaftlichen und sozialenAuswirkungen des Kerygmas177. Das Kerygma besitzt einen unausweichlichsozialen Inhalt: Im Mittelpunkt des Evangeliumsselbst stehen das Gemeinschaftsleben und dieVerpflichtung gegenüber den anderen. Der Inhaltder Erstverkündigung hat eine unmittelbaresittliche Auswirkung, deren Kern die Liebe ist.140Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi(8. Dezember 1975), 17: AAS 68 (1976), 17.159


Bekenntnis des Glaubens und soziale Verpflichtung178. Einen himmlischen Vater zu bekennen,der jeden einzelnen Menschen unendlich liebt,schließt die Entdeckung ein, dass er »ihm dadurchunendliche Würde verleiht« 141 . Bekennen,dass der Sohn Gottes unser menschliches Fleischangenommen hat, bedeutet, dass jeder Menschbis zum Herzen Gottes erhöht worden ist. Bekennen,dass Jesus sein Blut für uns vergossenhat, hindert uns, auch nur den kleinsten Zweifelan der grenzenlosen Liebe zu bewahren, diejeden Menschen adelt. Seine Erlösung hat einesoziale Bedeutung, denn »Gott erlöst in Christusnicht nur die Einzelperson, sondern auch die sozialenBeziehungen zwischen den Menschen« 142 .Bekennen, dass der Heilige Geist in allen wirkt,schließt die Erkenntnis ein, dass er in jedemenschliche Situation und in alle sozialen Bindungeneinzudringen sucht: »Der Heilige Geistverfügt über einen für den göttlichen Geist typischenunendlichen Erfindungsreichtum und findetdie Mittel, um die Knoten der menschlichenAngelegenheiten zu lösen, einschließlich derkompliziertesten und undurchdringlichsten.« 143Die Evangelisierung versucht, auch mit diesem141Johannes Paul II., Botschaft an Menschen mitBehinderungen, Angelus (16. November 1980): Insegnamenti 3/2(1980), 1232.142Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 52.143Johannes Paul II., Katechese (24. April 1991):Insegnamenti 14/1 (1991), 856.160


efreienden Wirken des Geistes zusammen zuarbeiten. Das Geheimnis der Trinität selbst erinnertuns daran, dass wir nach dem Bild der göttlichenGemeinschaft erschaffen sind, weshalb wiruns nicht selber verwirklichen, noch von uns ausretten. Vom Kern des Evangeliums her erkennenwir die enge Verbindung zwischen Evangelisierungund menschlicher Förderung, die sichnotwendig in allem missionarischen Handelnausdrücken und entfalten muss. Die Annahmeder Erstverkündigung, die dazu einlädt, sich vonGott lieben zu lassen und ihn mit der Liebe zulieben, die er selbst uns mitteilt, verursacht im Lebendes Menschen und in seinem Tun eine ersteund grundlegende Reaktion: dass er das Wohl deranderen wünscht und anstrebt als etwas, das ihmam Herzen liegt.179. Diese unlösbare Verbindung zwischen derAufnahme der heilbringenden Verkündigung undeiner wirklichen Bruderliebe kommt in einigenTexten der Schrift zum Ausdruck, und es ist gut,sie zu bedenken und aufmerksam zu verinnerlichen,um alle Konsequenzen daraus zu ziehen.Es handelt sich um eine Botschaft, an die wir unsoft gewöhnen, sie fast mechanisch wiederholen,ohne uns jedoch klar zu machen, dass sie sich inunserem Leben und in unseren Gemeinschaftenreal auswirken muss. Wie gefährlich und schädlichist diese Gewöhnung, die uns dazu führt, dasStaunen, die Faszination und die Begeisterungzu verlieren, das Evangelium der Brüderlichkeitund der Gerechtigkeit zu leben! Das Wort Gottes161


lehrt uns, dass sich im Mitmenschen die kontinuierlicheFortführung der Inkarnation für jedenvon uns findet: »Was ihr für einen meiner geringstenBrüder getan habt, das habt ihr mir getan«(Mt 25,40). Was wir für die anderen tun, hat einetranszendente Dimension: »Nach dem Maß, mitdem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteiltwerden« (Mt 7,2), und es ist eine Antwort auf diegöttliche Barmherzigkeit uns gegenüber: »Seidbarmherzig, wie es auch euer Vater ist! Richtetnicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden.Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nichtverurteilt werden. Erlasst einander die Schuld,dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.Gebt, dann wird auch euch gegeben werden […]nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt,wird auch euch zugeteilt werden« (Lk 6,36-38).Was diese Texte ausdrücken, ist die absolute Vorrangigkeitdes „Aus-sich-Herausgehens auf denMitmenschen zu“ als eines der beiden Hauptgebote,die jede sittliche Norm begründen, und alsdeutlichstes Zeichen, anhand dessen man denWeg geistlichen Wachstums als Antwort auf dasvöllig ungeschuldete Geschenk Gottes überprüfenkann. Aus diesem Grund »ist auch der Dienstder Liebe ein konstitutives Element der kirchlichenSendung und unverzichtbarer Ausdruck ihreseigenen Wesens«. 144 Wie die Kirche von Naturaus missionarisch ist, so entspringt aus dieser144Benedikt XVI., Motu proprio Intima Ecclesiae natura(11. November 2012): AAS 104 (2012), 996.162


Natur zwangsläufig die wirkliche Nächstenliebe,das Mitgefühl, das versteht, beisteht und fördert.Das Reich, das uns ruft180. Aus einer Lektüre der Schrift geht außerdemklar hervor, dass das Angebot des Evangeliumsnicht nur in einer persönlichen Beziehungzu Gott besteht. Und unsere Antwort der Liebedürfte auch nicht als eine bloße Summe kleinerpersönlicher Gesten gegenüber irgendeinemNotleidenden verstanden werden; das könnteeine Art „Nächstenliebe à la carte“ sein, eine Reihevon Taten, die nur darauf ausgerichtet sind,das eigene Gewissen zu beruhigen. Das Angebotist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43); es geht darum,Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. Indem Maß, in dem er unter uns herrschen kann,wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum derBrüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedensund der Würde sein. Sowohl die Verkündigungals auch die christliche Erfahrung neigen dazu,soziale Konsequenzen auszulösen. Suchen wirsein Reich: »Euch aber muss es zuerst um seinReich und um seine Gerechtigkeit gehen; dannwird euch alles andere dazugegeben« (Mt 6,33).Der Plan Jesu besteht darin, das Reich seinesVaters zu errichten; er verlangt von seinen Jüngern:»Geht und verkündet: Das Himmelreich istnahe« (Mt 10,7).181. Das Reich, das unter uns vorweggenommenwird und wächst, betrifft alles und erinnertuns an jenes Unterscheidungsprinzip, das Paul VI.163


in Bezug auf die wahre Entwicklung aufstellte:»jeden Menschen und den ganzen Menschen« 145im Auge zu haben. Wir wissen, dass »die Evangelisierungnicht vollkommen [wäre], würdesie nicht dem Umstand Rechnung tragen, dassEvangelium und konkretes Leben des Menschenals Einzelperson und als Mitglied einer Gemeinschafteinander ständig beeinflussen«. 146 Es handeltsich um das der Dynamik des Evangeliumseigene Kriterium der Universalität, da der himmlischeVater will, dass alle Menschen gerettet werden,und sein Heilsplan darin besteht, alles, wasim Himmel und auf Erden ist, unter einem einzigenHerrn, nämlich Christus, zu vereinen (vgl.Eph 1,10). Der Auftrag lautet: »Geht hinaus indie ganze Welt, und verkündet das Evangeliumallen Geschöpfen!« (Mk 16,15), denn »die ganzeSchöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerdender Söhne Gottes« (Röm 8,19). Die ganzeSchöpfung – das heißt auch alle Aspekte dermenschlichen Natur: »Der Missionsauftrag, dieGute Nachricht von Jesus Christus zu verkünden,bezieht sich auf die ganze Welt. Jesu Liebesgebotschließt alle Dimensionen des Daseinsein, alle Menschen, alle Milieus und alle Völker.Nichts Menschliches ist ihm fremd.« 147 Die wah-145Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 14:AAS 59 (1967), 264.146Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Evangelii nuntiandi(8. Dezember 1975), 29: AAS 68 (1976), 25.147V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerikaund der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni2007), 380.164


e christliche Hoffnung, die das eschatologischeReich sucht, erzeugt immer Geschichte.Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen182. Die Lehren der Kirche zu den säkularenAngelegenheiten sind größeren und neuen Entwicklungenunterworfen und mögen Diskussionsgegenstandsein; wir können jedoch nichtvermeiden, konkret zu sein – ohne zu beanspruchen,in die Details zu gehen –, damit die großensozialen Grundsätze nicht bloße allgemeine Hinweisebleiben, die niemanden unmittelbar angehen.Man muss die praktischen Konsequenzenaus ihnen ziehen, damit sie »auch die komplexenaktuellen Situationen wirksam beeinflussenkönnen« 148 . Die Hirten haben unter Berücksichtigungder Beiträge der verschiedenen Wissenschaftendas Recht, Meinungen über all das zuäußern, was das Leben der Menschen betrifft,da die Evangelisierungsaufgabe eine ganzheitlicheFörderung jedes Menschen einschließt undverlangt. Man kann nicht mehr behaupten, dieReligion müsse sich auf den Privatbereich beschränkenund sie existiere nur, um die Seelenauf den Himmel vorzubereiten. Wir wissen, dassGott das Glück seiner Kinder, obwohl sie zurewigen Fülle berufen sind, auch auf dieser Erdewünscht, denn er hat alles erschaffen, »damit siesich daran freuen können« (1 Tim 6,17), damit148Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 9.165


alle sich daran freuen können. Daraus folgt, dassdie christliche Umkehr verlangt, »besonders […]all das zu überprüfen, was das Sozialwesen ausmachtund zur Erlangung des Allgemeinwohlsbeiträgt«. 149183. Folglich kann niemand von uns verlangen,dass wir die Religion in das vertrauliche Innenlebender Menschen verbannen, ohne jeglichenEinfluss auf das soziale und nationale Geschehen,ohne uns um das Wohl der Institutionen dermenschlichen Gemeinschaft zu kümmern, ohneuns zu den Ereignissen zu äußern, die die Bürgerangehen. Wer würde es wagen, die Botschaft desheiligen Franz von Assisi und der seligen Teresavon Kalkutta in ein Gotteshaus einzuschließenund zum Schweigen zu bringen? Sie könntenes nicht hinnehmen. Ein authentischer Glaube– der niemals bequem und individualistischist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, dieWelt zu verändern, Werte zu übermitteln, nachunserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen.Wir lieben diesen herrlichen Planeten,auf den Gott uns gesetzt hat, und wir lieben dieMenschheit, die ihn bewohnt, mit all ihren Dramenund ihren Mühen, mit ihrem Streben undihren Hoffnungen, mit ihren Werten und ihrenSchwächen. Die Erde ist unser gemeinsamesHaus, und wir sind alle Brüder. Obwohl »die ge-149Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in America (22. Januar 1999), 27: AAS 91(1999), 762.166


echte Ordnung der Gesellschaft und des Staates[…] zentraler Auftrag der Politik« ist, »kann unddarf [die Kirche] im Ringen um Gerechtigkeit[…] nicht abseits bleiben«. 150 Alle Christen, auchdie Hirten, sind berufen, sich um den Aufbaueiner besseren Welt zu kümmern. Darum gehtes, denn die Soziallehre der Kirche ist in ersterLinie positiv und konstruktiv, sie bietet Orientierungfür ein verwandelndes Handeln, und indiesem Sinn hört sie nicht auf, ein Zeichen derHoffnung zu sein, das aus dem liebevollen HerzenJesu Christi kommt. Zugleich vereint die Kirche»ihre eigenen Bemühungen insbesondere mitdem, was die anderen Kirchen und kirchlichenGemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebensowie in praktischer Hinsicht im sozialen Bereichleisten«. 151184. Es ist hier nicht der Moment, auf all dieschwerwiegenden sozialen Probleme einzugehen,von denen die heutige Welt betroffen ist– einige von ihnen habe ich im zweiten Kapitelkommentiert. Dies ist kein Dokument übersoziale Fragen, und um über jene verschiedenenThemenkreise nachzudenken, verfügen wir mitdem Kompendium der Soziallehre der Kirche über einsehr geeignetes Instrument, dessen Gebrauchund Studium ich nachdrücklich empfehle. Außer-150Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25.Dezember 2005), 28: AAS 98 (2006), 239-240.151Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 12.167


dem besitzen weder der <strong>Papst</strong> noch die Kirchedas Monopol für die Interpretation der sozialenWirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösungder gegenwärtigen Probleme. Ich kann hierwiederholen, was Paul VI. in aller Klarheit betonte:»Angesichts so verschiedener Situationenist es für uns schwierig, uns mit einem einzigenWort zu äußern bzw. eine Lösung von universalerGeltung vorzuschlagen. Das ist nicht unsereAbsicht und auch nicht unsere Aufgabe. Es obliegtden christlichen Gemeinden, die Situationeines jeden Landes objektiv zu analysieren.« 152185. In der Folge möchte ich versuchen, michauf zwei große Fragen zu konzentrieren, die indiesem Augenblick der Geschichte grundlegenderscheinen. Ich werde sie mit einer gewissen Ausführlichkeitentwickeln, weil ich meine, dass siedie Zukunft der Menschheit bestimmen werden.Es handelt sich an erster Stelle um die gesellschaftlicheEingliederung der Armen und außerdemum den Frieden und den sozialen Dialog.II. Die gesellschaftliche Eingliederung derArmen186. Aus unserem Glauben an Christus, derarm geworden und den Armen und Ausgeschlossenenimmer nahe ist, ergibt sich die Sorge um152<strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Octogesima adveniens zum 80.Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum (14. Mai 1971), 4: AAS63 (1971), 403.168


die ganzheitliche Entwicklung der am stärkstenvernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft.Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei187. Jeder Christ und jede Gemeinschaft istberufen, Werkzeug Gottes für die Befreiungund die Förderung der Armen zu sein, so dasssie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügenkönnen; das setzt voraus, dass wir gefügig sindund aufmerksam, um den Schrei des Armen zuhören und ihm zu Hilfe zu kommen. Es genügt,in der Heiligen Schrift zu blättern, um zu entdecken,wie der gute himmlische Vater auf denSchrei der Armen hören möchte – »Ich habe dasElend meines Volkes in Ägypten gesehen undihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört.Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen,um sie zu befreien […] Und jetzt geh! Ich sendedich« (Ex 3,7-8.10) – und wie zuvorkommender ihren Nöten gegenüber ist: »Als aber die Israelitenzum Herrn schrien, gab ihnen der Herreinen Retter« (Ri 3,15). Diesem Schrei gegenübertaub zu bleiben, wenn wir doch die WerkzeugeGottes sind, um den Armen zu hören, entferntuns dem Willen des himmlischen Vaters und seinemPlan, zumal dieser Arme »den Herrn gegendich anruft und Strafe für diese Sünde über dichkommt« (Dtn 15,9). Und der Mangel an Solidaritätgegenüber seinen Nöten beeinflusst unmittelbarunsere Beziehung zu Gott: »Verbirg dichnicht vor dem Verzweifelten und gib ihm keinen169


Anlass, dich zu verfluchen. Schreit der Betrübteim Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels,auf sein Wehgeschrei hören« (Sir 4,5-6). Immerkehrt die alte Frage wieder: »Wenn jemand Vermögenhat und sein Herz vor dem Bruder verschließt,den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebein ihm bleiben?« (1 Joh 3,17). Erinnern wiruns auch, mit welcher Überzeugung der ApostelJakobus das Bild des Schreis der Unterdrücktenaufnahm: »Der Lohn der Arbeiter, die eure Felderabgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthaltenhabt, schreit zum Himmel; die Klagerufederer, die eure Ernte eingebracht haben, dringenzu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere«(5,4).188. Die Kirche hat erkannt, dass die Forderung,auf diesen Ruf zu hören, aus der Befreiungselbst folgt, die die Gnade in jedem von unswirkt, und deshalb handelt es sich nicht um einenAuftrag, der nur einigen vorbehalten ist: »DieKirche, die dem Evangelium von der Barmherzigkeitund der Liebe zum Menschen folgt, hörtden Ruf nach Gerechtigkeit und möchte mit allenihren Kräften darauf antworten.« 153 In diesemRahmen versteht man die AufforderungJesu an seine Jünger: »Gebt ihr ihnen zu essen!«(Mk 6,37), und das beinhaltet sowohl die Mitarbeit,um die strukturellen Ursachen der Armutzu beheben und die ganzheitliche Entwicklung153Kongregation für die Glaubenslehre, InstruktionLibertatis nuntius (6. August 1984), XI, 1: AAS 76 (1984), 903.170


der Armen zu fördern, als auch die einfachstenund täglichen Gesten der Solidarität angesichtsdes ganz konkreten Elends, dem wir begegnen.Das Wort „Solidarität“ hat sich ein wenig abgenutztund wird manchmal falsch interpretiert,doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentlichegroßherzige Taten. Es erfordert, eine neueMentalität zu schaffen, die in den Begriffen derGemeinschaft und des Vorrangs des Lebens allergegenüber der Aneignung der Güter durch einigewenige denkt.189. Die Solidarität ist eine spontane Reaktiondessen, der die soziale Funktion des Eigentumsund die universale Bestimmung der Güter alsWirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz.Der private Besitz von Gütern rechtfertigtsich dadurch, dass man sie so hütet undmehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen;deshalb muss die Solidarität als die Entscheidunggelebt werden, dem Armen das zurückzugeben,was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und einesolidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blutübergehen, öffnen sie den Weg für weitere strukturelleUmwandlungen und machen sie möglich.Eine Änderung der Strukturen, die hingegenkeine neuen Einsichten und Verhaltensweisenhervorbringt, wird dazu führen, dass ebendieseStrukturen früher oder später korrupt, drückendund unwirksam werden.190. Manchmal geht es darum, den Schreiganzer Völker, der ärmsten Völker der Erde zu171


hören, denn »der Friede gründet sich nicht nurauf die Achtung der Menschenrechte, sondernauch auf die Achtung der Rechte der Völker«. 154Bedauerlicherweise können sogar die Menschenrechteals Rechtfertigung für eine erbitterte Verteidigungder Rechte des Einzelnen oder derRechte der reichsten Völker genutzt werden. Beiallem Respekt vor der Unabhängigkeit und derKultur jeder einzelnen Nation muss doch immerdaran erinnert werden, dass der Planet derganzen Menschheit gehört und für die ganzeMenschheit da ist und dass allein die Tatsache,an einem Ort mit weniger Ressourcen oder einerniedrigeren Entwicklungsstufe geboren zu sein,nicht rechtfertigt, dass einige Menschen wenigerwürdevoll leben. Es muss noch einmal gesagtwerden: »Die am meisten Begünstigten müssenauf einige ihrer Rechte verzichten, um mitgrößerer Freigebigkeit ihre Güter in den Dienstder anderen zu stellen.« 155 Um in angemessenerWeise von unseren Rechten zu sprechen, müssenwir unseren Gesichtskreis erweitern und unsereOhren dem Schrei anderer Völker oder andererRegionen unseres Landes öffnen. Wir haben esnötig, in der Solidarität zu wachsen: »Sie musses allen Völkern erlauben, ihr Geschick selbst in154Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 157.155Paul VI., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> Octogesima advenienszum 80. Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum (14. Mai 1971),23: AAS 63 (1971), 418.172


die Hand zu nehmen«, 156 so, wie »jeder Menschgerufen [ist], sich zu entwickeln«. 157191. An jedem Ort und bei jeder Gelegenheitsind die Christen, ermutigt von ihren Hirten, aufgerufen,den Schrei der Armen zu hören. Dieshaben die Bischöfe Brasiliens deutlich betont:»Wir möchten jeden Tag Freude und Hoffnung,Trauer und Angst des brasilianischen Volkes, besondersder Bevölkerungen der Stadtrandgebieteund der ländlichen Regionen auf uns nehmen,die – ohne Land, ohne Obdach, ohne Brot, ohneGesundheit – in ihren Rechten verletzt sind. Dawir ihr Elend sehen, ihr Schreien hören und ihreLeiden kennen, empört es uns zu wissen, dassausreichend Nahrung für alle da ist und dass derHunger auf die schlechte Verteilung der Güterund des Einkommens zurückzuführen ist. DasProblem wird noch verstärkt durch die weit verbreitetePraxis der Verschwendung.« 158192. Wir wünschen uns jedoch noch mehr.Unser Traum hat noch höhere Ziele. Wir sprechennicht nur davon, allen die Nahrung odereine »menschenwürdige Versorgung« zu sichern,sondern dass sie einen »Wohlstand in seinen viel-156Ders., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967),65: AAS 59 (1967), 289.157Ebd., 15: AAS 59 (1967), 265.158Conferência Nacional dos Bispos do Brasil,Dokument Exigências evangélicas e éticas de superação da miséria e dafome (April 2002), Einführung, 2.173


fältigen Aspekten« erreichen. 159 Das schließt dieErziehung, den Zugang zum Gesundheitswesenund besonders die Arbeit ein, denn in der freien,schöpferischen, mitverantwortlichen und solidarischenArbeit drückt der Mensch die Würdeseines Lebens aus und steigert sie. Der gerechteLohn ermöglicht den Zugang zu den anderenGütern, die zum allgemeinen Gebrauch bestimmtsind.Treue zum Evangelium, um nicht vergeblich zu laufen193. Der Aufruf, auf den Schrei der Armenzu hören, nimmt in uns menschliche Gestalt an,wenn uns das Leiden anderer zutiefst erschüttert.Lesen wir noch einmal, was das Wort Gottesüber die Barmherzigkeit sagt, damit es kraftvollim Leben der Kirche nachhallt. Das Evangeliumverkündet: »Selig die Barmherzigen, denn siewerden Erbarmen finden« (Mt 5,7). Der ApostelJakobus lehrt, dass die Barmherzigkeit den anderengegenüber uns erlaubt, siegreich aus demgöttlichen Gericht hervorzugehen: »Redet undhandelt wie Menschen, die nach dem Gesetz derFreiheit gerichtet werden. Denn das Gericht isterbarmungslos gegen den, der kein Erbarmengezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiertüber das Gericht« (2,12-13). In diesem Text erweistJakobus sich als Erbe des größten Reichtumsder nachexilischen jüdischen Spiritualität,159Johannes XXIII., Enzyklika Mater et Magistra (15. Mai1961), 3: AAS 53 (1961), 402.174


die der Barmherzigkeit einen speziellen Heilswertzuschrieb: »Lösch deine Sünden aus durchrechtes Tun, tilge deine Vergehen, indem du Erbarmenhast mit den Armen. Dann mag deinGlück vielleicht von Dauer sein« (Dan 4,24). Ausderselben Perspektive spricht die Weisheitsliteraturvom Almosen als einer konkreten Übung derBarmherzigkeit gegenüber den Notleidenden:»Barmherzigkeit rettet vor dem Tod und reinigtvon jeder Sünde« (Tob 12,9). In noch plastischererWeise wird das im Buch Jesus Sirach ausgedrückt:»Wie Wasser loderndes Feuer löscht, sosühnt Mildtätigkeit Sünde« (3,30). Zum gleichenSchluss kommt auch das Neue Testament: »Vorallem haltet fest an der Liebe zueinander; denndie Liebe deckt viele Sünden zu« (1 Petr 4,8). DieseWahrheit drang tief in das Denken der Kirchenväterein und leistete als kulturelle Alternativeeinen prophetischen Widerstand gegen denhedonistischen heidnischen Individualismus. Wirerwähnen nur ein Beispiel: »Wie wir in der Gefahreines Brandes eilen, um Löschwasser zu suchen[…] so ist es auch, wenn aus unserem Strohdie Flamme der Sünde aufsteigen würde und wirdarüber verstört wären: Wird uns dann die Gelegenheitzu einem Werk der Barmherzigkeit gegeben,freuen wir uns über dieses Werk, als sei eseine Quelle, die uns angeboten wird, damit wirden Brand löschen können.« 160160Augustinus, De Catechizandis Rudibus, I, XIV, 22: PL40, 327.175


194. Das ist eine so klare, so direkte, so einfacheund viel sagende Botschaft, dass keinekirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren.Die Reflexion der Kirche über dieseTexte dürfte deren ermahnende Bedeutung nichtverdunkeln oder schwächen, sondern vielmehrhelfen, sie sich mutig und eifrig zu Eigen zu machen.Warum komplizieren, was so einfach ist?Die begrifflichen Werkzeuge sind dazu da, denKontakt mit der Wirklichkeit, die man erklärenwill, zu fördern, und nicht, um uns von ihr zuentfernen. Das gilt vor allem für die biblischenErmahnungen, die mit großer Bestimmtheit zurBruderliebe, zum demütigen und großherzigenDienst, zur Gerechtigkeit und zur Barmherzigkeitgegenüber dem Armen auffordern. Jesus hatuns mit seinen Worten und seinen Taten diesenWeg der Anerkennung des anderen gewiesen. Warumverdunkeln, was so klar ist? Sorgen wir unsnicht nur darum, nicht in lehrmäßige Irrtümerzu fallen, sondern auch darum, diesem leuchtendenWeg des Lebens und der Weisheit treu zusein. Denn »den Verteidigern der „Orthodoxie“wirft man manchmal Passivität, Nachsichtigkeitund schuldhafte Mitwisserschaft gegenüber unerträglichenSituationen der Ungerechtigkeit undgegenüber politischen Regimen, die diese beibehalten,vor«. 161161Kongregation für die Glaubenslehre, InstruktionLibertatis nuntius (6. August 1984), XI, 18: AAS 76 (1984), 907-908.176


195. Als der heilige Paulus sich zu den Apostelnnach Jerusalem begab, um zu klären, ob ersich vergeblich mühte oder gemüht hatte (vgl.Gal 2,2), war das entscheidende Kriterium für dieEchtheit, das sie ihm vorgaben, dass er die Armennicht vergessen sollte (vgl. Gal 2,10). Diesesgroße Kriterium, dass die paulinischen Gemeindensich nicht vom individualistischen Lebensstilder Heiden mitreißen lassen sollten, besitztim gegenwärtigen Kontext, in dem die Tendenzzur Entwicklung eines neuen individualistischenHeidentums besteht, eine beachtliche Aktualität.Die eigene Schönheit des Evangeliums kannvon uns nicht immer angemessen zum Ausdruckgebracht werden, doch es gibt ein Zeichen, dasniemals fehlen darf: die Option für die Letzten,für die, welche die Gesellschaft aussondert undwegwirft.196. Manchmal sind wir hartherzig und starrsinnig,vergessen, vergnügen uns und geraten inVerzückung angesichts der unermesslichen Möglichkeitenan Konsum und Zerstreuung, die dieseGesellschaft bietet. So entsteht eine Art vonEntfremdung, die uns alle trifft, denn »entfremdetwird eine Gesellschaft, die in ihren sozialenOrganisationsformen, in Produktion und Konsum,die Verwirklichung dieser Hingabe und dieBildung dieser zwischenmenschlichen Solidaritäterschwert«. 162162Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai1991), 41: AAS 83 (1991), 844-845.177


Der bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes197. Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugtenPlatz für die Armen, dass er selbst »armwurde« (2 Kor 8,9). Der ganze Weg unserer Erlösungist von den Armen geprägt. Dieses Heil istzu uns gekommen durch das „Ja“ eines demütigenMädchens aus einem kleinen, abgelegenenDorf am Rande eines großen Imperiums. DerRetter ist in einer Krippe geboren, inmitten vonTieren, wie es bei den Kindern der Ärmsten geschah;zu seiner Darstellung im Tempel wurdenzwei Turteltauben dargebracht, das Opfer derer,die sich nicht erlauben konnten, ein Lammzu bezahlen (vgl. Lk 2,24; Lev 5,7); er ist in einemHaus einfacher Handwerker aufgewachsenund hat sich sein Brot mit seiner Hände Arbeitverdient. Als er mit der Verkündigung des Gottesreichsbegann, folgten ihm Scharen von Entrechteten,und so zeigte sich, was er selbst gesagthatte: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; dennder Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt,damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe«(Lk 4,18). Denen, die unter der Last von Leidund Armut lebten, versicherte er, dass Gott sieim Zentrum seines Herzens trug: »Selig, ihr Armen,denn euch gehört das Reich Gottes« (Lk6,20); mit ihnen identifizierte er sich: »Ich warhungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben« undlehrte, dass die Barmherzigkeit ihnen gegenüberder Schlüssel zum Himmel ist (vgl. Mt 25,35f).178


198. Für die Kirche ist die Option für die Armenin erster Linie eine theologische Kategorieund erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische,politische oder philosophische Frage. Gottgewährt ihnen »seine erste Barmherzigkeit«. 163Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen imGlaubensleben aller Christen, die ja dazu berufensind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5).Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option fürdie Armen gefällt, die zu verstehen ist als »besondererVorrang in der Weise, wie die christlicheLiebe ausgeübt wird; eine solche Option wirdvon der ganzen Tradition der Kirche bezeugt«. 164Diese Option, lehrte Benedikt XVI., ist »im christologischenGlauben an jenen Gott implizit enthalten,der für uns arm geworden ist, um unsdurch seine Armut reich zu machen«. 165 Aus diesemGrund wünsche ich mir eine arme Kirchefür die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren.Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondernkennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden denleidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle unsvon ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierungist eine Einladung, die heilbringendeKraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den163Ders., Homilie während der Eucharistiefeier für dieEvangelisierung der Völker, in Santo Domingo (11. Oktober 1984),5: AAS 77 (1985) 358.164Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember1987), 42: AAS 80 (1988), 572.165Ansprache zur Eröffnung der Arbeiten der V.Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik(13. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 450.179


Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen. Wirsind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken,uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen,aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören,sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheitanzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilenwill.199. Unser Einsatz besteht nicht ausschließlichin Taten oder in Förderungs- und Hilfsprogrammen;was der Heilige Geist in Gang setzt,ist nicht ein übertriebener Aktivismus, sondernvor allem eine aufmerksame Zuwendung zum anderen,indem man ihn »als eines Wesens mit sichselbst betrachtet«. 166 Diese liebevolle Zuwendungist der Anfang einer wahren Sorge um seinePerson, und von dieser Basis aus bemühe ichmich dann wirklich um sein Wohl. Das schließtein, den Armen in seinem besonderen Wert zuschätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kulturund mit seiner Art, den Glauben zu leben. Dieechte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubtuns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeitzu dienen, sondern weil es schön ist, jenseitsdes Scheins. »Auf die Liebe, durch die einem derandere Mensch angenehm ist, ist es zurückzuführen,dass man ihm unentgeltlich etwas gibt.« 167Der Arme wird, wenn er geliebt wird,»hochgeschätzt«, 168 und das unterscheidet die166Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 27, a. 2.167Ebd., I-II, q. 110, a. 1.168Ebd., I-II, q. 26, a. 3.180


authentische Option für die Armen von jederIdeologie, von jeglicher Absicht, die Armen zugunstenpersönlicher oder politischer Interessenzu gebrauchen. Nur das macht es möglich, »dasssich die Armen in jeder christlichen Gemeindewie „zu Hause“ fühlen. Wäre dieser Stil nichtdie großartigste und wirkungsvollste Vorstellungder Frohen Botschaft vom Reich Gottes?«. 169Ohne die Sonderoption für die Armen »läuftdie Verkündigung, die auch die erste Liebestatist, Gefahr, nicht verstanden zu werden oder injenem Meer von Worten zu ertrinken, dem dieheutige Kommunikationsgesellschaft uns täglichaussetzt«. 170200. Da dieses <strong>Schreiben</strong> an die Mitglieder derkatholischen Kirche gerichtet ist, möchte ichdie schmerzliche Feststellung machen, dass dieschlimmste Diskriminierung, unter der die Armenleiden, der Mangel an geistlicher Zuwendungist. Die riesige Mehrheit der Armen istbesonders offen für den Glauben; sie brauchenGott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ihnenseine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort,die Feier der Sakramente anzubieten und ihneneinen Weg des Wachstums und der Reifung imGlauben aufzuzeigen. Die bevorzugte Optionfür die Armen muss sich hauptsächlich in eineraußerordentlichen und vorrangigen religiösenZuwendung zeigen.169Johannes Paul II., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> NovoMillennio ineunte (6. Januar 2001), 50: AAS 93 (2001), 303.170Ebd.181


201. Niemand dürfte sagen, dass er sich vonden Armen fern hält, weil seine Lebensentscheidungenes mit sich bringen, anderen Aufgabenmehr Achtung zu schenken. Das ist eine in akademischen,unternehmerischen oder beruflichenund sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschuldigung.Obwohl man im Allgemeinen sagenkann, dass die Berufung und die besondere Sendungder gläubigen Laien die Umwandlung derverschiedenen weltlichen Bereiche ist, damit allesmenschliche Tun vom Evangelium verwandeltwird, 171 darf sich niemand von der Sorge um dieArmen und um die soziale Gerechtigkeit freigestelltfühlen: »Von allen […] ist die geistlicheBekehrung, die intensive Gottes- und Nächstenliebe,der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden,der evangeliumsgemäße Sinn für die Armen unddie Armut gefordert.« 172 Ich fürchte, dass auchdiese Worte nur Gegenstand von Kommentarenohne praktische Auswirkungen sein werden.Trotzdem vertraue ich auf die Offenheit und diegute Grundeinstellung der Christen, und ich bitteeuch, gemeinschaftlich neue Wege zu suchen,um diesen erneuten Vorschlag anzunehmen.Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte202. Die Notwendigkeit, die strukturellenUrsachen der Armut zu beheben, kann nicht171Vgl. Propositio 45.172Kongregation für die Glaubenslehre, InstruktionLibertatis nuntius (6. August 1984), XI, 18: AAS 76 (1984), 908.182


warten, nicht nur wegen eines pragmatischenErfordernisses, Ergebnisse zu erzielen und dieGesellschaft zu ordnen, sondern um sie voneiner Krankheit zu heilen, die sie anfällig undunwürdig werden lässt und sie nur in neue Krisenführen kann. Die Hilfsprojekte, die einigendringlichen Erfordernissen begegnen, sollten nurals provisorische Maßnahmen angesehen werden.Solange die Probleme der Armen nicht vonder Wurzel her gelöst werden, indem man aufdie absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulationverzichtet und die strukturellenUrsachen der Ungleichverteilung der Einkünftein Angriff nimmt, 173 werden sich die Problemeder Welt nicht lösen und kann letztlich überhauptkein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilungder Einkünfte ist die Wurzel der sozialenÜbel.203. Die Würde jedes Menschen und das Gemeinwohlsind Fragen, die die gesamte Wirtschaftspolitikstrukturieren müssten, dochmanchmal scheinen sie von außen hinzugefügteAnhänge zu sein, um eine politische Rede zu vervollständigen,ohne Perspektiven oder Programmefür eine wirklich ganzheitliche Entwicklung.Wie viele Worte sind diesem System unbequemgeworden! Es ist lästig, wenn man von Ethik173Das schließt ein, »die strukturellen Ursachen derFehlfunktionen der Weltwirtschaft zu beseitigen«: BenediktXVI., Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte DiplomatischeKorps (8. Januar 2007): AAS 99 (2007), 73.183


spricht, es ist lästig, dass man von weltweiter Solidaritätspricht, es ist lästig, wenn man von einerVerteilung der Güter spricht, es ist lästig, wennman davon spricht, die Arbeitsplätze zu verteidigen,es ist lästig, wenn man von der Würde derSchwachen spricht, es ist lästig, wenn man voneinem Gott spricht, der einen Einsatz für dieGerechtigkeit fordert. Andere Male geschiehtes, dass diese Worte Gegenstand einer opportunistischenManipulation werden, die sie entehrt.Die bequeme Gleichgültigkeit gegenüber diesenFragen entleert unser Leben und unsere Wortejeglicher Bedeutung. Die Tätigkeit eines Unternehmersist eine edle Arbeit, vorausgesetzt, dasser sich von einer umfassenderen Bedeutung desLebens hinterfragen lässt; das ermöglicht ihm,mit seinem Bemühen, die Güter dieser Welt zumehren und für alle zugänglicher zu machen,wirklich dem Gemeinwohl zu dienen.204. Wir dürfen nicht mehr auf die blindenKräfte und die unsichtbare Hand des Marktesvertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordertetwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum,auch wenn es dieses voraussetzt; es verlangtEntscheidungen, Programme, Mechanismenund Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtetsind auf eine bessere Verteilung der Einkünfte,auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten undauf eine ganzheitliche Förderung der Armen, diemehr ist als das bloße Sozialhilfesystem. Es liegtmir völlig fern, einen unverantwortlichen Populismusvorzuschlagen, aber die Wirtschaft darf184


nicht mehr auf „Heilmittel“ zurückgreifen, dieein neues Gift sind, wie wenn man sich einbildet,die Ertragsfähigkeit zu steigern, indem man denArbeitsmarkt einschränkt und auf diese Weiseneue Ausgeschlossene schafft.205. Ich bitte Gott, dass die Zahl der Politikerzunimmt, die fähig sind, in einen echten Dialogeinzusteigen, der sich wirksam darauf ausrichtet,die tiefen Wurzeln und nicht den äußerenAnschein der Übel unserer Welt zu heilen! Dieso in Misskredit gebrachte Politik ist eine sehrhohe Berufung, ist eine der wertvollsten Formender Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl anstrebt.174 Wir müssen uns davon überzeugen, dassdie Liebe »das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen– in Freundschaft, Familie und kleinenGruppen – [ist], sondern auch der Makro-Beziehungen– in gesellschaftlichen, wirtschaftlichenund politischen Zusammenhängen«. 175 Ich betezum Herrn, dass er uns mehr Politiker schenke,denen die Gesellschaft, das Volk, das Leben derArmen wirklich am Herzen liegt! Es ist unerlässlich,dass die Regierenden und die Finanzmachtden Blick erheben und ihre Perspektiven erweitern,dass sie dafür sorgen, dass es für alle Bürgereine würdevolle Arbeit sowie Zugang zumBildungs- und zum Gesundheitswesen gibt. Und174Vgl. Commission sociale des Évêques de France,Erklärung Réhbiliter la politique (17. Februar 1999); Pius XI.,Botschaft, 18. Dezember 1927.175Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni2009), 2: AAS 101 (2009), 642.185


warum sollte man sich nicht an Gott wenden, damiter ihre Pläne inspiriert? Ich bin überzeugt,dass sich von einer Öffnung für die Transzendenzher eine neue politische und wirtschaftlicheMentalität bilden könnte, die helfen würde, dieabsolute Dichotomie zwischen Wirtschaft undGemeinwohl zu überwinden.206. Die Wirtschaft müsste, wie das griechischeWort oikonomía – Ökonomie – sagt, die Kunstsein, eine angemessene Verwaltung des gemeinsamenHauses zu erreichen, und dieses Haus istdie ganze Welt. Jede wirtschaftliche Unternehmungvon einer gewissen Tragweite, die in einemTeil des Planeten durchgeführt wird, wirkt sichauf das Ganze aus. Darum kann keine Regierungaußerhalb einer gemeinsamen Verantwortunghandeln. Tatsächlich wird es immer schwieriger,auf lokaler Ebene Lösungen für die enormenglobalen Widersprüche zu finden, weshalb dieörtliche Politik mit zu lösenden Problemen überhäuftwird. Wenn wir wirklich eine gesunde Weltwirtschafterreichen wollen, bedarf es in diesergeschichtlichen Phase einer effizienteren Art derInteraktion, die bei voller Berücksichtigung derSouveränität der Nationen den wirtschaftlichenWohlstand aller und nicht nur einiger Länder sichert.207. Jede beliebige Gemeinschaft in der Kirche,die beansprucht, in ihrer Ruhe zu verharren,ohne sich kreativ darum zu kümmern undwirksam daran mitzuarbeiten, dass die Armen in186


Würde leben können und niemand ausgeschlossenwird, läuft die Gefahr der Auflösung, auchwenn sie über soziale Themen spricht und dieRegierungen kritisiert. Sie wird schließlich leichtin einer mit religiösen Übungen, unfruchtbarenVersammlungen und leeren Reden heuchlerischverborgenen spirituellen Weltlichkeit untergehen.208. Falls jemand sich durch meine Worte beleidigtfühlt, versichere ich ihm, dass ich sie mitLiebe und in bester Absicht sage, weit entferntvon jedem persönlichen Interesse oder einer politischenIdeologie. Mein Wort ist nicht das einesFeindes, noch das eines Gegners. Es geht mireinzig darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen,die Sklaven einer individualistischen, gleichgültigenund egoistischen Mentalität sind, sich vonjenen unwürdigen Fesseln befreien und eine Artzu leben und zu denken erreichen können, diemenschlicher, edler und fruchtbarer ist und ihrerErdenwanderung Würde verleiht.Sich der Schwachen annehmen209. Jesus, der Evangelisierende schlechthinund das Evangelium in Person, identifiziert sichspeziell mit den Geringsten (vgl. Mt 25,40). Daserinnert uns daran, dass wir Christen alle berufensind, uns um die Schwächsten der Erde zukümmern. Doch in dem geltenden „privatrechtlichen“Erfolgsmodell scheint es wenig sinnvoll,zu investieren, damit diejenigen, die auf derStrecke geblieben sind, die Schwachen oder die187


weniger Begabten es im Leben zu etwas bringenkönnen.210. Es ist unerlässlich, neuen Formen vonArmut und Hinfälligkeit – den Obdachlosen,den Drogenabhängigen, den Flüchtlingen, deneingeborenen Bevölkerungen, den immer mehrvereinsamten und verlassenen alten Menschenusw. – unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Wirsind berufen, in ihnen den leidenden Christus zuerkennen und ihm nahe zu sein, auch wenn unsdas augenscheinlich keine greifbaren und unmittelbarenVorteile bringt. Die Migranten stellenfür mich eine besondere Herausforderung dar,weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin,die sich als Mutter aller fühlt. Darum rufe ich dieLänder zu einer großherzigen Öffnung auf, die,anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zubefürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesenzu schaffen. Wie schön sind die Städte, die daskrankhafte Misstrauen überwinden, die anderenmit ihrer Verschiedenheit eingliedern und ausdieser Integration einen Entwicklungsfaktor machen!Wie schön sind die Städte, die auch in ihrerarchitektonischen Planung reich sind an Räumen,die verbinden, in Beziehung setzen und dieAnerkennung des anderen begünstigen!211. Immer hat mich die Situation derer mitSchmerz erfüllt, die Opfer der verschiedenenFormen von Menschenhandel sind. Ich würdemir wünschen, dass man den Ruf Gottes hörte,der uns alle fragt: »Wo ist dein Bruder?« (Gen 4,9).188


Wo ist dein Bruder, der Sklave? Wo ist der, dendu jeden Tag umbringst in der kleinen illegalenFabrik, im Netz der Prostitution, in den Kindern,die du zum Betteln gebrauchst, in dem, der heimlicharbeiten muss, weil er nicht legalisiert ist?Tun wir nicht, als sei alles in Ordnung! Es gibtviele Arten von Mittäterschaft. Die Frage gehtalle an! Dieses mafiöse und perverse Verbrechenhat sich in unseren Städten eingenistet, und dieHände vieler triefen von Blut aufgrund einer bequemen,schweigenden Komplizenschaft.212. Doppelt arm sind die Frauen, die Situationender Ausschließung, der Misshandlung undder Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringereMöglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen. Unddoch finden wir auch unter ihnen fortwährenddie bewundernswertesten Gesten eines täglichenHeroismus im Schutz und in der Fürsorge für dieGebrechlichkeit in ihren Familien.213. Unter diesen Schwachen, deren sich dieKirche mit Vorliebe annehmen will, sind auchdie ungeborenen Kinder. Sie sind die Schutzlosestenund Unschuldigsten von allen, denen manheute die Menschenwürde absprechen will, ummit ihnen machen zu können, was man will, indemman ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungenfördert, die erreichen, dass niemand dasverbieten kann. Um die Verteidigung des Lebensder Ungeborenen, die die Kirche unternimmt,leichthin ins Lächerliche zu ziehen, stellt man ihrePosition häufig als etwas Ideologisches, Rück-189


schrittliches, Konservatives dar. Und doch istdiese Verteidigung des ungeborenen Lebens engmit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtesverbunden. Sie setzt die Überzeugungvoraus, dass ein menschliches Wesen immer etwasHeiliges und Unantastbares ist, in jeder Situationund jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seineDaseinsberechtigung in sich selbst und ist nieein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen.Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleibenkeine festen und dauerhaften Grundlagen für dieVerteidigung der Menschenrechte; diese wärendann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligenMachthaber unterworfen. Dieser Grundallein genügt, um den unantastbaren Wert einesjeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wires aber auch vom Glauben her betrachten, dann»schreit jede Verletzung der Menschenwürde vordem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigungdes Schöpfers des Menschen«. 176214. Gerade weil es eine Frage ist, die mit derinneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wertder menschlichen Person zu tun hat, darf mannicht erwarten, dass die Kirche ihre Position zudieser Frage ändert. Ich möchte diesbezüglichganz ehrlich sein. Dies ist kein Argument, dasmutmaßlichen Reformen oder „Modernisierungen“unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich,176Johannes Paul II., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Christifideles laici (30. Dezember 1988), 37: AAS 81(1989), 461.190


sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indemman ein menschliches Leben vernichtet. Doch estrifft auch zu, dass wir wenig getan haben, umdie Frauen angemessen zu begleiten, die sichin sehr schweren Situationen befinden, wo derSchwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelleLösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders,wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folgeeiner Gewalt oder im Kontext extremer Armutentstanden ist. Wer hätte kein Verständnis fürdiese so schmerzlichen Situationen?215. Es gibt noch andere schwache und schutzloseWesen, die wirtschaftlichen Interessen odereiner wahllosen Ausnutzung auf Gedeih undVerderb ausgeliefert sind. Ich beziehe mich aufdie Gesamtheit der Schöpfung. Wir sind als Menschennicht bloß Nutznießer, sondern Hüter deranderen Geschöpfe. Durch unsere Leiblichkeithat Gott uns so eng mit der Welt, die uns umgibt,verbunden, dass die Desertifikation des Bodensso etwas wie eine Krankheit für jeden Einzelnenist, und wir können das Aussterben einer Art beklagen,als wäre es eine Verstümmelung. Lassenwir nicht zu, dass an unserem Weg Zeichen derZerstörung und des Todes zurückbleiben, dieunserem Leben und dem der kommenden Generationenschaden. 177 In diesem Sinne mache ichmir die schöne und prophetische Klage zu Eigen,die vor einigen Jahren die Bischöfe der Philippi-177Vgl. Propositio 56.191


nen geäußert haben: »Eine unglaubliche Vielfaltvon Insekten lebte im Wald, und sie waren mitjeder Art von eigenen Aufgaben betraut […] DieVögel flogen in der Luft, ihre glänzenden Federnund ihre verschiedenen Gesänge ergänzten dasGrün der Wälder mit Farbe und Melodien […]Gott wollte diese Erde für uns, seine besonderenGeschöpfe, aber nicht, damit wir sie zerstörenund in eine Wüstenlandschaft verwandeln könnten[…] Nach einer einzigen Regennacht schauauf die schokoladen-braunen Flüsse in deinerUmgebung und erinnere dich, dass sie das lebendigeBlut der Erde zum Meer tragen […] Wiekönnen die Fische in Abwasserkanälen wie demPasig und vielen anderen Flüssen schwimmen,die wir verseucht haben? Wer hat die wunderbareMeereswelt in leb- und farblose Unterwasser-Friedhöfe verwandelt?« 178216. Klein aber stark in der Liebe Gottes wieder heilige <strong>Franziskus</strong>, sind wir als Christen alleberufen, uns der Schwäche des Volkes und derWelt, in der wir leben, anzunehmen.III. Das Gemeingut und der soziale Frieden217. Wir haben ausgiebig über die Freude undüber die Liebe gesprochen; das Wort Gottes er-178Catholic Bishops’ Conference of the Philippines,Pastoralbrief What is Happening to our Beuatiful Land? (29. Januar1988).192


wähnt aber ebenso die Frucht des Friedens (vgl.Gal 5, 22).218. Der soziale Frieden kann nicht als Irenismusoder als eine bloße Abwesenheit von Gewaltverstanden werden, die durch die Herrschaft einesTeils der Gesellschaft über die anderen erreichtwird. Auch wäre es ein falscher Friede, wenner als Vorwand diente, um eine Gesellschaftsstrukturzu rechtfertigen, welche die Armen zumSchweigen bringt oder ruhig stellt. Dann könntendie Wohlhabenden ihren Lebensstil seelenruhigweiter führen, während die anderen sichdurchschlagen müssten, so gut wie es eben geht.Die sozialen Forderungen, die mit der Verteilungder Einkommen, der sozialen Einbeziehung derArmen und den Menschenrechten zusammenhängen,dürfen nicht unter dem Vorwand zumSchweigen gebracht werden, einen Konsens aufdem Papier zu haben oder einen oberflächlichenFrieden für eine glückliche Minderheit zu schaffen.Die Würde des Menschen und das Gemeingutgelten mehr als das Wohlbefinden einiger,die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen.Wenn jene Werte bedroht sind, muss eine prophetischeStimme erhoben werden.219. Ebenso besteht der Friede »nicht einfachim Schweigen der Waffen, nicht einfach im immerschwankenden Gleichgewicht der Kräfte. Ermuss Tag für Tag aufgebaut werden mit dem Zieleiner von Gott gewollten Ordnung, die eine vollkommenereGerechtigkeit unter den Menschen193


herbeiführt«. 179 Letztendlich hat ein Friede, dernicht Frucht der Entwicklung der gesamten Gesellschaftist, nur wenig Zukunft. Immer werdenneue Konflikte und verschiedene Formen derGewalt gesät werden.220. In jeder Nation entfalten die Einwohnerdie soziale Komponente ihres Lebens, indem siesich als verantwortliche Bürger im Schoß einesVolkes verhalten und nicht als Masse, die sichvon herrschenden Kräften treiben lässt. Denkenwir daran, dass »die verantwortliche Wahrnehmungder Bürgerpflicht eine Tugend ist und dieTeilnahme am politischen Leben eine moralischeVerpflichtung bedeutet«. 180 Um ein Volk zu werdenbraucht es allerdings etwas mehr. Es ist einfortschreitender Prozess, an dem sich jede neueGeneration beteiligen muss. Es ist eine langsameund anstrengende Aufgabe, die verlangt, dasswir uns integrieren und bereit sind, geradezu eineKultur der Begegnung in einer vielgestaltigenHarmonie zu entfalten lernen.221. Um mit dem Aufbau eines Volkes inFrieden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit fortzuschreiten,gibt es vier Prinzipien, die mit denbipolaren Spannungen zusammenhängen, diein jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit vorkom-179Paul VI., Enzykliky Populorum Progressio (26. März1967), 76: AAS 59 (1967), 294-295.180United States Conference of Catholic Bishops,Pastoralbrief Forming Consciences for Faithful Citizenship (2007), 13.194


men. Diese leiten sich von den Grundpfeilernder kirchlichen Soziallehre (Menschenwürde,Gemeinwohl, Subsidiarität, Solidarität) her, dieals »das erste und grundlegende Bezugssystemfür die Interpretation und Bewertung der gesellschaftlichenEntscheidungen« 181 dienen. Im Lichtdessen möchte ich jetzt diese vier spezifischenPrinzipien vorstellen, welche die Entwicklungdes sozialen Zusammenlebens und den Aufbaueines Volkes leiten, wo die Verschiedenheitensich in einem gemeinsamen Vorhaben harmonisieren.Ich bin davon überzeugt, dass die Anwendungdieser Prinzipien in jeder Nation und aufder ganzen Welt ein echter Weg zum Frieden hinsein kann.Die Zeit ist mehr wert als der Raum222. Es gibt eine bipolare Spannung zwischender Fülle und der Beschränkung. Die Fülle wecktden Willen, sie ganz zu besitzen, während dieBeschränkung uns wie eine vor uns aufgerichteteWand erscheint. Die „Zeit”, im weiteren Sinne,steht in Beziehung zur Fülle, und zwar als Ausdruckfür den Horizont, der sich vor uns auftut.Zugleich ist der aktuelle Augenblick ein Ausdruckfür die Beschränkung, die man in einembegrenzten Raum lebt. Die Bürger leben in derSpannung zwischen dem Auf und Ab des Augenblicksund dem Licht der Zeit, dem größeren181Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,Kompendium der Soziallehre der Kirche, 161.195


Horizont, der Utopie, die uns für die Zukunftöffnet, die uns als letzter Grund an sich zieht.Daraus ergibt sich ein erstes Prinzip, um beimAufbau eines Volkes voranzuschreiten: Die Zeitist mehr wert als der Raum.223. Dieses Prinzip erlaubt uns, langfristig zuarbeiten, ohne davon besessen zu sein, sofortigeErgebnisse zu erzielen. Es hilft uns, schwierigeund widrige Situationen mit Geduld zu ertragenoder Änderungen bei unseren Vorhaben hinzunehmen,die uns die Dynamik der Wirklichkeitauferlegt. Es lädt uns ein, die Spannung zwischenFülle und Beschränkung anzunehmen, indem wirder Zeit die Priorität einräumen. Eine der Sünden,die wir gelegentlich in der sozialpolitischenTätigkeit beobachten, besteht darin, dem Raumgegenüber der Zeit und den Abläufen Vorrangzu geben. Dem Raum Vorrang geben bedeutetsich vormachen, alles in der Gegenwart gelöstzu haben und alle Räume der Macht und derSelbstbestätigung in Besitz nehmen zu wollen.Damit werden die Prozesse eingefroren. Manbeansprucht, sie aufzuhalten. Der Zeit Vorrangzu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozessein Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen. DieZeit bestimmt die Räume, macht sie hell und verwandeltsie in Glieder einer sich stetig ausdehnendenKette, ohne Rückschritt. Es geht darum,Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamikin der Gesellschaft erzeugen und Menschen sowieGruppen einbeziehen, welche diese vorantreiben,auf dass sie bei wichtigen historischen196


Ereignissen Frucht bringt. Dies geschehe ohneÄngstlichkeit, sondern mit klaren Überzeugungenund mit Entschlossenheit.224. Bisweilen frage ich mich, wer diese sind,die sich in der heutigen Welt wirklich dafür einsetzen,Prozesse in Gang zu bringen, die ein Volkaufbauen; nicht, um unmittelbare Ergebnisse zuerhalten, die einen leichten politischen Ertragschnell und kurzlebig erbringen, aber nicht diemenschliche Fülle aufbauen. Die Geschichtewird die letzteren vielleicht nach jenem Kriteriumbeurteilen, das Romano Guardini dargelegthat: »Der Maßstab, an welchem eine Zeit alleingerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wieweit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit,die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet undzu echter Sinngebung gelangt«. 182225. Dieses Kriterium lässt sich auch gut aufdie Evangelisierung anwenden, die uns dazuaufruft, den größeren Horizont im Auge zu behaltenund die geeigneten Prozesse mit langemAtem anzugehen. Der Herr selbst hat in seinemLeben auf dieser Erde seine Jünger oft daraufaufmerksam gemacht, dass es Ereignisse gebenwerde, die sie noch nicht verstehen könnten, dasssie aber auf den Heiligen Geist warten sollten(vgl. Joh 16, 12-13). Das Gleichnis vom Unkrautim Weizen (vgl. Mt 13, 24-30) veranschaulichteinen wichtigen Aspekt der Evangelisierung. Es182Das Ende der Neuzeit, Würzburg 9 1965, S. 30-31.197


zeigt uns, wie der Feind den Raum des Gottesreichesbesetzen kann und Schaden mit dem Unkrautanrichtet. Er wird aber durch die Güte desWeizens besiegt, was mit der Zeit offenbar wird.Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt226. Der Konflikt darf nicht ignoriert oderbeschönigt werden. Man muss sich ihm stellen.Aber wenn wir uns in ihn verstricken, verlierenwir die Perspektive, unsere Horizonte werdenkleiner, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt.Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte verharren,verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheitder Wirklichkeit.227. Wenn ein Konflikt entsteht, schauen einigenur zu und gehen ihre Wege, als ob nichts passiertwäre. Andere gehen in einer Weise daraufein, dass sie zu seinen Gefangenen werden, ihrenHorizont einbüßen und auf die Institutionenihre eigene Konfusion und Unzufriedenheit projezieren.Damit wird die Einheit unmöglich. Esgibt jedoch eine dritte Möglichkeit, und dies istder beste Weg, dem Konflikt zu begegnen. Es istdie Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zulösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuenProzesses zu machen. »Selig, die Frieden stiften«(Mt 5, 9).228. Auf diese Weise wird es möglich sein,dass sich aus dem Streit eine Gemeinschaft entwickelt.Das kann aber nur durch die großen Per-198


sönlichkeiten geschehen, die sich aufschwingen,über die Ebene des Konflikts hinauszugehen undden anderen in seiner tiefgründigsten Würde zusehen. Dazu ist es notwendig, sich auf ein Prinzipzu berufen, das zum Aufbau einer sozialenFreundschaft unabdingbar ist, und dieses lautet:Die Einheit steht über dem Konflikt. Die Solidarität,verstanden in ihrem tiefsten und am meistenherausfordernden Sinn, wird zu einer Weise,Geschichte in einem lebendigen Umfeld zuschreiben, wo die Konflikte, die Spannungen unddie Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheitführen können, die neues Leben hervorbringt.Es geht nicht darum, für einen Synkretismus einzutreten,und auch nicht darum, den einen imanderen zu absorbieren, sondern es geht um eineLösung auf einer höheren Ebene, welche diewertvollen innewohnenden Möglichkeiten unddie Polaritäten im Streit beibehält.229. Dieses Kriterium aus dem Evangelium erinnertuns daran, dass Jesus alles in sich vereinthat, Himmel und Erde, Gott und Mensch, Zeitund Ewigkeit, Fleisch und Geist, Person undGesellschaft. Das Merkmal dieser Einheit undVersöhnung aller Dinge in ihm ist der Friede.Christus »ist unser Friede« (Eph 2,14). Die Botschaftdes Evangeliums beginnt immer mit demFriedensgruß, und der Friede krönt und festigtin jedem Augenblick die Beziehungen zwischenden Jüngern. Der Friede ist möglich, weil derHerr die Welt und ihre beständige Konfliktgeladenheitüberwunden hat. Der Herr ist es ja, »der199


Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut«(Kol 1,20). Wenn wir uns diese biblischen Texteaber genau anschauen, werden wir eines feststellenmüssen: Der erste Bereich, wo wir aufgerufenwerden, diese Befriedung in der Verschiedenheitzu vollziehen, ist unsere eigene Innerlichkeit, unsereigenes Leben, das immer von einer dialektischenZersplitterung bedroht ist. 183 Mit Herzen,die in tausend Stücke zerbrochen sind, wird esschwer sein, einen authentischen sozialen Friedenaufzubauen.230. Die Botschaft des Friedens ist nicht die einesausgehandelten Friedens, sondern erwächstaus der Überzeugung, dass die Einheit, die vomHeiligen Geist kommt, alle Unterschiede inEinklang bringen kann. Sie überwindet jedenKonflikt in einer neuen und verheißungsvollenSynthese. Die Verschiedenheit ist schön, wennsie es annimmt, beständig in einen Prozess derVersöhnung einzutreten, und sogar eine Art Kulturvertragzu schließen, der zu einer »versöhntenVerschiedenheit« führt, wie es die Bischöfedes Kongo formuliert haben: »Die Vielfalt derEthnien ist unser Reichtum [...] Nur in Einheit,durch die Umkehr der Herzen und durch dieVersöhnung, können wir dazu beitragen, dassunser Land weiterkommt«. 184183Vgl. I. Quiles, S.I., Filosofía de la educación personalista,Buenos Aires, 1981, 46-53.184Comité permanent de la Conférence EpiscopaleNationale du Congo, Message sur la situation sécuritaire dans lepays (5. Dezember 2012), 11.200


Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee231. Es gibt auch eine bipolare Spannung zwischender Idee und der Wirklichkeit. Die Wirklichkeitist etwas, das einfach existiert, die Ideewird erarbeitet. Zwischen den beiden muss einständiger Dialog hergestellt und so vermiedenwerden, dass die Idee sich schließlich von derWirklichkeit löst. Es ist gefährlich, im Reich alleindes Wortes, des Bildes, des Sophismus zu leben.Daraus folgt, dass ein drittes Prinzip postuliertwerden muss: Die Wirklichkeit steht über derIdee. Das schließt ein, verschiedene Formen derVerschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden:die engelhaften Purismen, die Totalitarismen desRelativen, die in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen,die mehr formalen als realen Projekte,die geschichtswidrigen Fundamentalismen,die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismenohne Weisheit.232. Die Idee – die begriffliche Ausarbeitung– dient dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, zu verstehenund zu lenken. Die von der Wirklichkeitlosgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen undNominalismen hervor, die höchstens klassifizierenoder definieren, aber kein persönliches Engagementhervorrufen. Was ein solches Engagementauslöst, ist die durch die Argumentationerhellte Wirklichkeit. Man muss vom formalenNominalismus zur harmonischen Objektivitätübergehen. Andernfalls wird die Wahrheit manipuliert,so wie man die Körperpflege durch Kos-201


metik ersetzt. 185 Es gibt Politiker – und auch religiöseFührungskräfte –, die sich fragen, warumdas Volk sie nicht versteht und ihnen nicht folgt,wenn doch ihre Vorschläge so logisch und klarsind. Wahrscheinlich ist das so, weil sie sich imReich der reinen Ideen aufhalten und die Politikoder den Glauben auf die Rhetorik beschränkthaben. Andere haben die Einfachheit vergessenund von außen eine Rationalität importiert, dieden Leuten fremd ist.233. Die Wirklichkeit steht über der Idee. DiesesKriterium ist verbunden mit der Inkarnationdes Wortes und seiner Umsetzung in die Praxis:»Daran erkennt ihr den Geist Gottes: JederGeist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleischgekommen, ist aus Gott« (1 Joh 4,2). Das Kriteriumder Wirklichkeit – eines Wortes, das bereitsFleisch angenommen hat und stets versucht, sichzu „inkarnieren“ – ist wesentlich für die Evangelisierung.Es bringt uns einerseits dazu, die Geschichteder Kirche als Heilsgeschichte zur Geltungzu bringen, unserer Heiligen zu gedenken,die das Evangelium im Leben unserer Völkerinkulturiert haben, die reiche zweitausendjährigeTradition der Kirche aufzunehmen, ohne uns anzumaßen,eine von diesem Schatz getrennte Lehrezu entwickeln, als wollten wir das Evangeliumerfinden. Andererseits drängt uns dieses Kriterium,das Wort in die Tat umzusetzen, Werke der185Vgl. Platon, Gorgias, 465.202


Gerechtigkeit und Liebe zu vollbringen, in denendieses Wort fruchtbar ist. Das Wort nicht in diePraxis umzusetzen, es nicht in die Wirklichkeitzu führen bedeutet, auf Sand zu bauen, in derreinen Idee verhaftet zu bleiben und in Formenvon Innerlichkeitskult und Gnostizismus zu verfallen,die keine Frucht bringen und die Dynamikdes Wortes zur Sterilität verurteilen.Das Ganze ist dem Teil übergeordnet234. Auch zwischen der Globalisierung undder Lokalisierung entsteht eine Spannung. Manmuss auf die globale Dimension achten, um nichtin die alltägliche Kleinlichkeit zu fallen. Zugleichist es nicht angebracht, das, was ortsgebunden istund uns mit beiden Beinen auf dem Boden derRealität bleiben lässt, aus dem Auge zu verlieren.Wenn die Pole miteinander vereint sind, verhindernsie, in eines der beiden Extreme zu fallen:das eine, dass die Bürger in einem abstrakten undglobalisierenden Universalismus leben, als angepasstePassagiere im letzten Waggon, die mitoffenem Mund und programmiertem Applausdas Feuerwerk der Welt bewundern, das anderengehört; das andere, dass sie ein folkloristischesMuseum ortsbezogener Eremiten werden, diedazu verurteilt sind, immer dieselben Dinge zuwiederholen, unfähig, sich von dem, was andersist, hinterfragen zu lassen und die Schönheit zubewundern, die Gott außerhalb ihrer Grenzenverbreitet.203


235. Das Ganze ist mehr als der Teil, und es istauch mehr als ihre einfache Summe. Man darfsich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, diebegrenzte Sondersituationen betreffen, sondernmuss immer den Blick ausweiten, um ein größeresGut zu erkennen, das uns allen Nutzenbringt. Das darf allerdings nicht den Charaktereiner Flucht oder einer Entwurzelung haben. Esist notwendig, die Wurzeln in den fruchtbarenBoden zu senken und in die Geschichte des eigenenOrtes, die ein Geschenk Gottes ist. Manarbeitet im Kleinen, mit dem, was in der Näheist, jedoch mit einer weiteren Perspektive. Ebensogeschieht es mit einem Menschen, der seinepersönliche Eigenheit bewahrt und seine Identitätnicht verbirgt, wenn er sich von Herzen ineine Gemeinschaft einfügt: Er gibt sich nicht auf,sondern empfängt immer neue Anregungen fürseine eigene Entwicklung. Es ist weder die globaleSphäre, die vernichtet, noch die isolierte Besonderheit,die unfruchtbar macht.236. Das Modell ist nicht die Kugel, die denTeilen nicht übergeordnet ist, wo jeder Punktgleich weit vom Zentrum entfernt ist und es keineUnterschiede zwischen dem einen und demanderen Punkt gibt. Das Modell ist das Polyeder,welches das Zusammentreffen aller Teile wiedergibt,die in ihm ihre Eigenart bewahren. Sowohldas pastorale als auch das politische Handelnsucht in diesem Polyeder das Beste jedes Einzelnenzu sammeln. Dort sind die Armen mit ihrerKultur, ihren Plänen und ihren eigenen Möglich-204


keiten eingegliedert. Sogar die Menschen, die wegenihrer Fehler kritisiert werden können, habenetwas beizutragen, das nicht verloren gehen darf.Es ist der Zusammenschluss der Völker, die inder Weltordnung ihre Besonderheit bewahren; esist die Gesamtheit der Menschen in einer Gesellschaft,die ein Gemeinwohl sucht, das wirklichalle einschließt.237. Uns Christen sagt dieses Prinzip auch etwasüber das Ganze oder die Vollständigkeit desEvangeliums, das die Kirche uns übermittelt unddas zu predigen sie uns sendet. Sein vollkommenerReichtum schließt alle ein: Akademiker undArbeiter, Unternehmer und Künstler, alle. Die„Volksmystik“ nimmt auf ihre Weise das ganzeEvangelium auf und lässt es Gestalt annehmen,indem sie ihm in Formen des Gebetes, der Brüderlichkeit,der Gerechtigkeit, des Kampfes unddes Festes Ausdruck verleiht. Die Frohe Botschaftist die Freude eines Vaters, der nicht will,dass auch nur einer seiner Kleinen verloren geht.So bricht die Freude im Guten Hirten auf, derdem verlorenen Schaf begegnet und es in denSchafstall zurückbringt. Das Evangelium ist einSauerteig, der die gesamte Masse fermentiert,und eine Stadt, die hoch auf dem Berg erstrahltund allen Völkern Licht bringt. Das Evangeliumbesitzt ein ihm innewohnendes Kriterium derVollständigkeit: Es hört nicht auf, Frohe Botschaftzu sein, solange es nicht allen verkündetist, solange es nicht alle Dimensionen des Menschenbefruchtet und heilt und solange es nicht205


alle Menschen beim Mahl des Gottesreiches vereint.Das Ganze ist dem Teil übergeordnet.IV. Der soziale Dialogals Beitrag zum Frieden238. Die Evangelisierung schließt auch einenWeg des Dialogs ein. Für die Kirche gibt es indieser Zeit besonders drei Bereiche des Dialogs,in denen sie präsent sein muss, um einen Dienstzugunsten der vollkommenen Entwicklung desMenschen zu leisten und das Gemeinwohl zu verfolgen:im Dialog mit den Staaten, im Dialog mitder Gesellschaft – der den Dialog mit den Kulturenund den Wissenschaften einschließt – undim Dialog mit anderen Glaubenden, die nicht zurkatholischen Kirche gehören. In allen diesen Fällen»spricht die Kirche von dem Licht her, das ihrder Glaube schenkt«, 186 bringt ihre Erfahrung auszwei Jahrtausenden ein und bewahrt immer dasLeben und Leiden der Menschen im Gedächtnis.Das geht über den menschlichen Verstandhinaus, hat aber auch eine Bedeutung, die jenebereichern kann, die nicht glauben, und die dieVernunft einlädt, ihre Perspektiven zu erweitern.239. Die Kirche verkündet »das Evangeliumvom Frieden« (Eph 6,15) und ist für die Zusammenarbeitmit allen nationalen und internationalenAutoritäten offen, um für dieses so große186Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (21.Dezember 2012): AAS 105 (2013), 51.206


universale Gut Sorge zu tragen. Mit der VerkündigungJesu Christi, der der Friede selbst ist (vgl.Eph 2,14), spornt die neue Evangelisierung jedenGetauften an, ein Werkzeug der Befriedung undein glaubwürdiges Zeugnis eines versöhnten Lebenszu sein. 187 Es ist Zeit, in Erfahrung zu bringen,wie man in einer Kultur, die den Dialog alsForm der Begegnung bevorzugt, die Suche nachEinvernehmen und Übereinkünften planen kann,ohne sie jedoch von der Sorge um eine gerechteGesellschaft zu trennen, die erinnerungsfähig istund niemanden ausschließt. Der hauptsächlicheUrheber und der historische Träger dieses Prozessessind die Menschen und ihre Kultur, nichteine Klasse, eine Fraktion, eine Gruppe, eine Elite.Wir brauchen keinen Plan einiger weniger füreinige wenige, oder einer erleuchteten bzw. stellvertretendenMinderheit, die sich ein Kollektivempfindenaneignet. Es geht um ein Abkommenfür das Zusammenleben, um eine gesellschaftlicheund kulturelle Übereinkunft.240. Dem Staat obliegt die Pflege und die Förderungdes Gemeinwohls der Gesellschaft. 188Auf der Grundlage der Prinzipien der Subsidiaritätund der Solidarität sowie mit einem beachtlichenEngagement im politischen Dialog und inder Konsensbildung spielt er eine fundamentale187Vgl. Propositio 14.188Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, 1910. PäpstlicherRat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehreder Kirche, 168.207


und nicht übertragbare Rolle in der Verfolgungder ganzheitlichen Entwicklung aller. Diese Rolleerfordert unter den aktuellen Gegebenheiteneine tiefe soziale Demut.241. Im Dialog mit dem Staat und der Gesellschaftverfügt die Kirche nicht über Lösungenfür alle Detailfragen. Dennoch begleitet sie gemeinsammit den verschiedenen gesellschaftlichenKräften die Vorschläge, die der Würde derPerson und dem Gemeinwohl am besten entsprechenkönnen. Dabei weist sie stets mit allerKlarheit auf die Grundwerte des menschlichenLebens hin, um Überzeugungen zu vermitteln,die dann in politisches Handeln umgesetzt werdenkönnen.Der Dialog zwischen Glaube, Vernunft und den Wissenschaften242. Auch der Dialog zwischen Wissenschaftund Glaube ist Teil des evangelisierenden Handelns,das den Frieden fördert. 189 Der Szientismusund der Positivismus weigern sich, »nebenden Erkenntnisformen der positiven Wissenschaftenandere Weisen der Erkenntnis als gültigzuzulassen«. 190 Die Kirche schlägt einen anderenWeg vor, der eine Synthese verlangt zwischeneinem verantwortlichen Gebrauch der besonde-189Vgl. Propositio 54.190Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14.September 1998), 88: AAS 91 (1999), 74.208


en Methoden der empirischen Wissenschaftenund den anderen Lehren wie der Philosophie,der Theologie und dem Glauben selbst, der denMenschen bis zum Mysterium erhebt, das dieNatur und die menschliche Intelligenz übersteigt.Der Glaube hat keine Angst vor der Vernunft;im Gegenteil, er sucht sie und vertraut ihr, denn»das Licht der Vernunft und das des Glaubenskommen beide von Gott« 191 und können dahereinander nicht widersprechen. Die Evangelisierungachtet auf die wissenschaftlichen Fortschritte,um sie mit dem Licht des Glaubens unddes Naturrechts zu erleuchten, damit sie immerdie Zentralität und den höchsten Wert des Menschenin allen Phasen seines Lebens respektieren.Die gesamte Gesellschaft kann bereichert werdendank diesem Dialog, der dem Denken neueHorizonte öffnet und die Möglichkeiten der Vernunfterweitert. Auch das ist ein Weg der Harmonieund der Befriedung.243. Die Kirche verlangt nicht, den bewundernswertenFortschritt der Wissenschaften anzuhalten.Im Gegenteil, sie freut sich und findetsogar Gefallen daran, da sie die enorme Leistungsfähigkeiterkennt, die Gott dem menschlichenGeist verliehen hat. Wenn die Wissenschaftenin akademischer Ernsthaftigkeit im Bereich191Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, VII; vgl.Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998),43: AAS 91 (1999), 39.209


ihres spezifischen Gegenstands verbleiben undso im Zuge ihres Fortschritts eine bestimmteSchlussfolgerung deutlich machen, die von derVernunft nicht verneint werden kann, widersprichtder Glaube diesem Ergebnis nicht. DieGlaubenden können ebenso wenig beanspruchen,dass eine ihnen angenehme wissenschaftlicheMeinung, die nicht einmal ausreichend bewiesenist, das Gewicht eines Glaubensdogmasgewinnt. Bei manchen Gelegenheiten gehenaber einige Wissenschaftler über den formalenGegenstand ihrer Disziplin hinaus und übernehmensich mit Behauptungen oder Schlussfolgerungen,die den eigentlich wissenschaftlichenBereich überschreiten. In einem solchen Fall istes nicht die Vernunft, die da vorgeschlagen wird,sondern eine bestimmte Ideologie, die einemechten, friedlichen und fruchtbaren Dialog denWeg versperrt.Der ökumenische Dialog244. Das ökumenische Engagement entsprichtdem Gebet Jesu, des Herrn, der darum bittet, dass»Alle eins sein« sollen (Joh 17,21). Die Glaubwürdigkeitder christlichen Verkündigung wäre sehrviel größer, wenn die Christen ihre Spaltungenüberwinden würden und die Kirche erreichenkönnte, »dass sie die ihr eigene Fülle der Katholizitätin jenen Söhnen wirksam werden lässt, dieihr zwar durch die Taufe zugehören, aber von210


ihrer völligen Gemeinschaft getrennt sind«. 192Wir müssen uns immer daran erinnern, dass wirPilger sind und dass wir gemeinsam pilgern. Dafürsoll man das Herz ohne Ängstlichkeit demWeggefährten anvertrauen, ohne Misstrauen,und vor allem auf das schauen, was wir suchen:den Frieden im Angesicht des einen Gottes. Sichdem anderen anvertrauen ist etwas „Selbstgemachtes“.Der Friede ist selbstgemacht. Jesus hatuns gesagt: »Selig, die Frieden herstellen« (vgl. Mt5,9). In diesem Einsatz erfüllt sich auch unter unsdie alte Weissagung: »Dann schmieden sie Pflugscharenaus ihren Schwertern« (Jes 2,4).245. In diesem Licht ist die Ökumene ein Beitragzur Einheit der Menschheitsfamilie. DieAnwesenheit Seiner Heiligkeit Bartholomäus I.,des Patriarchen von Konstantinopel, und SeinerGnaden Rowan Douglas Williams, des Erzbischofsvon Canterbury in der Synode 193 warein echtes Geschenk Gottes und ein wertvolleschristliches Zeugnis.246. Angesichts der Gewichtigkeit, die das Negativ-Zeugnisder Spaltung unter den Christenbesonders in Asien und Afrika hat, wird die Suchenach Wegen zur Einheit dringend. Die Missionarein jenen Kontinenten sprechen immerwieder von den Kritiken, Klagen und dem Spott,192Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatisredintegratio über den Ökumenismus, 4.193Vgl. Propositio 52.211


der ihnen aufgrund des Skandals der Spaltungenunter den Christen begegnet. Wenn wir uns aufdie Überzeugungen konzentrieren, die uns verbinden,und uns an das Prinzip der Hierarchieder Wahrheiten erinnern, werden wir rasch aufgemeinsame Formen der Verkündigung, desDienstes und des Zeugnisses zugehen können.Die riesige Menge derer, die die VerkündigungJesu Christi nicht angenommen haben, kann unsnicht gleichgültig lassen. Daher ist der Einsatzfür eine Einheit, die die Annahme Jesu Christierleichtert, nicht länger bloße Diplomatie odereine erzwungene Pflichterfüllung und verwandeltsich in einen unumgänglichen Weg der Evangelisierung.Die Zeichen der Spaltung unter Christenin Ländern, die bereits von der Gewalt zerrissensind, fügen weiteren Konfliktstoff von Seiten dererhinzu, die ein aktives Ferment des Friedenssein müssten. So zahlreich und so kostbar sinddie Dinge, die uns verbinden! Und wenn wirwirklich an das freie und großherzige Handelndes Geistes glauben, wie viele Dinge können wirvoneinander lernen! Es handelt sich nicht nurdarum, Informationen über die anderen zu erhalten,um sie besser kennen zu lernen, sonderndarum, das, was der Geist bei ihnen gesät hat,als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für unsbestimmt ist. Um nur ein Beispiel zu geben: ImDialog mit den orthodoxen Brüdern haben wirKatholiken die Möglichkeit, etwas mehr über dieBedeutung der bischöflichen Kollegialität undüber ihre Erfahrung der Synodalität zu lernen.212


Durch einen Austausch der Gaben kann derGeist uns immer mehr zur Wahrheit und zumGuten führen.Die Beziehungen zum Judentum247. Ein ganz besonderer Blick ist auf das jüdischeVolk gerichtet, dessen Bund mit Gott niemalsaufgehoben wurde, denn »unwiderruflichsind Gnade und Berufung, die Gott gewährt«(Röm 11,29). Die Kirche, die mit dem Judentumeinen wichtigen Teil der Heiligen Schrift gemeinsamhat, betrachtet das Volk des Bundes und seinenGlauben als eine heilige Wurzel der eigenenchristlichen Identität (vgl. Röm 11,16-18). AlsChristen können wir das Judentum nicht als einefremde Religion ansehen, noch rechnen wir dieJuden zu denen, die berufen sind, sich von denGötzen abzuwenden und sich zum wahren Gottzu bekehren (vgl. 1 Thess 1,9). Wir glauben gemeinsammit ihnen an den einen Gott, der in derGeschichte handelt, und nehmen mit ihnen dasgemeinsame offenbarte Wort an.248. Der Dialog und die Freundschaft mit denKindern Israels gehören zum Leben der JüngerJesu. Die Zuneigung, die sich entwickelt hat, lässtuns die schrecklichen Verfolgungen, denen dieJuden ausgesetzt waren und sind, aufrichtig undbitter bedauern, besonders, wenn Christen darinverwickelt waren und sind.213


249. Gott wirkt weiterhin im Volk des AltenBundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen,der aus der Begegnung mit dem göttlichenWort entspringt. Darum ist es auch für die Kircheeine Bereicherung, wenn sie die Werte desJudentums aufnimmt. Obwohl einige christlicheÜberzeugungen für das Judentum unannehmbarsind und die Kirche nicht darauf verzichtenkann, Jesus als den Herrn und Messias zu verkünden,besteht eine reiche Komplementarität,die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bibelgemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zuhelfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zuergründen sowie viele ethische Überzeugungenund die gemeinsame Sorge um die Gerechtigkeitund die Entwicklung der Völker miteinander zuteilen.Der interreligiöse Dialog250. Eine Haltung der Offenheit in der Wahrheitund in der Liebe muss den interreligiösenDialog mit den Angehörigen der nicht christlichenReligionen kennzeichnen, trotz der verschiedenenHindernisse und Schwierigkeiten,besonders der Fundamentalismen auf beidenSeiten. Dieser interreligiöse Dialog ist eine notwendigeBedingung für den Frieden in der Weltund darum eine Pflicht für die Christen wie auchfür die anderen Religionsgemeinschaften. DieserDialog ist zuallererst ein Dialog des Lebens bzw.bedeutet einfach, wie es die Bischöfe Indiens214


vorschlagen, »ihnen gegenüber offen zu sein unddabei ihre Freuden und Leiden zu teilen«. 194 Solernen wir auch, die anderen in ihrem Anderssein,Andersdenken und in ihrer anderen Art,sich auszudrücken, anzunehmen. Von hier auskönnen wir gemeinsam die Verpflichtung übernehmen,der Gerechtigkeit und dem Frieden zudienen, was zu einem grundlegenden Maßstabeines jeden Austauschs werden muss. Ein Dialog,in dem es um den sozialen Frieden und dieGerechtigkeit geht, wird über das bloß Pragmatischehinaus von sich aus zu einem ethischenEinsatz, der neue soziale Bedingungen schafft.Das Mühen um ein bestimmtes Thema kann zueinem Prozess werden, in dem durch das Hörenauf den anderen beide Seiten Reinigung und Bereicherungempfangen. Daher kann dieses Mühenauch die Liebe zur Wahrheit bedeuten.251. Bei diesem Dialog, der stets freundlichund herzlich ist, darf niemals die wesentlicheBindung zwischen Dialog und Verkündigungvernachlässigt werden, die die Kirche dazu bringt,die Beziehungen zu den Nicht-Christen aufrechtzu erhalten und zu intensivieren. 195 Ein versöhnlicherSynkretismus wäre im Grunde ein Totalitarismusderer, die sich anmaßen, Versöhnung zubringen, indem sie von den Werten absehen, die194Catholic Bishops’ Conference of India, Abschlusserklärungder XXX. Generalversammlung: The Church’s Role fora Better India (8. März 2012), 8.9.195Vgl. Propositio 53.215


sie übersteigen und deren Eigentümer sie nichtsind. Die wahre Offenheit schließt ein, mit einerklaren und frohen Identität in den eigenen tiefstenÜberzeugungen fest zu stehen, aber »offen[zu] sein, um die des anderen zu verstehen«, »imWissen darum, dass der Dialog jeden bereichernkann«. 196 Eine diplomatische Offenheit, die zuallem Ja sagt, um Probleme zu vermeiden, nütztuns nicht, da dies eine Art und Weise wäre, denanderen zu täuschen und ihm das Gut vorzuenthalten,das man als Gabe empfangen hat, um esgroßzügig zu teilen. Die Evangelisierung und derinterreligiöse Dialog sind weit davon entfernt,einander entgegengesetzt zu sein, vielmehr unterstützenund nähren sie einander. 197252. In dieser Zeit gewinnt die Beziehung zuden Angehörigen des Islam große Bedeutung,die heute in vielen Ländern christlicher Traditionbesonders gegenwärtig sind und dort ihren Kultfrei ausüben und in die Gesellschaft integriertleben können. Nie darf vergessen werden, dasssie »sich zum Glauben Abrahams bekennen undmit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen,der die Menschen am Jüngsten Tag richtenwird«. 198 Die heiligen Schriften des Islam bewah-196Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Missio (7.Dezember 1990), 56: AAS 83 (1991), 304.197Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (21.Dezember 2012): AAS 105 (2013), 51; Zweites VatikanischesKonzil, Dekret Ad gentes über die Missionstätigkeit der Kirche,9; Katechismus der Katholischen Kirche, 856.198Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumengentium über die Kirche, 16.216


en Teile der christlichen Lehre; Jesus Christusund Maria sind Gegenstand tiefer Verehrung, undes ist bewundernswert zu sehen, wie junge undalte Menschen, Frauen und Männer des Islamsfähig sind, täglich dem Gebet Zeit zu widmenund an ihren religiösen Riten treu teilzunehmen.Zugleich sind viele von ihnen tief davon überzeugt,dass das eigene Leben in seiner Gesamtheitvon Gott kommt und für Gott ist. Ebensosehen sie die Notwendigkeit, ihm mit ethischemEinsatz und mit Barmherzigkeit gegenüber denÄrmsten zu antworten.253. Um den Dialog mit dem Islam zu führen,ist eine entsprechende Bildung der Gesprächspartnerunerlässlich, nicht nur damit sie fest undfroh in ihrer eigenen Identität verwurzelt sind,sondern auch um fähig zu sein, die Werte deranderen anzuerkennen, die Sorgen zu verstehen,die ihren Forderungen zugrunde liegen, unddie gemeinsamen Überzeugungen ans Licht zubringen. Wir Christen müssten die islamischenEinwanderer, die in unsere Länder kommen, mitZuneigung und Achtung aufnehmen, so wie wirhoffen und bitten, in den Ländern islamischerTradition aufgenommen und geachtet zu werden.Bitte! Ich ersuche diese Länder demütig darum, inAnbetracht der Freiheit, welche die Angehörigendes Islam in den westlichen Ländern genießen,den Christen Freiheit zu gewährleisten, damitsie ihren Gottesdienst feiern und ihren Glaubenleben können. Angesichts der Zwischenfälle einesgewalttätigen Fundamentalismus muss die217


Zuneigung zu den authentischen Anhängern desIslam uns dazu führen, gehässige Verallgemeinerungenzu vermeiden, denn der wahre Islam undeine angemessene Interpretation des Korans stehenjeder Gewalt entgegen.254. Die Nichtchristen können, dank der ungeschuldetengöttlichen Initiative und wenn sietreu zu ihrem Gewissen stehen, »durch GottesGnade gerechtfertigt« 199 und auf diese Weise »mitdem österlichen Geheimnis Christi verbundenwerden«. 200 Aber aufgrund der sakramentalenDimension der heiligmachenden Gnade neigt dasgöttliche Handeln in ihnen dazu, Zeichen, Ritenund sakrale Ausdrucksformen hervorzurufen,die ihrerseits andere in eine gemeinschaftlicheErfahrung eines Weges zu Gott einbeziehen. 201Sie haben nicht die Bedeutung und die Wirksamkeitder von Christus eingesetzten Sakramente,können aber Kanäle sein, die der Geist selberschafft, um die Nichtchristen vom atheistischenImmanentismus oder von rein individuellen religiösenErfahrungen zu befreien. Derselbe Geisterweckt überall Formen praktischer Weisheit, diehelfen, die Unbilden des Lebens zu ertragen undfriedvoller und harmonischer zu leben. Auch wirChristen können aus diesem durch die Jahrhundertehindurch gefestigten Reichtum Nutzen zie-199Internationale Theologenkommission, Das Christentumund die Religionen (1996), 72: Ench. Vat. 15, Nr. 1061.200Ebd.201Vgl. ebd., 81-87: Ench. Vat. 15, Nr. 1070-1076.218


hen, der uns hilfreich sein kann, unsere besonderenÜberzeugungen besser zu leben.Der soziale Dialog in einem Kontext religiöser Freiheit255. Die Synodenväter haben an die Bedeutungder Achtung der Religionsfreiheit erinnert, dieals ein fundamentales Menschenrecht betrachtetwird. 202 »Sie schließt die Freiheit ein, die Religionzu wählen, die man für die wahre hält, und deneigenen Glauben öffentlich zu bekunden.« 203 Eingesunder Pluralismus, der die anderen und dieWerte als solche wirklich respektiert, beinhaltetkeine Privatisierung der Religionen mit der Zumutung,sie zum Schweigen zu bringen und aufdie Verborgenheit des Gewissens jedes Einzelnenzu beschränken oder sie ins Randdasein desgeschlossenen, eingefriedeten Raums der Kirchen,Synagogen oder Moscheen zu verbannen.Das wäre dann letztlich eine neue Form von Diskriminierungund Autoritarismus. Der Respekt,der den Minderheiten von Agnostikern oderNichtglaubenden gebührt, darf nicht auf einewillkürliche Weise durchgesetzt werden, die dieÜberzeugungen der gläubigen Mehrheiten zumSchweigen bringt oder die Reichtümer der religiösenTraditionen unbeachtet lässt. Das würde202Vgl. Propositio 16.203Benedikt XVI., Nachsynodales <strong>Apostolisches</strong><strong>Schreiben</strong> Ecclesia in Medio Oriente (14. September 2012), 26:AAS 104 (2012), 762.219


auf lange Sicht mehr den Groll schüren als dieToleranz und den Frieden fördern.256. Wenn man sich nach der öffentlichenAuswirkung der Religion fragt, muss man verschiedeneWeisen, sie zu leben, unterscheiden.Sowohl Intellektuelle als auch journalistischeKommentare fallen häufig in grobe und wenigakademische Verallgemeinerungen, wenn sie vonden Fehlern der Religionen sprechen, und oftsind sie nicht imstande zu unterscheiden, dassnicht alle Glaubenden – noch alle religiösen Führungskräfte– gleich sind. Einige Politiker nutzendiese Verwirrung, um diskriminierende Aktionenzu rechtfertigen. Andere Male werden Schriftenverachtet, die im Bereich einer Glaubensüberzeugungentstanden sind, und man vergisst dabei,dass die klassischen religiösen Texte für alleZeiten von Bedeutung sein können und einemotivierende Kraft besitzen, die immer neueHorizonte öffnet, das Denken anregt, den Geistweitet und das Feingefühl erhöht. Sie werden verachtetwegen ihres Mangels an rationalistischerSichtweise. Ist es vernünftig und intelligent, sie indie Verborgenheit zu verbannen, nur weil sie imKontext einer religiösen Überzeugung entstandensind? Sie tragen zutiefst humanistische Prinzipienin sich, die einen rationalen Wert besitzen,obwohl sie von Symbolen und religiösen Lehrendurchdrungen sind.257. Als Glaubende fühlen wir uns auch denennahe, die sich nicht als Angehörige einer220


eligiösen Tradition bekennen, aber aufrichtignach der Wahrheit, der Güte und der Schönheitsuchen, die für uns ihren maximalen Ausdruckund ihre Quelle in Gott finden. Wir empfindensie als wertvolle Verbündete im Einsatz zur Verteidigungder Menschenwürde, im Aufbau einesfriedlichen Zusammenlebens der Völker und inder Bewahrung der Schöpfung. Ein besondererRaum ist jener der sogenannten neuen Areopagewie der „Vorhof der Heiden“, wo »Glaubendeund Nichtglaubende über die grundlegendenThemen der Ethik, der Kunst und der Wissenschaftsowie über die Suche nach dem Transzendentenmiteinander ins Gespräch kommenkönnen«. 204 Auch das ist ein Weg des Friedensfür unsere verwundete Welt.258. Ausgehend von einigen sozialen Themen,die im Hinblick auf die Zukunft der Menschheitwichtig sind, habe ich noch einmal versucht, dieunausweichliche soziale Dimension der Verkündigungdes Evangeliums deutlich darzulegen, umalle Christen zu ermutigen, sie in ihren Worten,Verhaltensweisen und Taten immer zum Ausdruckzu bringen.204Propositio 55.221


FÜNFTES KAPITELEVANGELISIERENDE MIT GEIST259. Evangelisierende mit Geist sind Verkünderdes Evangeliums, die sich ohne Furcht demHandeln des Heiligen Geistes öffnen. Zu Pfingstenließ der Heilige Geist die Apostel aus sichselbst herausgehen und verwandelte sie in Verkünderder Großtaten Gottes, die ein jeder inseiner Sprache zu verstehen begann. Der HeiligeGeist verleiht außerdem die Kraft, die Neuheitdes Evangeliums mit Freimut (parrhesía) zu verkünden,mit lauter Stimme, zu allen Zeiten undan allen Orten, auch gegen den Strom. Rufen wirihn heute an, fest verankert im Gebet, ohne dasalles Tun ins Leere zu laufen droht und die Verkündigungletztlich keine Seele hat. Jesus suchtVerkünder des Evangeliums, welche die FroheBotschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondernvor allem mit einem Leben, das in der GegenwartGottes verwandelt wurde.260. In diesem letzten Kapitel werde ich keineZusammenfassung der christlichen Spiritualitätbieten, noch große Themen wie das Gebet, dieeucharistische Anbetung oder die Feier des Glaubensentfalten, über die wir bereits wertvolle Textedes Lehramtes und berühmte Schriften großerAutoren haben. Ich beanspruche nicht, solchenReichtum zu ersetzen oder zu übertreffen. Ichmöchte einfach einige Überlegungen zum Geistder neuen Evangelisierung darlegen.223


261. Wenn man sagt, etwas »hat Geist«, meintman damit für gewöhnlich innere Beweggründe,die das persönliche und gemeinschaftliche Handelnanspornen, motivieren, ermutigen und ihmSinn verleihen. Eine Evangelisierung mit Geistunterscheidet sich sehr von einer Ansammlungvon Aufgaben, die als eine drückende Verpflichtungerlebt werden, die man bloß toleriert oder aufsich nimmt als etwas, das den eigenen Neigungenund Wünschen widerspricht. Wie wünschte ichdie richtigen Worte zu finden, um zu einer Etappeder Evangelisierung zu ermutigen, die mehr Eifer,Freude, Großzügigkeit, Kühnheit aufweist, dieganz von Liebe erfüllt ist und von einem Leben,das ansteckend wirkt! Aber ich weiß, dass keineMotivation ausreichen wird, wenn in den Herzennicht das Feuer des Heiligen Geistes brennt. EineEvangelisierung mit Geist ist letztlich eine Evangelisierungmit dem Heiligen Geist, denn er istdie Seele der missionarischen Kirche. Bevor icheinige Motivationen und spirituelle Anregungengebe, rufe ich einmal mehr den Heiligen Geist an;ich bitte ihn, zu kommen und die Kirche zu erneuern,aufzurütteln, anzutreiben, dass sie kühnaus sich herausgeht, um allen Völkern das Evangeliumzu verkünden.I. Motivationen für einen neuen missionarischenSchwung262. Evangelisierende mit Geist sind Verkünderdes Evangeliums, die beten und arbeiten.224


Vom Gesichtspunkt der Evangelisierung ausnützen weder mystische Angebote ohne ein starkessoziales und missionarisches Engagementnoch soziales oder pastorales Reden und Handelnohne eine Spiritualität, die das Herz verwandelt.Diese aufspaltenden Teilangebote erreichennur kleine Gruppen und haben keine weitreichendeDurchschlagskraft, da sie das Evangeliumverstümmeln. Immer ist es notwendig, eineninneren Raum zu pflegen, der dem Engagementund der Tätigkeit einen christlichen Sinn verleiht.205 Ohne längere Zeiten der Anbetung, derbetenden Begegnung mit dem Wort Gottes, desaufrichtigen Gesprächs mit dem Herrn verlierendie Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vorMüdigkeit und Schwierigkeiten schwächer underlischt der Eifer. Die Kirche braucht dringenddie Lunge des Gebets, und ich freue mich sehr,dass in allen kirchlichen Einrichtungen die Gebetsgruppen,die Gruppen des Fürbittgebetsund der betenden Schriftlesung sowie die ewigeeucharistische Anbetung mehr werden. Zugleich»gilt [es], die Versuchung einer intimistischen undindividualistischen Spiritualität zurückzuweisen,die sich nicht nur mit den Forderungen der Liebe,sondern auch mit der Logik der Inkarnation[…] schwer in Einklang bringe ließe.« 206 Es bestehtdie Gefahr, dass einige Zeiten des Gebetszur Ausrede werden, sein Leben nicht der Mis-205Vgl. Propositio, 36.206Johannes Paul II., <strong>Apostolisches</strong> <strong>Schreiben</strong> NovoMillennio ineunte (6. Januar 2011), 52: AAS 93 (2001), 304.225


sion zu widmen, denn die Privatisierung des Lebensstilskann die Christen dazu führen, zu einerfalschen Spiritualität Zuflucht zu nehmen.263. Es ist förderlich, sich an die ersten Christenund die vielen Brüder und Schwestern imLaufe der Geschichte zu erinnern, die von Freudeerfüllt und voller Mut waren, unermüdlich inder Verkündigung und fähig zu großer tätigerAusdauer. Es gibt welche, die sich damit tröstenzu sagen, dass es heute schwieriger ist; allerdingsmüssen wir zugeben, dass im Römischen Reichdie Lage weder für die Verkündigung des Evangeliumsnoch für den Kampf für die Gerechtigkeitoder die Verteidigung der Menschenwürdegünstig war. Zu allen Zeiten der Geschichte gibtes die menschliche Schwachheit, die krankhafteSuche nach sich selbst, den bequemen Egoismusund schließlich die Begierde, die uns allenauflauert. Diese gibt es immer, in der einen oderanderen Form; sie rührt mehr von den menschlichenGrenzen als von den Umständen her.Sagen wir also nicht, dass es heute schwierigerist; es ist anders. Lernen wir indessen von denHeiligen, die uns vorangegangen sind und die diejeweiligen Schwierigkeiten ihrer Zeit angepackthaben. Deswegen schlage ich euch vor, dass wireinen Moment innehalten, um einige Motivationenwiederzugewinnen, die uns helfen, sie heutenachzuahmen. 207207Vgl. V. M. Fernández, Espiritualidad para la esperanzaactiva. Acto de apertura del I Congreso Nacional de Doctrina226


Die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu264. Der erste Beweggrund, das Evangelium zuverkünden, ist die Liebe Jesu, die wir empfangenhaben; die Erfahrung, dass wir von ihm gerettetsind, der uns dazu bewegt, ihn immer mehr zulieben. Aber was für eine Liebe ist das, die nichtdie Notwendigkeit verspürt, darüber zu sprechen,geliebt zu sein, und dies zu zeigen und bekanntzu machen? Wenn wir nicht den innigen Wunschverspüren, diese Liebe mitzuteilen, müssen wirim Gebet verweilen und ihn bitten, dass er unswieder eine innere Ergriffenheit empfinden lässt.Wir müssen ihn jeden Tag anflehen, seine Gnadeerbitten, dass er unser kaltes Herz aufbreche undunser laues und oberflächliches Leben aufrüttle.Wenn wir mit offenem Herzen vor ihm stehenund zulassen, dass er uns anschaut, erkennen wirdiesen Blick der Liebe, den Natanael an dem Tagentdeckte, als Jesus ihm begegnete und sagte:»Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen«(Joh 1,48). Wie schön ist es, vor einem Kreuz zustehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien undeinfach vor seinen Augen da zu sein! Wie gut tutes uns, zuzulassen, dass er unser Leben wiederanrührt und uns antreibt, sein neues Leben mitzuteilen!Was also geschieht, ist letztlich, dass wirdas, »was wir gesehen und gehört haben, […]verkünden« (1 Joh 1,3). Die beste Motivation, sichzu entschließen, das Evangelium mitzuteilen, besocialde la Iglésia, Rosario (Argentinien) 2011, in: UCActualidad142, (2011), 16.227


steht darin, es voll Liebe zu betrachten, auf seinenSeiten zu verweilen und es mit dem Herzenzu lesen. Wenn wir es auf diese Weise angehen,wird uns seine Schönheit in Staunen versetzen,uns wieder und wieder faszinieren. Dazu ist esnotwendig, einen kontemplativen Geist wiederzuerlangen,der uns jeden Tag neu entdecken lässt,dass wir Träger eines Gutes sind, das menschlichermacht und hilft, ein neues Leben zu führen.Es gibt nichts Besseres, das man an die anderenweitergeben kann.265. Das ganze Leben Jesu, seine Art, mit denArmen umzugehen, seine Gesten, seine Kohärenz,seine tägliche und schlichte Großherzigkeitund schließlich seine Ganzhingabe – alles istwertvoll und spricht zum eigenen Leben. Soofteiner dies wieder entdeckt, ist er davon überzeugt,dass es genau das ist, was die anderenbrauchen, auch wenn sie es nicht erkennen: »Wasihr verehrt, ohne es zu kennen, verkünde icheuch« (Apg 17,23). Mitunter verlieren wir die Begeisterungfür die Mission, wenn wir vergessen,dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse derMenschen antwortet. Denn wir alle wurden für daserschaffen, was das Evangelium uns anbietet: dieFreundschaft mit Jesus und die brüderliche Liebe.Wenn es gelingt, den wesentlichen Inhalt desEvangeliums angemessen und schön zum Ausdruckzu bringen, wird diese Botschaft sicher zuden tiefsten Sehnsüchten der Herzen sprechen:»Der Missionar geht […] von der Überzeugungaus, dass sowohl bei den Einzelnen als auch bei228


den Völkern durch das Wirken des Geistes schoneine – wenn auch unbewusste – Erwartung daist, die Wahrheit über Gott, über den Menschen,über den Weg zur Befreiung von Sünde und Todzu erfahren. Die Begeisterung bei der VerkündigungChristi kommt von der Überzeugung, aufdiese Erwartung antworten zu können.« 208Die Begeisterung für die Evangelisierunggründet in dieser Überzeugung. Wir haben einenSchatz an Leben und Liebe, der nicht trügenkann, eine Botschaft, die nicht manipulierennoch enttäuschen kann. Es ist eine Antwort, dietief ins Innerste des Menschen hinab fällt undihn stützen und erheben kann. Es ist die Wahrheit,die nicht aus der Mode kommt, denn sie istin der Lage, dort einzudringen, wohin nichts anderesgelangen kann. Unsere unendliche Traurigkeitkann nur durch eine unendliche Liebe geheiltwerden.266. Diese Überzeugung aber wird von dereigenen, stets neuen Erfahrung getragen, seineFreundschaft und seine Botschaft zu genießen.Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierungnicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nichtaus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dasses nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zuhaben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht dasGleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkelnzu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn208Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7.Dezember 1990), 45: AAS 83 (1991), 292.229


hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen,dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten,anbeten und in ihm ruhen zu können oder esnicht tun zu können. Es ist nicht das Gleiche, zuversuchen, die Welt mit seinem Evangelium aufzubauenoder es nur mit dem eigenen Verstandzu tun. Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mitihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leichterist, in allem einen Sinn zu finden. Deswegenverkünden wir das Evangelium. Der wahre Missionar,der niemals aufhört, Jünger zu sein, weiß,dass Jesus mit ihm geht, mit ihm spricht, mit ihmatmet, mit ihm arbeitet. Er spürt, dass der lebendigeJesus inmitten der missionarischen Arbeitbei ihm ist. Wenn einer Jesu Gegenwart nichtim Herzen des missionarischen Einsatzes selbstentdeckt, verliert er schnell die Begeisterung undhört auf, dessen sicher zu sein, was er weitergibt;es fehlt ihm an Kraft und Leidenschaft. Und einMensch, der nicht überzeugt, begeistert, sicher,verliebt ist, überzeugt niemanden.267. Mit Jesus vereint, suchen wir, was er sucht,lieben wir, was er liebt. Letztlich suchen wir dieEhre des Vaters und leben und handeln „zumLob seiner herrlichen Gnade (Eph 1,6). Wennwir uns rückhaltlos und beständig hingeben wollen,müssen wir über jede andere Motivation hinausgehen.Dies ist das endgültige, tiefste, größteMotiv, der letzte Grund und Sinn von allem anderen:Es geht um die Herrlichkeit des Vaters,die Jesus während seines ganzen Lebens suchte.Er ist der Sohn, der ewig glücklich mit seinem230


ganzen Sein »am Herzen des Vaters ruht« (Joh1,18). Wenn wir Missionare sind, dann vor allemdeswegen, weil Jesus uns gesagt hat: »Mein Vaterwird dadurch verherrlich, dass ihr reiche Fruchtbringt« (Joh 15,8). Über all das hinaus, was unsliegt oder nicht, was uns interessiert oder nicht,uns nützlich ist oder nicht, über die engen Grenzenunserer Wünsche, unseres Verstehens undunserer Beweggründe hinaus verkünden wir dasEvangelium zur größeren Ehre des Vaters, deruns liebt.Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein268. Das Wort Gottes lädt uns auch ein zu erkennen,dass wir ein Volk sind: »Einst wart ihrnicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk«(1 Petr 2,10). Um aus tiefster Seele Verkünderdes Evangeliums zu sein, ist es auch nötig, eingeistliches Wohlgefallen daran zu finden, naheam Leben der Menschen zu sein, bis zu demPunkt, dass man entdeckt, dass dies eine Quellehöherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaftfür Jesus, zugleich aber eine Leidenschaftfür sein Volk. Wenn wir vor dem gekreuzigtenJesus verweilen, erkennen wir all seine Liebe, dieuns Würde verleiht und uns trägt; wenn wir abernicht blind sind, beginnen wir zugleich wahrzunehmen,dass dieser Blick Jesu sich weitet undsich voller Liebe und innerer Glut auf sein ganzesVolk richtet. So entdecken wir wieder neu,dass er uns als Werkzeug nehmen will, um sei-231


nem geliebten Volk immer näher zu kommen. Ernimmt uns aus der Mitte des Volkes und sendetuns zum Volk, sodass unsere Identität nicht ohnediese Zugehörigkeit verstanden werden kann.269. Jesus selbst ist das Vorbild dieser Entscheidungzur Verkündigung des Evangeliums,die uns in das Herz des Volkes hineinführt. Wiegut tut es uns, zu sehen, wie er allen so nahe ist!Wenn Jesus mit jemandem sprach, sah er ihn intiefer liebevoller Zuneigung an: »Jesus sah ihn anund liebte ihn« (Mk 10,21). Wir sehen ihn zugänglich,als er sich dem Blinden auf dem Wegnähert (vgl. Mk 10.46-52) und als er mit denSündern isst und trinkt (vgl. Mk 2,16), ohne sichdarum zu kümmern, dass einige ihn als Fresserund Säufer betrachten (vgl. Mt 11,19). Wir sehenihn verfügbar, als er zulässt, dass eine Dirne seineFüße salbt (vgl. Lk 7,36-50), oder als er Nikodemusdes Nachts empfängt (vgl. Joh 3,1-15). DieHingabe Jesu am Kreuz ist nichts anderes als derHöhepunkt dieses Stils, der sein ganzes Lebenprägte. Von seinem Vorbild fasziniert, möchtenwir uns vollständig in die Gesellschaft eingliedern,teilen wir das Leben mit allen, hören ihreSorgen, arbeiten materiell und spirituell mit ihnenin ihren Bedürfnissen, freuen uns mit denen,die fröhlich sind, weinen mit denen, die weinen,und setzen uns Seite an Seite mit den anderenfür den Aufbau einer neuen Welt ein. Aber wirtun dies nicht aus Pflicht, nicht wie eine Last, dieuns aufreibt, sondern in einer persönlichen Ent-232


scheidung, die uns mit Freude erfüllt und eineIdentität gibt.270. Zuweilen verspüren wir die Versuchung,Christen zu sein, die einen sicheren Abstand zuden Wundmalen des Herrn halten. Jesus aberwill, dass wir mit dem menschlichen Elend inBerührung kommen, dass wir mit dem leidendenLeib der anderen in Berührung kommen.Er hofft, dass wir darauf verzichten, unsere persönlichenoder gemeinschaftlichen Zuflüchte zusuchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kerndes menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben,damit wir dann akzeptieren, mit dem konkretenLeben der anderen ernsthaft in Berührung zukommen und die Kraft der Zartheit kennen lernen.Wenn wir das tun, wird das Leben für unswunderbar komplex, und wir machen die tiefeErfahrung, Volk zu sein, die Erfahrung, zu einemVolk zu gehören.271. Es ist wahr, dass wir in unserer Beziehungmit der Welt aufgefordert sind, Rede undAntwort zu stehen für unsere Hoffnung, abernicht als Feinde, die anzeigen und verurteilen.Sehr klar werden wir ermahnt: »Aber antwortetbescheiden und ehrfürchtig« (1 Petr 3,16), und:»Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen MenschenFrieden!« (Röm 12,18). Ebenso werden wiraufgefordert zu versuchen, »das Böse durch dasGute« zu besiegen (Röm 12,21), ohne müde zuwerden, »das Gute zu tun« (Gal 6,9), und ohnehöher erscheinen zu wollen, »sondern in Demut233


schätze der eine den andern höher ein als sichselbst« (Phil 2,3). Tatsächlich waren die Aposteldes Herrn »beim ganzen Volk beliebt« (Apg 2,47;vgl. 4,21.33; 5,13). Es ist klar, dass Jesus Christusuns nicht als Fürsten will, die abfällig herabschauen,sondern als Männer und Frauen desVolkes. Das ist nicht die Meinung eines <strong>Papst</strong>es,noch eine pastorale Option unter möglichen anderen.Es sind so klare, direkte und überzeugendeWeisungen des Wortes Gottes, dass sie keinerInterpretation bedürfen, die ihnen nur ihremahnende Kraft nehmen würden. Leben wir sie»sine glossa« – ohne Kommentare. Auf diese Weiseerfahren wir die missionarische Freude, dasLeben mit dem Volk zu teilen, das Gott treu ist,und versuchen zugleich, das Feuer im Herzen derWelt zu entzünden.272. Die Liebe zu den Menschen ist eine geistlicheKraft, welche die volle Begegnung mit Gotterleichtert, denn wer den Bruder nicht liebt, »gehtin der Finsternis« (1 Joh 2,11), »bleibt im Tod«(1 Joh 3,14) und »hat Gott nicht erkannt« (1 Joh4,8). Benedikt XVI. sagte, »dass die Abwendungvom Nächsten auch für Gott blind macht« 209 unddass die Liebe letztlich das einzige Licht ist, »daseine dunkle Welt immer wieder erhellt und unsden Mut zum Leben und zum Handeln gibt.« 210Wenn wir daher die „Mystik“ leben, auf die an-209Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25.Dezember 2005), 16: AAS 98 (2006), 230.210Ibid., 39: AAS 98 (2006), 250.234


deren zuzugehen und ihr Wohl zu suchen, weitenwir unser Inneres, um die schönsten Geschenkedes Herrn zu empfangen. Jedes Mal wenn wir einemMenschen in Liebe begegnen, werden wirfähig, etwas Neues von Gott zu entdecken. JedesMal wenn wir unsere Augen öffnen, um denanderen zu erkennen, wird unser Glaube weitererleuchtet, um Gott zu erkennen. Infolgedessenkönnen wir, wenn wir im geistlichen Lebenwachsen wollen, nicht darauf verzichten, missionarischzu sein. Die Aufgabe der Evangelisierungbereichert Herz und Sinn, eröffnet uns geistlicheHorizonte, macht uns empfänglicher, um dasWirken des Heiligen Geistes zu erkennen, undführt uns aus unseren engen geistlichen Schablonenheraus. Gleichzeitig erfährt ein engagierterMissionar die Freude, eine Quelle zu sein, dieüberfließt und die anderen erfrischt. Missionarkann nur sein, wer sich wohl fühlt, wenn er dasWohl des anderen sucht, das Glück der anderenwill. Diese Öffnung des Herzens ist ein Quelldes Glücks, denn »geben ist seliger als nehmen«(Apg 20,35). Keiner hat ein besseres Leben, wenner die anderen flieht, sich versteckt, sich weigertteilzunehmen, widersteht zu geben, sich in seineBequemlichkeit einschließt. Dies kommt vielmehreinem langsamen Selbstmord gleich.273. Die Mission im Herzen des Volkes istnicht ein Teil meines Lebens oder ein Schmuck,den ich auch wegnehmen kann; sie ist kein Anhangoder ein zusätzlicher Belang des Lebens. Sie235


ist etwas, das ich nicht aus meinem Sein ausreißenkann, außer ich will mich zerstören. Ich bineine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen binich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dassman selber „gebrandmarkt” ist für diese Mission,Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, aufzurichten,zu heilen, zu befreien. Da zeigt sich,wer aus ganzer Seele Krankenschwester, aus ganzerSeele Lehrer, aus ganzer Seele Politiker ist– diejenigen, die sich zutiefst dafür entschiedenhaben, bei den anderen und für die anderen dazu sein. Wenn hingegen einer die Pflicht auf dereinen Seite und die Privatsphäre auf der anderenSeite voneinander trennt, dann wird alles grau,und er wird ständig Anerkennung suchen oderseine eigenen Bedürfnisse verteidigen. So wird eraufhören, „Volk“ zu sein.274. Um das Leben mit den Menschen zu teilenund uns ihnen großherzig zu widmen, müssenwir auch anerkennen, dass jeder Mensch unsererHingabe würdig ist. Nicht wegen seiner körperlichenGestalt, seiner Fähigkeiten, seiner Sprache,seines Denkens oder der Befriedigung, die wirerhalten, sondern weil er Werk Gottes, sein Geschöpfist. Dieser hat ihn als sein Abbild erschaffen,und er spiegelt etwas von Gottes Herrlichkeitwider. Jeder Mensch ist Objekt der unendlichenzarten Liebe des Herrn, und er selbst wohnt inseinem Leben. Jesus Christus hat sein kostbaresBlut am Kreuz für diesen Menschen vergossen.Jenseits aller äußeren Erscheinung ist jeder unend-236


lich heilig und verdient unsere Liebe und unsere Hingabe.Deswegen, wenn ich es schaffe, nur einem Menschenzu helfen, ein besseres Leben zu haben,rechtfertigt dies schon den Einsatz meines Lebens.Es ist schön, gläubiges Volk Gottes zu sein.Und die Fülle erreichen wir, wenn wir die Wändeeinreißen und sich unser Herz mit Gesichternund Namen füllt!Das geheimnisvolle Wirken des Auferstandenen und seinesGeistes275. Im zweiten Kapitel haben wir über denMangel an tiefer Spiritualität nachgedacht, der imPessimismus, Fatalismus und Misstrauen seinenNiederschlag findet. Manche Menschen setzensich nicht für die Mission ein, da sie meinen, dassnichts verändert werden kann, und es ihnen dannsinnlos erscheint, sich anzustrengen. Sie denkenso: „Warum soll ich auf meine Annehmlichkeitenund Vergnügen verzichten, wenn ich kein bedeutendesErgebnis sehen werde?“ Mit solcherHaltung wird es unmöglich, Missionar zu sein.Diese Haltung ist gerade eine üble Ausrede, umin der Bequemlichkeit, in der Faulheit, in der unbefriedigtenTraurigkeit und der selbstsüchtigenLeere eingeschlossen zu bleiben. Es handelt sichum eine selbstzerstörerische Haltung, denn »derMensch kann nicht ohne Hoffnung leben; seinLeben wäre zur Bedeutungslosigkeit verurteilt237


und würde unerträglich.« 211 Wenn wir denken,die Dinge werden sich nicht ändern, dann erinnernwir uns daran, dass Jesus Christus die Sündeund den Tod besiegt hat und voller Macht ist.Jesus Christus lebt wirklich. Anders hieße das:»Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dannist unsere Verkündigung leer und euer Glaubesinnlos« (1 Kor 15,14). Das Evangelium berichtetuns, was geschah, als die ersten Jünger auszogenund predigten: »Der Herr stand ihnen bei undbekräftigte die Verkündigung (Mk 16,20). Dasgeschieht auch heute. Wir sind eingeladen, es zuentdecken, es zu leben. Der auferstandene undverherrlichte Christus ist die tiefe Quelle unsererHoffnung, und wir werden nicht ohne seineHilfe sein, um die Mission zu erfüllen die er unsanvertraut.276. Seine Auferstehung gehört nicht der Vergangenheitan; sie beinhaltet eine Lebenskraft,die die Welt durchdrungen hat. Wo alles tot zusein scheint, sprießen wieder überall Anzeichender Auferstehung hervor. Es ist eine unvergleichlicheKraft. Es ist wahr, dass es oft so scheint,als existiere Gott nicht: Wir sehen Ungerechtigkeit,Bosheit, Gleichgültigkeit und Grausamkeit,die nicht aufhören. Es ist aber auch gewiss, dassmitten in der Dunkelheit immer etwas Neuesaufkeimt, das früher oder später Frucht bringt.Auf einem eingeebneten Feld erscheint wieder211II. Sonderversammlung der Bischofssynode fürEuropa, Schlussbotschaft, 1: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 29, Nr.46 (12. November 1999), S. 10.238


das Leben, hartnäckig und unbesiegbar. Es magviel Dunkles geben, doch das Gute neigt dazu,immer wiederzukommen, aufzukeimen und sichauszubreiten. Jeden Tag wird in der Welt dieSchönheit neu geboren, die durch die Stürmeder Geschichte verwandelt wieder aufersteht.Die Werte tendieren dazu, immer wieder aufneue Weise zu erscheinen, und tatsächlich ist derMensch oft aus dem, was unumkehrbar schien,zu neuem Leben erstanden. Das ist die Kraft derAuferstehung, und jeder Verkünder des Evangeliumsist ein Werkzeug dieser Dynamik.277. Ebenso treten ständig neue Schwierigkeitenauf, die Erfahrung des Misserfolgs, diemenschlichen Kleinlichkeiten, die sehr wehtun.Wir alle wissen aus Erfahrung, dass manchmaleine Aufgabe nicht die Befriedigung bietet, diewir wünschten, die Ergebnisse gering sind unddie Veränderungen langsam; man ist versucht,überdrüssig zu werden. Jedoch ist es nicht dasGleiche, wenn einer aus Überdruss die Armevorübergehend hängen lässt oder wenn er siefür immer hängen lässt, weil er von einer chronischenUnzufriedenheit beherrscht wird, voneiner Trägheit, welche seine Seele austrocknet.Es kann vorkommen, dass das Herz des Ringensüberdrüssig wird, weil es im Grunde sich selbstsucht in einem Karrierestreben, das nach Anerkennung,Beifall, Auszeichnungen und Rangdürstet. Dann lässt einer nicht die Arme hängen,sondern hat kein Charisma mehr, es fehlt ihmdie Auferstehung. So bleibt das Evangelium, die239


schönste Botschaft, die diese Welt hat, unter vielenAusreden begraben.278. Glaube bedeutet auch, Gott zu glauben,zu glauben, dass es wahr ist, dass er uns liebt,dass er lebt, dass er fähig ist, auf geheimnisvolleWeise einzugreifen, dass er uns nicht verlässt,dass er in seiner Macht und seiner unendlichenKreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehenlässt. Es bedeutet zu glauben, dass er siegreich inder Geschichte fortschreitet zusammen mit den»Berufenen, Auserwählten und Treuen« (Offb17,14). Glauben wir dem Evangelium, das sagt,dass das Reich Gottes schon in der Welt da ist,hier und dort auf verschiedene Art und Weisewächst – wie das kleine Samenkorn, das zu einemgroßen Baum werden kann (vgl. Mt 13,31-32),wie die Hand voll Sauerteig, der eine große Massedurchsäuert (vgl. Mt 13,33), und wie der guteSamen, der mitten unter dem Unkraut wächst(vgl. Mt 13,24-30) – und uns immer angenehmüberraschen kann. Es ist da, es kommt wieder, eskämpft, um von neuem zu blühen. Die AuferstehungChristi bringt überall Keime dieser neuenWelt hervor; und selbst wenn sie abgeschnittenwerden, treiben sie wieder aus, denn die Auferstehungdes Herrn hat schon das verborgeneTreiben dieser Geschichte durchdrungen, dennJesus ist nicht umsonst auferstanden. Bleiben wirin diesem Lauf der lebendigen Hoffnung keineRandfiguren!240


279. Da wir nicht immer diese aufkeimendenSprossen sehen, brauchen wir eine innere Gewissheitund die Überzeugung, dass Gott in jeder Situationhandeln kann, auch inmitten scheinbarerMisserfolge, denn »diesen Schatz tragen wir inzerbrechlichen Gefäßen« (2 Kor 4,7). Diese Gewissheitist das, was »Sinn für das Mysterium«genannt wird. Es bedeutet, mit Bestimmtheit zuwissen, dass sicher Frucht bringen wird (vgl. Joh15,5), wer sich Gott aus Liebe darbringt und sichihm hingibt. Diese Fruchtbarkeit ist oft nichtsichtbar, nicht greifbar und kann nicht gemessenwerden. Man weiß wohl, dass das eigene LebenFrucht bringen wird, beansprucht aber nicht zuwissen wie, wo oder wann. Man hat die Sicherheit,dass keine der Arbeiten, die man mit Liebeverrichtet hat, verloren geht, dass keine der ehrlichenSorgen um den Nächsten, keine Tat der Liebezu Gott, keine großherzige Mühe, keine leidvolleGeduld verloren ist. All das kreist um dieWelt als eine lebendige Kraft. Manchmal kommtes uns vor, als habe unsere Arbeit kein Ergebnisgebracht, aber die Mission ist weder ein Geschäftnoch ein unternehmerisches Projekt, sie ist keinehumanitäre Organisation, keine Veranstaltung,um zu zählen, wie viele dank unserer Propagandadaran teilgenommen haben; es ist etwas viel Tieferes,das sich jeder Messung entzieht. Vielleichtverwendet der Herr unsere Hingabe, um Segenzu spenden an einem anderen Ort der Welt, wowir niemals hinkommen werden. Der Heilige241


Geist handelt wie er will, wann er will und woer will; wir aber setzen uns ohne den Anspruchein, auffällige Ergebnisse zu sehen. Wir wissennur, dass unsere Hingabe notwendig ist. Lernenwir, in den zärtlichen Armen des Vaters zu ruhen,inmitten unserer kreativen und großherzigenHingabe. Machen wir weiter, geben wir ihmalles, aber lassen wir zu, dass er es ist, der unsereMühen fruchtbar macht, wie es ihm gefällt.280. Um den missionarischen Eifer lebendigzu halten, ist ein entschiedenes Vertrauen aufden Heiligen Geist vonnöten, denn er »nimmtsich unserer Schwachheit an« (Röm 8,26). Aberdieses großherzige Vertrauen muss genährt werden,und dafür müssen wir den Heiligen Geistbeständig anrufen. Er kann alles heilen, wasuns im missionarischen Bemühen schwächt.Es ist wahr, dass dieses Vertrauen auf den Unsichtbarenin uns ein gewisses Schwindelgefühlhervorrufen kann: Es ist wie ein Eintauchen inein Meer, wo wir nicht wissen, was auf uns zukommen wird. Ich selbst habe das viele Male erlebt.Es gibt aber keine größere Freiheit, als sichvom Heiligen Geist tragen zu lassen, darauf zuverzichten, alles berechnen und kontrollieren zuwollen, und zu erlauben, dass er uns erleuchtet,uns führt, uns Orientierung gibt und uns treibt,wohin er will. Er weiß gut, was zu jeder Zeit undin jedem Moment notwendig ist. Das heißt, ingeheimnisvoller Weise fruchtbar sein!242


Die missionarische Kraft des Fürbittgebets281. Es gibt eine Gebetsform, die uns besondersanspornt, uns der Evangelisierung zu widmen,und uns motiviert, das Wohl der anderen zusuchen: das Fürbittgebet. Schauen wir für einenAugenblick in das Innere eines großen Evangelisiererswie des heiligen Paulus, um zu verstehen,wie sein Gebet war. Dieses Gebet war angefülltmit Menschen: »Immer, wenn ich für euch allebete, tue ich es mit Freude […] weil ich euch insHerz geschlossen habe« (Phil 1,4.7). So entdeckenwir, dass uns das Fürbittgebet nicht von derechten Betrachtung abbringt, denn die Betrachtung,welche die anderen draußen lässt, ist eineTäuschung.282. Diese Haltung wird auch zu einem Dankan Gott für die anderen: »Zunächst danke ichmeinem Gott durch Jesus Christus für euch alle«(Röm 1,8). Es ist ein beständiges Danken: »Ichdanke Gott jederzeit euretwegen für die GnadeGottes, die euch in Christus Jesus geschenktwurde« (1 Kor 1,4). »Ich danke meinem Gott jedesMal, wenn ich an euch denke« (Phil 1,3). Es istkein ungläubiger, negativer und hoffnungsloserBlick, sondern ein geistlicher Blick aus tiefemGlauben, der anerkennt, was Gott selbst in ihnenwirkt. Zugleich ist es die Dankbarkeit, die einemHerzen entspringt, das wirklich aufmerksam istgegenüber den anderen. Auf diese Weise ist dasHerz des Evangelisierenden, wenn er sich vomGebet erhebt, großzügiger geworden, befreit von243


einer abgeschotteten Geisteshaltung und begierig,das Gute zu tun und das Leben mit den anderenzu teilen.283. Die großen Männer und Frauen Gotteswaren große Fürbitter. Das Fürbittgebet ist wieein „Sauerteig“ im Schoß der Dreifaltigkeit. Esist ein Eingehen in den Vater und ein Entdeckenneuer Dimensionen, welche die konkretenSituationen erhellen und verändern. Wir könnensagen, dass das Herz Gottes durch unser Fürbittgebetgerührt wird, aber in Wirklichkeit kommter uns immer zuvor, und was wir mit unseremFürbittgebet ermöglichen, ist, dass seine Macht,seine Liebe und seine Treue sich mit größererKlarheit unter dem Volk zeigen.II. Maria, die Mutter der Evangelisierung284. Zusammen mit dem Heiligen Geist istmitten im Volk immer Maria. Sie versammelt dieJünger, um ihn anzurufen (Apg 1,14), und so hatsie die missionarische Explosion zu Pfingstenmöglich gemacht. Maria ist die Mutter der missionarischenKirche, und ohne sie können wirden Geist der neuen Evangelisierung nie ganzverstehen.Ein Geschenk Jesu an sein Volk285. Am Kreuz, als Jesus in seinem Fleisch diedramatische Begegnung zwischen der Sünde derWelt und dem Erbarmen Gottes erlitt, konnte er244


zu seinen Füßen die tröstliche Gegenwart seinerMutter und seines Freundes sehen. In diesementscheidenden Augenblick, ehe er das Werkvollbrachte, das der Vater ihm aufgetragen hatte,sagte Jesus zu Maria: »Frau, siehe, dein Sohn!«Dann sagte er zum geliebten Freund: »Siehe, deineMutter!« (Joh 19,26.27). Diese Worte Jesu ander Schwelle des Todes drücken in erster Linienicht eine fromme Sorge um seine Mutter aus,sondern sind vielmehr eine Aussage der Offenbarung,die das Geheimnis einer besonderenHeilssendung zum Ausdruck bringt. Jesus hinterließuns seine Mutter als unsere Mutter. Erstnachdem er das getan hatte, konnte Jesus spüren,dass »alles vollbracht war« (Joh 19,28). Zu Füssendes Kreuzes, in der höchsten Stunde der neuenSchöpfung führt uns Christus zu Maria. Er führtuns zu ihr, da er nicht will, dass wir ohne eineMutter gehen, und das Volk liest in diesem mütterlichenBild alle Geheimnisse des Evangeliums.Dem Herrn gefällt es nicht, dass seiner Kirchedas weibliche Bild fehlt. Maria, die ihn in großemGlauben zur Welt brachte, begleitet auch»ihre übrigen Nachkommen, die den GebotenGottes gehorchen und an dem Zeugnis für Jesusfesthalten« (Offb 12,17). Die innere Verbindungzwischen Maria, der Kirche und jedem Gläubigen,insofern sie auf verschiedene Art und WeiseChristus hervorbringen, wurde vom seligen Isaakvon Stella sehr schön zum Ausdruck gebracht:»Was daher in den von Gott inspirierten Schriftenvon der jungfräulichen Mutter Kirche in245


umfassendem Sinn gesagt wird, das gilt von derJungfrau Maria im Einzelnen. […] Leicht erkenntder Verstand in beiden auch die glaubende Seele,die Braut des Wortes Gottes, die Mutter Christi,Tochter und Schwester, Jungfrau und fruchtbareMutter. […] Im Mutterschoß Marias als seinemZelt weilte Christus neun Monate; im Zeltder glaubenden Kirche bis ans Ende der Welt; inder Erkenntnis und Liebe der glaubenden Seelebleibt er auf ewig.« 212286. Maria versteht es, mit ein paar ärmlichenWindeln und einer Fülle zärtlicher Liebe einenTierstall in das Haus Jesu zu verwandeln. Sie istdie Magd des Vaters, die in Lobpreis ausbricht.Sie ist die Freundin, die stets aufmerksam ist,dass der Wein in unserem Leben nicht fehlt. Sie,deren Herz von einem Schwert durchdrungenwurde, versteht alle Nöte. Als Mutter von allenist sie Zeichen der Hoffnung für die Völker, dieGeburtswehen leiden, bis die Gerechtigkeit hervorbricht.Sie ist die Missionarin, die uns nahekommt, um uns im Leben zu begleiten, und dabeiin mütterlicher Liebe die Herzen dem Glaubenöffnet. Als wahre Mutter geht sie mit uns,streitet für uns und verbreitet unermüdlich dieNähe der Liebe Gottes. Durch die verschiedenenmarianischen Anrufungen, die gewöhnlichmit den Heiligtümern verbunden sind, teilt siedie Geschichte jedes Volkes, das das Evangeliumangenommen hat, und wird zu einem Teil seiner212Isaak von Stella, Sermo 51: PL 194,1863.1856.246


geschichtlichen Identität. Viele christliche Väterbitten darum, dass ihre Kinder in einem Marienheiligtumgetauft werden, und zeigen damit ihrenGlauben an das mütterliche Wirken Marias, diefür Gott neue Kinder hervorbringt. Dort in denHeiligtümern kann man beobachten, wie Mariaihre Kinder um sich versammelt, die unter großerAnstrengung als Pilger kommen, um sie zu sehenund von ihr gesehen zu werden. Hier findensie die Kraft Gottes, um die Leiden und Mühendes Lebens zu ertragen. Wie dem heiligen JuanDiego gibt sie ihnen mit zärtlicher Liebe ihrenmütterlichen Trost und flüstert ihnen zu: »DeinHerz beunruhige sich nicht [...] Bin denn ich, dieich doch deine Mutter bin, etwa nicht hier?« 213Der Stern der neuen Evangelisierung287. Die Mutter des lebendigen Evangeliumsbitten wir um ihre Fürsprache, dass diese Einladungzu einer neuen Phase der Verkündigung desEvangeliums von der ganzen Gemeinschaft derKirche angenommen werde. Sie ist die Frau desGlaubens, die im Glauben lebt und unterwegsist, 214 und »ihr außergewöhnlicher Pilgerweg desGlaubens stellt so einen bleibenden Bezugspunktdar für die Kirche«. 215 Sie ließ sich vom Heiligen213Nican Mopohua, 118-119.214Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.Lumen gentium über die Kirche, 52-69.215Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25.März 1987), 6: AAS 79 (1987), 366.247


Geist auf einem Weg des Glaubens zu einer Bestimmungdes Dienstes und der Fruchtbarkeitführen. Heute richten wir unseren Blick auf sie,dass sie uns helfe, allen die Botschaft des Heilszu verkünden, und dass alle neuen Jünger zu Verkünderndes Evangeliums werden. 216 Auf diesemPilgerweg der Evangelisierung fehlen nicht diePhasen der Trockenheit, des Dunkels bis hin zumancher Mühsal, wie sie Maria während der Jahrein Nazaret erlebt hat, als Jesus heranwuchs:»Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der guten,frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer,in jenem Anfang auch eine besondere Mühe desHerzens zu erkennen, die mit einer gewissen„Nacht des Glaubens“ verbunden ist – um einWort des heiligen Johannes vom Kreuz zu gebrauchen–, gleichsam ein „Schleier“, durch denhindurch man sich dem Unsichtbaren nahen undmit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muss.Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Vertrautheitmit dem Geheimnis ihres Sohnes undschritt voran auf ihrem Glaubensweg.« 217288. Es gibt einen marianischen Stil bei dermissionarischen Tätigkeit der Kirche. Denn jedesMal, wenn wir auf Maria schauen, glaubenwir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeitund der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demutund die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwa-216Vgl. Propositio 58.217Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25.März 1987), 17: AAS 79 (1987), 381.248


chen, sondern der Starken sind, die nicht andereschlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtigzu fühlen. Wenn wir auf Maria schauen, sehenwir, dass diejenige, die Gott lobte, weil er »dieMächtigen vom Thron stürzt« und »die Reichenleer ausgehen lässt« (vgl. Lk 1,52.53), in unsereSuche nach Gerechtigkeit Geborgenheit bringt.Auch bewahrt sie sorgfältig »alles in ihrem Herzenund denkt darüber nach« (vgl. Lk 2,19). Mariaweiß, die Spuren des Geistes Gottes in dengroßen Geschehnissen zu erkennen und auchin denen, die nicht wahrnehmbar scheinen. Siebetrachtet das Geheimnis Gottes in der Welt,in der Geschichte und im täglichen Leben vonjedem und allen Menschen. Sie ist die betendeund arbeitende Frau in Nazaret, und sie ist auchunsere Frau von der unverzüglichen Bereitschaft,die aus ihrem Dorf aufbricht, um den anderen»eilends« (vgl. Lk 1,39) zu helfen. Diese Dynamikder Gerechtigkeit und der Zärtlichkeit, desBetrachtens und des Hingehens zu den anderenmacht Maria zu einem kirchlichen Vorbild fürdie Evangelisierung. Wir bitten sie, dass sie unsmit ihrem mütterlichen Gebet helfe, damit dieKirche ein Haus für viele werde, eine Mutter füralle Völker, und dass die Entstehung einer neuenWelt möglich werde. Der Auferstandene sagt unsmit einer Macht, die uns mit großer Zuversichtund fester Hoffnung erfüllt: »Seht, ich mache allesneu« (Offb 21,5). Mit Maria gehen wir vertrauensvolldiesem Versprechen entgegen und sagenzu ihr:249


Jungfrau und Mutter Maria,vom Heiligen Geist geführtnahmst du das Wort des Lebens auf,in der Tiefe deines demütigen Glaubensganz dem ewigen Gott hingegeben.Hilf uns, unser »Ja« zu sagenangesichts der Notwendigkeit, die dringlicher ist denn je,die Frohe Botschaft Jesu erklingen zu lassen.Du, von der Gegenwart Christi erfüllt,brachtest die Freude zu Johannes dem Täuferund ließest ihn im Schoß seiner Mutter frohlocken.Du hast, bebend vor Freude,den Lobpreis der Wundertaten Gottes gesungen.Du verharrtest standhaft unter dem Kreuzin unerschütterlichem Glaubenund empfingst den freudigen Trost der Auferstehung,du versammeltest die Jüngerin der Erwartung des Heiligen Geistes,damit die missionarische Kirche entstehen konnte.Erwirke uns nun einen neuen Eifer als Auferstandene,um allen das Evangelium des Lebens zu bringen,das den Tod besiegt.Gib uns den heiligen Wagemut, neue Wege zu suchen,damit das Geschenk der Schönheit, die nie erlischt,zu allen gelange.Du, Jungfrau des hörenden Herzens und des Betrachtens,Mutter der Liebe, Braut der ewigen Hochzeit,tritt für die Kirche ein, deren reinstes Urbild du bist,damit sie sich niemals verschließt oder still stehtin ihrer Leidenschaft, das Reich Gottes aufzubauen.250


Stern der neuen Evangelisierung,hilf uns, dass wir leuchtenim Zeugnis der Gemeinschaft,des Dienstes, des brennenden und hochherzigen Glaubens,der Gerechtigkeit und der Liebe zu den Armen,damit die Freude aus dem Evangeliumbis an die Grenzen der Erde gelangeund keiner Peripherie sein Licht vorenthalten werde.Mutter des lebendigen Evangeliums,Quelle der Freude für die Kleinen,bitte für uns.Amen. Halleluja!Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, zum Abschlussdes Jahres des Glaubens, am 24. November– Hochfest unseres Herrn Jesus Christus, Königdes Weltalls – im Jahr 2013, dem ersten meinesPontifikats.251


INHALTDie Freude des Evangeliums [1] . . . . 3I. Freude, die sich erneuert und sich mitteilt[2-8] . . . . . . . . . . . . . . 3II. Die innige und tröstliche Freude der Verkündigungdes Evangeliums [9-10] . . 10Eine ewige Neuheit [11-13] . . . . . . 11III. Die neue Evangelisierung für die Weitergabedes Glaubens [14-15] . . . . . 15Anliegen und Grenzen dieses <strong>Schreiben</strong>s [16-18] 17ERSTES KAPITELDIE MISSIONARISCHE UMGESTALTUNGDER KIRCHE [19]I. Eine Kirche „im Aufbruch“ [20-23] . . 21Die Initiative ergreifen, sich einbringen, begleiten,Frucht bringen und feiern [24] . . . 24II. Seelsorge in Neuausrichtung [25-26] . . 26Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung[27-33] . . . . . . . . . . . . . 28III. Aus dem Herzen des Evangeliums [34-39] 34IV. Die Mission, die in den menschlichen BegrenzungenGestalt annimmt [40-45] . 39V. Eine Mutter mit offenem Herzen [46-49] 44ZWEITES KAPITELIN DER KRISE DES GEMEINSCHAFT-LICHEN ENGAGEMENTS [50-51]I. Einige Herausforderungen der Welt vonheute [52] . . . . . . . . . . . . 50Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung[53-54] . . . . . . . . . . . . . 51253


Nein zur neuen Vergötterung des Geldes [55-56] 53Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen[57-58] . . . . . . . . . . . 55Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalthervorbringt [59-60] . . . . . . . . 56Einige kulturelle Herausforderungen [61-66] 58Herausforderungen der Inkulturation desGlaubens [67-70] . . . . . . . . . 65Herausforderungen der Stadtkulturen [71-75] 67II. Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen[76-77] . . . . . . . . . . . . 71Ja zur Herausforderung einer missionarischenSpiritualität [78-80] . . . . . . . . 73Nein zur egoistischen Trägheit [81-83] . . 75Nein zum sterilen Pessimismus [84-86] . . 78Ja zu den neuen, von Jesus Christus gebildetenBeziehungen [87-92] . . . . . . . . 81Nein zur spirituellen Weltlichkeit [93-97] . 86Nein zum Krieg unter uns [98-101] . . . 91Weitere kirchliche Herausforderungen [102-109] 93254DRITTES KAPITELDIE VERKÜNDIGUNGDES EVANGELIUMS [110]I. Das ganze Volk Gottes verkündet dasEvangelium [111] . . . . . . . . . 101Ein Volk für alle [112-114] . . . . . 102Ein Volk der vielen Gesichter [115-118] . 104Alle sind wir missionarische Jünger [119-121] 109Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit[122-126] . . . . . . . . . . 112Von Mensch zu Mensch [127-129] . . . 116Charismen im Dienst der evangelisierendenGemeinschaft [130-131] . . . . . . . 119Die Welt der Kultur, des Denkens und derErziehung [123-134] . . . . . . . . 120


II. Die Homilie [135-136] . . . . . . . 122Der liturgische Kontext [137-138] . . . 124Das Gespräch einer Mutter [139-141] . . 125Worte, die die Herzen entfachen [142-144] 127III. Die Vorbereitung auf die Predigt [145] . 130Der Dienst der Wahrheit [146-148] . . . 131Der persönliche Umgang mit dem Wort [149-151] 134Die geistliche Lesung [152-153] . . . . 137Ein Ohr beim Volk [154-155] . . . . 139Pädagogische Mittel [156-159] . . . . . 141IV. Eine Evangelisierung zur Vertiefung desKerygmas [160-162] . . . . . . . . . 144Eine kerygmatische und mystagogische Katechese[163-168] . . . . . . . . . . 146Die persönliche Begleitung der Wachstumsprozesse[169-173] . . . . . . . . . . 151Am Wort Gottes orientiert [174-175] . . 155VIERTES KAPITELDIE SOZIALE DIMENSIONDER EVANGELISIERUNG [176]I. Die gemeinschaftlichen und sozialenAuswirkungen des Kerygmas [177] . . . 159Bekenntnis des Glaubens und soziale Verpflichtung[178-179] . . . . . . . . 160Das Reich, das uns ruft [180-181] . . . 163Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen[182-185] . . . . . . . . . . . . 165II. Die gesellschaftliche Eingliederung derArmen [186] . . . . . . . . . . . 168Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei[187-193] . . . . . . . . . . . . 169Treue zum Evangelium, um nicht vergeblichzu laufen [194-196] . . . . . . . . 174Der bevorzugte Platz der Armen im VolkGottes [107-201] . . . . . . . . . 178255


Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte[202-208] . . . . . . . . . . . . 182Sich der Schwachen annehmen [209-216] . 187III. Das Gemeingut und der soziale Frieden[217-221] . . . . . . . . . . . . 192Die Zeit ist mehr wert als der Raum [222-225] 195Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt [226-230] 198Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee[231-233] . . . . . . . . . . . . 201Das Ganze ist dem Teil übergeordnet [234-237] 203IV. Der soziale Dialog als Beitrag zum Frieden[238-241] . . . . . . . . . . . 206Der Dialog zwischen Glaube, Vernunft undden Wissenschaften [242-243] . . . . . 208Der ökumenische Dialog [244-246] . . . 210Die Beziehungen zum Judentum [247-249] 213Der interreligiöse Dialog [250-254] . . . 214Der soziale Dialog in einem Kontext religiöserFreiheit [255-258] . . . . . . . . . 219FÜNFTES KAPITELEVANGELISIERENDE MIT GEIST [259-261]I. Motivationen für einen neuen missionarischenSchwung [262-263] . . . . . . 224Die persönliche Begegnung mit der rettendenLiebe Jesu [264-267] . . . . . . . . 227Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein[268-274] . . . . . . . . . . . . 231Das geheimnisvolle Wirken des Auferstandenenund seines Geistes [275-280] . . . . 237Die missionarische Kraft des Fürbittgebets[281-283] . . . . . . . . . . . . 243II. Maria, die Mutter der Evangelisierung [284] 244Ein Geschenk Jesu an sein Volk [285-286] 244Der Stern der neuen Evangelisierung [287-288] 247

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