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Die Fundamente der Führung - Österreichs Bundesheer

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ÖMZÖsterreichische Militärische ZeitschriftIn dieser OnlineausgabeGunther Hessel<strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>Christian WolfQuo vadis Russland?<strong>Die</strong> aktuelle russische SicherheitsstrategieHubert Michael Ma<strong>der</strong>„Zieh mich nicht unüberlegt und bring mich nicht ohne Ehre zurück!“Maximilian Freiherr von Wimpffen(1770-1854)Eberhard Birk<strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor .500 JahrenZusätzlich in <strong>der</strong> PrintausgabeUlrich Schlie<strong>Die</strong> Neuausrichtung<strong>der</strong> Bundeswehr:Hintergründe, Aufgaben, Ziele und PerspektivenPedi D. LehmannIsrael im ägyptischen FrühlingDer politische Umbruch in Nahost unterstreicht die Signifikanz des israelisch-ägyptischen Friedensvertragesund stellt Israel vor neue Herausfor<strong>der</strong>ungenWolfgang TausAphrodite ist noch immer aufUrlaubZur Situation in ZypernDavid NoackVerschiedene Prioritäten<strong>Die</strong> Außenpolitik <strong>der</strong> Slowakischen Republik von Mečiar bis Fico - eine „Vision einerpolitischen Selbstständigkeit“?sowie zahlreiche Berichte zur österreichischen und internationalen VerteidigungspolitikÖMZ-Online 6/2011


<strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>Gunther HesselWie vermutlich für viele Kameraden wardie spezielle Lea<strong>der</strong>ship-Herausfor<strong>der</strong>ungfür mich <strong>der</strong> Grund, den Offiziersberuf zuwählen. Laufende Erfahrungen in mehreren Kommandantenfunktionen,gepaart mit Wissen aus den Ausbildungenwährend meiner Laufbahn und aus einer Unzahlvon Büchern, konnte ich in den letzten Jahren durchganzheitliche, lebensumfassende Sichtweisen ergänzen.Gerade persönliche Erfahrungen und v.a. Erkenntnisseim letztgenannten Bereich weckten schließlich in mir denRuf, dies mit dem klassischen Wissen über <strong>Führung</strong> zuverknüpfen. Vorliegende Gedanken entstammen dahermeinem immer größer gewordenen Bedürfnis, mir meinepersönliche, umfassende Perzeption zu Lea<strong>der</strong>ship ineinem Guss, kompakt und aussagekräftig, von <strong>der</strong> Seelezu schreiben. 1)<strong>Führung</strong> findet in einer Vielzahl von Situationen destäglichen Lebens statt, v.a. natürlich im beruflichen Umfeld- ob in <strong>der</strong> Verwaltung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> freien Wirtschaft, obin kleinen Betrieben o<strong>der</strong> Großkonzernen, ob bei Vereinen,NGOs o<strong>der</strong> bei organisierten Aktivitäten in <strong>der</strong> Freizeit- also überall dort, wo eine Gruppe von Menschen einbestimmtes Ziel verfolgt und sich dazu in irgendeinerForm mehr o<strong>der</strong> weniger hierarchisch organisiert.Drei Dinge, die als <strong>der</strong> <strong>Führung</strong> immanent bezeichnetwerden können, sind dabei zu erkennen:- <strong>Die</strong> <strong>Führung</strong>skraft hat bestimmte Ziele zu erreichen,- <strong>Führung</strong> betrifft Menschendirekt und/o<strong>der</strong> indirekt,- <strong>Führung</strong> ist gekennzeichnetdurch Übernahmevon Verantwortung.Beginnend im familiärenund schulischen Umfeld,ist je<strong>der</strong> Mensch inseinem Leben mit <strong>Führung</strong>auf vielerlei Art inBerührung gekommen undhat dadurch auch eine sehrsubjektive Vorstellung vondieser Thematik; außer manerfuhr führungsrelevanteAusbildungen, wie z.B.im Rahmen von Managerkursenund Seminarenaller Art o<strong>der</strong> an speziellen<strong>Bundesheer</strong>/Sima<strong>der</strong><strong>Führung</strong>sausbildungsstättenwie den Militärakademien.Meist bleibt jedochauch hier <strong>der</strong> Eindruck <strong>der</strong><strong>Führung</strong>skomplexität verschwommenaufgrund verschiedener Schwergewichtebasierend auf persönlichen Erfahrungen und/o<strong>der</strong> Traditionensowohl <strong>der</strong> Lehrenden als auch <strong>der</strong> Betroffenen.Im folgenden Artikel wird versucht, die <strong>Fundamente</strong><strong>der</strong> <strong>Führung</strong> in ihrer Komplexität zu erfassen. Damitsoll es interessierten Personen, hauptsächlich natürlich<strong>Führung</strong>skräften, ermöglicht werden, bewusst über ihreSituation als <strong>Führung</strong>sverantwortliche nachzudenken,mögliche Defizite o<strong>der</strong> zu wenig beachtete Blickwinkelzu erfassen und bewusst mit ihrer aktuellen <strong>Führung</strong>ssituationzu vergleichen. Bewusstheit ist <strong>der</strong> Schlüssel zurErkenntnis und damit zur Weiterentwicklung <strong>der</strong> eigenen<strong>Führung</strong>sfähigkeiten.Voraussetzen muss ich dabei, dass mein Aufsatz aufeiner positiven <strong>Führung</strong>sabsicht aufbaut, eingebettet in einfunktionierendes Gesellschaftssystem nach westlichem,demokratischen Muster. Obwohl aus einer militärischenTradition stammend, versuche ich allgemein zu bleiben,damit <strong>Führung</strong>skräfte aus allen Bereichen davon profitierenkönnen.Es sind drei <strong>Fundamente</strong> zu definieren, auf denenerfolgreiches Führen aufbaut:1. Instrumente, Fähigkeiten und Kenntnisse, die manbenutzt, um <strong>Führung</strong> zu organisieren und Entscheidungenrichtig aufzubereiten.Das ist jener Punkt, <strong>der</strong> allgemein anerkannt ist undmeist in verschiedensten Formen gelehrt wird.<strong>Führung</strong>skräfte spielen in Unternehmen eine zentrale Rolle, da sie durch den gezielten Einsatzunterschiedlicher Instrumente wesentlich zum Unternehmenserfolg beitragen (Bild: Handwerk 2005;Brigadier Mag. Robert Pra<strong>der</strong> im Gespräch mit Generalleutnant Mag. Edmund Entacher).ÖMZ-Online 6/2011


Hessel: <strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>2. <strong>Die</strong> Kraft <strong>der</strong> eigenen Persönlichkeit, durch die manauf alle Menschen wirkt, die von den eigenen <strong>Führung</strong>smaßnahmenunmittelbar betroffen sind.Das ist jener Punkt, <strong>der</strong> am meisten durch Betroffenewahrgenommen, dabei aber auch oft als unverän<strong>der</strong>lichhingenommen wird. Eine <strong>Führung</strong>sperson ist nun mal so,wie sie ist. Und die <strong>Führung</strong>sperson selbst ist oft zu wenigreflektiert, um die Auswirkungen ihrer Persönlichkeit inihrem Einflussbereich bewusst wahrzunehmen.3. <strong>Die</strong> Motivation <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft, die sämtlicheHandlungen und Entscheidungen trägt.Und das ist jener Punkt, <strong>der</strong> fast immer untergeht, indem aber vielleicht die wahre Kraft des <strong>Führung</strong>serfolgeszu finden ist.<strong>Die</strong>se drei Punkte ergänzen sich gegenseitig. <strong>Führung</strong>ist daher immer ganzheitlich zu betrachten und v.a. vordiesem ganzheitlichen Hintergrund zu lehren. Ohne dieBerücksichtigung aller Punkte gemeinsam wird eine<strong>Führung</strong>skraft früher o<strong>der</strong> später scheitern o<strong>der</strong> zumindestin Schwierigkeiten kommen, je nachdem, wie ernstsich die <strong>Führung</strong>ssituation darstellt, welche Zwänge undAbhängigkeiten zwischen den Ebenen bestehen.Was man sich selten bewusst macht: Allen drei Punktenkann man sich im Rahmen eines offenen, persönlichenLernprozesses nähern. Man muss sich <strong>der</strong> Thematiken nurannehmen, sich ihnen stellen und sich weiterentwickelnwollen.Instrumente, Fähigkeiten undKenntnisse, die man benutzt, um<strong>Führung</strong> zu organisieren undEntscheidungen richtig aufzubereitenEine <strong>Führung</strong>skraft ist meist eingebettet zwischeneiner übergeordneten und mehreren untergeordnetenEbenen. Dazu kommt eine Vielzahl an Schnittstellen,also Entscheidungen beeinflussende Stellen mit mehro<strong>der</strong> weniger großen Abhängigkeiten auf verschiedenenEbenen.Allein aus dieser Konstellation lassen sich zwei Ableitungenzur <strong>Führung</strong>sfähigkeit treffen:- die Fähigkeit zur Kommunikation;- die Fähigkeit zur Beherrschung von Komplexität.In dieses Umfeld eingebettet hat die <strong>Führung</strong>skrafteine Aufgabe zu bewältigen, eine Vision zu verfolgen, einZiel zu erreichen bzw. ein Problem zu lösen. Das geht nurüber die Beherrschung eines Prozesses, <strong>der</strong> letztendlich ineiner Entscheidung mündet bzw. in <strong>der</strong> Umsetzung sowieKontrolle jener Entscheidung. Dazu bedient sie sich in <strong>der</strong>Regel einer bestimmten Methode, also eines <strong>Führung</strong>sprozesseso<strong>der</strong> <strong>Führung</strong>sverfahrens.Da so ein Prozess auf einer Zeitachse abläuft, ist einwesentliches Element im gesamten Prozess <strong>der</strong> Umgangmit Einflüssen aller Art, mit denen Verän<strong>der</strong>ungen einhergehen.Daraus leitet sich die Fähigkeit zur Beherrschungvon Flexibilität ab.Auf diese vier Punkte wird nun genauer eingegangen.<strong>Die</strong> Beherrschung eines <strong>Führung</strong>sverfahrens istdabei ein fundamentaler Baustein, um zielgerichtet zueiner möglichst optimalen Entscheidung zu kommen. Jenach Komplexität bzw. Hierarchieebene und Traditiongibt es verschiedene, in ihrer Grundstruktur ähnlicheAusprägungen von Verfahren. In <strong>der</strong> Folge wird dieseGrundstruktur beschrieben, die für die Entscheidungsfindungin je<strong>der</strong> Lebenslage, für beinahe jede Situation undvon unteren bis hinauf zu hohen <strong>Führung</strong>sebenen mitErfolg anwendbar ist.Eine Aufgabe, eine Vision, ein bestimmtes Ziel o<strong>der</strong>ein Problem ist dabei <strong>der</strong> Ausgangspunkt. Ihm folgt dasErfassen <strong>der</strong> Situation in ihrer gesamten Komplexität undAbhängigkeit von innen und außen. Dabei geht es um dieErfassung von Vorgaben, Schnittstellen, Erfor<strong>der</strong>nissen,Rahmenbedingungen usw., also um die Erfassung allerentscheidungsrelevanten Zusammenhänge. Dabei ist auchein „guter Draht“ zu den übergeordneten Ebenen wichtig,um, durchaus unter gezielter Einflussnahme, von dortwirklich notwendige, möglichst verlässliche Rahmenbedingungenzu erhalten bzw. einfor<strong>der</strong>n zu können. VerlässlicheInformationsquellen nach außen sind letztlich sowichtig, dass dazu oft eigene Ressourcen und Kapazitätennotwendig sind. Denn verlässliche Information ist die Basis<strong>der</strong> folgenden Beurteilung aller entscheidungsrelevantenZusammenhänge, die in <strong>der</strong> Regel durch einen Stab, einManagement durchgeführt wird. <strong>Die</strong>s kann, muss abernicht, durch erste, sehr allgemein gehaltene Vorgaben durchden Verantwortlichen geprägt sein. <strong>Die</strong>se Vorgaben könnendie zuarbeitenden Stellen zum Beispiel in eine bestimmte,sehr ungewöhnliche, innovative und kreative Richtunglenken, die in einem Normprozess vermutlich nicht aufgekommenwäre. Grundsätzlich soll man die kreative Arbeiteines Stabes aber nicht von vornherein einschränken.Jetzt folgt die Knochenarbeit, nämlich eine fundierteBeurteilung <strong>der</strong> eigenen Ressourcen, <strong>der</strong> Umfeldbedingungenwie Marktanalysen, <strong>der</strong> möglichen Standorte,Lieferanten und natürlich <strong>der</strong> Konkurrenz etc. Jede dieserBeurteilungen zieht Folgerungen nach sich, also Konsequenzenund Bewertungen, die für die Generierung vonEntscheidungsvarianten von Bedeutung sind. Am Endewerden so grundsätzlich machbare Entscheidungsvariantendefiniert, die in <strong>der</strong> Folge auf ihre Vor- und Nachteileabgewogen werden. Nicht aufgrund <strong>der</strong> Anzahl vonVor- o<strong>der</strong> Nachteilen, son<strong>der</strong>n aufgrund <strong>der</strong> Gewichtungbeurteilt die <strong>Führung</strong>skraft die Qualität <strong>der</strong> Varianten undlegt sich auf die optimale fest. Es folgt die Entscheidung,<strong>der</strong> wichtigste und markanteste Punkt im gesamtenProzess, denn genau hier und jetzt konkretisiert sich dieVerantwortung des Führers, hier bündelt sich seine Kraft.Das ist für manche ein schwer überwindbarer Schritt,denn so ein Prozess ist, v.a. wenn er unter Zeitdruckabläuft, auch unter guter Informationslage immer durchUnsicherheit belastet - was auch eine gewisse Unsicherheitbezüglich <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> Entscheidung mit sich bringt.Dazu kommt, dass jede Entscheidung immer Nachteilebeinhaltet, die einerseits bewusst in Kauf zu nehmen undan<strong>der</strong>erseits durch Begleitmaßnahmen abzufe<strong>der</strong>n sind.Grundsätzlich gilt, dass je<strong>der</strong> Beurteilungsprozess miteiner klaren Entscheidung abzuschließen ist.Typisch für den Ablauf des Prozesses ist eine Art„Trichterung“ während <strong>der</strong> Beurteilung. Zuerst hat manÖMZ-Online 6/2011


die Komplexität und dieZusammenhänge in ihrergesamten Breite zuerfassen, um daraus ineinem immer schmälerwerdenden Beurteilungsprozess,<strong>der</strong> ungebrochenentlang eines roten Fadens(durch die Folgerungen,also die qualitativen Aussagenzu den Beurteilungen)abzuführen ist,zum Schluss über mehreremachbare Lösungen eineoptimale zu generieren.<strong>Die</strong> Umsetzung <strong>der</strong>Entscheidung in Formvon klaren, präzise formuliertenAufträgen, Befehlen,Anweisungen undVorgaben ist <strong>der</strong> nächsteSchritt. Dabei ist zu beurteilen,inwieweit diedurchführenden Elementeund Personen Rahmenbedingungenund Vorgabenbenötigen o<strong>der</strong> inwieweit<strong>Bundesheer</strong>/HBF/HartlHandlungsfreiheit gegeben werden darf o<strong>der</strong> auch muss.Grundsätzlich gilt: Wenn man jemandem einen Auftragerteilt, sind auch die zur Umsetzung notwendigen Mittel,also Rahmenbedingungen und Ressourcen, zur Verfügungzu stellen. Inwieweit Vorgaben notwendig sind, ist inerster Linie von den Fähigkeiten und Persönlichkeiten<strong>der</strong> umsetzenden Personen abhängig. <strong>Die</strong>se individuellzu erkennen und daher die Aufträge daran anzupassen,ist ein bedeuten<strong>der</strong> Erfolgsfaktor und wird meist grobunterschätzt. <strong>Die</strong> Auftragserteilung und Entscheidungsumsetzungan die nächste Ebene darf also auf keinen Fallschablonenhaft geschehen, son<strong>der</strong>n hat sich an den Fähigkeitenund Persönlichkeiten <strong>der</strong> handelnden Menschen zuorientieren. (Dschingis Khan, dem großen Mongolenfürsten,wird nachgesagt, dass er niemals einem UnterführerAufträge gegeben hat, die jener nicht umsetzen konnte.Er war kraft seiner Menschenkenntnis und -einschätzungin <strong>der</strong> Lage, durch den Umfang und die Formulierung<strong>der</strong> Aufträge seinen Unterführern immer Aufgaben zuerteilen, die diese gerade noch bewältigen konnten, wasein entscheiden<strong>der</strong> Schlüssel zum Aufbau des größtenReichs <strong>der</strong> Geschichte war.)Der letzte Schritt im Prozess ist die Kontrolle undÜberwachung <strong>der</strong> Umsetzung; insofern bedeutend,als hier naturgemäß laufend Schwierigkeiten auftretenkönnen, die eine Folgebeurteilung <strong>der</strong> Lage erfor<strong>der</strong>nund damit anpassende, optimierende und ergänzende<strong>Führung</strong>smaßnahmen.Für den gesamten Prozessablauf ist die <strong>Führung</strong>skraftverantwortlich. Eine wichtige Voraussetzung fürdas Gelingen liegt in <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft,diesen Prozess stabsdienstlich zu organisieren. Stabsbzw.Managementmitglie<strong>der</strong> und untergeordnete StellenDer Austausch von Wissen, Information und Erfahrung ist grundlegend für eine erfolgreiche Kommunikationund stellt einen wesentlichen Eckpfeiler in <strong>der</strong> Entscheidungsfindung dar. <strong>Führung</strong>skräfte sinddemnach gefor<strong>der</strong>t, Ziele und Aufträge an ihr Team wirkungsvoll zu übertragen, um Verzögerungenund Blockaden in <strong>der</strong> Zusammenarbeit bestmöglich zu vermeiden (Bild: Befehlsausgabe Kompanie;Übung European Rhino 2010 in Belgien).haben aufgrund von Aufträgen zeitgerecht und qualitativden Prozess durch das Zur-Verfügung-Stellen vonverlässlichen Informationen und Fachbeurteilungen zuunterstützen. Dazu benötigt die <strong>Führung</strong>skraft die Fähigkeitzur Delegation. <strong>Die</strong>s ist nicht so einfach, wie esvielleicht scheint, denn <strong>Führung</strong>skräfte neigen oft dazu,alles selber machen zu wollen, weil sie glauben, allesbesser zu wissen. Allerdings wird dann das Arbeitspensumrasch zu groß, und <strong>der</strong> Überblick geht aufgrund <strong>der</strong>vielen Detailarbeit zunehmend verloren. Es ist wichtiger,eine wachsame Intelligenz zu entwickeln, aufbauend aufErfahrung, Logik und Kenntnis <strong>der</strong> Zusammenhänge, umsämtliche Beiträge <strong>der</strong> Managementmitglie<strong>der</strong> in ihrenKernaussagen bezüglich des Gesamtzusammenhangsmitzubeurteilen und durch kritische Fragestellungen <strong>der</strong>enQualität festzustellen.Den Prozess sowie die Organisation des Prozesseskann und soll man anhand praktischer, konkreter Beispielein Form von Planspielen üben und trainieren.Zur Beherrschung <strong>der</strong> Komplexität gibt es vieleunterstützende Komponenten, <strong>der</strong>en Berücksichtigungbzw. Nutzung von großer Bedeutung sein kann.Das eben beschriebene <strong>Führung</strong>sverfahren ist schoneine entscheidende Komponente, v.a., wenn dieser Prozessallen Mitarbeitern bekannt ist und die Durchführung ineiner entsprechend zweckmäßigen, abgestimmten undeingespielten Organisation sicher abläuft.In Ergänzung dazu ist es notwendig, die Aufbauorganisation,also die Struktur <strong>der</strong> zusammenarbeitendenStellen, prozessorientiert und zweckmäßig zu gestalten.Dazu passend ist die Ablauforganisation festzulegen, in <strong>der</strong>Verantwortlichkeiten und Informationsflüsse in Geschäftsordnungendefiniert werden. Beide Komponenten werdenÖMZ-Online 6/2011


Hessel: <strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>oft abstrakt und zu detailliert konstruiert und danach für„immer und ewig“ festgelegt. Dabei wird übersehen, dassdie Aufbau- und Ablauforganisation immer nur so gutist wie die Persönlichkeiten, die sie ausfüllen. Deshalbist es logisch, die Organisation auch auf die Fähigkeitenund Persönlichkeiten <strong>der</strong> Mitarbeiter abzustimmen, waslaufend zu Adaptionen führen kann. Der Mittelweg zwischenverlässlichen und Sicherheit gebenden Strukturenund Abläufen sowie notwendigen Anpassungen scheinthier <strong>der</strong> richtige zu sein. Je größer und komplexer ein<strong>Führung</strong>sbereich wird, desto mehr müssen System undSicherheit in den Abläufen vor dem freien Fluss <strong>der</strong> Kräfteo<strong>der</strong> <strong>der</strong> „allein bestimmenden Genialität“ des Verantwortlichenherrschen. Hier muss sich die <strong>Führung</strong>skraftaber gleichzeitig auch auf die Beiträge seiner (mit entsprechendemHandlungsspielraum versehenen) Expertenabstützen können, Experten, die man kennt, entsprechendindividuell führt und wo gegenseitiges Vertrauen die Basisgemeinsamen Handelns geworden ist.Um die Komplexität sicher erfassen zu können, istes daher wichtig, über zuverlässige Informationsquellenzu verfügen, die letztendlich auch in die Beurteilung <strong>der</strong>Verlässlichkeit und Fähigkeiten <strong>der</strong> Menschen mündet,die die Informationen aufbereiten und zur Verfügungstellen. Wissens- und Informationsmanagement sind indiesem Zusammenhang wichtige Grundvoraussetzungen,wobei aufgrund <strong>der</strong> heutigen Informationsflut eigeneRessourcen, an Technik wie Personal, unumgänglich sind.<strong>Die</strong> wenigen, wirklich entscheidenden Informationen mitUnterstützung <strong>der</strong> zuarbeitenden Stellen herauszufiltern,gehört mit zu den wesentlichen Aufgaben eines erfahrenenFührers und seines Stabes.Der stabsdienstlichen Organisation, wo, wann undwie die entsprechend aufbereiteten Informationen zusammengeführtwerden, kommt, durch Festlegung vonBesprechungen zur Information, zur Koordination und fürZwischenentscheidungen, gesteigerte Bedeutung zu.<strong>Führung</strong>sgrundsätze, die jede <strong>Führung</strong>skraft verinnerlichthaben sollte, sind ein wesentliches Hilfsmittel, umden Überblick in einem komplexen Beurteilungsprozesszu bewahren. Sie sind als eine Art „Essenz“ für jedeEntscheidungsfindung zu betrachten, aber auch um dieoben erwähnten Strukturen und Abläufe festzulegen.Sie erinnern an allgemeingültige Grundregeln, die sichüber die Jahrhun<strong>der</strong>te im Bereich Lea<strong>der</strong>ship/<strong>Führung</strong>bewährt haben, und sie unterstützen bei je<strong>der</strong> wichtigenWeichenstellung. <strong>Die</strong> <strong>Führung</strong>sgrundsätze „Klares Ziel“und „Schwergewichtsbildung“ beugen Verzettelung vor,„Handlungsfreiheit“ überträgt Verantwortung und Motivation,„Ökonomie <strong>der</strong> Kräfte“ hält die Ressourcenlagebewusst, „Einheit <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>“ erinnert an klare Kompetenzabgrenzungund definierte Verantwortlichkeiten,und „Reservenbildung“ erhöht die Reaktionsfähigkeit beiunsicheren Entscheidungen und unerwarteten Lageentwicklungen,um hier die wichtigsten zu nennen.Ein nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Aspekt ist dabei auchdie Erfahrung <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft. Um alle Mittel zur Beherrschunghoher Komplexität aufeinan<strong>der</strong> abgestimmtausnutzen zu können, bedarf es in <strong>der</strong> Regel einer gewachsenenErfahrung. Zu rasch in komplexe Systeme hineingestelltzu werden, birgt daher die Gefahr des Scheiternsin sich. Stetiges Wachsen von einer Aufgabe und Ebenein die nächsthöhere beugt dieser Gefahr vor. <strong>Die</strong>s kanndurchaus rasch erfolgen, sodass <strong>Führung</strong>stalente auch injungen Jahren schon in Spitzenfunktionen zu finden sind.<strong>Die</strong> Ergänzung von jungem Wissen, neuem Denken undentsprechen<strong>der</strong> Dynamik mit jahrzehntelanger Erfahrung,dem Gespür und dem Instinkt „alter Hasen“ ist dabei einebeson<strong>der</strong>s fruchtbringende Kombination. Je nach Verantwortungslageist dabei aber die natürliche, gegenseitigeAkzeptanz und Toleranz zu leben anstatt Konkurrenz undAblehnung, damit diese Kräfte, sich gegenseitig ergänzend,erfolgreich wirken und sich nicht aus Ego, Eitelkeitund Machtstreben unter Vernachlässigung <strong>der</strong> Sachezerreiben. Letzteres ist lei<strong>der</strong> oft zu beobachten. <strong>Die</strong>seGefahr hält man gering durch die richtige Motivation zur<strong>Führung</strong>, wie sie später beschrieben wird.Wichtig ist es auch, durch Personalplanung und Personalentscheidungengeeignete Mitarbeiter zu generieren.Meist sind die Mitarbeiter innerhalb einer stehenden Strukturfür ihre Aufgaben sehr gut verwendbar und werden v.a.bei entsprechen<strong>der</strong> <strong>Führung</strong> ihre Leistung bringen; es istjedoch unrealistisch, immer und überall nur die Besten <strong>der</strong>Besten rekrutieren zu wollen. <strong>Die</strong> Masse <strong>der</strong> Menschen istdurch eine gewisse Durchschnittlichkeit gekennzeichnet,aber bei gezielter Nutzung <strong>der</strong> speziellen Fähigkeiten, dieje<strong>der</strong> Mitarbeiter in gewissen Bereichen mitbringt, undentsprechen<strong>der</strong> Wertschätzung - gepaart mit Vertrauen- ist auch aus scheinbar durchschnittlichen Mitarbeiternwertvolles Personal zu formen. Bei definierten Schlüsselpositionenwird jedoch darauf zu achten sein, diese mitwirklich fähigen und geeigneten Personen zu besetzen,wobei fähig sich bei Weitem nicht nur auf die Fachkompetenzbezieht. Ein dabei nicht selten zu beobachtendesPhänomen ist, dass <strong>Führung</strong>skräfte sich nicht gerne mitvielversprechenden, zukünftigen Spitzenkräften umgeben,weil das Führen von unreflektierten und intellektuell unterlegenenJasagern einfacher ist. An<strong>der</strong>nfalls ist man als Persönlichkeitmehr gefor<strong>der</strong>t, denn Spitzenkräfte zu führenheißt auch, eigene hohe Kompetenz beweisen zu müssen,also auch einen gewissen Druck von unten auszuhaltenunter gleichzeitiger Hintanstellung von Konkurrenzdenken.Gerade hier zeigen sich also <strong>Führung</strong>skompetenzund -souveränität.Ist dennoch eine Person im Team, die trotz allerpositiven Absichten und Unterstützung durch den Verantwortlichenständig durch Aggression, Pessimismus,Unfähigkeit o<strong>der</strong> Falschheit das Umfeld laufend undnachhaltig negativ beeinflusst, so ist diese Person ohneweiteres Zögern zu entfernen.<strong>Die</strong> Fähigkeit zu delegieren, in Verbindung mit dempersönlichen Management, stellt einen schon erwähntenwichtigen Faktor dar. Ein oft gesehener Fehler einer<strong>Führung</strong>skraft ist, alles selber machen zu wollen, anstattMitarbeiter durch <strong>Führung</strong> gezielt zu nutzen. Eine <strong>Führung</strong>skraftarbeitet nicht im klassischen Sinne, sie delegiertan ihre Mitarbeiter und behält den Überblick über allerelevanten Verbindungen und Zusammenhänge. Das istihre Hauptaufgabe, und darauf hat sie die Masse ihrerZeit zu verwenden. Eine <strong>Führung</strong>skraft arbeitet durchÖMZ-Online 6/2011


ÖMZ-Online 6/2011wachsames Denken, Entscheiden und persönliches Engagementallen einflussrelevanten Menschen und Stellengegenüber. Letzteres wird oft unter dem Begriff Lobbyingzusammengefasst. Eine <strong>Führung</strong>skraft muss sich selberführen können, das persönliche Zeitmanagement mussauf <strong>Führung</strong> ausgerichtet sein und nicht auf Arbeit. Esgibt viele <strong>Führung</strong>skräfte, die zu viel selber (im Detail)arbeiten, meist aus Mangel an Vertrauen bzw. Kenntnisüber die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter, o<strong>der</strong> weil sie sich imTagesgeschäft verzetteln o<strong>der</strong> auch, weil sie die <strong>Führung</strong>stätigkeitscheuen, denn Mitarbeiter führen heißt auch, sichmit ihnen auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Das kann Konfrontationbedeuten, schwierige Gespräche und Besprechungen,Personalentscheidungen etc. Für manche <strong>Führung</strong>skräfteist dies einfach unangenehm. Bevor man daher seine Mitarbeiterführt und anleitet, macht man vieles lieber selber.Das sind dann jene <strong>Führung</strong>skräfte, die 12-16 Stunden amTag arbeiten. Noch kann die <strong>Führung</strong>saufgabe auf dieserBasis erfolgreich wahrgenommen werden. Dann wirddie <strong>Führung</strong>skraft auf die nächste Ebene beför<strong>der</strong>t - undscheitert dort vollständig, weil aufgrund <strong>der</strong> größerenKomplexität <strong>der</strong> Arbeitstag zu kurz geworden ist.Inwieweit bei Delegation den untergeordneten StellenHandlungsfreiheit eingeräumt wird, muss hauptsächlichaufgrund <strong>der</strong> individuellen Persönlichkeitsmerkmale undFähigkeiten <strong>der</strong> Untergeordneten beurteilt werden. Dervorhin schon erwähnte <strong>Führung</strong>sgrundsatz <strong>der</strong> Handlungsfreiheitsoll daran erinnern, diese auch so weit wiemöglich zur Verfügung zu stellen. Man muss sich bewusstsein, dass, je komplexer Systeme sind, desto bedeuten<strong>der</strong>die handelnden Menschen werden, die kraft ihrer Kompetenzund Persönlichkeit mit einem großen Anteil anEigenverantwortung in einem vorgegebenen Rahmen dasSystem dynamisch zum Erfolg führen sollen. Starrheitdurch zu viele Vorgaben und zu wenig Verantwortungsübertragungführt zu Inflexibilität und Untätigkeit beiLageän<strong>der</strong>ungen.Wie <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>sprozess beim Umgang mit <strong>der</strong>Komplexität hilfreich ist, so hängt beides mit <strong>der</strong> Beherrschung<strong>der</strong> Flexibilität zusammen.Voraussetzung für Flexibilität ist die Kenntnis <strong>der</strong>Zusammenhänge und damit <strong>der</strong> möglichen Verän<strong>der</strong>ungenund Einflüsse auf laufende Prozesse. Verän<strong>der</strong>ungen undEinflüsse auf einen laufenden <strong>Führung</strong>sprozess sind eineführungsimmanente Tatsache. <strong>Die</strong> <strong>Führung</strong>skraft hatsich dieser Tatsache zu stellen. Dazu benötigt sie jedochAufmerksamkeit, Achtsamkeit und Instinkt, auf welcherEbene auch immer sich Verän<strong>der</strong>ungen anbahnen. Entscheidenddafür ist die Erfahrung, die erst diesen Instinkterzeugt. Mit diesem Instinkt beobachtet man laufend undaktiv alle einflussnehmenden Ebenen, von <strong>der</strong> übergeordneten<strong>Die</strong>nststelle über die Schnittstellen bis zu den umsetzendenEbenen. Je früher sich anbahnende Verän<strong>der</strong>ungenerkannt werden, desto effektiver kann man im Vorfeldagieren bzw. rasch darauf reagieren. Wie<strong>der</strong> stehen dabeiführungsprozessrelevante Strukturen, Abläufe und Informationsflüsseim Vor<strong>der</strong>grund, durch die man in <strong>der</strong> Lageist, Verän<strong>der</strong>ungen zu erfassen und darauf einzugehen. <strong>Die</strong><strong>Führung</strong>skraft hat das Verän<strong>der</strong>ungspotenzial im Zugeeines angepassten <strong>Führung</strong>sverfahrens, einer Folgebeurteilung<strong>der</strong> Lage zu analysieren und etwaige Auswirkungenin den laufenden Prozess zu integrieren. Dazu benötigt <strong>der</strong>Führer Abstand, also die Distanz zu Details anstatt „Blickwinkeleinengende Selbstarbeitstätigkeit“. Ermöglichtwird dies durch eine große und vorurteilsfreie Offenheit.<strong>Die</strong>se Offenheit ist <strong>der</strong> Schlüssel zur Beherrschung <strong>der</strong>Flexibilität. Wie viele <strong>Führung</strong>skräfte gibt es, die durchständige Einflüsse überfor<strong>der</strong>t und ungeduldig werden, diebeginnen sich abzuschotten, die Scheuklappen aufsetzeno<strong>der</strong> die dazu tendieren, Verän<strong>der</strong>ungen nur oberflächlichzu beurteilen, um sie rasch als bedeutungslos einstufenzu können, weil sie es <strong>der</strong> scheinbaren Einfachheit halberso sehen wollen! O<strong>der</strong> die aufgrund langjährigen,einschläfernden Erfolges träge geworden sind und sichanbahnende Zeichen <strong>der</strong> Zeit übersehen. Bequemlichkeit,Engstirnigkeit, aber genauso Übermotivation auf ein Zielhin, Fanatismus sowie Stolz und Überheblichkeit sind dieFeinde je<strong>der</strong> Flexibilität.Verän<strong>der</strong>ungen im Bereich <strong>der</strong> Rahmenbedingungeneines Prozesses sind daher mit Offenheit und Instinkt aktivaufzuspüren, wenn möglich im Entstehen abzuwendeno<strong>der</strong> abzuschwächen bzw. zum eigenen Vorteil zu nutzen.Immer jedoch ist es wichtig, sich <strong>der</strong> Tatsachen anzunehmenund darauf zu reagieren, und zwar mit Distanz, lächelnd,selbstverständlich und mit Gelassenheit. Hier undjetzt zeigt sich wahre <strong>Führung</strong>skapazität. Jetzt muss dasSchiff sicher zwischen den Stürmen Richtung Ziel geführtwerden, auch wenn Kursän<strong>der</strong>ungen notwendig werden.Und wenn ein Sturm zu Mastbruch führt, ist im Rahmendes Gesamten ein Zwischenziel o<strong>der</strong> gar Ausweichziel zubeurteilen und durch klare Entscheidungen festzulegen.All die angeführten Instrumente und Fähigkeitennützen nichts, wenn sie nicht in klare und vielfältigeKommunikationskanäle integriert sind. Hier gibt eseine Vielzahl von Möglichkeiten, die wie die Tasten einesKlaviers durch bewussten Gebrauch zu einer Melodieführen sollten.Besprechungen sind das klassische Instrument, obzur Informationsgewinnung, zur Informationsweitergabeo<strong>der</strong> zur Entscheidungsfindung, ob anlassbezogenmit eigens definiertem Ziel o<strong>der</strong> regelmäßig mit fixemAblauf. Zu Letzterem zählt beispielhaft die morgendliche15-minütige aktuelle Tageskoordinierung genausowie das wöchentliche Routinemeeting. Eines gilt dabeiimmer: Besprechungen müssen geleitet werden. Dazuzählen die Vorbereitung, die Ausgabe eines Ziels unddie Einflussnahme während des Ablaufes, v.a. um notorischeSelbstdarsteller einzubremsen. Je<strong>der</strong> Teilnehmermuss wissen, worum es geht, und seine Aufgabe in <strong>der</strong>Besprechung kennen.Ein wesentliches Element ist die gezielte Aufsicht überdie zu führenden Ebenen im eigenen Verantwortungsbereich,was durch eine ganze Palette von Maßnahmenerfolgen kann und die durch den gezielten Austausch vonInformationen daher im Bereich <strong>der</strong> Kommunikationangesiedelt ist. Aufsicht ist nicht sosehr im Sinne vonKontrolle zu verstehen als im Sinne von Unterstützung;ob konkret auf eine bestimmte, zu erfüllende Aufgabebezogen, ob auf allgemeine, formale und inhaltliche Routineprozessebezogen, ob überraschend, vorbereitet und


Hessel: <strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong><strong>Die</strong> größte Ressource eines Unternehmens ist das Personal. Das Erkennen spezieller Fähigkeitensowie die Gewinnung, För<strong>der</strong>ung und Entwicklung einzelner Mitarbeiter erfor<strong>der</strong>t Fingerspitzengefühlvon Vorgesetzten auf allen Ebenen (Bild: Auswahlverfahren beim <strong>Bundesheer</strong>).geplant, nur vor Ort bekommt man echte Einblicke in dieAbläufe <strong>der</strong> jeweiligen Ebene, in Probleme und Erfolge,in Sorgen und Nöte. Und meist ist man nur vor Ort in <strong>der</strong>Lage, Situationen und Zustände, die für das Gelingeneines <strong>Führung</strong>sprozesses relevant sind, intellektuell undgefühlsmäßig zu erfassen.Das geeignete, oft schon vergessene Instrument dazusind persönliche Gespräche, angewandt zur Detailkoordinierung,Informationsweitergabe, Anleitung undUnterstützung, um bei untergeordneten Ebenen <strong>Führung</strong>„angreifbar und spürbar“ werden zu lassen und umschließlich auch die menschlich-emotionalen Bindungenzu vertiefen. Das persönliche Gespräch, bewusst gesucht,sich zufällig ergebend, bei sozialen Anlässen geführt,getragen durch aufrechte Wertschätzung und ehrlichesInteresse an <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Person ist eine ungemein wertvolleund Vertrauen schaffende Komponente <strong>der</strong> Kommunikation.<strong>Die</strong> Zeit dafür muss man sich aber nehmen,und die Scheu davor ablegen. Besser ist es, zu delegierenund sich Zeit für <strong>Führung</strong>skontakte aller Art zu nehmenund sich manchmal auch möglicher Kritik zu stellen, alssich hinter Pseudowichtigkeit und -arbeit in seinem Bürozu verstecken. Eine <strong>Führung</strong>skraft, die diese Kontaktevernachlässigt, entfremdet sich und läuft Gefahr, denRealitätsbezug zu verlieren.Mitarbeitergespräche zur persönlichen Perspektivendefinitionschaffen Klarheit und Sicherheit.Anweisungen und Befehle nach getroffenen Entscheidungen,begleitet von definierten Vorgaben undRahmenbedingungen, werden meist schriftlich, aber auchmündlich kommuniziert. Entscheidend ist dabei, dassman die aus einer komplexen Ausgangslage generierteEntscheidung in das komplexe Umfeld zurückführt undmit Rahmen und notwendigen Vorgaben (bei aller Handlungsfreiheit)versieht, damit die umsetzenden ElementeKlarheit und Sicherheit in ihrer Tätigkeit erlangen.<strong>Die</strong> technischen Möglichkeiten sind für alle Kommunikationsmöglichkeitenauszunutzen, ohne jedoch den persönlichenKontakt zu allen Ebenen zu vernachlässigen.Grundsätzlich gilt es, wie so oft, das richtige Maß zufinden. Kommunikation hat zielgerichtet und klar zu sein,soll Sicherheit geben und nicht Verwirrung hervorrufen.Durch die Nutzung <strong>der</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong> Kommunikationzeigt die <strong>Führung</strong>skraft ihre Anwesenheit und Kompetenz.Versuchte Manipulation durch die Verbreitungvon Unwahrheiten führt früher o<strong>der</strong> später unweigerlichzu Vertrauensbruch und zum Scheitern. Durch gezielte,aber im Prinzip ehrliche und aufrichtige Kommunikationist die <strong>Führung</strong>skraft in <strong>der</strong> Lage, Sicherheit zu erzeugenund Vertrauen zu vermitteln, Vertrauen in sie und ihreEntscheidungen. Vertrauen, dass <strong>der</strong> Führer alles im Griffhat, dass das „Werkl“ funktioniert.<strong>Die</strong> Kraft <strong>der</strong> eigenen Persönlichkeit,durch die man auf alle Menschen wirkt,die von den eigenen<strong>Führung</strong>smaßnahmen unmittelbarbetroffen sindEine <strong>Führung</strong>skraft, die den <strong>Führung</strong>sprozess beherrscht,sich in einem komplexen Umfeld sicher bewegt,auf Lageän<strong>der</strong>ungen flexibel und angepasst agiert bzw.reagiert und die Mittel <strong>der</strong> Kommunikation breit undbewusst anwendet, verfügt über eine gute Basis für erfolgreiche<strong>Führung</strong>.Es gilt nun, sich bewusst zu werden, dass jede <strong>Führung</strong>skraftdie gesamte Ausstrahlung und Kraft ihrerPersönlichkeit, gekennzeichnet durch all ihre Charaktereigenschaftenund ihrGemüt, angeboren o<strong>der</strong>anerzogen, in ihren gesamtenEinflussbereich miteinbringt.Werkzeuge und Fähigkeitensind also unweigerlichgekoppelt mit<strong>der</strong> Persönlichkeitsstruktur<strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft, und erstdiese Koppelung führt zuErfolg o<strong>der</strong> Misserfolg.Deshalb ist es für eine <strong>Führung</strong>skraftso wichtig, sichüber ihre persönliche Artund <strong>der</strong>en Auswirkungenklar zu werden.Es ist im Rahmendieses Aufsatzes nichtmöglich, die verschiedenenCharaktere und Gemüter<strong>Bundesheer</strong>und <strong>der</strong>en Wirkung undBedeutung in Relation zuihren <strong>Führung</strong>squalitätenzu setzen. Viele Bücherwurden dazu geschrieben.ÖMZ-Online 6/2011


Aus den unter Punkt 1 genannten Fähigkeiten sind jedochAbleitungen hinsichtlich günstiger und ungünstiger Eigenschaftenzu treffen.Aus den Bereichen <strong>Führung</strong>sverfahren, Komplexitätund Flexibilität lassen sich als positiv die Neigungen zurNeugierde, Wachsamkeit, Offenheit und Aufgeschlossenheitschlussfolgern. Als Entscheiden<strong>der</strong> muss man über eingesundes Maß an Selbstvertrauen verfügen, das nicht zurÜberheblichkeit werden darf. Rasche Auffassungsgabeund Vorurteilsfreiheit för<strong>der</strong>n das Erkennen von Zusammenhängenund sich anbahnenden Verän<strong>der</strong>ungen. DerHang zu Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, gepaart mit <strong>der</strong>Bewahrung <strong>der</strong> eigenen Authentizität, för<strong>der</strong>t das Vertrauenund bewahrt vor Verstrickungen, und das Talent zurzwischenmenschlichen Kommunikation im Nutzen <strong>der</strong>Kommunikationsmittel wäre <strong>der</strong> Feinschliff, <strong>der</strong> jedochnur gepaart mit Wertschätzung und aufrichtigem Interessegegenüber an<strong>der</strong>en seinen hohen Wert bekommt.Gelassenheit und Ruhe, verbunden mit innererEntschlossenheit und Verantwortungsgefühl, schaffenVertrauen und Handlungsfähigkeit, v.a. in <strong>der</strong> Krise; Neigungzur Hektik, zu große Emotionalität und cholerischesVerhalten bewirken das Gegenteil. Überheblichkeit undStolz dienen dem Ego und nicht <strong>der</strong> Sache, deshalb istBescheidenheit eine nicht zu unterschätzende Gabe einer<strong>Führung</strong>skraft, die <strong>der</strong> Sache und den Menschen dienenmöchte. Menschlichkeit und normale Emotionalitätför<strong>der</strong>n Vertrauen sowie Sympathie, und Menschenkenntnisals ganz wesentliches Merkmal ermöglicht gutePersonalentscheidungen, gezielte Auftragserteilung unddie richtige Einschätzung von inhaltlichen Beiträgen undSituationen.Gesunde Kritikfähigkeit, gepaart mit <strong>der</strong> Fähigkeitzur Selbstreflexion, ermöglicht die eigene ständige Weiterentwicklung.<strong>Die</strong>se kann auch das „Hineinversetzen inden an<strong>der</strong>en“ betreffen. Wenn ich nicht in <strong>der</strong> Lage bin,die Sprache meiner Mitarbeiter zu sprechen, wenn ichnicht verstanden werde, wenn meine Botschaften nichtankommen, werden die besten Ideen in <strong>der</strong> Umsetzungverkümmern.Abschließend ist als wesentliche Eigenschaft einepositive Grundeinstellung hervorzuheben, ganz im Gegensatzzu einer pessimistischen, übervorsichtigen Haltungo<strong>der</strong> gar permanentem Jammern.All diese Eigenschaften zusammen ergeben im günstigstenFalle ein positives Charisma, das Vertrauen erzeugtund Gefolgschaft sichert. <strong>Die</strong>s nicht nur auf Seiten <strong>der</strong> Untergebenen,son<strong>der</strong>n auch von Seiten <strong>der</strong> Gleichgestelltenund sogar <strong>der</strong> Vorgesetzten, auch wenn gerade bei jenenrecht oft das Gefühl von Machtkonkurrenz provoziertwerden kann.Meist sind <strong>Führung</strong>skräfte überzeugt von ihrer <strong>Führung</strong>sfähigkeit.Selten reflektieren sie bewusst, um dieAuswirkungen ihrer Persönlichkeitsstruktur zu beurteilenund eventuell zu än<strong>der</strong>n. Aber es zahlt sich aus. Immerkann man an sich arbeiten, nicht nur für den Erfolg als<strong>Führung</strong>skraft, son<strong>der</strong>n zum Vorteil <strong>der</strong> eigenen Persönlichkeitsentwicklungin allen Lebensbereichen.Es ist möglich, seine Persönlichkeit zu verän<strong>der</strong>n.Der Mensch ist auf allen Ebenen lernfähig, er muss nurÖMZ-Online 6/2011bereit dazu sein. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten,aus gewohnten Verhaltensmustern auszubrechen, auchwenn es anstrengend ist. Es geht nicht darum, seinePersönlichkeitsstruktur komplett umzustellen, son<strong>der</strong>nseine Stärken weiter zu entwickeln und Schwächen aufein überschaubares Maß zu reduzieren. Und so kann einruhiger und bescheidener Mensch genauso <strong>Führung</strong>scharismaentwickeln wie ein dynamischer und emotionalerTyp - solange sie beide die negativen Ausprägungen ihrerCharaktere im Zaum halten können und die positiven fürihre <strong>Führung</strong>saufgaben zu nutzen in <strong>der</strong> Lage sind. Aufdie Beibehaltung <strong>der</strong> Authentizität <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft istauf jeden Fall zu achten, denn sie ist gleichbedeutend mitGlaubwürdigkeit.Durch die Persönlichkeit wird immer eine bestimmteWertestruktur mit vermittelt, die im günstigsten Fall miteinem Leitbild des Unternehmens gekoppelt ist und imVorbild <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft ihren Nie<strong>der</strong>schlag findet. <strong>Die</strong>seVorbildwirkung ist in ihrer Kraft nicht zu unterschätzen.Kein Führer ist in seiner Persönlichkeit jemals wirklichfehlerlos, jedoch: Was ist schon ein Fehler und was einepositive Eigenschaft?! Es wirkt immer die Gesamtperson,und die eine Eigenschaft zieht schon eine bestimmte an<strong>der</strong>enach sich. Und einmal kann sich eine grundsätzlichpositive Eigenschaft negativ auswirken und dann einenegative positiv, abgesehen davon, dass unterschiedlicheMenschen auch immer unterschiedlich interpretieren. Dabeisollte man jedoch auf eine Falle achten: Es geht nichtdarum, an<strong>der</strong>en zu gefallen, son<strong>der</strong>n <strong>Führung</strong>serfolg zuerzielen, was unter Beachtung <strong>der</strong> menschlichen Komponentenauch zu persönlichem Ansehen führen wird - wobeiLetzteres eben nicht die treibende Kraft sein sollte. Aufjeden Fall gilt es, immer achtsam zu bleiben und an sich zuarbeiten, nicht nur für den <strong>Führung</strong>serfolg, son<strong>der</strong>n auchfür den eigenen - nennen wir es einmal - Lebenserfolg.Das wird in seiner Gesamtheit im folgenden Punktdeutlicher.<strong>Die</strong> Motivation <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft,die sämtliche Handlungenund Entscheidungen trägt<strong>Die</strong> Persönlichkeit <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft, geprägt durchCharakter und Gemüt, wirkt sich nicht nur auf die Handhabung<strong>der</strong> <strong>Führung</strong>swerkzeuge und die Anwendung <strong>der</strong><strong>Führung</strong>sfähigkeiten entscheidend aus, son<strong>der</strong>n sie hängtauch mindestens ebenso stark mit <strong>der</strong> Grundmotivation<strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft zusammen. <strong>Die</strong> Motivation kann letztendlichAnlass sein, die eigenen Persönlichkeitsmerkmaleganz bewusst nachhaltig zum Positiven verän<strong>der</strong>n zuwollen.Es scheint, als folgten <strong>Führung</strong>skräfte im Allgemeinenden nachstehenden Grundmotiven: Dem Streben nachMacht, Geld und Ansehen. Oft ist es auch <strong>der</strong> „Zufall“,<strong>der</strong> eine <strong>Führung</strong>skraft in ihre Position bringt, meist istes eine Mischung aller vier Komponenten. Auch wenn injungen Jahren noch idealistische Gründe den Ausschlagfür eine Berufswahl gegeben haben sollten, gibt es jedochein Phänomen zu beobachten: Macht, Geld und Ansehenbeeinflussen oft auf subtile Art und Weise <strong>Führung</strong>skräfte


Hessel: <strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>und bestimmen während ihrer Karriere zunehmend <strong>der</strong>enHandlungen und Entscheidungen. Das Problem dabeiist nicht nur ein ethisch-moralisches, son<strong>der</strong>n auch, waswenig bewusst ist, ein sachbezogenes. Wenn Geld, Machtund Ansehen als oft unbewusste Motivationsfaktorenzu stark werden, dient man - bewusst o<strong>der</strong> unbewusst -leicht dem eigenen Ego und nicht <strong>der</strong> Sache. Das Strebennach Geld, Macht und Ansehen als treibende Kräfte imHintergrund muss entsprechend befriedigt werden. Entscheidungenwerden dadurch wesentlich mit beeinflusst,und die Objektivität im Sinne <strong>der</strong> Sache bleibt zunehmendauf <strong>der</strong> Strecke.Sich negativ auswirken<strong>der</strong> Egoismus, <strong>der</strong> in <strong>der</strong>Befriedigung durchaus verständlicher persönlicher Zieleseine Ursache findet, ist eine subtile Erscheinung undwirkt im Hintergrund. <strong>Die</strong> Basis davon ist das Bestrebendes Menschen, bedeutend sein zu wollen. Und Bedeutungspiegelt sich in unserer Gesellschaft durch Macht, Ansehenund Geld wi<strong>der</strong>.Nur aufgrund <strong>der</strong> Fähigkeit zur Selbstreflexion kannman sich über die tatsächliche Abhängigkeit von diesenpersönlichen Zielen bewusst werden. Man soll sich selbstprüfen: Geschäftsreisen, 5-Sterne-Hotels, <strong>Die</strong>nstautos,Fahrer, Designerkleidung, immer mehr Bedürfnisse,größeres Haus und tolles Auto, immer teurere Dinge, imRampenlicht stehen, gesellschaftliche Stellung, Rangordnung,mehr Macht und mehr Geld, vieles wird umeinen herum organisiert, Lob und Anerkennung (egal,ob gerechtfertigt o<strong>der</strong> nicht) etc. Fühlt man sich wohl indiesen Situationen, möchte man diese Dinge erreichen,sollte man sich fragen: Inwieweit manipulieren michdiese Dinge, Aussichten, Gedanken, inwieweit sind sieTriebfe<strong>der</strong> meines Handelns, inwieweit beeinflussen siedaher indirekt und direkt, unbewusst und bewusst meine<strong>Führung</strong>sentscheidungen?Man beobachte dazu auch bewusst seine Umgebung:Wie oft bringen persönlicher Konkurrenzkampf und egoistischesErfolgsstreben Reibungsverluste auf Kosten <strong>der</strong>Sache? Man streitet, will sich durchsetzen o<strong>der</strong> muss sichund seine Ideen behaupten, koste es, was es wolle. Nichtso leicht besitzt jemand wirklich die Größe, den an<strong>der</strong>enanzunehmen, sich seine Ideen anzuhören und zu versuchen,kompromissfähig gemeinsam weiterzuarbeiten o<strong>der</strong> gareinen Schritt zurück zu machen, weil man erkennt, hiernicht über ausreichende Gesamtkompetenz im Vergleich zujemand an<strong>der</strong>em zu verfügen. Wie oft geht man in Konfrontation,dabei jedoch übersehend, dass die dadurch ausgelösteProvokation <strong>der</strong> Sache schadet? Hätte man hingegen dieSache als Ziel, würde man sich auf den an<strong>der</strong>en einstellen,ihn versuchen zu verstehen und so eine Basis für Kooperationschaffen. Man muss den an<strong>der</strong>en nicht mögen, aber mansollte mit ihm kooperieren können, noch besser wäre es,ihn für sich zu gewinnen. Das hat nichts mit „Kriecherei“zu tun. <strong>Die</strong> Grenze zwischen „kriechen“ und jemanden fürsich zu gewinnen liegt eben in <strong>der</strong> Motivation. Es geht umdie Frage: Agiere ich, um mein Ansehen zur persönlichenBereicherung und Besserstellung zu erhöhen o<strong>der</strong> um einZiel zu erreichen, um <strong>der</strong> Sache zu dienen?Des Öfteren haben mir bekannte <strong>Führung</strong>spersonenin persönlichen Gesprächen klar zum Ausdruck gebracht,10mehr Geld und Ansehen anzustreben, höhere Funktionen,Positionen und Ränge erreichen zu wollen. Sie sind voneinem ihnen unbewussten Ego im Hintergrund getrieben,ihren Drang nach Bedeutung und Macht o<strong>der</strong> finanziellenZielen zu befriedigen. Gerne spricht man auch kritischo<strong>der</strong> schlecht von an<strong>der</strong>en Menschen in vergleichbareno<strong>der</strong> übergeordneten Positionen (noch bedenklicher,wenn man das auf die untergeordnete Ebene ausweitet)letztendlich doch nur, um sich selber besser zu positionieren.Viele Mittel sind <strong>der</strong> eigenen Machtabsicherungund -erweiterung dienlich, zumindest wird <strong>der</strong> Scheingewahrt, wird verschleiert, wird abgeschwächt o<strong>der</strong>übertrieben, manchmal lei<strong>der</strong> auch gelogen und betrogen.„Lobbying“ und „Networking“ dienen dann nicht mehr<strong>der</strong> Sache, son<strong>der</strong>n dem eigenen Interesse. In wirklichenSpitzenpositionen kann dann <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong>Wirtschaft, des Unternehmens, <strong>der</strong> Anleger und desWeltmarktes so groß werden, dass es leicht geschehenkann, von einer fortreißenden Dynamik zum Handlangerdieser Mächte zu werden und moralische Werte immerweiter aufzugeben. Dazu kommt das Phänomen desScheuklappendenkens. Es werden Argumentationskettenaufgebaut, um Handlungen und Entscheidungen zu rechtfertigen,unter Ausblendung negativer Auswirkungen, dievielleicht gar nicht mehr wahrgenommen werden, weilman sie ja nicht wahrnehmen will. <strong>Die</strong> Gefahr ist groß,dass man in eine scheinbar privilegierte Welt eintaucht,und die Basis, die vielen Ebenen darunter, aus den Augenverliert. Das sind aber jene Ebenen, welche die Auswirkungen<strong>der</strong> eigenen <strong>Führung</strong>stätigkeit verspüren. DasProblem des „neuen Hungers“, die Finanzkrise o<strong>der</strong> dieKlimaerwärmung auf unserer Welt sind Auswirkungendes globalen Versagens vieler politischer und wirtschaftlicher<strong>Führung</strong>skräfte, die aufgrund kurzfristigenErfolgsdenkens, großen Drucks und eingeschränktenBlickwinkels agiert haben.„Das ist ja normal“, ist man geneigt zu denken. Allerdingshat die Norm noch nie den Anspruch auf Richtigkeito<strong>der</strong> Zweckmäßigkeit im sachlichen Bereich erhoben,geschweige denn im ethisch-moralischen.<strong>Die</strong>se Motivationen mit den entsprechenden Handlungenund Entscheidungen wirken dabei nicht nur indiesen globalen Beispielen negativ. Es leidet praktischimmer die Qualität des Produktes, denn jenes steht janicht mehr im Vor<strong>der</strong>grund <strong>der</strong> Bemühungen, son<strong>der</strong>ndas eigene Ego, und damit leiden unweigerlich auch dieKompetenz und damit die Persönlichkeit <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>skraft.<strong>Die</strong> Folge ist Vertrauensverlust auf allen Ebenen,bei den Konsumenten, Mitarbeitern etc., und das gilt imKleinen genauso wie im Großen. Das heißt, rechtschaffeneMotivation ist kein Luxus, den man sich in <strong>der</strong> leistungsorientiertenWelt von heute nicht leisten kann, son<strong>der</strong>nsie ist im Gegenteil eine Notwendigkeit, um mittel- bislangfristig erfolgreich wirken zu können, denn die Basisfür Mittel- und Langfristigkeit im Wirken ist Vertrauen.Rechtschaffene Motivation ist also <strong>der</strong> Ausweg aus <strong>der</strong>Einbahnstraße einer egoorientierten Norm und gewinntheute in Zeiten großer allgemeiner und wirtschaftlicherVerunsicherung als drittes wesentliches Fundament <strong>der</strong><strong>Führung</strong> verstärkt an Bedeutung.ÖMZ-Online 6/2011


Eine <strong>Führung</strong>skraft sollte realistischer Idealist sein.Eine gefestigte, in sich ruhende Persönlichkeit mitethischen Leitlinien des Handelns, eine Persönlichkeit, dieletztendlich nur deshalb führen möchte, um auf dieser WeltPositives zu bewirken. <strong>Die</strong> Motivation könnte daher imIdealfall lauten: „Ich möchte <strong>Führung</strong>spositionen bekleiden,weil ich bereit bin, Verantwortung zu übernehmen,ich mir dieser Verantwortung bewusst bin und diese Kraftmeiner Fähigkeiten und Talente mit Bescheidenheit undzum <strong>Die</strong>nste aller Menschen im Einflussbereich meinesHandelns wahrnehmen möchte.“Wenn diese Motivation im ersten Moment unrealistischklingt, zeigt uns das nur, wieweit wir uns schon vonIdealen entfernt haben. Doch es ist <strong>der</strong> richtige Weg, <strong>der</strong>Weg <strong>der</strong> Zukunft, nicht nur <strong>der</strong> Weg des realistischenIdealisten, son<strong>der</strong>n auch jener <strong>der</strong> erfolgreichen <strong>Führung</strong>skraft.Das Positive und Hoffnungsvolle an dieserGrundmotivation ist, dass so auch langfristig <strong>der</strong> unternehmerischeErfolg gesichert ist. <strong>Die</strong>se Grundmotivation,abgestimmt mit den Fähigkeiten und <strong>der</strong> Persönlichkeit,schafft großes Vertrauen im gesamten Einflussbereich.Dazu zählt Vertrauen in das Produkt, was zum Vertrauendes Konsumenten führt, sowie in <strong>der</strong> gesamten Belegschaft,vom Mitarbeiter über die Schnittstellen bis zuden übergeordneten Ebenen. Und dieses Vertrauen wirdzu einem Turbo für das ganze Unternehmen. Nebenbeierwähnt sichert das auch den persönlichen Erfolg <strong>der</strong><strong>Führung</strong>skraft, quasi als Nebenprodukt.Es ist notwendig, die Frage nach dem fundierten Erlangenund Bewahren dieser positiven Motivation genauer zuerörtern. Natürlich könnte das gerade sachlich abgeleiteteArgument <strong>der</strong> Langfristigkeit und des Vertrauensgewinnsallein ausschlaggebend dafür sein, jedoch: Ist das starkgenug für eine tatsächliche innere Wandlung? Vermutlichnicht, denn zu stark sind die Konditionierungen <strong>der</strong>Gesellschaft von Geburt an.Neben <strong>der</strong> seltenen Ausnahmeerscheinung des geborenenIdealisten (nicht Fanatikers) gibt es natürlichMöglichkeiten <strong>der</strong> persönlichen moralischen Weiterentwicklung,und zwar durch einen - nennen wir es - spirituellenProzess.Am Anfang dieses Prozesses steht die Achtsamkeit, dieBewusstwerdung, die Selbstreflexion. Das ist <strong>der</strong> wichtigsteSchritt, Situationen zu hinterfragen, seine anerzogenenMuster zu beobachten, mit denen man eigentlich unfreidurch das Leben treibt, die automatisierten Reaktionen undEmotionen, nach denen man selber funktioniert, und auchganz allgemein die normierten Wertungen und Meinungenseiner Umgebung bzw. <strong>der</strong> Gesellschaft. Es geht darum,die „Warum“-Frage zu stellen. Ich denke, das ist eine Gabe,ausgelöst durch Neugier, innere Experimentierfreudigkeitund wachsamen, kritischen Intellekt. Ziel könnte es sein,sich all seiner Handlungen und <strong>der</strong>en Auslöser bewusstzu werden. Oft wird diese Bewusstwerdung unterstütztdurch eine instinktive Unzufriedenheit im Leben, wiein Stresszeiten o<strong>der</strong> bei zermürbenden Kämpfen gegenWindmühlen - o<strong>der</strong> durch Schicksalsschläge wie Krankheit,Verlust, Burnout-Erfahrungen und im Scheitern.Spätestens in diesen Situationen stellt sich die „Warum“-Frage von selber. Entwe<strong>der</strong> wischt man sie weg, stütztsich erst recht auf die alten (krankmachenden?) Muster,stürzt sich in Ablenkung wie Arbeit, Spaß und Konsummit <strong>der</strong> Gefahr letztlich frustriert und negativ zu werden.Aber man kann diese Frage auch aufgreifen und beginnen,sich ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Wenn man dies tut,wird man automatisch in ungeahnte Tiefen des Lebensvordringen und unweigerlich auf die Frage aller Fragenstoßen, nämlich <strong>der</strong> nach dem Sinn des Lebens.<strong>Die</strong> umfassende <strong>Führung</strong>skraft beschäftigt sich mitdiesen Fragen und wächst dabei, wobei ein Wachsen meistnur dann möglich ist, wenn man die eigene, gewohnteKomfortzone verlässt und sich <strong>der</strong> Beantwortung vielermöglicherweise unangenehmer (Warum-) Fragen stellt,womit in weiterer Folge auch ein geän<strong>der</strong>tes Verhalteneinhergehen sollte.Und schon ist man mitten in diesem angesprochenenspirituellen Prozess.Zu alldem benötigt man jedoch Zeit, und man musswillens sein, sich selber und seinem Leben den Spiegelvorzuhalten.Es gibt viele Möglichkeiten, sich <strong>der</strong> Thematik zunähern, aber es scheint offensichtlich, dass - wie in denmeisten Religionsgemeinschaften und Weisheitslehrenpraktiziert - die Kombination von Lehre, also logischemIntellekt, und persönlichem Erleben auf einer tieferenWahrnehmungsebene zum Erfolg führt. Nur <strong>der</strong> Intellektist zu wenig, die Philosophie, die Logik ist beschränkt,denn sie stützen sich auf bekannte Fakten, von denenAbleitungen getroffen werden. Wir wissen jedoch nie, obdie Fakten richtig und ausreichend sind. Somit bleibt dielogische Erkenntnis eine Basis, die durch tieferes Erlebenund Erfahren ergänzt werden muss. <strong>Die</strong>se werden herbeigeführtdurch Meditation, Versenkung und Kontemplationbzw. durch Einlassen auf die Gefühlsebene, wodurch manErkenntnisse auf an<strong>der</strong>en Ebenen provozieren und erlebbarmachen kann, die jenseits <strong>der</strong> Logik liegen. Ob diesüber östliche o<strong>der</strong> westliche Methoden geschieht, über religiöseo<strong>der</strong> sonstige spirituelle Ansätze, sei dahingestellt.Es gibt sehr viel mögliche Wege (und Irrwege).<strong>Die</strong> meisten Menschen, die sich diesem Prozess kognitivund emotional stellen und sich dabei nicht in einemneuen Netz verstricken, kommen zur Überzeugung, dassein wesentlicher Sinn im Leben die Weiterentwicklung<strong>der</strong> eigenen Persönlichkeit - hin zu einem liebendenund achtsamen Menschen - ist. Liebend im Sinne vonMitgefühl und Wohlwollen, Akzeptanz und Toleranz,Achtsamkeit, Wertschätzung und Urteilsfreiheit, losgelöstvon <strong>der</strong> Oberflächlichkeit <strong>der</strong> vorherrschenden Normen,aber ohne <strong>der</strong>en Verurteilung und Ausgrenzung.Mit diesen Erkenntnissen allein ist es aber noch nichtgetan, es gilt nun, seine <strong>Führung</strong>shandlungen dem neuenWeltbild, den neuen Werten anzupassen und die alten,seit <strong>der</strong> Geburt konditionierten Muster, nach denen mansein ganzes Leben lang funktioniert hat, zu durchbrechen,was durchaus eine Schwierigkeit darstellen kann. Dasfunktioniert am besten durch tägliche, bewusste Auseinan<strong>der</strong>setzungund Eigenwidmung wie zum Beispiel durchMeditation, Lesen, Gebet o<strong>der</strong> einfaches Nachdenkenunter Einbeziehung <strong>der</strong> Gefühlsebene, begleitet von einerungebrochenen Achtsamkeit im Alltag.ÖMZ-Online 6/2011 11


Hessel: <strong>Die</strong> <strong>Fundamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>Man lebt das Leben erstmals selbst und wird nichtmehr gelebt, ist nicht mehr emotional abhängig von äußerenEreignissen, die sonst Ängste, Sorgen, Hoffnungen,Erwartungen und Druck erzeugen. Das hat nichts mitIgnoranz zu tun, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> richtigen Zuordnungdieser äußerlichen Einflüsse und entspringt dem Wissen,dass Macht, Ansehen und Geld nicht mehr jene entscheidendeBedeutung haben. Sie werden als Muster erkannt,nach denen eine Gesellschaft glaubt funktionieren zumüssen, ohne jeglichen Anspruch auf Wahrheit. Das Egohat nur mehr untergeordnete Bedeutung, und was zählt,ist vorwiegend die Sache, das positiv motivierte Ziel.Und jenes Ziel, also die Sache, wird unter selbstlosenGrundsätzen definiert.In dieser Einstellung und Wertehaltung liegt eine ungeahnteKraft verborgen: die Kraft des Vertrauens. SolcheMenschen sind angesehen, anerkannt und Gefolgschaft istihnen sicher. Ihre Persönlichkeit, ihr Charakter wird durchdiese Grundmotivation positiv beeinflusst. Das Vertrauenerstreckt sich auf ihren gesamten Einflussbereich, nichtnur auf Vorgesetzte und Untergebene, auf Mitarbeiter undGleichgestellte, son<strong>der</strong>n auf das Produkt, und die Menschen,die das Produkt erleben, benötigen, konsumieren.Und dieses Vertrauen garantiert langfristigen Erfolg.Dass man mit einer altruistischen Grundeinstellungdurchaus auch harte Entscheidungen für einzelne Personeno<strong>der</strong> Personengruppen zu treffen haben wird, versteht sichvon selbst, wenn es um das Wohl eines großen Ganzengeht. Entscheidungen bedeuten immer Verän<strong>der</strong>ung fürverschiedene betroffene Personengruppen. Allen kannman dabei nie gerecht werden, aber man kann versuchen,im Gesamtzusammenhang die optimale Kombination ausethisch vertretbarer sowie realisierbarer Entscheidung zutreffen.Zusammenfassung<strong>Die</strong> erfolgreiche <strong>Führung</strong>skraft nutzt alle drei <strong>Fundamente</strong><strong>der</strong> <strong>Führung</strong> in ausgewogenem Maße, die fachlicheKomponente, die Kraft <strong>der</strong> eigenen Persönlichkeit und dieeigene rechtschaffene Motivation. Ein o<strong>der</strong> zwei Elementewerden auf Dauer zu wenig sein, erst die sich ergänzendeKombination aller drei <strong>Fundamente</strong> schafft eine vertrauensvolleBasis, auf <strong>der</strong> mittel- bis langfristig Erfolggarantiert ist. Wobei die Persönlichkeitsmerkmale und dierechte Motivation immer in starkem Zusammenhang zusehen sind. Jemand mit <strong>der</strong> rechten Motivation wird keinmenschenverachtendes Verhalten an den Tag legen.Hat jemand die rechte Motivation und eine menschenfreundlichePersönlichkeit, ist aber unfähig, die Instrumente<strong>der</strong> <strong>Führung</strong> zu nutzen und versagt in <strong>der</strong> Organisationvöllig, wird man ihn zwar als Menschen schätzen, abervon einer <strong>Führung</strong>sposition wie<strong>der</strong> entfernen müssen.Umgekehrt wird einer fachlich guten <strong>Führung</strong>skraft mitmenschenverachten<strong>der</strong> Art und einer egoistisch motiviertenMotivation Vertrauen entzogen und Gefolgschaftmittel- bis langfristig verweigert.Der Mensch ist in allen Bereichen sein ganzes Lebenlang lernfähig. So wie es beispielsweise ein Alkoholikerschaffen kann, seine Sucht zu beherrschen, ist je<strong>der</strong>Mensch in <strong>der</strong> Lage, seine Einstellungen und Handlungen12zu verän<strong>der</strong>n. Menschen sind kognitiv, emotional undsozial lernfähig, sie müssen es nur aufrichtig wollen.Gleichzeitig bleiben wir alle Menschen mit „Fehlern“und „Unzulänglichkeiten“. Sich auch als ein solcheranzunehmen, sich grundsätzlich zu schätzen und sichtrotzdem weiter zu entwickeln, ist mit eine wesentlicheVoraussetzung, seine Außenwirkung voll zur Entfaltungzu bringen.In Kombination mit den Fähigkeiten und den Persönlichkeitsmerkmalenhat man gemeinsam mit <strong>der</strong> rechtenMotivation die Kraft, nachhaltig Großes zu bewirken.Falls Sie, werter Leser, manche dieser Punkte als erstrebenswertbeurteilen, liegt es an Ihnen diese auch zumTeil Ihrer täglichen <strong>Führung</strong>spraxis werden zu lassen. ■ANMERKUNG:1) Aufgrund <strong>der</strong> Kompaktheit <strong>der</strong> Arbeit wurde von mir bewusst aufeine konsequenterweise notwendige Verweisflut verzichtet. Wie fürviele interessierte Leser nachvollziehbar, stütze ich mich einerseits aufdie klassische österreichische <strong>Führung</strong>slehre, verbunden mit vielenLiteraturklassikern von Sun Tsu über Marc Aurel, Clausewitz zu den<strong>Führung</strong>spersönlichkeiten des 2. WK bis hin zu mo<strong>der</strong>nen Strategen wieNorman Schwarzkopf und an<strong>der</strong>erseits auf Werke von überkonfessionellenAutoren wie Ken Wilber, Gregg Braden, Eckhard Tolle, WilligisJäger, Bear Heart, Paramahansa Yogananda, Ramakrishna, GonsaiRinpoche und Sogyal Rinpoche…, um hier nur einige zu nennen.Gunther HesselGeb. 1966; Oberst des Generalstabsdienstes; 1986-1989 Militärakademie; Kommandantenfunktionenan <strong>der</strong> Jägerschule Saalfelden und <strong>der</strong> Militärakademie;Kdt 1.Kp/JgB29 (mob); 1994-1996 Kdt LehrkpKdoFMB3; 1997 UNO-Einsatz (GOLAN); 1998-2000Heeressportzentrum; 2000-2003 16. Generalstabslehrgangund Individuelles Diplomstudium „LandesverteidigungHöhere <strong>Führung</strong>“; 2003-2006 Chef des Stabesund stv. Kdt 1. Jägerbrigade; 2006-2007 Chef desStabes und stv. Kdt des Aufstellungsstabes Heerestruppenschule;2007-2008 Karenzierung, u.a. Aufenthaltin einem buddhistischen Kloster in Nepal; seit 2009im militärdiplomatischen <strong>Die</strong>nst, MilitärvertretungBrüssel; Integraler Coach - Innere Form.ÖMZ-Online 6/2011


Quo vadis Russland?<strong>Die</strong> aktuelle russische SicherheitsstrategieChristian Wolf„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen,es ist nicht mit einer Elle zu messen, es hat etwas ganzEigenes, an Russland kann man nur glauben!“ 1)Wenn es schon für den russischen DichterFjodor Tjutschew 1866 unmöglich zusein scheint, sein Land zu begreifen, istdann <strong>der</strong> Versuch einer Analyse russischen geopolitischenDenkens und Strategiebildung für einen Außenstehendenüberhaupt möglich?Im folgenden Artikel wird dies dennoch versucht, weildie Auswirkungen <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Russischen Fö<strong>der</strong>ation (RF)getroffenen Entscheidungen unser alltägliches Leben,Stichwort Gaskrise, mitunter nachhaltig beeinflussen undglobale politische o<strong>der</strong> wirtschaftliche Auswirkungen nachsich ziehen können. <strong>Die</strong>ser Umstand führt zur Frage, wiesich die aktuelle russische Sicherheitsstrategie darstellt,welchen Einflüssen sie unterworfen ist und welchesicherheitspolitischen Auswirkungen daraus abgeleitetwerden können.Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Betrachtungen steht somit die NationalSecurity Strategy of the Russian Fe<strong>der</strong>ation to 2020,in weiterer Folge hier kurz NSS2020 genannt, die auf siewirkenden Konstanten des politischen Systems Russlandsund die Auswirkungen <strong>der</strong> russischen Strategie auf dasVerhältnis zur EU, zur GUS und zu den USA.Grundlagen <strong>der</strong> NationalenSicherheitsstrategieDer Strategie-formulierende Rahmen<strong>Die</strong> RF, Rossiiskaja Fe<strong>der</strong>azija 2) ist eine Präsidialdemokratiemit fö<strong>der</strong>ativem Staatsaufbau und wird auch alsSemipräsidiale Republik bezeichnet.<strong>Die</strong> russische Sicherheitspolitik und ihre Zielsetzungenwerden durch verschiedene Strategiepapiere und Doktrinendefiniert. <strong>Die</strong> NSS2020 ist die erste NSS <strong>der</strong> RF undbildet gemeinsam mit <strong>der</strong> Militärdoktrin und dem „ForeignPolicy Concept of the Russian Fe<strong>der</strong>ation“ die so genanntesicherheitspolitische Troika Russlands. 3)Das außen- und sicherheitspolitische Handeln <strong>der</strong> RFwird zusätzlich durch diverse Papiere und Entscheidungendes Security Council of the Russian Fe<strong>der</strong>ation (SCRF)wie auch Präsidialdoktrinen und ergänzende Strategiepapiere<strong>der</strong> jeweiligen Regierung vorgegeben.<strong>Die</strong> NSS2020 wurde am 25.5.2009 durch den Präsidenten<strong>der</strong> RF, Dmitri Medwedew, als Präsidialpapier537/2009 unterzeichnet und gibt die wesentlichen Eckpunkte<strong>der</strong> russischen Außen- und Sicherheitspolitikvor.Der nachhaltige Einfluss des Präsidenten in <strong>der</strong> Gestaltung<strong>der</strong> Außen- und Sicherheitspolitik <strong>der</strong> RF wirdim Art. 86 Absatz a) „shall direct the foreign policy ofthe RF“ 4) sowie im Art. 83 Absatz h) „shall approve theMilitary doctrine of the RF “ 5) deutlich. Zusammenfassendist daher festzuhalten, dass die NSS als Präsidialpapier undgesamtstaatliche Langzeitstrategie ein ganz wesentlichesInstrument dieser Politik ist und durch die Handschriftdes Präsidenten sowie seinen unmittelbaren Beraterstabmitgestaltet und geprägt wird.Im Gegensatz zu den amerikanischen NSS ist sie aufeinen Planungshorizont von über zehn Jahren ausgelegt.Im Kapitel I.3 <strong>der</strong> NSS2020 heißt es dazu:„…based on the fundamental interrelationship andinterdependence of the NSS2020 and the concept oflong-term socio-economic development of the RF for theperiod to 2020.“ 6)Damit grenzt sich die NSS2020 durch ihren langfristigdefinierten Planungshorizont ganz wesentlich von denperiodisch erscheinenden, mittelfristig ausgelegten amerikanischenNSS ab.Gemeinsamkeiten ergeben sich aus <strong>der</strong> Tatsache, dassbeide Papiere Richtliniencharakter aufweisen.Dem Zweck nach versteht sich die NSS2020 gem. Pkt.I.4 als „…a basic instrument for development planningsystem of national security of the RF, which outlines theprocedures and measures to ensure national security“ 7)mit dem Ziel, die strategischen nationalen Prioritäten <strong>der</strong>Russischen Fö<strong>der</strong>ation zu verwirklichen. 8)<strong>Die</strong> NSS2020 steht in Wechselwirkung mit an<strong>der</strong>enPräsidialpapieren und Strategien. Exemplarisch seienhier angeführt:- „The Foreign Policy Concept of the Russian Fe<strong>der</strong>ation“9) vom 12.7.2008, in dem die Grundzüge und Prinzipien<strong>der</strong> russischen Außenpolitik dargelegt werden.- „The Military Doctrine of the Russian Fe<strong>der</strong>ation“ 10)vom 5.2.2010, in <strong>der</strong> die Richtlinien <strong>der</strong> NSS2020 in einemilitärische Doktrin umgesetzt werden.<strong>Die</strong> nationalen Interessen Russlands sind in <strong>der</strong>NSS2020 unter Punkt III definiert. Angeführt werden: 11)- die Weiterentwicklung von Demokratie und <strong>der</strong> russischenZivilgesellschaft, basierend auf einer Steigerung<strong>der</strong> Effizienz <strong>der</strong> Wirtschaft;- die Unverletzlichkeit <strong>der</strong> territorialen Integrität undSouveränität <strong>der</strong> Russischen Fö<strong>der</strong>ation;ÖMZ-Online 6/2011 13


Wolf: Quo vadis Russland?- <strong>der</strong> Erhalt <strong>der</strong> strategischen Stabilität, das Entwickelnpartnerschaftlicher Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Staaten unddas Nutzen <strong>der</strong> Vorteile einer multipolaren Welt, um so dieRF zu einem Staat mit Weltgeltung zu machen.Ausrichtung und Vorgaben <strong>der</strong> NSS2020<strong>Die</strong> russische Außenpolitik geht von einer multipolarenWeltordnung aus, in <strong>der</strong> Russland seine Interessenpragmatisch und selbstbewusst verfolgt. Zu diesen gehörenneben <strong>der</strong> Partnerschaft zum Westen <strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong>Beziehungen zu den Nachbarstaaten <strong>der</strong> GUS und zu denasiatischen Staaten mit den Schwerpunkten China, Indienund Südkorea sowie zu den wichtigen Staaten Lateinamerikaswie Brasilien und Venezuela. <strong>Die</strong> stärkere IntegrationRusslands in multilaterale Institutionen dient dem Ziel, dasProfil des Landes als globaler Akteur zu schärfen.Internationale Bemühungen um die Lösung bzw.Eindämmung von Konflikten wie etwa Iran, Nordkorea,Darfur o<strong>der</strong> Nahost sollten in engem Kontakt mitRussland erfolgen. Hier kommt aus russischer Sicht denVereinten Nationen eine herausragende Rolle zu. Russlandunterstützt auch weiterhin den Einsatz <strong>der</strong> internationalenGemeinschaft in Afghanistan. Unmittelbar nach demEnde des Georgienkonflikts, am 31.8.2008, verwiesMedwedew dabei auf fünf Prinzipien, 12) die das künftigeaußen- und sicherheitspolitische Handeln <strong>der</strong> RF leitenwürden. <strong>Die</strong>s sind:- die unbedingte Anerkennung des Völkerrechts in deninternationalen Beziehungen;- <strong>der</strong> Ersatz des von den USA dominierten unipolarenSystems durch ein multipolares;- die RF will keine Isolation, son<strong>der</strong>n strebt freundschaftlicheBeziehungen zum Westen an;- die RF ist willig und in <strong>der</strong> Lage, russische Staatsbürgerweltweit zu schützen und wird auf jede aggressiveHandlung angemessen reagieren;- die RF hat so genannte privilegierte Interessen inbestimmten Regionen <strong>der</strong> Welt.Ein wesentliches strategisches Ziel ist die Installationeiner neuen, multipolaren Weltordnung, in <strong>der</strong> die RFnatürlich eine maßgebliche Rolle innehat. <strong>Die</strong> vom Präsidentenso genannten privilegierten Interessen Russlandsin bestimmten Regionen <strong>der</strong> Welt wie z.B. dem Kaukasus,werden energisch, wenn notwendig unter Einsatz <strong>der</strong> russischenMilitärmacht, vertreten. Das von <strong>der</strong> russischenPolitik so gerne bemühte Völkerrecht wird in diesem Fall<strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> eigenen Interessen hintangestellt.Zusammenfassend ist daher abzuleiten, dass sich Russlandals eine <strong>der</strong> maßgeblichen Kräfte <strong>der</strong> Weltpolitik sieht undauch als eine solche wahrgenommen werden will.<strong>Die</strong>s bedeutet, dass all diese Überlegungen maßgeblichund nachhaltig jede russische Strategie und so auch dieNSS2020 prägen.<strong>Die</strong> NationaleSicherheitsstrategie 2020Struktur des Dokuments<strong>Die</strong> NSS2020 umfasst 194 Seiten und ist in sechsKapitel mit 112 durchlaufend nummerierten Abschnittengeglie<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Kapitel sind:I. Allgemeine Rahmenbedingungen <strong>der</strong> NationalenSicherheit <strong>der</strong> RF.II. Umfeldanalyse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt und Russlands.III. Nationale Interessen und strategische Prioritäten<strong>der</strong> RF.IV. Parameter <strong>der</strong> Nationalen Sicherheit <strong>der</strong> RF.V. Organisationserfor<strong>der</strong>nisse und rechtliche Rahmenbedingungenzur Implementierung <strong>der</strong> NSS2020.VI. Charakteristika <strong>der</strong> Nationalen Sicherheit.Inhaltlich wird im gesamten Papier nach einem einheitlichenSchema vorgegangen:1. Analyse <strong>der</strong> jeweiligen Bedrohung2. Maßnahmen zu <strong>der</strong>en Neutralisierung<strong>Die</strong>se stringente Vorgangsweise macht die NSS2020allgemein verständlich und leicht lesbar.<strong>Die</strong> Inhalte <strong>der</strong> NSS2020Im ersten Abschnitt des Strategiepapiers wird eingangsfestgestellt, dass die RF die Auswirkungen <strong>der</strong> sozioökonomischenKrise, die das Land am Ende des vorigenJahrhun<strong>der</strong>ts trafen, überwunden habe.Russland habe seinen Nie<strong>der</strong>gang gestoppt, die Lebensqualität<strong>der</strong> russischen Staatsbürger konnte gehobenwerden. Nationalismus, Separatismus und <strong>der</strong> internationaleTerrorismus wurden erfolgreich bekämpft. DasLand konnte seine territoriale Integrität und Souveränitätbewahren.Es sei wie<strong>der</strong> möglich, die Durchsetzung <strong>der</strong> eigenennationalen Interessen in einer multipolaren Welt zu för<strong>der</strong>nund diese mit Nachdruck zu verfolgen.„…and promote national interests as a key subjectemerging multi-polar international relations.“ 13)Beson<strong>der</strong>s werden auf die große eigene Historie, aufdie Bedeutung russischer Ideale und Wertvorstellungen wieFamilie, Patriotismus und Tradition und auf die kulturelleEinheit des multinationalen Staatsvolkes hingewiesen.„This Strategy is a basic instrument for developmentplanning system of national security of the RF, whichoutlines the procedures and measures to ensure nationalsecurity. It is the basis for constructive engagement … toprotect the national interests of the RF and the safety ofindividuals, society and state.“ 14)<strong>Die</strong> NSS2020 ist somit die Basis <strong>der</strong> weiteren sicherheitspolitischenÜberlegungen <strong>der</strong> RF.In einer globalen Welt, mit all ihren Heraufor<strong>der</strong>ungenund Bedrohungen für Staat und Gesellschaft, bilde dieUmsetzung <strong>der</strong> Ziele <strong>der</strong> NSS2020 die wesentliche Grundlagefür eine erfolgreiche Weiterentwicklung <strong>der</strong> RF.In <strong>der</strong> Bereitstellung von leistungsfähigen Streitkräftenund <strong>der</strong>en Verfügbarhalten im gesamten Einsatzspektrumsieht man eine wichtige Möglichkeit zur Erweiterung deseigenen politischen Handlungsspielraums und damit <strong>der</strong>strategischen Optionen.Ebenfalls im ersten Kapitel wird <strong>der</strong> weitreichendePlanungshorizont <strong>der</strong> NSS bis ins Jahr 2020 dargelegt. <strong>Die</strong>Sicherheit und Entwicklung <strong>der</strong> RF könne nicht durch einenalleinigen militärischen Ansatz gewährleistet werden,son<strong>der</strong>n nur durch einen comprehensive approach, <strong>der</strong> alleMöglichkeiten und Ressourcen des Staates umfasst.ÖMZ 14 6/2011 ÖMZ-Online 6/2011 14


Im zweiten Kapitel erfolgen eine Feststellung desStatus quo sowie die Darstellung <strong>der</strong> wechselseitigenBeeinflussung und Entwicklung zwischen <strong>der</strong> RF undeiner sich immer stärker globalisierenden Welt.Einmal mehr wird auf die Entwicklung neuer Zentrenwirtschaftlichen Wachstums in Asien und Lateinamerikaverwiesen und damit u.a. das Entstehen einer neuen geopolitischenSituation, <strong>der</strong> multipolaren Welt, begründet.„Failure of the existing global and regional orientation,especially in the Euro-Atlantic region, focused onlyto the NATO ... threaten international security.“ 15)<strong>Die</strong> klassische euro-atlantische Sicherheitsarchitektur,konkret angesprochen in Form <strong>der</strong> NATO, wirdnicht nur als gescheitert betrachtet, son<strong>der</strong>n auch als einezunehmende Bedrohung <strong>der</strong> internationalen Sicherheitangesehen.Unter Punkt 10 betont die NSS, dass ein unilateralerAnsatz durch an<strong>der</strong>e Staaten, gemeint sind hier ganzoffensichtlich die USA, bei <strong>der</strong> Lösung internationalerHerausfor<strong>der</strong>ungen abgelehnt wird. 16)<strong>Die</strong> gestiegene Gefahr <strong>der</strong> Proliferation von Massenvernichtungswaffen(WMD) sowie <strong>der</strong> internationaleTerrorismus werden als ernsthafte Bedrohung genannt.Je<strong>der</strong> Art von Nationalismus und Separatismus, auch undgerade unter dem Banner des religiösen Fanatismus, wirdeine klare Absage erteilt.Unmittelbar daran anschließend wird dem Besitzund <strong>der</strong> Verfügbarkeit von Energiequellen im MittlerenOsten, in <strong>der</strong> Barentssee sowie in Zentralasien und in<strong>der</strong> Kaspischen See beson<strong>der</strong>e Bedeutung zugemessen.Der gesicherte Zugang zu qualitativ hochwertigemTrinkwasser in ausreichen<strong>der</strong> Menge wird als wesentlicheingestuft.Russland betrachtet die Konflikte im Irak, in Afghanistan,Afrika und dem Nahen Osten sowie auf <strong>der</strong>koreanischen Halbinsel als mittelfristig spürbare negativeBeeinflussung <strong>der</strong> internationalen Beziehungen.Der zunehmende, auch mit militärischen Mittelndurchgeführte Wettlauf um Ressourcen kann das Gleichgewicht<strong>der</strong> Mächte auch und gerade in <strong>der</strong> Nähe zu Russlandselbst o<strong>der</strong> einem seiner Verbündeten empfindlichstören o<strong>der</strong>, beim Ausbleiben von effektiven Gegenmaßnahmen,sogar zerstören.In Europa wird die Idee einer amerikanischen Raketenabwehrim westlichen Vorfeld <strong>der</strong> RF erneut entschiedenabgelehnt.Um ihre nationalen Interessen zu wahren, verfolgtdie RF eine pragmatische Außen- und Sicherheitspolitikauf <strong>der</strong> Basis des Völkerrechts. Damit soll u.a. ein neuerRüstungswettlauf verhin<strong>der</strong>t werden.Als ein wesentliches Instrument hiezu wird die UNOsowie im Speziellen <strong>der</strong> UNO-Sicherheitsrat angesehen.<strong>Die</strong> RF will die Beziehungen zu an<strong>der</strong>en bedeutendenStaaten in einer multipolaren Welt intensivieren undinstitutionalisieren. Dezidiert angesprochen werden G8,G20, RIC (Russia, India, China), BRIC (Brazil, Russia,India, China). 17)Der Weiterentwicklung <strong>der</strong> Beziehung und <strong>der</strong> multilateralenZusammenarbeit mit den GUS-Staaten wirdbeson<strong>der</strong>e Bedeutung beigemessen.<strong>Die</strong> Beziehungen zur EU sollen in allen Bereichenintensiviert und vertieft werden.Zu den USA strebt die RF eine strategische Partnerschaftauf gleichberechtigter Basis an.Jede Ambition <strong>der</strong> NATO, sich zu einem weltweitoperierenden Bündnis weiterzuentwickeln, wird alsVerstoß gegen internationales Recht gesehen und daherkategorisch abgelehnt. 18)Langfristiges Ziel <strong>der</strong> RF ist die Implementierungeiner neuen euroatlantischen Sicherheitsarchitektur unterEinbeziehung Russlands.Im dritten Abschnitt wird zusätzlich zu den bereitsgenannten Interessen, <strong>der</strong>en Verwirklichung einen langfristigenAnsatz benötigt, auf die strategischen Prioritäten<strong>der</strong> RF verwiesen. <strong>Die</strong>se decken sich weitgehend mitden genannten nationalen Interessen <strong>der</strong> RF. <strong>Die</strong> RFmöchte, um die nationale Sicherheit in Zukunft nachhaltiggewährleisten zu können, all ihre Anstrengungen undRessourcen auf das Umsetzen <strong>der</strong> strategischen Prioritätenkonzentrieren.Dazu sollen vermehrte Anstrengungen in den BereichenForschung, Entwicklung, Bildungssystem und Wissenschaftebenso unternommen werden wie umweltbewusstes Handeln,Ressourcenmanagement sowie die Nutzung von hochentwickelten Technologieträgern. Russland möchte durchaktives außenpolitisches Handeln strategische Stabilität undgleichberechtigte strategische Partnerschaft auf Basis einermultipolaren Weltordnung erreichen.Daran anschließend wird viertens mit <strong>der</strong> Behandlung<strong>der</strong> Parameter <strong>der</strong> Nationalen Sicherheit <strong>der</strong> RFfestgestellt, dass die Sicherheit <strong>der</strong> RF nur aus dem Zusammenspielunterschiedlicher Faktoren zu gewährleistenist. Neben einer weiteren Verbesserung <strong>der</strong> Effektivitätdes Zentralstaates und <strong>der</strong> umfassenden Nutzung <strong>der</strong>Ressourcen <strong>der</strong> RF werden erneut eine funktionierendeWirtschaft und effektive nationale Sicherheitskräfte alsunverzichtbar angeführt. An erster Stelle werden hier dieStreitkräfte <strong>der</strong> RF genannt.Deren Weiterentwicklung und <strong>der</strong> Verbesserung ihrermilitärischen Organisation wird beson<strong>der</strong>e Bedeutungzugestanden. <strong>Die</strong>s umfasst sowohl die Streitkräfte imeigentlichen Sinn als auch die Stärkung aller Kräfte desInnenministeriums und <strong>der</strong> Grenztruppen. Als Bedrohungfür die Sicherheit wird die politische Ausrichtung undVorgangsweise von „... leading foreign countries ...“ 19)sowie <strong>der</strong>en „... predominant superiority in the militarysphere.“ 20) gesehen.Im Detail werden sowohl die Dominanz bei strategischenNuklearkräften als auch bei konventionellenPräzisionswaffen und bei etwaigen „... unilaterally globalmissile defence system ...“ 21) angesprochen.Es kann wohl als gesichert angesehen werden, dassdiese Einschätzung, ohne sie beim Namen zu nennen,v.a. an die Adresse <strong>der</strong> USA gerichtet ist. Abgeleitetdavon wird, dass es unumgänglich sei, die eigenen Verteidigungsanstrengungenzu erhöhen. So soll zumindestmittelfristig die Schlagkraft <strong>der</strong> strategischen A-Waffenmerklich angehoben werden.Auch <strong>der</strong> militärisch-industrielle Komplex soll zumZweck <strong>der</strong> Effektivitätssteigerung mo<strong>der</strong>nisiert und neuÖMZ-Online 6/2011 15


Wolf: Quo vadis Russland?strukturiert werden. In <strong>der</strong> Folge wird auf die Bedeutung<strong>der</strong> inneren Sicherheit, <strong>der</strong> Bekämpfung <strong>der</strong> Kriminalitätund <strong>der</strong> ausufernden Korruption eingegangen. Als indiesem Zusammenhang unverzichtbar werden weitereMaßnahmen zur Steigerung <strong>der</strong> Effektivität <strong>der</strong> Grenztruppen<strong>der</strong> RF gesehen.„... the activities of the international terrorists andexremistic organizations ... the cross bor<strong>der</strong> operatingcriminal groups ...“ 22) werden, ebenso wie <strong>der</strong> internationaleDrogen- und Menschenhandel und die illegaleMigration, als entscheidende Exponenten einer Bedrohungempfunden.Im fünften Kapitel werden jene Organisationserfor<strong>der</strong>nisseund normativ-rechtlichen Rahmenbedingungen,die zur Implementierung <strong>der</strong> NSS2020 notwendig sind,angeführt. Hier wird auch das Zusammenspiel <strong>der</strong> verschiedenenverfassungsmäßigen Einrichtungen <strong>der</strong> RF zurUmsetzung <strong>der</strong> Ziele <strong>der</strong> NSS2020 beschrieben.Im abschließenden sechsten Teil wird erstmalig einBewertungssystem mit Kontrollkennzahlen für den Zustand<strong>der</strong> nationalen Sicherheit eingeführt. <strong>Die</strong>ses soll,periodisch präzisiert, zur Evaluierung <strong>der</strong> Fortschrittebei <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> NSS2020 angewandt werden.Grundlegende Charakteristika wie z.B. Arbeitslosenrate,Inflationsrate, Staatsverschuldung und Daten überden Zustand des Militärapparates werden dabei erhobenund analysiert. Darüber hinaus beschäftigt sich dieserTeil mit organisatorischen, normativen und rechtlichenFragen betreffend die Umsetzung <strong>der</strong> Strategie.Analyse <strong>der</strong> wesentlichen Aussagen <strong>der</strong> NSS2020<strong>Die</strong> NSS2020 ist die erste umfassende nationale Sicherheitsstrategie<strong>der</strong> RF. Sie stellt somit ein Novum in<strong>der</strong> russischen Sicherheitspolitik dar.<strong>Die</strong> NSS2020 löst die vorhandenen Konzepte, dienoch unter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>führung <strong>der</strong> Präsidenten Jelzin undPutin entstanden waren, ab. <strong>Die</strong> NSS2020 beeinflusstnachhaltig die mit Spannung erwartete und eben veröffentlichteMilitärdoktrin <strong>der</strong> RF. <strong>Die</strong>s wird u.a. daranersichtlich, dass sie in stringenter Weiterverfolgung <strong>der</strong>vorgegebenen Linie <strong>der</strong> NSS2020 die in <strong>der</strong> Strategiegenannten Ideen und Ansätze zur Lösung <strong>der</strong> anstehendenProbleme aufgreift und in eine militärstrategisch handhabbareDoktrin umsetzt. 23)<strong>Die</strong> NSS2020 spannt einen weiten Bogen des Begriffs<strong>der</strong> nationalen Sicherheit und deckt in ihren Kapiteln dieEntwicklungen in den Bereichen <strong>der</strong> internationalen Sicherheit,<strong>der</strong> nationalen Interessen <strong>der</strong> RF, <strong>der</strong> Prioritätenihrer Sicherheitspolitik und die möglichen Bedrohungensowie die daraus abgeleiteten Folgerungen für die nationaleSicherheit ab. <strong>Die</strong>s stellt an sich noch keine Beson<strong>der</strong>heitdar, ist dies doch das grundsätzliche Wesen einerSicherheitsstrategie.<strong>Die</strong> NSS2020 zeugt auch von dem wie<strong>der</strong> gefundenenSelbstbewusstsein <strong>der</strong> RF, wenn sie gleich zu Beginn diebedeutende Stellung <strong>der</strong> RF in einer multipolaren Weltfestschreibt und die Überwindung <strong>der</strong> Krisen <strong>der</strong> letztenJahre feststellt. <strong>Die</strong>ses neue Selbstvertrauen wird auchdadurch unterstrichen, dass man mittelfristig zu den fünfproduktivsten Mächten in <strong>der</strong> Welt zählen will - ein aus16heutiger Sicht außerordentlich ambitioniertes Ziel, dessenErreichen zumindest fraglich erscheint.<strong>Die</strong> NSS2020 deckt in den folgenden Kapiteln undPunkten aber auch nahezu jeden Bereich des öffentlichenLebens sowie <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Wirtschaft ab.Gerade hier liegt die Beson<strong>der</strong>heit und Unterscheidungzu vergleichbaren Dokumenten an<strong>der</strong>er Staaten. Explizitwerden die nationale Sicherheit beeinflussende Rahmenbedingungenwie soziale Wohlfahrt, sozialer Friede,Hebung des Lebensstandards <strong>der</strong> Bürger <strong>der</strong> RF, Gesundheitswesen,kulturelle Entwicklung und Umweltschutzangesprochen und <strong>der</strong>en Bedeutung unterstrichen. 24) Es istdaher nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass die nachhaltige Verbesserungdieser Rahmenbedingungen angestrebt wird.Um die nationalen Interessen und Prioritäten <strong>der</strong> RFzu verwirklichen, wird die Bereitstellung effektiver Streitkräfteprioritär angeführt. Gefolgt werden diese von <strong>der</strong>beabsichtigten Einleitung weiterer sozialökonomischerEntwicklungen mit dem Ziel, den Lebensstandard <strong>der</strong>Bevölkerung nachhaltig zu heben.Folgt man <strong>der</strong> NSS2020 weiter, so ist <strong>der</strong> Schlüssel zurWahrung <strong>der</strong> nationalen Sicherheit <strong>der</strong> RF die Nutzungdes wirtschaftlichen Potenzials des Landes.Das Dokument identifiziert eine qualitativ neue geopolitischeSituation, die durch den Aufstieg einer Reihevon neuen Wirtschaftsmächten erfolgt sei. Es ist nichtverwun<strong>der</strong>lich, dass die NSS2020 die RF als eine dieserneuen Mächte anführt und zur Feststellung kommt, dassdie bisherige, von den USA dominierte unipolare Weltordnungdurch eine multipolare ersetzt wird. In dieser solledie RF eine bedeutende Rolle spielen.In <strong>der</strong> NSS2020 wird ein einseitiger Einsatz von MVWdurch Russland nicht explizit angesprochen. Der Begriff<strong>der</strong> Präemption findet keine Verwendung. <strong>Die</strong>s bleibt, wieman mittlerweile weiß, nachgeordneten Dokumenten wie<strong>der</strong> Militärdoktrin überlassen.Durch ihre selbstbewussten Aussagen und ihre hochgestecktenZiele lässt die NSS2020 keinen Zweifel daran,dass Russland nach den Jahren des Nie<strong>der</strong>gangs seineselbstdefinierte neue Rolle gefunden zu haben scheint.Damit stellt die NSS2020 den politisch-strategischenRahmen für alle nachgeordneten Konzepte dar und gibtdiesen die langfristige Ausrichtung <strong>der</strong> russischen AußenundSicherheitspolitik vor.Das Dokument ist natürlich auch vor dem Hintergrund<strong>der</strong> rasanten und tiefgreifenden Verän<strong>der</strong>ung in Russlandselbst und in <strong>der</strong> Welt zu sehen.Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion und die darauffolgenden Jahre werden aus russischer Sicht als eine einzigeDemütigung und als die nationale Tragödie des ausgehenden20. Jahrhun<strong>der</strong>ts empfunden. Auf das Verhin<strong>der</strong>n einer Wie<strong>der</strong>holungsolcher o<strong>der</strong> ähnlicher Ereignisse sind daher alleHandlungen <strong>der</strong> russischen <strong>Führung</strong> ausgelegt und müssenauch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden.Folgerichtig ist die NSS2020 darauf ausgerichtet, denTrägern des Staates wie beispielsweise <strong>der</strong> Regierung undden Streitkräften, aber auch <strong>der</strong> Bevölkerung und letztlich<strong>der</strong> Wirtschaft eine positive Perspektive aufzuzeigen undso dem wie<strong>der</strong>erstarkten Land eine strategische Ausrichtungin eine erstrebenswerte Zukunft zu bieten.ÖMZ-Online 6/2011


<strong>Die</strong> NSS2020 wählt dazu einen breiten, umfassendenAnsatz, <strong>der</strong> nahezu alle Bereiche des gesamtstaatlichenLebens umfasst. Sie präzisiert die Ziele, wesentlichenRichtungen und künftigen Aufgaben, die zur Entwicklungeines Systems <strong>der</strong> Gewährleistung <strong>der</strong> nationalenSicherheit notwendig seien, mit einer langfristigenAusrichtung.Zusammenfassend ist festzustellen, dass die NSS2020mit gemäßigter Rhetorik betont staatstragend und inmo<strong>der</strong>ater Form den unter Putin eingeleiteten und mitMedwedew fortgesetzten Kurs festschreibt.Einflussfaktoren auf die NSS2020<strong>Die</strong> russische Strategiebildung wird ganz wesentlichdurch die konstanten Faktoren des gesamtstaatlichenSystems beeinflusst. Geographie, Selbstverständnis, Weltanschauung,Mentalität und die Religion bilden dabei dieMetaebene <strong>der</strong> Einflussnahme.Geographie<strong>Die</strong> RF erstreckt sich in einer Ost-West Ausdehnungüber 9.000 km und elf Zeitzonen. Sie grenzt im Westenan die Ostsee, im Osten an den Pazifik. <strong>Die</strong> RF ist, alsNachfolgestaat <strong>der</strong> früheren Sowjetunion, somit nochimmer <strong>der</strong> flächenmäßig größte Staat <strong>der</strong> Welt.Russland ist im Gegensatz zu den Vereinigten Staatenvon Amerika eine kontinentale Macht. 25)Es beherrscht die eurasische Landmasse und grenztim Süden an die kaukasischen Staaten sowie an die zentralasiatischenStaaten, von denen ein Gutteil eine moslemischeBevölkerungsmehrheit besitzt. Im Osten stellt dasbevölkerungsreiche China den Nachbarn dar.<strong>Die</strong> Bevölkerung und auch die Wirtschaftsleistung<strong>der</strong> RF konzentrieren sich auf wenige große Städte v.a.im europäischen Teil des Landes, wo auch 75% <strong>der</strong>Gesamtbevölkerung von 141 Mio. Menschen leben. 26)<strong>Die</strong> zentralen und nördlichen Teile Sibiriens sind zwarrohstoffreich, aber aufgrund <strong>der</strong> klimatischen Voraussetzungennur sehr dünn besiedelt.Zwangsläufig erfolgt daher eine Konzentration <strong>der</strong>Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren an <strong>der</strong> Südgrenze,entlang <strong>der</strong> Strecke <strong>der</strong> Transsibirischen Eisenbahn,zu den innenpolitisch eher instabilen zentralasiatischenRepubliken und in Folge zur VR China. <strong>Die</strong>se grenznaheZusammenballung, v.a. aber das Fehlen einer Tiefe <strong>der</strong>Besiedelung des sibirischen Raumes, macht die Infrastruktur<strong>der</strong> RF weit mehr verletzbar, als dies in an<strong>der</strong>enStaaten <strong>der</strong> Fall ist.Das nahezu menschenleere Sibirien mit insgesamtetwas mehr als sieben Millionen Einwohnern und die chinesischenGrenzbezirke mit über 30 Millionen Menschenstehen somit in einem ständigen spannungsgeladenenGegensatz.Eine stetige Bedrohung <strong>der</strong> inneren Sicherheit <strong>der</strong> RFstellt <strong>der</strong> noch immer ungelöste ethnische Konflikt imnördlichen Kaukasus dar. 27)<strong>Die</strong>s hat eine umso größere strategische Bedeutung,weil <strong>der</strong> Kaukasus sowohl die Südflanke <strong>der</strong> RF darstellt,rohstoffreich ist und im stetig größeren Ausmaß eine Drehscheibefür Energieträger wie Erdöl o<strong>der</strong> Erdgas darstellt.<strong>Die</strong> aufgrund ihrer dominierenden interkontinentalenAusdehnung einzigartige geographische Position <strong>der</strong>RF und die damit verbundenen geostrategischen Möglichkeitenwerden in <strong>der</strong> NSS2020 sicherheitspolitischverarbeitet und beeinflussen diese nachhaltig. 28) Darüberhinaus wird eindeutig festgelegt, dass <strong>der</strong> Kaukasus auchweiterhin als eine privilegierte russische Interessensphäregesehen wird und daher jeglichen separatistischen Tendenzenentschieden entgegengetreten werden muss.Selbstverständnis, Weltanschauung, Mentalität,ReligionRusslands damaliger Präsident Wladimir Putin sagteim April 2005 bei seiner jährlichen Ansprache vor beidenHäusern des Parlaments, dass <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> UdSSR die„größte geopolitische Katastrophe des (20.) Jahrhun<strong>der</strong>ts“29) gewesen sei. Putin sprach damit das aus, waseine überwältigende Mehrheit <strong>der</strong> Russen dachte. In ihrerSelbstperzeption sehen die Russen ihre Nation als eineGroßmacht und als einflussreiches Zentrum einer multipolarenWelt, dem eine maßgebliche Rolle im globalenGeschehen zusteht. 30)<strong>Die</strong>se Ansicht findet großen Zuspruch in fast allenBevölkerungsschichten, wird also nicht nur von denpolitischen Eliten des Landes getragen. Der Nie<strong>der</strong>gangdes Landes in den 1990er-Jahren war für das russischeSelbstbewusstsein ein schwerer Schlag. Russland fühltesich nicht mehr wahrgenommen, vom Westen oftmalsmissverstanden und reagierte geradezu gekränkt auf dieseEntwicklung, die auch als Schande angesehen und alsDemütigung empfunden wurde. V.a. <strong>der</strong> Westen und diedamit verbundenen Einflüsse und Strömungen wurdendafür verantwortlich gemacht. 31)Der Artikel 1 Absatz 2 <strong>der</strong> russischen Verfassungbesagt: „The names Russian Fe<strong>der</strong>ation and Russia areequipollent.“ 32)Damit - wie auch in den Staatsymbolen deutlich sichtbar -soll <strong>der</strong> Bezug zur großen Historie des Landes offenkundigdargestellt werden.<strong>Die</strong>s dient u.a. auch dazu, den selbstdefinierten Großmachtanspruchhistorisch zu legitimieren.Im Foreign Policy Concept aus dem Jahr 2008 wird dieRF als eine Großmacht beschrieben, die eine vollwertigeRolle in <strong>der</strong> Mitgestaltung weltweiter Angelegenheiten zuspielen hätte, 33) und als einer <strong>der</strong> einflussreichsten Akteure<strong>der</strong> Gegenwart. Aus diesem tatsächlichen o<strong>der</strong> vermeintlichenGroßmachtanspruch leitet Russland sein Recht bei<strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> internationalen Entwicklungen ab.Der Einfluss auf die NSS2020 wird dadurch verdeutlicht,dass <strong>der</strong> ständige Hinweis auf die wie<strong>der</strong>erlangteStärke, auf russische Ideale und „wahrhaft russischeWerte“ 34) gleich am Beginn des ersten Abschnitts genanntwird.Russland sieht sich selbst an einer zivilisatorischenBruchlinie zwischen Orthodoxie und Islam liegend, und<strong>der</strong> Stärkung des eigenen geistig-kulturellen Potenzialswird dabei hohe Bedeutung zugemessen. 35)Eine spezielle Stellung nimmt hierbei die russischorthodoxeKirche ein. Religion wird von <strong>der</strong> Staatsmacht,in versuchter Anknüpfung an die vorsowjetische Tradition,ÖMZ-Online 6/2011 17


Wolf: Quo vadis Russland?rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik zu erreichen.<strong>Die</strong> Zusammenarbeit mit dem im Jahr 2002 gegründetenNATO-Russland-Rat (NRR) sieht Russland alswichtiges Element <strong>der</strong> Kooperation mit dem Westen.Nachdem im Zuge des Georgienkrieges <strong>der</strong> NRR ausgesetztwurde, hat er seine Arbeit am 29.6.2009 wie<strong>der</strong>aufgenommen. 56)Präsident Obama hat mit seinem Besuch in Moskauim Juli 2009 unterstrichen, dass er seine Ankündigungumsetzen will, mit Russland enger zusammenzuarbeiten.<strong>Die</strong>s wird von Russland begrüßt. Nüchtern, zurückhaltendund eher kühl reagierten hingegen sowohl die russischenMedien als auch die Bevölkerung auf den Besuch desneuen amerikanischen Präsidenten. 57)Daneben beurteilt die NSS2020 das NordatlantischeBündnis als eine unverän<strong>der</strong>t gegen Russland gerichteteBedrohung. 58) Offiziell strebt die RF eine gleichberechtigteund vollwertige Partnerschaft mit den USA an, wobeidie NSS2020 hervorhebt, dass den künftigen russischamerikanischenBeziehungen eine Schlüsselrolle in <strong>der</strong>internationalen Diplomatie, v.a. beim Erhalt des Weltfriedens,zukommt.Das Verhältnis zu EuropaGrundlage für den Aufbau einer strategischen Partnerschaftzwischen <strong>der</strong> EU und Russland ist das Partnerschafts-und Kooperationsabkommen von 1997 (PKA)und <strong>der</strong> durch dieses ins Leben gerufene Kooperationsrat,<strong>der</strong> inzwischen zum „Ständigen Partnerschaftsrat“ aufgewertetwurde. Auf dieser Basis haben sich die Beziehungenzwischen <strong>der</strong> EU und Russland in den letzten Jahren verbreitertund vertieft. <strong>Die</strong> EU ist wichtigster HandelspartnerRusslands (52% des russischen Außenhandelsumsatzes)und wichtigster Investor (über 60% <strong>der</strong> ausländischenDirektinvestitionen). Umgekehrt ist Russland - nachden USA und China - <strong>der</strong> drittgrößte Handelspartner <strong>der</strong>EU. Aus russischer Sicht bewährte sich das EU-Krisenmanagementzur Beendigung des Georgienkrieges vomAugust 2008. Zwischen Russland und <strong>der</strong> EU bestehenweiterhin Differenzen zur Lage in Georgien, v.a. wegen<strong>der</strong> Anerkennung von Abchasien und Südossetien durchRussland. 59)Der Georgienkonflikt vom August 2008 hat ausrussischer Sicht außerdem gezeigt, dass die <strong>der</strong>zeitigeneuropäischen Sicherheitsstrukturen im Falle einer Krisenicht effizient sind. Im Rahmen <strong>der</strong> Münchner Sicherheitskonferenz2010 sagte Außenminister Sergej Lawrow,dass Russland deshalb einen neuen, rechtsverbindlichenVertrag zur euro-atlantischen Sicherheitsarchitekturanstrebe. 60)<strong>Die</strong> Bildung eines offenen Systems <strong>der</strong> kollektivenSicherheit in Europa, verankert in einem rechtsverbindlichenVertrag, ist daher auch ein determiniertes Ziel <strong>der</strong>NSS2020.Auf militärischem Gebiet stellen sich die RF undEuropa geradezu als Antagonisten dar. <strong>Die</strong> EU alsStaatenverbund im gesamten, aber auch ihre einzelnenMitgliedstaaten, wie z.B. die BRD, haben in jüngsterVergangenheit ihre Verteidigungsbudgets, aber auch ihreStreitkräfte selbst massiv reduziert. <strong>Die</strong> nach dem Kalten20Krieg lukrierte „Friedensdividende“ wurde und wird zum- immer kostspieligeren - Absichern des europäischenWohlfahrtstaates verwendet.Eine konventionelle Bedrohung <strong>der</strong> EU wird, mit<strong>der</strong> oft zitierten Vorwarnzeit von zumindest zehn Jahren,nicht identifiziert.Jene Teile <strong>der</strong> europäischen Streitkräfte, die in <strong>der</strong> Lagewaren, den Kampf <strong>der</strong> verbundenen Waffen zu führen, erfuhreneinen geradezu besorgniserregenden Kahlschlag.Ebenso ist <strong>der</strong> politische Wille, Streitkräfte einzusetzen,in den allermeisten westeuropäischen Staatskanzleienkaum mehr vorhanden. <strong>Die</strong> Haltung <strong>der</strong> RF läuft, wieim folgenden Abschnitt dargestellt, dieser europäischenEntwicklung jedoch diametral entgegen.Auswirkungen auf die StreitkräfteDas russische Verteidigungsbudget hat eine Höhe von45 Mrd. USD, was 16% des Budgets ausmacht. Russlandsumfangreiche Rüstungsprogramme werden durch diestark schwankenden Preise für Erdöl und Erdgas negativbetroffen. <strong>Die</strong>s betrifft v.a. die hohen Kosten für neu zuentwickelnde Systeme. 61)„... the most important thing is to accomplish our strategicobjective: reforming the Russian Army and the Navy,improving their combat readiness and mobility.“ 62)Präsident Jelzin legte bereits im Mai 1996 in einemErlass fest, dass bis 2000 eine Berufsarmee zu schaffensei. In <strong>der</strong> Realität wurden aber die Verwirklichung dieserKernaufgaben <strong>der</strong> Militärreform immer wie<strong>der</strong> aufgeschobenund bereits durchgeführte Reformschritte wie<strong>der</strong>aufgehoben. <strong>Die</strong> nicht behobenen Mängel, insbeson<strong>der</strong>eim Bereich <strong>der</strong> Ausrüstung, <strong>der</strong> Garnisonierung, desAusbildungssystems blieben weitgehend ungelöst. <strong>Die</strong>unverän<strong>der</strong>t aufgeblähte, ineffiziente <strong>Führung</strong>sstruktur<strong>der</strong> Streitkräfte zeigte sich insbeson<strong>der</strong>e bei dem tragischenUnglück <strong>der</strong> K-141 Kursk. Am Ende <strong>der</strong> erstenAmtszeit Putins hatte sich die Situation <strong>der</strong> Streitkräfteweiter verschlechtert, und die Sicherheitsproblematikblieb weitgehend ungelöst. 63)Daher wurde 2008 eine umfassende Militärreformbegonnen, die zur von Verteidigungsminister AnatoliSerdjukow gefor<strong>der</strong>ten Reduzierung <strong>der</strong> Armee auf untereine Million Soldaten führen soll. 64) Statt <strong>der</strong> Regimenterund Divisionen wird eine Brigadestruktur eingeführt.Mobile, hochmo<strong>der</strong>n ausgerüstete und zum Kampf <strong>der</strong>verbundenen Waffen befähigte Truppenteile mit ständigerGefechtsbereitschaft werden aufgestellt.In den ersten 22 Monaten <strong>der</strong> Existenz des russischenStaates hat es keine nationale Militärdoktrin gegeben.Stattdessen wurden aus <strong>der</strong> Doktrin des Kalten Kriegesjene sicherheitspolitischen und strategischen Zielsetzungenaufrechterhalten, die verlangten, auf Basiseiner großen Wehrpflichtigen-Armee äußere wie innereFeinde zu vernichten. Im Vor<strong>der</strong>grund stand einmal <strong>der</strong>offensive und („unausweichliche“) Krieg <strong>der</strong> Sowjetunionals ideologischer Kampf gegen den Kapitalismus.<strong>Die</strong>sen Krieg hatte man allerdings spätestens 1990endgültig verloren. 65) Man tat sich ideologisch schwersich umzustellen, und erst die nach 1993 entstandenenDoktrinen nahmen die geän<strong>der</strong>ten internationalenÖMZ-Online 6/2011


Rahmenbedingungen zögerlich zur Kenntnis. 66) Dennochwurden bei Manövern in Belarus „gegen einenWestfeind“ (gemeint war Polen) ein Dutzend A-Waffeneingesetzt. 67)Gleichzeitig erfolgte ein wenn auch nur wi<strong>der</strong>willigesEingeständnis <strong>der</strong> stetig schrumpfenden realen Möglichkeiten<strong>der</strong> russischen Streitkräfte.Unter Putin wurden ein neues Sicherheitskonzeptund eine neue Militärdoktrin aufgesetzt, mit <strong>der</strong> Absicht,die Landesverteidigungsfähigkeiten und das Militär zumo<strong>der</strong>nisieren, den technologischen Abstand zu denUS-Streitkräften zu reduzieren und letztlich verlorengegangene Reputation wie<strong>der</strong>herzustellen. 68)<strong>Die</strong> Militärdoktrin <strong>der</strong> RF vom 5. Februar 2010 enthält,angelehnt an die NSS2020, eine Aufzählung von identifiziertenpotenziellen Gefahren und Bedrohungen für dieSicherheit <strong>der</strong> RF. 69)Auffällig ist, dass dabei die beabsichtigte fortgesetzteErweiterung <strong>der</strong> NATO sowie die Bemühungen um dieInstallation von Raketenabwehrsystemen durch die USAund die NATO als ebensolche angesprochen werden.Weiters werden die Aufstellung, Ausbildung sowiejegliche Aktivität von illegal bewaffneten bzw. paramilitärischenFormationen auf dem Gebiet <strong>der</strong> RF o<strong>der</strong>ihrer Verbündeten als eine direkte Bedrohung für denGesamtstaat angesehen.Als Reaktion auf diese Entwicklungen wird festgehalten,dass sich Russland zum je<strong>der</strong>zeitigen unilateralenmilitärischen Handeln zur Abwendung von solchen Gefahrengenötigt sehen kann.<strong>Die</strong>se militärische Option gipfelt in <strong>der</strong> Aussage, dassim Falle einer groß angelegten, auch konventionellen,staatsbedrohenden Aggression gegen die RF <strong>der</strong> Ersteinsatzvon Atomwaffen nicht explizit ausgeschlossen wird.„The Russian Fe<strong>der</strong>ation reserves the right to utilizenuclear weapons in response to the utilization of event ofaggression against the RF...“ 70)Generalstabschef Nikolai Patruschew teilte in diesemZusammenhang mit: „…zwar (ist) die präventive Verwendungvon Nuklearmitteln kein Denkmuster unsererpolitisch-militärischen <strong>Führung</strong>, aber Russland kann zu<strong>der</strong>en Einsatz berechtigt sein, wenn die Gefahr <strong>der</strong> Liquidierungdes Staates besteht, o<strong>der</strong> um seine Verbündetenzu schützen.“ 71)Herausfor<strong>der</strong>ungen - The Way ahead<strong>Die</strong> in <strong>der</strong> NSS2020 aufgezeigten Möglichkeitenund Leitlinien müssen sich, wollen sie nicht bloße Absichtserklärungenbleiben, den Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong>russischen Realität stellen. Zu den dringend zu lösendenAufgaben zählen die nachhaltige Konsolidierung <strong>der</strong>russischen Wirtschaft und <strong>der</strong> Lebensbedingungen <strong>der</strong>Bevölkerung sowie eine Vertiefung <strong>der</strong> innenpolitischenStabilisierung, ohne dabei Gefahr zu laufen, die tendenziellautoritär ausgerichteten Maßnahmen <strong>der</strong> letztenJahre weiter fortzuführen. Gleichzeitig gilt es aber auch,den noch immer schwelenden Tschetschenienkonflikteiner dauerhaften Lösung zuzuführen und eine darüberhinausgehende sicherheitspolitische Konzeption für dengesamten Kaukasus zu finden.Für die russische Außen- und Sicherheitspolitik stellensich dabei folgende politisch miteinan<strong>der</strong> konkurrierendeOptionen dar:- Erstens die Konzentration <strong>der</strong> gesamtstaatlichenRessourcen auf die Absicherung <strong>der</strong> russischen Hegemoniein ihrem <strong>der</strong>zeitigen Einflussbereich. Befürwortereiner solchen Konsolidierung meinen, dass sich dieseidentitätsstiftend auf den Vielvölkerstaat auswirken würde.Außerdem wird die Meinung vertreten, dass ohneeine zumindest teilweise Reintegration von Territorien<strong>der</strong> früheren Sowjetunion die geopolitische BedeutungRusslands nicht wie<strong>der</strong> hergestellt werden könne. <strong>Die</strong>sergeopolitische Ansatz wird u.a. von Sjuganow und Alexan<strong>der</strong>Dugin vertreten.- <strong>Die</strong> zweite Option ist <strong>der</strong> Aufbau multilateralerAllianzen mit den BRIC- und RIC-Staaten. Ziel solcherAllianzen ist es, einerseits die Hegemonie <strong>der</strong> USA zubeenden, an<strong>der</strong>erseits auch kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichenInteressen, wie z.B. Rüstungs- und Energieexporten,zu dienen. 72) Das unverän<strong>der</strong>te intensive russischeBemühen um eine Aufwertung <strong>der</strong> Schanghai-Kooperationuntermauert die ungebrochene Aktualität dieser These.Den ideologischen Hintergrund dieses Ansatzes bildetJ. Primakows Konzept einer multipolaren Welt.- Drittens eine Intensivierung <strong>der</strong> Kooperation mitdem Westen auf <strong>der</strong> Basis einer gleichberechtigten Partnerschaft.Dass diese Linie unverän<strong>der</strong>t weiterverfolgtwird, wenn auch wesentlich selbstbewusster und unter energischerBetonung <strong>der</strong> russischen Interessen, machte <strong>der</strong>Präsident Ende vergangenen Jahres beson<strong>der</strong>s deutlich. Indiesem Zusammenhang regte Medwedew am 30.11.2009einen neuen und umfassenden Sicherheitspakt „von Vancouverbis Wladiwostok“ an, den seiner Vorstellung nach<strong>der</strong> Westen und Moskau abschließen sollten. 73)<strong>Die</strong> NSS2020 als gesamtstaatliche Langzeitstrategielässt durch ihre allgemeine Auslegung <strong>der</strong> russischenAußen- und Sicherheitspolitik genügend Handlungsspielraum,sodass abzuwarten bleibt, welcher Kurs - o<strong>der</strong>Derivat davon - sich letztlich durchsetzen wird.Conclusio<strong>Die</strong> NSS2020 greift die über dem tagespolitischenGeschehen stehenden nationalen Interessen Russlandsauf und macht sie zum Ausgangspunkt <strong>der</strong> von <strong>der</strong> RFverfolgten Ziele. <strong>Die</strong>se sowie weitere Konstanten des russischenpolitischen Systems stellen den Strategie-bildendenRahmen und zugleich die Metaebene <strong>der</strong> russischenSicherheitspolitik dar.Ob und wie die hochgesteckten Ziele <strong>der</strong> NSS2020verwirklicht werden können, wird sich an den zu bewältigendenHerausfor<strong>der</strong>ungen wie Nationalitätenproblem,Bevölkerungsschwund, chinesische Infiltration in Sibirien,Vordringen des Islams, fehlende Infrastruktur undobsolete Wirtschaftsstruktur messen lassen. Ein über diemilitärische Befriedung hinausgehen<strong>der</strong> Lösungsansatzfür den Kaukasus, eine weitergehende innenpolitischeStabilisierung unter Einbeziehung <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten,eine strukturelle Neuausrichtung <strong>der</strong> Wirtschaft, aberauch eine zukunftsweisende ausgewogene weltpolitischePositionierung <strong>der</strong> RF sind wohl die dringendsten Fragen,ÖMZ-Online 6/2011 21


Wolf: Quo vadis Russland?die einer Antwort harren. Gerade im Bereich <strong>der</strong> AußenundSicherheitspolitik ist aus dem bisherigen russischenVorgehen, Stichwort Georgien, sowie aus den Aussagen<strong>der</strong> NSS2020 abzuleiten, dass die RF auch in Zukunftnicht mehr bereit sein wird, einer weiteren Ausdehnung <strong>der</strong>NATO in ihrem strategischen Vorfeld tatenlos zuzusehen.Russland hat, auch als Warnung an alle Staaten <strong>der</strong> GUS,wie z.B. die Ukraine, mit seinem militärischen Vorgeheneine rote Linie in den Sand gezogen. Das konnte man beimRegierungswechsel in <strong>der</strong> Ukraine deutlich erkennen.Dementsprechend misst die NSS2020, im Gegensatzzu den allermeisten EU-Mitgliedstaaten, <strong>der</strong> Verfügbarkeitvon leistungsfähigen Streitkräften auch einen sehrhohen Stellenwert bei. Sie stellt aber auch, abermals imGegensatz zu <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> EU-Mitglie<strong>der</strong> klar, dass manin Moskau die politische Entschlossenheit hat, diese aucheinzusetzen. Vor diesem Hintergrund sollte die geplanteEntwicklung des militärischen Potenzials <strong>der</strong> EU nochmalsüberdacht werden.<strong>Die</strong> NSS2020 stellt den politisch-strategischen Rahmendar, innerhalb dessen sich die russische Außen- undSicherheitspolitik in absehbarer Zukunft bewegen wird.Sie legt Wege und Möglichkeiten dar und will dem wie<strong>der</strong>erstarktenRussland eine strategische Ausrichtung ineine erstrebenswerte Zukunft bieten.Der Wechsel von Putin zu Medwedew hat an <strong>der</strong>grundsätzlichen sicherheitspolitischen Ausrichtung <strong>der</strong> RFund damit an ihren strategischen Handlungsgrundsätzennichts geän<strong>der</strong>t.<strong>Die</strong> NSS2020 ist jenes Instrument, das die langfristigestrategische Ausrichtung <strong>der</strong> Außen- und SicherheitspolitikRusslands festschreibt und damit den Weg zurück zurGroßmacht skizzieren soll. Gerade darin ist ihre Bedeutungfür die RF zu sehen.<strong>Die</strong>se Entwicklung muss vom Westen hingenommenwerden, denn sie ist Teil <strong>der</strong> bis in die Mitte des19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurückreichenden russischen Geopolitik.Dem hat das heutige Europa, zumindest bisher, nichtsentgegenzusetzen.Wohin geht also Russland? <strong>Die</strong>se eingangs gestellteFrage kann nicht mit Sicherheit und vollständig beantwortetwerden. Aus den identifizierten Absichten, Handlungenund den Aussagen <strong>der</strong> NSS2020 ist jedoch abzuleiten,dass die russische <strong>Führung</strong> ihre Bemühungen intensiviert,das Land, einem Phönix gleich, aus <strong>der</strong> Asche des sowjetischenImperiums emporsteigen zu lassen. ■ANMERKUNGEN:1) Fjodor I. Tjucev: Rossija i zapad: kniga prorocestv. Moskva 1999.2) Vgl. http.://www.auswaertiges-amt.de (1.2.2010).3) Vgl. Marcel de Haas: Medvedev’s Security Policy. In: Russian AnalyticalDigest 62/09, Bremen 2009.4) Ebenda, S.23.5) Ebenda, S.22.6) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html.7) Edenda, (31.1.2010).8) Edenda, (1.2.2010).9) Vgl. http://www.mid.ru/ns-osndoc.nsf/ (5.2.2010).10) http.://www.scrf.gov.ru/documents/33html (20.4.2010).11) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html…Pkt.21 (15.3.2010).12) Vgl. http./www.mid.ru/brp_4nsf/ (13.4.2010).13) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html (15.3.2010).2214) Edenda, (25.2.2010).15) Edenda, (25.2.2010).16) Vgl. Edenda, (25.2.2010).17) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html (2.3.2010).18) Vgl.http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html (5.3.2010).19) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html (16.3.2010).20) Edenda, (16.3.2010).21) Edenda, (16.3.2010).22) Edenda, (24.3.2010).23) Vgl. Hans Adomeit: Russlands Militär und Sicherheitspolitik unterPutin und Medwedew, ÖMZ 3/2009, Wien 2009, S.283ff.24) Marcel De Haas: Medvedev’s Security Policy, Russian AnalyticalDigest 62/2009, The Hague 2009, S.2.25) Vgl. Friedrich Korkisch: Globale Strategie, die Geopolitik <strong>der</strong> USA,ÖMZ 3/2010, S.342ff.26) Vgl. http.://www.aktuell.ru/russland/lexikon/geographie(14.4.2010).27) Vgl. Christoph Zürcher: The post-Soviet wars: rebellion, ethnicconflict, and nationhood in the Caucasus, S.93.28) Vgl. http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html, Pkt.64 (8.3.2010).29) http://www.kremlin.ru/appears/2005/04.shtml (2.2.2010).30) Vgl. Marcel De Haas: Medvedev’s Security Policy. In: RussianAnalytical Digest 62/2009, The Hague 2009, S.2.31) Erich Simbürger, ObstdG, österr. MilAtt für die RF von 2002 bis2009, Interview durch den Autor am 25.2.2010.32) http://www.mid.ru/ns-osndoc.nsf/1e5f0de (11.2.2010).33) Vgl. http://www.mid.ru/ns-osndoc.nsf/1e.(5.2.2010).34) http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html, Pkt1, (1.3.2010).35) Vgl. Ivasov, L.G. in Martin Malek: Theorie und Praxis <strong>der</strong> Geopolitikim postsowjetischen Russland, Wien 2008, S.114.36) Simbürger, a.a.O.37) Ebenda.38) Vgl. Samuel P. Huntington: Der Kampf <strong>der</strong> Kulturen, München-Wien 1997, S.58.39) Vgl. Ivasov, a.a.O., S.114.40) Der Anteil am weltweiten Gross Product beträgt nur 3%, ist also realgeringer als <strong>der</strong> Anteil Italiens.41) Vgl. Friedrich Korkisch: Konsequenzen <strong>der</strong> Finanzkrise, S.72, IAS,Wien, 2010.42) Ebenda.43) Vgl. http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html, Pkte.60, 61, 62,(15.5.2010).44) Vgl. ebenda, Pkt.40 und Pkt.48, (8.5.2010).45) <strong>Die</strong> Mitglie<strong>der</strong> sind: <strong>der</strong> Präsident, <strong>der</strong> zugleich Vizepremier ist, <strong>der</strong>Ministerpräsident, <strong>der</strong> Duma-Präsident, <strong>der</strong> Sekretär des Sicherheitsrates,<strong>der</strong> Verteidigungsminister, <strong>der</strong> Außenminister, <strong>der</strong> Direktor desAuslandsnachrichtendienstes SWR, <strong>der</strong> Innenminister, <strong>der</strong> Vorsitzendedes Fö<strong>der</strong>ationsrates, <strong>der</strong> Direktor des Inlandsgeheimdienstes RusslandsFSB, <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Kreml-Administration.46) Vgl. Christian Wolf: Supermacht USA, Lanzenkirchen 2010, S.27.47) http://www.mid.ru/ns-osndoc.nsf/1e.(15.2.2010).48) Pjotr. M. Alampiev, Juri N. Semenov: Geopolitika, Moskau 1971,S.316.49) Martin Malek: Theorie und Praxis <strong>der</strong> Geopolitik im postsowjetischenRussland, Wien 2008.50) Vgl. ebenda, S.104ff.51) Vgl. Norbert Lacher: <strong>Die</strong> neue Seidenstraße, Vortrag vor dem StbLg1BO, Wiener Neustadt, 22.2.2010.52) Vgl. Christian Wolf: Supermacht USA, Lanzenkirchen 2010, S.27.53) Vgl. Z. Brzezinski: <strong>Die</strong> einzige Weltmacht, Amerikas Strategie <strong>der</strong>Vorherrschaft, S.55.54) http.://premier.gov.ru/eng/points/98/ Interview W.W. Putin am10.5.2009, Nikkei (10.2.2010).55) Es sind dies die Ukraine, Moldawien, <strong>der</strong> Kaukasus und die ZentralasiatischenStaaten.56) Vgl. http.://www.auswaertiges-amt.de (31.1.2010).57) Vgl. http.://www.kas.de/wf/doc/kas_.pdf (1.2.2010).58) Vgl. http.://www.scrf.gov.ru/documents/99html, Pkte.8,17,(20.5.2010).59) Vgl. http.://www.auswaertiges-amt.de (1.2.2010).60) Vgl. Edenda, (1.2.2010).61) Vgl. Carolina Vendil Pallin: Russian military reform, S.49.62) http.://premier.gov.ru/eng/points/98/ W.W. Putin, 22 12 09(10.2.2010).63) Vgl. Adomeit, a.a.O.ÖMZ-Online 6/2011


64) Vgl. Friedrich Korkisch: Konsequenzen <strong>der</strong> Finanzkrise, S.73, IASWien 2010.65) Dazu zählten die parallel ausgearbeiteten „realen“ Pläne für den TVDWest und Fernost.66) Vgl. Kris D. Beasley, LtCol, USAF: Russian Military Reforms fromPerestroika to Putin: Implications for US Policy, Alabama 2004, S.23.67) Vgl. http://www.telegraph-co.uk/news7worldnews/europa/poland/648022(15.6.2010).68) Vgl. Friedrich Korkisch: <strong>Die</strong> Doktrinendiskussion in den USA,ÖMZ 5/2003.69) Vgl. Russlands Militärdoktrin. In: Der Soldat Nr.5, Wien10.3.2010.70) www.scrf.gov.ru/documents/33html (21.4.2010).71) Vgl. Russlands Militärdoktrin, a.a.O.72) Vgl. Gerhard Mangott: Russlands Abschied von <strong>der</strong> globalen Bedeutung,Wien 2005, S.68.73) Strategischer Hintergrund dieser Initiative ist, dass man in Moskaugute Beziehungen mit Europa anstrebt, um in einem Kriegsfall mit Chinaden Rücken „strategisch“ frei zu haben. Daher hat auch die ShanghaiCooperation Organisation(SCO) nur einen Zweckcharakter.Christian Wolf,MSc, MSDGeb. 1968; Major; 1987-1989 LWSR34 in Götzendorf,Jäger, und Artillerieschule in Baden, 1989-1992BRGfB/TherMilAk; 1992-1995 TherMilak, JaPz;1995-1996 ZgKdt JaPz und AusbO beim AufklR1 inGraz; 1996-2007 ZgKdt, KpKdt 1.PAKp, S2/stv.S3,stvBKdt/LtrStbArb und BKdt(mdFb) beim PAB1 inWiener Neustadt, 8.FüLG2/4.LuCh; 2006 NATO/PfPOSOC, Auslandsverwendung als KpKdt AUCON4/KFOR 2001 und als StbO bei internationalen Übungen2003 und 2008 in Armenien; seit 2007 LGKdt undHLO im Inst2/TherMilAk; 2011 abgeschlossenesStudium <strong>der</strong> Sicherheitsökonomie an <strong>der</strong> CorvinusUniversität in Budapest.ÖMZ-Online 6/2011 23


„Zieh mich nicht unüberlegt und bringmich nicht ohne Ehre zurück!“Maximilian Freiherr von Wimpffen (1770-1854)Hubert Michael Ma<strong>der</strong>In Deutsch-Wagram ist <strong>der</strong> Degen des GeneralsMaximilian von Wimpffen zu besichtigen,dessen Klinge die eingravierten französischenWorte zieren: „Zieh mich nicht unüberlegt und bringmich nicht ohne Ehre zurück!“ 1) <strong>Die</strong>ser Wahlspruchprägte das ganze Leben dieses bedeutenden Offiziers<strong>der</strong> altösterreichischen Armee und reicht weit überdie Napoleonische Zeit bis in unsere Tage herein. Imfolgenden Artikel soll eine kurze Biografie Wimpffenswie<strong>der</strong>gegeben und anschließend die für Österreichbedeutende Schlacht von Aspern am 21./22. Mai 1809kurz umrissen werden.Das Geschlecht <strong>der</strong> WimpffenDer Ursprung des Geschlechtes <strong>der</strong> Wimpffeno<strong>der</strong> Wümpffen lässt sich bis in die erste Hälfte des11. Jahrhun<strong>der</strong>ts urkundlich zurückführen, als Dagobertvon Wümpffen die beiden Neckarstädte „Wimpfen amberge“ und „Wimpfen im tale“ dem Hochstift Worms um1.300 Mark Silber unter <strong>der</strong> Bedingung verkaufte, dasssein Bru<strong>der</strong> Arnold von Wümpffen Bischof von Wormswerde (was 1044 tatsächlich eintrat). <strong>Die</strong> „Wimpffen“traten demzufolge als schwäbisches Geschlecht inErscheinung, das zur reichsunmittelbaren Ritterschaftdes Kantons Ortenau zählte. <strong>Die</strong> ersten Adels- undWappenbriefe dieses Hauses reichen in das Jahr 1375zurück, <strong>der</strong> nächste stammt vom 15. August 1555. Am13. November 1658 in den Freiherrenstand erhoben,wurde dieser mit Diplom vom 19. Oktober 1781 fürFranz Ludwig von Wimpffen und seine drei Brü<strong>der</strong>Stanislaus, Christian und Georg bestätigt. Darüberhinaus erfolgte die Erhebung von Franz Karl EduardWimpffen, dem Sohn von Franz Ludwig, am 8. April1797 in den Reichsgrafenstand. 2)<strong>Die</strong> männlichen Mitglie<strong>der</strong> des Hauses Wimpffenwidmeten sich vorwiegend dem Waffendienst, undzwar „mit einem Glanz und Ruhme, wie er in den österreichischenAdelsfamilien wohl immer, nur nicht sohäufig vorkommt“. <strong>Die</strong>s galt nicht nur für jene, die inden österreichischen Heeren kämpften, son<strong>der</strong>n ebensoauch für die, die in Armeen an<strong>der</strong>er Staaten dienten.Hingegen erscheint die Kirche für die Wimpffen als„eine wenig begehrenswerte Stätte“, in <strong>der</strong> nur wenigeden Aufstieg zu Ämtern und Ehren suchten. Dagegenzeigten die meisten Mitglie<strong>der</strong> des Geschlechts einlebhaftes Interesse für Kunst und Wissenschaft, ein24Verlangen, „die Welt zu sehen“. Wobei Letzterem dieWahl des Kriegerstandes sehr entgegenkam. So fandenauch in den Salons des Maximilian von Wimpffen jene,die sich <strong>der</strong> Literatur und Wissenschaft widmeten, regeAufnahme. 3)Maximilian von Wimpffen (1770-1854)Seine Jugend bis zum Türkenkrieg 1789Maximilian Freiherr von Wimpffen wurde am19. Februar 1770 zu Münster in Westfalen geboren. Er tratals Sohn des k. k. Feldmarschall-Leutnants Georg Siegmundam 1. Mai 1781 in die Wiener Neustädter Akademieein, aus <strong>der</strong> er am 1. November 1786 als Fahnenkadett bei<strong>der</strong> Clerfait-Infanterie Nr. 9 eingeteilt wurde. Bereits imnächsten Jahr kam er als Fähnrich zur Alvinczy-InfanterieNr. 19, wo er sich während des Türkenkrieges in denJahren 1788/1789 mehrmals auszeichnete. 4)Noch im Verlauf des Feldzuges zum Leutnant beför<strong>der</strong>t,beteiligte er sich am Sturm auf die Festung Belgrad(30. September 1789) an <strong>der</strong> Spitze von Freiwilligen,die zuerst in die Stadt eindrangen. Ein Steinsplitter verwundeteWimpffen am linken Fuß, setzte ihn aber nichtaußer Gefecht. So verwendete ihn Graf Kolowrat, seinKommandant, noch weiterhin zu mehreren wichtigen wieauch gefahrvollen Aufträgen. An diesem bedeutenden Tagzog <strong>der</strong> junge Offizier „durch seinen Mut, unermüdeteTätigkeit und praktische Anwendung <strong>der</strong> erworbenenmilitärischen Kenntnisse zuerst die Aufmerksamkeit aufsich“. Aufgrund seines ausgezeichneten <strong>Die</strong>nstes währenddes Türkenkrieges erfolgte hierauf seine Beför<strong>der</strong>ung zumOberleutnant im Grenadierbataillon Morzin. 5)<strong>Die</strong> Franzosenkriege<strong>Die</strong> Revolution in Frankreich und die daraus folgendenUnruhen in Belgien bedeuteten für die Truppen,unter denen sich auch Wimpffen befand, den Befehl,in die österreichischen Nie<strong>der</strong>lande vorzurücken undvon dort unter Feldzeugmeister Clerfayt nach Frankreichvorzudringen. Der daraus folgende Feldzug in<strong>der</strong> Champagne pouilleuse gestaltete sich als überausbeschwerlich; nicht nur wegen <strong>der</strong> sich bewaffneterhebenden Franzosen, son<strong>der</strong>n es fehlte auch an <strong>der</strong>Versorgung mit wichtigen Gütern, zudem herrschte einsechswöchiges ununterbrochenes Herbst-Regenwetter. 6)Nach <strong>der</strong> Schlacht von Jemappes, an <strong>der</strong> Wimpffen nurgering beteiligt war, sah sich das österreichische HeerÖMZ 6/2011


In <strong>der</strong> Schlacht von Aspern konnte Generalstabschef von Wimpffen - mit einer taktischen und operativen Meisterleistung - dieösterreichischen Truppen zum Sieg führen (Bild: Gemälde <strong>der</strong> Schlacht von Johann Krafft).gezwungen, bis fast an den Rhein zurückzuweichen undWinterquartier zu beziehen. 7)<strong>Die</strong> Schlacht von NeerwindenIm Feldzug des Jahres 1793 nahm Wimpffen mit einerKompanie in <strong>der</strong> Schlacht von Neerwinden das Dorfgleichen Namens ein, eroberte zwei Geschütze und rücktebis an das äußerste Ende des Ortes vor. Hier befand er sichindessen nahe am rechten Flügel <strong>der</strong> hinter Neerwinden inSchlachtordnung aufgestellten französischen Armee, undim Kampf mit einer weitaus überlegenen französischenKolonne, ohne Unterstützung sich selbst überlassen, mussteer schließlich den Rückzug antreten. Dabei verwundeteeine Gewehrkugel Wimpffen am rechten Fuß, und er fiel inKriegsgefangenschaft. Nun ließ Wimpffen seine Kontaktespielen, die sich ihm aufgrund <strong>der</strong> weiten Verzweigungseines Geschlechts boten. Er berief sich auf seinen Onkel,den französischen General Felix Wimpffen, und erreichtedamit, dass ihn General Dumouriez nach sechs Wochenwie<strong>der</strong> in Freiheit setzte. 8)<strong>Die</strong> Schlacht von LoanoZum Kapitänleutnant beför<strong>der</strong>t, wurde Wimpffen imJahre 1795 von den Grenadieren weg versetzt und nachItalien überstellt. Bei <strong>der</strong> Schlacht von Loano oblag ihmdie Verteidigung <strong>der</strong> auf dem äußersten linken Flügel amMeer gelegenen Stadt. 9) Obgleich diese Aufgabe einenwichtigen Stützpunkt <strong>der</strong> Armee betraf, hatte Wimpffennur ungenügende Mittel zur Verfügung. Er konnte aberalle vom Feind gegen die Stadt unternommenen Angriffezurückschlagen und selbst einige Ausfälle befehlen. Erstals <strong>der</strong> allgemeine Rückzug <strong>der</strong> Armee angeordnet wurde,räumte auch Wimpffen die Stadt. Mit Beginn des Jahres1796 erschien <strong>der</strong> Flügeladjutant Major Malcamp, <strong>der</strong>nach Voltri bei Genua zwecks <strong>Führung</strong> <strong>der</strong> französischenKorrespondenz beor<strong>der</strong>t war, und bewog Wimpffen, mitihm in das Hauptquartier zu kommen. Dort wurde er demFeldzeugmeister Beaulieu zur <strong>Die</strong>nstleistung zugeteilt,kurz danach zum Hauptmann im Generalquartiermeisterstabernannt. 10)<strong>Die</strong> Treffen am Mincio, an <strong>der</strong> Brenta und beiArcoleIn dem am Mincio 1796 vorgefallenen Treffen verlorWimpffen ein Pferd und wurde durch zwei Bajonettsticheverwundet. Der kommandierende General jedoch sowiedie Kriegskasse wie auch das Hauptquartier in Valeggiokonnten durch Wimpffen und eine von ihm eilends zusammengewürfelteTruppe gerettet werden. 11) Nach <strong>der</strong>Übernahme des Armeekommandos durch FeldmarschallWurmser hatte Wimpffen das Glück, dass er sich bei dessenzweitem Versuch, Mantua zu entsetzen, gerade unterdem Kommando von Feldzeugmeister Alvinczy befandund bei den Kämpfen an <strong>der</strong> Brenta (6. und 12. November1796) zum Siege beitragen konnte.In <strong>der</strong>, um es wörtlich zu zitieren, „für die österreichischenWaffen zwar unglücklichen, aber dennoch,nach den Relationen des Feindes selbst, sehr ruhmvollenSchlacht von Arcole“, 12) die vom 15.-17. November 1796stattfand, hielt sich Wimpffen als einziger dirigieren<strong>der</strong>Offizier des Generalquartiermeisterstabes bei <strong>der</strong> linkenHälfte <strong>der</strong> Armee auf. <strong>Die</strong>se hatte sich während <strong>der</strong> zweiTage an <strong>der</strong> Schlacht mit meist glücklichem, aber nichtentscheidendem Erfolg beteiligt. 13)<strong>Die</strong> schwere Verwundung im Kampf bei TauffersIm Folgenden wurde Wimpffen nach Tirol versetztund mit <strong>der</strong> Oberleitung <strong>der</strong> Generalquartiermeister-<strong>Bundesheer</strong>/Heeresgeschichtliches MuseumÖMZ 6/2011 25


Ma<strong>der</strong>: „Zieh mich nicht unüberlegt und bring mich nicht ohne Ehre zurück!“stabsgeschäfte bei Feldmarschall-Leutnant Bellegardebetraut, <strong>der</strong> hier ein starkes Armeekorps befehligte. ImVerlauf des Winters 1798 verschanzte er eine Stellungbei Feldkirch mit solcher Festigkeit, dass sie im Frühjahr1799 einem dreitägigen Angriff <strong>der</strong> Franzosenunter Marschall Massena standhielt. Im Rahmen einerBereisung <strong>der</strong> westlichen Landesgrenze, die Wimpffenmit Bellegarde unternahm, erhielten sie in Mals dieKunde, dass General Laudon, 14) dem die Verteidigungdes Passes bei Tauffers mit einem Korps anvertrautwar, überfallen, sein Korps zerstreut und größtenteilsin Gefangenschaft geraten war.Wimpffen brach sogleich auf, um mit in <strong>der</strong> Eile unterwegsaufgebrachten Truppen Abteilungen anzugreifen,die Laudon in den Rücken gekommen waren. Bei einemdieser Angriffe „wurde er aber durch einen Schuss, <strong>der</strong>ihm das rechte Achselgelenk gänzlich zerschmetterte,schwer verwundet, so dass er nur mit Mühe bis Botzengebracht werden konnte, wo er einige Monate zwischenLeben und Tod schwebte.“ 15) Dem Tod entronnen, erfuhrWimpffen aufgrund seiner Tapferkeit noch im Laufe desJahres seine Beför<strong>der</strong>ung zum Major im Generalquartiermeisterstabund erhielt die Tapferkeitsmedaille von denTiroler Landständen überreicht. 16)In dem Werk „Der Militär-Maria-Theresien-Orden und seine Mitglie<strong>der</strong>“ steht über Wimpffenund dessen Meisterung seines schweren Handicapszu lesen: „Bei Wimpffen drängt es uns, ganzbeson<strong>der</strong>s die heroische Selbstüberwindung undFestigkeit zu erwähnen, die er seinen riesigenSchmerzen gegenüber bewiesen. Wir müssen gestehen,dass in <strong>der</strong> Geschichte unserer, wie frem<strong>der</strong> Heere,bei <strong>der</strong> großen Menge tapferer, ja wun<strong>der</strong>voller Taten,solche Züge von Energie des Geistes und des Körpersimmerhin seltener bleiben.“ 17)Im Frühjahr 1800 begab sich Wimpffen zur Ausheilungseiner Absplitterung nach Baden bei Wien. FeldzeugmeisterAlvinczy, <strong>der</strong> kommandierende General inUngarn, trug ihm eine leichtere Anstellung bei seinenTruppen an, doch ohne Erfolg. Wimpffen lehnte eineVersetzung schon insofern ab, da diese für ihn einenRückzug vom unmittelbaren Feindkontakt bedeutethätte. Vielmehr begab er sich in das Hauptquartier nachVerona und unter das Kommando des FeldzeugmeistersGraf Bellegarde. 18) <strong>Die</strong>ser beauftragte ihn mit den<strong>Die</strong>nsten eines Flügeladjutanten. In dieser Funktion trugWimpffen „’den rechten Arm in <strong>der</strong> Schlinge (denn dasAchselgelenk war zerschmettert und die Splitter haftetennoch zum Teile im Fleische)’, ließ sich aufs Pferd hebenund lernte mit <strong>der</strong> linken Hand schreiben“. 19)<strong>Die</strong> Schlacht am MincioDem nicht genug, nahm er an <strong>der</strong> Schlacht amMincio teil und erhielt an <strong>der</strong> Seite Bellegardes eineSchussverletzung am linken Arm, die ihn aber nichtaußer Gefecht setzen konnte. Wimpffen wurde zumOberstleutnant beför<strong>der</strong>t und erhielt den Auftrag,sich 1801 zur Übernahme des 3. Bataillons <strong>der</strong> IgnazGyulai-Infanterie nach Semlin zu begeben, von wo erschließlich nach Peterwardein versetzt wurde, wo seine26Achselgelenkwunde zuheilte. <strong>Die</strong>s än<strong>der</strong>te jedoch nichtsan <strong>der</strong> Tatsache, dass sein Gelenk zerschmettert war,und Wimpffen musste sich damit abfinden, dass er amrechten Arm gelähmt blieb. 20)<strong>Die</strong> Schlacht von AusterlitzBei <strong>der</strong> Einführung des neuen Militär-Administrationssystemswurde Wimpffen zum Generalkommando-Adjutantenund Militärreferenten Innerösterreichsernannt. In den Jahren 1803 und 1804 blieb er auf diesemPosten in Graz. In Jahr 1805 wurde Wimpffen zumOberst beför<strong>der</strong>t, wandte sich aber vergebens an den Hofkriegsrat,um eine Versetzung zur Armee von ErzherzogKarl zu erreichen. Nach den Nie<strong>der</strong>lagen von Ulm undMariazell erfolgte durch den Kriegsminister Graf Latourdie Weisung an ihn, sich sofort zum Hauptquartier vonKaiser Franz in Olmütz zu begeben, wo er das Referatbei einem aus mehreren Generälen zur Oberleitung <strong>der</strong>Kriegsoperationen zusammengesetzten Komitee übernahm,im Weiteren, um zwei Positionen bei Olmütz zuverschanzen.Schließlich erhielt Wimpffen den Auftrag, die Geschäftedes Generalstabes 21) beim russischen Heer unterKutusow 22) zu übernehmen. Sein Vorgänger, GeneralWeyrotter, ignorierte indessen die neue Kompetenzverteilung,und Wimpffen war sich bewusst, dass diesersowohl das Vertrauen von Zar Alexan<strong>der</strong> als auch vonKaiser Franz besaß. Wimpffen trug den GegebenheitenRechnung und stellte sich unter das Kommando desFeldmarschalls Fürst Liechtenstein, <strong>der</strong> das geson<strong>der</strong>teösterreichische Korps befehligte. 23)Wimpffen setzte nun alles daran, die Schlacht gegenNapoleon Bonaparte zu verschieben, bis die erwartetenVerstärkungen eingetroffen wären. Er bewog denFürsten Liechtenstein, dem Kaiser eine Denkschrift zuüberreichen, in <strong>der</strong> er darstellte, wie gefährlich es sei,eine Schlacht zu riskieren, ehe die erwarteten russischenVerstärkungen eingetroffen und die Verbindung mit<strong>der</strong> aus Italien bei Ödenburg angelangten Armee desErzherzogs Karl hergestellt wäre. Aber Wimpffen stießauf taube Ohren, genauso wie seine Versuche vergebenswaren, Weyrotter persönlich vom jetzigen denkbarungünstigen Termin für eine Schlacht zu überzeugen.Doch damit nicht genug: Jenem operativen Fehler folgteein schwerer taktischer, wobei Wimpffen diesen zwarerkannte, sich jedoch abermals gegen die <strong>Führung</strong> <strong>der</strong>alliierten Kräfte nicht durchsetzen konnte. Beauftragtmit <strong>der</strong> <strong>Führung</strong> <strong>der</strong> Hauptkolonne, stellte er einenVoraustrupp, <strong>der</strong> das Gelände auskundschaften sollte.<strong>Die</strong>ser zeigte ihm an, dass ein Korps von 30.000 bis40.000 französischen Soldaten gegen den Fuß <strong>der</strong>Anhöhen von Pratzen vorrückte, um diese zu besetzen.Wimpffen erkannte diesen als den wichtigsten Punkt desganzen Schlachtfeldes und for<strong>der</strong>te sofort Kutusow auf,diese Höhe noch vor dem Gegner zu gewinnen. Dochauch diesmal verhallte sein Rat ungehört, und später,während <strong>der</strong> Schlacht, gab es blutige und verlustreicheKämpfe um den Besitz jener Anhöhe, die für die Österreicherletzten Endes vergeblich blieben. Wimpffenbeteiligte sich an diesen Gefechten mit vollem Einsatz,ÖMZ-Online 6/2011


dabei wurde ihm ein Pferd unter dem Leib getötet, un<strong>der</strong> selbst erlitt Schussverletzungen in die rechte Handsowie in das Gelenk <strong>der</strong> rechten Fußes. Außer Gefechtgesetzt, musste er das Schlachtfeld verlassen. 24)<strong>Die</strong> Schlacht von Austerlitz selbst entwickelte sichzu einer vernichtenden Nie<strong>der</strong>lage für die russischösterreichischenTruppen. Es fällt in den Bereich <strong>der</strong>Spekulationen, was geschehen wäre, hätte man WimpffensRatschläge berücksichtigt. Im April 1806 erkannteihm das Kapitel des Militär-Maria-Theresien-Ordensfür seine Leistungen in dieser Schlacht einstimmig dasRitterkreuz zu.<strong>Die</strong> Marchfeldschlachten von 1809<strong>Die</strong> Schlachten bei Aspern und Wagram wurdenbereits von <strong>der</strong> Literatur detailliert wie<strong>der</strong>gegeben. 25)Im Rahmen dieses Artikels ist we<strong>der</strong> Platz noch Raum,auf jene Ereignisse mehr als nur sehr oberflächlicheinzugehen.Wimpffen wurde zunächst auf seinen früherenPosten in Graz zurückversetzt, aber noch im Jahr 1806erfolgte seine Berufung zum Generaladjutanten desGeneralissimus Erzherzog Karl, ferner zur Übernahme<strong>der</strong> Geschäfte bei <strong>der</strong> General-Militärdirektion in Wien.Im Oktober 1807 hatten französische Truppen Portugalbesetzt, 1808 folgte Spanien. Napoleon wollte dieSpanier mit einer „mo<strong>der</strong>nen Monarchie“ unter seinemBru<strong>der</strong> Joseph „beglücken“. Am 2. Mai 1808 folgtein Madrid durch die Truppen des Generals Murat einGemetzel unter <strong>der</strong> Zivilbevölkerung. Eine allgemeineErhebung war die Folge, wobei die ständigen Massaker<strong>der</strong> Franzosen brutale Gegenaktionen <strong>der</strong> Spanierhervorriefen. Napoleon musste nach andauernden Nie<strong>der</strong>lagenseiner Besatzungsmacht mit 150.000 Mann diePyrenäen überschreiten und persönlich in die Kämpfeeingreifen. Eine endgültige „Befriedung“ des Landesverhin<strong>der</strong>te jedoch das Rüsten <strong>Österreichs</strong>, und <strong>der</strong>Korse kehrte im Jänner 1809 nach Paris zurück. Dazuhielt <strong>der</strong> berühmte preußische Militärtheoretiker Carlvon Clausewitz in seiner Schrift „Der russische Feldzug1812“ fest: „Der österreichische Feldzug von 1809 hatSpanien gerettet, weil er ihn daran gehin<strong>der</strong>t hatte, dieEnglän<strong>der</strong> aus Portugal zu vertreiben. Seitdem warer dort in einem Verteidigungskrieg verfallen, <strong>der</strong> ihnungeheure Kräfte kostete, ihn gewissermaßen an einemArm lähmte. ...“ 26)Bei Ausbruch des Krieges von 1809 erledigteWimpffen zunächst die Generaladjutantengeschäftebei <strong>der</strong> Hauptarmee. Schwere Fehler <strong>der</strong> <strong>Führung</strong> desGeneralstabes hatten die Nie<strong>der</strong>lage bei Regensburgund Landshut zur Folge, wobei Wimpffen, <strong>der</strong> sich(wie<strong>der</strong>um) bei dem Gefecht von Hausen und in <strong>der</strong>Schlacht vor Regensburg vergebens für einen glücklicherenErfolg einsetzte, zwei Pferde unter dem Leibgetötet wurden.Nach <strong>der</strong> Schlacht vor Regensburg, während desRückzugsmarsches <strong>der</strong> Armee über Budweis, wurdeWimpffen durch ein Handbillet des Kaisers zum Chefdes Generalstabes 27) ernannt. Wenig später erfolgte seineBeför<strong>der</strong>ung zum Generalmajor. 28) Währenddessen rückteNapoleon stetig vor und zog in Wien als Sieger ein.Erzherzog Karl bestand auf eine klare Kompetenztrennungbei <strong>der</strong> militärischen <strong>Führung</strong>. Es lag amKommandierenden, einen Entschluss zu fassen, sichwährend <strong>der</strong> Schlacht am Übersichtspunkt aufzuhaltenund den Kampf zu leiten. Der Chef des Generalstabesarbeitete den Entschluss allgemein verständlich aus,begab sich jeweils an Punkte, wo es <strong>der</strong> Kampf erfor<strong>der</strong>te,und sollte alles daransetzen, die Durchführung<strong>der</strong> Weisungen des Kommandierenden zu erleichtern. 29)Dabei sollte er dasjenige selbst erledigen, was keinan<strong>der</strong>er (Unterstellter) für ihn erledigen konnte. Mitan<strong>der</strong>en Worten, seine Aufgabe bestand auch darin, dieKunst des Delegierens von Aufgaben zu beherrschenund richtig anzuwenden. Der Chef des Generalstabesmüsse hingegen Grundsätze aufstellen und dürfe dieÜbersicht über das Ganze nicht verlieren. 30)Auf Wimpffen trifft daher voll zu, was über dieFunktion eines Generalstabschefs einst mit ausschmückendenWorten geschrieben wurde: „Bekanntlichberuht es in <strong>der</strong> eigentümlichen Stellung <strong>der</strong> oberstenOffiziere des Generalstabes, dass das, was sie im großenzu <strong>der</strong> Entscheidung beitragen, in dem Schlachtgemälde,zu dem sie meist die kräftigsten Farbtönegeben, von dem ganzen zu unzertrennbar aufgenommenwird, um sich - gleich dem Anteile <strong>der</strong> Führer kleinererHeerteile - für die vereinzelte Darstellung zu eignen.Doch zur reichsten Entschädigung gehen die Namensolcher Männer in dem Gefolge <strong>der</strong> unsterblichenFeldherren, <strong>der</strong>en Absichten sie för<strong>der</strong>n, auch auf diespätere Nachwelt über.“ 31) Bei Wimpffen zeigte sichdies v.a. während <strong>der</strong> Kämpfe von Aspern, aber auchin <strong>der</strong> Schlacht von Wagram, an <strong>der</strong>en Nie<strong>der</strong>lage sichdie von ihm konzipierte Aufstellung <strong>der</strong> Armee wohlschuldlos zeigte.Es war ursprünglich ein bevorzugter Plan vonErzherzog Karl, im Angesicht von Wien einen Übergangüber die Donau vorzunehmen und Napoleoneine Entscheidungsschlacht am rechten Donauuferzu liefern. Wimpffen legte nun dem Erzherzog dieGrundsätze für das weitere Vorgehen vor, riet voneinem Donauübergang <strong>der</strong> Österreicher entschiedenab und vertraute auf eine Schlacht am nördlichen Donauufer.Wimpffen begründete dies folgen<strong>der</strong>maßen:„Wenn die Franzosen die Schlacht verlieren, so ist dieErbitterung des Landvolkes, auf <strong>der</strong>en Wirkung jedocherst nach einem glücklichen Erfolg zu rechnen ist, diefranzösische Armee gewiss ganz aufgerieben. Er setzthiebei alles, wir nur einen Teil aufs Spiel; gingen wirjetzt über die Donau, so wäre <strong>der</strong> Fall umgekehrt,<strong>der</strong> Kaiser von Österreich könnte gar nicht mehrunterhandeln und die ganze Monarchie wäre erobert.Fabius rettete Rom, Daun Österreich, nicht durchEile, son<strong>der</strong>n durch Zau<strong>der</strong>n. <strong>Die</strong>se Beispiele müssenwir nachahmen und den Krieg nach unserem Musterführen, das ganz für unsere <strong>der</strong>malige Lage und dieVerfassung unserer Armee passt. Unsere Hilfsmittelsind groß, wir sind nahe bei ihnen, <strong>der</strong> Feind entferntvon den seinigen.Wir schützen durch die Behauptung des linken Do-ÖMZ-Online 6/2011 27


Ma<strong>der</strong>: „Zieh mich nicht unüberlegt und bring mich nicht ohne Ehre zurück!“28nauufers den bei weitem größeren Teil <strong>der</strong> Monarchie;bei einem Tausch des Ufers würden wir unendlichverlieren. Unsere Armee kann sich aus ihren Depotsbeträchtlich und mehr verstärken; Napoleon erwartetnur noch 12.000 Sachsen unter Bernadotte; die italienischendrei Divisionen werden dem EH Johann aufihrem Zuge in die Hände fallen.Wir benötigen die Ressourcen des linken Donauufersfür unsere Armee, das rechte könnte sie uns nicht liefern.Unsere Kavallerie ist geschwächt, die Pferde entkräftet,die Artillerie und das Fuhrwesen äußerst schlechtbespannt und das letzte ohne Obsicht, ein Drittteil unsererInfanterie ist unexerziert, die Mannschaft durchimmerwährende Märsche erschöpft, viele Generaleund Stabs-Offiziere mangeln, Ordnung und Disziplin istzerrüttet; benutzen wir schnell diese Schäferstunde, umalles mit äußerster Tätigkeit herzustellen, lauern wir aufdie schnelle Benutzung <strong>der</strong> angezeigten Augenblicke,bereiten wir hiezu alle Anstalten insgeheim…“ 32)Aufgrund einer fälschlichen Meldung von Generald. Kavallerie Hiller meinte Wimpffen, die Franzosenbefänden sich nach ihrer Donauüberschreitung auf demWeitermarsch nach Hirschstetten. Er bewog ErzherzogKarl, den von ihm erstellten Entwurf „Disposition zumAngriff auf die zwischen Groß-Aspern und Eßlingübergesetzten und gegen Hirschstätten in Marsch befindlichenTeile <strong>der</strong> feindlichen Armee“ nun in die Tatumzusetzen. Dessen Hauptabsicht war es, den Gegnerüber die ersten Donauarme zurückzuwerfen, die Donaubrückenzu zerstören und das Ufer <strong>der</strong> Lobau mitArtillerie zu besetzen. 33)Auf die einzelnen Etappen in <strong>der</strong> Schlacht beiAspern und Eßling soll im Weiteren, wie angedeutet,verzichtet werden. Es sei nur erwähnt, dass für denKorsen das Halten seiner Stellungen am Nordufer <strong>der</strong>Donau an den Besitz <strong>der</strong> beiden Dörfer Aspern undEßling gebunden war. <strong>Die</strong> österreichischen Truppenwie<strong>der</strong>um verstärkten die Bemühungen, diese Stützpunkteeinzunehmen. Bei den blutigen Kämpfen umAspern wurden Angriffe <strong>der</strong> französischen Kürassierevon österreichischer Infanterie abgewehrt, die es zuwegebrachte, „erst auf 15 Schritt ihre Gewehrsalvenabzugeben und die weiteren Durchbruchsversuchemit dem Bajonett abzuwehren“. <strong>Die</strong>s aber bedeuteteein militärhistorisches Novum, „als seitdem feststand,dass sich auch <strong>der</strong> wuchtigste, mit Todesmut ausgeführteReiterangriff an unerschütterter und abwehrbereiterInfanterie brechen musste“. 34) An<strong>der</strong>s ausgedrückt:Sowohl die Infanterie als auch die Artillerie waren jeneentscheidenden Waffengattungen, durch die Kämpfeentschieden wurden. Auch am nächsten Tag entstandenbeson<strong>der</strong>s blutige Kämpfe um den Besitz <strong>der</strong> beidenDörfer. <strong>Die</strong> Generäle Hiller wie auch Massena bliebensich in den Kämpfen um Aspern an gegenseitiger Verbissenheitnichts schuldig. Der Ort verwandelte sichdabei in ein Ruinenfeld.Hiller berichtete später von <strong>der</strong> entscheidendenRolle <strong>der</strong> Artillerie in den Kämpfen: „Nur durch dieHilfe meines Artilleriefeuers verschaffte ich mir so vielZeit, die Garden insolange von dem weiteren Vordringenzurückzuhalten, bis ich die Truppen zum Angriffformiert hatte. Mit Haubitzen ließ ich dann während<strong>der</strong> Kanonade und dieser Vorbereitung noch vollendsAspern und die umliegenden Scheunen anzünden undin diesem Feuer wurde <strong>der</strong> allgemeine Angriff aufAspern zum 6. Mal mit aller Wut angefangen. In einerStunde war ich wie<strong>der</strong>, und zwar das 6. Mal, Meistervon Aspern.“ 35) Innerhalb eines Tages wechselte dasDorf neunmal seinen Besitzer.Im Verlauf <strong>der</strong> verlustreichen und zersplittertenKämpfe vom 21./22. Mai machten sich bei NapoleonsSoldaten wie auch bei den Österreichern Kampfesmüdigkeitund auch <strong>der</strong> Mangel an Munition, bemerkbar.Um <strong>der</strong> Gefahr einer allgemeinen Auflösung entgegenzusteuern,scheuten <strong>der</strong> Korse wie auch sein Gegenspielernicht davor zurück, sich selbst den größten Gefahrenauszusetzen, da sie den Truppen ein Beispiel geben undihnen auf diese Weise neuen Halt verleihen wollten. Mit<strong>der</strong>en Ende hatte Napoleon seine Truppen wie<strong>der</strong> ansrechte Donauufer zurückgenommen und zugleich dieerste Nie<strong>der</strong>lage seines Lebens hinnehmen müssen (auchwenn er sie in verschiedenen Stellungnahmen später zuverharmlosen trachtete).In seiner „Relation“ über den Erfolg <strong>der</strong> Schlachthielt Erzherzog Karl indessen ausdrücklich fest, „dasser in den einsichtsvollen Dispositionen und <strong>der</strong> rastlosenVerwendung“ seines Chefs des Generalquartiermeisterstabs,Generalmajor von Wimpffen, „die ersteGrundlage des Sieges“ sehe. Noch auf dem Schlachtfeldverlieh er Wimpffen das Kommandeurkreuz des Militär-Maria-Theresien-Ordens. 36)Über das faktische Ergebnis seines Sieges gibt esdie verschiedensten Meinungen. Erzherzog Karl hatte,bekräftigt durch Wimpffen, dem Vorschlag seiner Generäleeine Abfuhr erteilt, nun die Lobau unter starkesArtilleriefeuer zu nehmen und seinerseits die Donauzu überqueren. Vielmehr baute <strong>der</strong> Erzherzog auf dieHoffnung, Napoleon würde nach seiner Nie<strong>der</strong>lage unddem damit verbundenen Prestigeverlust Verhandlungenaufnehmen. <strong>Die</strong>s sollte sich allerdings als Trugschlusserweisen. 37) Ob hier <strong>der</strong> Kommandierende und sein Chefdes Generalquartiermeisterstabs letzten Endes einen fatalenIrrtum in <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Lage begingen, bleibtdahingestellt. Eines sollten wir uns aber vor Augen halten:<strong>Die</strong> relativ hohen Verluste hatten beide Armeen mitihren Kräften ans Ende gebracht. <strong>Die</strong>s sowie <strong>der</strong> Mangelan Munition verhin<strong>der</strong>te neben an<strong>der</strong>en Faktoren, dassErzherzog Karl seinen Sieg weiter ausnützen und dieFranzosen aus Wien verdrängen konnte. 38)<strong>Die</strong> Sternstunde <strong>der</strong> österreichischen Armee beiAspern wie auch <strong>der</strong> persönliche Höhenflug Wimpffensfanden zunächst ihr abruptes Ende. Napoleon bot denÖsterreichern erneut eine (Entscheidungs-)Schlacht beiDeutsch-Wagram (5./6. Juli 1809) an. So kam es nordöstlichvon Aspern zu einem abermaligen Kräftemessen,wobei wie<strong>der</strong>um Wimpffen erneut als Generalquartiermeisterfungierte. Es endete mit einer Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong>Österreicher, die das Schlachtfeld „zwar besiegt, abernicht überwunden“ zurückließen. 39) Es folgten noch am11. Juli das Gefecht von Znaim und <strong>der</strong> darauf folgendeÖMZ-Online 6/2011


Waffenstillstand, <strong>der</strong> am 14. Oktober zum Frieden vonSchönbrunn führte, bei dem sich Österreich hartenBedingungen unterwerfen musste.Es blieb für die Österreicher die schmerzliche Erkenntnis,dass die Habsburgermonarchie allein und aufsich gestellt nicht in <strong>der</strong> Lage war, dem militärischenGenie Napoleons die Stirn zu bieten. Erzherzog Karl -dessen Warnungen, <strong>der</strong> Krieg von 1809 komme noch zufrüh, vergebens waren - legte (auf Drängen des Kaisers)das Amt als Generalissimus nie<strong>der</strong>. Nachdem er zurückgetretenwar, folgte ihm auch Wimpffen und trat vonseiner Funktion als Generalquartiermeister zurück. 40)<strong>Die</strong> nach <strong>der</strong> Armeereform Erzherzog Karls inMassen statt in Linien (das heißt wesentlich dichterformierte) österreichische Infanterie erwies sich in <strong>der</strong>Schlacht auf freiem Felde als nahezu gleichwertig. Dasaber bedeutet, dass die Schlacht von Deutsch-Wagram,wenn man so will, einen Wendepunkt in <strong>der</strong> europäischenKriegführung schlechthin brachte. „Alle weiterenSchlachten Napoleons (1812-15) werden im Wesentlichennur mehr durch massiven Einsatz von Material,nicht aber durch soldatische Tugenden, geniale Taktiko<strong>der</strong> Strategie entschieden werden.“ 41) Mit an<strong>der</strong>enWorten: <strong>Die</strong> Massenkriege des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts warfendamit ihre Schatten voraus.<strong>Die</strong> Zeit bis 1815Wimpffen wurde nun als Brigadier nach Böhmenund Polen versetzt, ehe er endlich nach Siebenbürgenkam, wo er die Jahre 1810-1812 verweilte. In diesePhase fiel auch <strong>der</strong> Versuch Zar Alexan<strong>der</strong>s, ihn durchden damaligen Generaladjutanten de Witt nach Russlandzu holen, wo er unter den günstigsten Bedingungenals Generalleutnant an <strong>der</strong> Seite des Kriegsministers 42)fortan fungieren sollte. Aber Wimpffen lehnte diesesAnerbieten ab. 43)Zum Feldmarschall-Leutnant beför<strong>der</strong>t, nahmWimpffen mit einer Division an <strong>der</strong> Völkerschlacht vonLeipzig teil, übersetzte 1814 mit <strong>der</strong> Armee den Rheinund nahm an mehreren Gefechten auf französischemBoden teil. Am 2. April 1814 nahm er im Tal <strong>der</strong> Isèreohne Auftrag die verschanzte Stellung eines feindlichenKorps ein. 44) Im Jahr 1815 leistete er <strong>der</strong> Krone einensehr wichtigen <strong>Die</strong>nst, da mit <strong>der</strong> im Dezember erfolgtenBesetzung von Landau später Bayern für Salzburg unddas Innviertel 45) entschädigt werden konnte. 46)Wimpffen konnte als mehrfach dekorierter Offizierauf die Zeit <strong>der</strong> Franzosenkriege zurückblicken. Nebendem Militär-Maria-Theresien-Orden als höchster (alt-)österreichischer Tapferkeitsauszeichnung erhielt erden kaiserlich-russischen St. Annen-Orden 1. Klasseverliehen, weiters das Großkreuz des großherzoglichenhessischen Ludwigs-Ordens. Schließlich erhielt Wimpffenauch das Kommandeurkreuz des Konstantin-St.Georgs-Ordens. 47)<strong>Die</strong> Jahre bis zu seinem LebensendeIn den Jahren 1816-1819 weilte er als Militärkommandantvon Österreichisch-Schlesien in Troppau, 1820übernahm er das Generalkommando in Venetien. Gleichdarauf brach die Revolution in Piemont aus. Wimpffenentsandte - aus Eigenem, ohne irgendeinen Befehl erhaltenzu haben - in Eilmärschen zwölf Bataillone nachMailand, weil <strong>der</strong> dortige Feldmarschall-Leutnant Bubnaim Begriffe war, bei Annäherung des revolutionärenpiemontesischen Heeres aus Mangel an Truppen seineVerbände zurückzunehmen. Dabei riskierte es Wimpffen,dass er Venetien nahezu gänzlich von eigenen Truppenentblößte. Nun sah sich Bubna imstande, von Mailandgegen Novara vorzurücken und das überraschte piemontesischeHeer seinerseits zum Rückzug zu zwingen. Fürdiesen Erfolg erbat sich Bubna vom Kaiser eine AuszeichnungWimpffens, dem die Würde eines geheimenRates verliehen wurde. 48)Im Jahr 1824 erfolgte die Berufung Wimpffens alsChef des Generalquartiermeisterstabes nach Wien, 1830wurde er zum Feldzeugmeister und kommandierendenGeneral in Österreich ernannt. Nach 14-jähriger Leitungdieser Stelle ersuchte Wimpffen um die Versetzung in denRuhestand, da er sich gesundheitlich nicht mehr in <strong>der</strong>Lage fühlte, seine Position hun<strong>der</strong>tprozentig zu erfüllen.<strong>Die</strong>s wurde ihm gewährt, und in Anerkennung einer fast60-jährigen ausgezeichneten <strong>Die</strong>nstzeit sowie 20 mitgemachterFeldzüge wurde er 1844 zum Feldmarschallund Kapitän <strong>der</strong> ersten Arcieren-Leibgarde erhoben.Darüber hinaus, würdigte Kaiser Franz Joseph die hohenVerdienste des tapferen Soldaten durch Verleihung desGoldenen Vlieses am 5. Dezember 1852. 49) <strong>Die</strong>se Ordensverleihunghob ihn zugleich von seinem Geschlechthervor, da diese Ehre <strong>der</strong> Hof nur souveränen Mitglie<strong>der</strong>nbzw. Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> ersten und ältesten Adelsfamiliendes Reiches zusprach.Wimpffen und Pargfrie<strong>der</strong>Wimpffen bewohnte mehr als 30 Jahre hindurch inWien ein und dasselbe Haus des Besitzers Gottfried JosefPargfrie<strong>der</strong>, eines Industriellen und Unternehmers, <strong>der</strong>den berühmten „Heldenberg“ bei Wetzdorf 50) entstehenließ. Dadurch entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältniszwischen den beiden. Eines Tages ersuchte dieserseinen langjährigen Mieter um die Gunst, testamentarischzu bestimmen, dass er nach seinem Tod in <strong>der</strong> Gruft aufdem Heldenberg bestattet werde. Wimpffen sagte zu, undso ruhen die Leichname Wimpffens, Radetzkys (+1858)und Pargfrie<strong>der</strong>s (+1863) in einer Gruft. 51)Dazu müssen wir festhalten, dass Wimpffen alsGeneral repräsentieren und in seinem Haus verschiedenePersönlichkeiten empfangen musste (o<strong>der</strong> durfte),was wie<strong>der</strong>um mit großen finanziellen Aufwendungenverbunden war. <strong>Die</strong>s spielte eine Rolle dabei, dass erzur Regelung verschiedener finanzieller Engpässe dieseTestamentsbestimmung zugunsten Pargfrie<strong>der</strong>s unterschrieb.52) Pargfrie<strong>der</strong> hatte sich stets an militärischenFragen sehr interessiert gezeigt und bewun<strong>der</strong>te dieGeneräle Radetzky und Wimpffen. Auf diese Weisebahnten sich zwischen den drei Männern Verbindungenan, die wohl gleichermaßen von freundschaftlichen wiegeschäftlichen Aspekten geleitet wurden. 53)Noch ein Weiteres: Pargfrie<strong>der</strong> betätigte sich mit anSicherheit grenzen<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeit als führendesÖMZ-Online 6/2011 29


Ma<strong>der</strong>: „Zieh mich nicht unüberlegt und bring mich nicht ohne Ehre zurück!“<strong>Die</strong> historische Gedenkstätte „Heldenberg“ - wo Maximilian Freiherr von Wimpffen1854 seine letzte Ruhestätte fand - wurde für verdiente Soldaten, Offiziere undFeldherren <strong>der</strong> k. u. k. Armee Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts errichtet (Bild: Standbilddes Feldherren).Mitglied des Geheimbundes <strong>der</strong> Rosenkreuzer. 54) ZwischenRosenkreuzern und Freimaurern kam es immerwie<strong>der</strong> zu Verschmelzungen bzw. traten einzelne als Mitglie<strong>der</strong>bei<strong>der</strong> Vereinigungen in Erscheinung. 55) Es wirdvermutet, dass Wimpffen wie auch Radetzky gleichfallszum Kreis <strong>der</strong> Rosenkreuzer-Bewegung gezählt haben.Wobei das fast schon Kuriose an dem Ganzen ist, dass dieRosenkreuzer ebenso wie Freimaurer von Staats wegenverboten waren. 56)Heldenberg/Auguste StorkanWimpffens Beziehungen zurMilitärakademie in Wiener NeustadtWimpffens Initiative ist es auch zuverdanken, dass dem bedeutenden Oberdirektorund eigentlichen Reformator <strong>der</strong>Wiener Neustädter Militärakademie, FranzJoseph Graf Kinsky, im Park <strong>der</strong> Anstalt einDenkmal errichtet wurde. Schon im Jahr1808 hatte er seine „Erziehungsgenossen“aufgerufen, ihren Beitrag zum Gelingen desDenkmalprojekts beizusteuern. Doch erstam 4. Oktober 1830 (also 22 Jahre später!)wurde das Denkmal enthüllt, dessen hohesBrustbild aus Kanonenmetall auf einemmarmornen Fußgestell ruht. 57)<strong>Die</strong> Wiener Neustädter Militärakademiefeierte später die Ernennung Wimpffens zumFeldmarschall, er war <strong>der</strong> Erste aus ihrenReihen, <strong>der</strong> die höchste militärische Würdeerreichte. <strong>Die</strong> Akademie-Direktion rief ihrenZöglingen ins Gedächtnis, „dass diese allerhöchsteBeför<strong>der</strong>ung, welche die Armee miteinem allgemeinen Gefühle <strong>der</strong> wärmsten Teilnahmeerfüllte, ein ganz beson<strong>der</strong>s freudigesund erhebendes Ereignis für die Akademiesei, da Wimpffen ein Zögling <strong>der</strong>selben istund durch seine seltenen Eigenschaften undumfassendsten militärischen Kenntnisse dasvollkommene Vorbild eines Kriegers undGenerals gibt“. 58)Wimpffen als MenschEiner seiner Biographen charakterisiertWimpffen in wörtlicher Wie<strong>der</strong>gabewie folgt: „Mit allen Kenntnissen <strong>der</strong>höheren Taktik und Strategie verban<strong>der</strong> viel Dispositionsfähigkeit und einscharfes, richtiges coup d’oeil, daherauch alle von ihm eingeleiteten Gefechteund Schlachten, insbeson<strong>der</strong>e jene vonAspern, einen ruhmvollen Erfolg hatten.Er wurde zu wie<strong>der</strong>holten Malen zumChef des Generalquartiermeisterstabesernannt und immer an <strong>der</strong> Spitze solcherAnstellungen verwendet, welche diegrößte Tätigkeit, beson<strong>der</strong>en Nachdruckund gründliche Kenntnisse in Anspruchnahmen. Von je<strong>der</strong> Eitelkeit weit entfernt,glaubte er sich stets durch das eigeneBewusstsein hinreichend belohnt, ohne jenach Orden o<strong>der</strong> Beför<strong>der</strong>ung zu haschen.Mit einem lebhaften Temperamente verband er Strengeim <strong>Die</strong>nst, unerschütterliche Gerechtigkeitsliebe, daslebhafteste Wohlwollen für seine Untergebenen, einbeson<strong>der</strong>es Zartgefühl und viel Gemütlichkeit. Sehruneigennützig und wohltätig im Verhältnis seiner Mittel,sammelte er kein Vermögen. Von jedem Stolz o<strong>der</strong>Hochmut befreit, genoss er einen Grad achtungsvollerErgebenheit und freiwilliger Unterwerfung, welcherdie genaueste Befolgung aller Anordnungen vollkom-30ÖMZ-Online 6/2011


men sicherte, und alle, die unter ihm bei den beidenGeneralkommanden, denen er längere Zeit vorstand,dienten, erschöpften sich in nicht hervorgerufenenÄußerungen von Zufriedenheit. Obgleich von Wundenund Kriegsfatiguen herrührende anhaltende Leidenihm die letzten Jahre seines Daseins verbitterten, verließihn die Lieblingsgewohnheit einer ausgebreitetenGastfreundschaft nicht. Allein hierin bestand auchsein einziges Vergnügen, indem <strong>der</strong> so herabgekommeneGesundheitszustand ihn an dem Genusse je<strong>der</strong>sonstigen Unterhaltung gänzlich hin<strong>der</strong>te. Er bliebdaher auf die größte Zurückgezogenheit beschränkt.Erinnerungen an die zahlreichen großen welterschütterndenEreignisse einer längst vergangenen, so vielbewegten Zeit beschäftigten seinen Geist, angenehmeauserlesene Lektüre und Besuche von Freunden erheitertenihn, und überschritt mit Mut und Ergebung denÜbergang, <strong>der</strong> zur Unsterblichkeit führt.“ 59)<strong>Die</strong>se blumige Charakteristik des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tstrifft sicherlich einige <strong>der</strong> wesentlichen EigenschaftenWimpffens, wenngleich in ausgesprochen stilisierterArt und Weise. Wimpffen kommt wohl dem Idealbilddes Offiziers im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ziemlich nahe.Eine eiserne Treue zum österreichischen Kaiser undzur Habsburgermonarchie als das „große“ Vaterlandbeseelte ihn, von <strong>der</strong> er auch nicht abrückte, als ihm<strong>der</strong> russische Zar ein verlockendes Angebot für einenWechsel in seine <strong>Die</strong>nste anbot. Wimpffen besaß reicheKenntnisse in taktischen wie operativen Fragen. Mitdiesen Eigenschaften erfüllte er vorzüglich die Funktioneines Offiziers des Generalquartiermeisterstabesbzw. als dessen Chef.Wimpffen trat als hoher Offizier <strong>der</strong> „zweitenReihe“ in Erscheinung, das heißt, es war ihm nichtbestimmt, als Feldherr im Sinne eines Erzherzogs Karlo<strong>der</strong> später eines Radetzkys glorreich in Erscheinungzu treten. Viele seiner Beiträge zur Entscheidung vonSchlachten geschahen jenseits des öffentlichen Interesses.Auch sind vom ihm kaum schriftlich festgehalteneErfahrungen - die er als langjähriger Offizier imGeneralstab und wie<strong>der</strong>holt als dessen Chef in reichemAusmaß hatte - vorhanden. Nur einmal ließ er, freilichanonym, seine Zurückhaltung fallen und trat mit <strong>der</strong>Flugschrift: „Warum benützten die Oesterreicher denSieg von Aspern zu keiner offensiven Operation auf dasrechte Donauufer?“ 60) in Erscheinung. Darin begründeter die defensive Haltung, die das österreichischeHeer nach <strong>der</strong> Schlacht von Aspern gezeigt hatte. 61)Wimpffen war die militärische Tugend persönlicherTapferkeit in mehr als außerordentlichem Maße eigen.Schon als Leutnant zeigte er eine ausnehmende Bravourin <strong>der</strong> Schlacht, die ihn zeit seines Lebens nichtverlassen sollte. Nach seiner schweren Verletzung warfsich Wimpffen erst recht in den Kampf und trotzteverbissen den Schmerzen <strong>der</strong> alten wie auch neuenVerwundungen. Vielleicht war es dieser Heldenmut,<strong>der</strong> heute Wimpffen als einen signifikanten Vertreterdes Offiziersstandes schlechthin erscheinen lässt. Seineunerschütterliche Tapferkeit zeigte sich beispielsweisewährend <strong>der</strong> Schlacht von Austerlitz: Ungeachtet alleroffensichtlichen Ignoranz <strong>der</strong> Vorgesetzten bewies sichWimpffen als ausgesprochen mutiger Soldat.Zusammenfassend lässt sich sagen: Tapferkeit,Loyalität, Entschlossenheit und Autorität sind jeneentscheidenden Merkmale, die einen guten Offizierausmachten und wohl stets ausmachen werden. WimpffensTapferkeit steht außer Zweifel, ebenso seineLoyalität gegenüber seinem Kriegsherrn. Im Sinneeines Offiziers <strong>der</strong> neuen Stunde zeigte sich Wimpffenentschlossen, seinem Scharfblick zu folgen. Dabei warer durchaus bereit, das Leben seiner Truppen wie auchsein eigenes aufs Spiel zu setzen. <strong>Die</strong> vielen Beispielefür Bravour haben indessen mit Draufgängertum undHasardspiel nichts gemein. <strong>Die</strong>s zeigt sein Verhaltenbei Austerlitz o<strong>der</strong> Aspern.Zusammengefasst lässt sich sagen: „MaximilianFreiherr von Wimpffen war ein glänzen<strong>der</strong> Soldat, mutigund äußerst tapfer im Gefecht, gewandt in <strong>der</strong> Stabsarbeitund dem Adjutantendienst, von Untergebenen wieauch Vorgesetzten stets hoch geachtet.“ 62) ■ANMERKUNGEN:1) Hubert Gundolf: Um Österreich!/Schlachten unter HabsburgsKrone, Graz-Stuttgart: Leopold Stocker Verlag, 1995, S.219.2) Vgl. Johann Svoboda: <strong>Die</strong> Theresianische Militär-Akademie zuWiener Neustadt und ihre Zöglinge von <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Anstaltbis auf unsere Tage, Bd. 1, Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei,1894, S.184f.3) Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des KaiserthumsOesterreich, Bd. 56, Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei,1888, S.237.4) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.252.Vgl. hier und im Folgenden auch: Allgemeine Deutsche Biographie,Bd. 43, Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot, 1898, S.327ff.5) Wurzbach, 56/1888, S.252f.6) Vgl. Jaromir Hirtenfeld: Der Militär-Maria-Theresien-Orden undseine Mitglie<strong>der</strong>/Nach authentischen Quellen bearbeitet, Wien: k. k.Hof- und Staatsdruckerei, 1857, S.871.7) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.253.8) Vgl. Hirtenfeld, 1857, S.871f.9) Wimpffen diente damals unter dem österreichischen OberbefehlshaberFeldzeugmeister Graf von Wallis. - Vgl. Jeans-FlorianEbert: <strong>Die</strong> Österreichischen Generäle 1792-1815/FeldmarschallFreiherr von Wimpffen, unter URL: http://www.napoleon-online.de/AU_Generale/html/wimpffen.html [23.7.2008].10) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.253ff.11) Vgl. Hirtenfeld, 1857, S.872.12) Wurzbach, 56/1888, S.254.13) Vgl. Hirtenfeld, 1857, S.872f.14) Ein Neffe des berühmten Feldmarschalls.15) Hirtenfeld, 1857, S.873.16) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.255. - Vgl. Jeans-Florian Ebert: <strong>Die</strong>Österreichischen Generäle 1792-1815/Feldmarschall Freiherr vonWimpffen, unter URL: http://www.napoleon-online.de/AU_Generale/html/wimpffen.html[23.7.2008].17) Hirtenfeld, 1857, S.873.18) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.255.19) Hirtenfeld, 1857, S.874.20) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.255.21) In <strong>der</strong> damaligen Bezeichnung: Chef des Generalquartiermeister-Stabes.22) Michael Laurionowitsch Golenitschew Kustusow (1745-1813),General <strong>der</strong> Infanterie und russischer Oberbefehlshaber.23) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.255f.24) Vgl. Svoboda, 1894, S.183.25) Vgl. z.B. Maximilian von Hoen: Krieg 1809, Bd. 4, Wien: L.W. Seidel & Sohn, 1910; Manfried Rauchensteiner: <strong>Die</strong> Schlachtvon Aspern am 21. und 22. Mai 1809, Wien: Bundesverlag, 19864ÖMZ-Online 6/2011 31


Ma<strong>der</strong>: „Zieh mich nicht unüberlegt und bring mich nicht ohne Ehre zurück!“(= Militärhistorische Schriftenreihe, Heft 11); Plischnack, 2009,S.94ff.26) Vgl. Alfred Plischnack: Gott erhalte!/Wendepunkt 1809; <strong>Österreichs</strong>Sieg über Napoleon; Augenzeugen berichten die wahreGeschichte von 1805 bis 1815, Wien: Verlagsbuchhandlung Stöhr,2009, S.63ff.27) In <strong>der</strong> damaligen Bezeichnung: Chef des Generalquartiermeisterstabes.28) Wurzbach, 56/1888, S.256.29) Vgl. Oskar Regele: Generalstabschefs aus vier Jahrhun<strong>der</strong>ten/Das Amt des Chefs des Generalstabes in <strong>der</strong> Donaumonarchie;Seine Träger und Organe von 1529 bis 1918, Wien-München: VerlagHerold, 1966, S.89.30) Vgl. Regele, 1966, S.89.31) Hirtenfeld, 1857, S.875.32) Feldakten 1809 - Hauptarmee 13/28, zit. nach: Plischnack,2009, S.94.33) Vgl. Plischnack, 2009, S.96f.34) Ebenda, S.11.35) Zit. nach: Ebenda, S.17.36) Wurzbach, 56/1888, S.257.37) Vgl. Rauchensteiner, 1986, S.21f.38) Vgl. Gundolf, 1995, S.214.39) Vgl. Plischnack, 2009, S.125ff.40) Vgl. Hirtenberg, 1857, S.877f.41) Plischnack, 1999, S.115.42) Barclay de Tolly, Anm.43) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.257.44) Wurzbach, 56/1888, S.257.45) Im späteren Rie<strong>der</strong> Vertrag, Anm.46) Vgl. Hirtenfeld, 1857, S.876. 4.- Vgl. J. Nosinich: Feldmarschall-Lieutenant Barn Wimpffen im Feldzuge von 1815. In: ÖMZ, Bd. 4,Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei; 1863, S.103-122.47) Vgl. Svoboda, 1894, S.184. Der Konstantin-St. Georgs-Ordenist ein katholischer Ritterorden, dessen Träger sich den „ritterlichen<strong>Die</strong>nst“ an <strong>der</strong> Römisch-Katholischen Kirche zur Verbreitung desGlaubens, die Verteidigung <strong>der</strong> Kirche und die Unterstützungdes Heiligen Stuhls zur Aufgabe gemacht hatten. „Schon früh inseiner Geschichte hatte er vom Heiligen Stuhl die Bestätigungals religiöser Militärorden erhalten.“ - http://www.Ordenskreuz.com/stGeorg.html [9.5.2009]48) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.257f.49) Wurzbach, 56/1888, S.258.50) Siehe dazu meine Veröffentlichung: <strong>Die</strong> Helden vom Heldenberg,Graz: Vehling, 2008.51) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.259.52) Vgl. Otto Stradal: Der an<strong>der</strong>e Radetzky/Tatsachen und Gedankenum ein Phänomen, Wien: Österreichischer Bundesverlag,Wien 1981, S.50.53) Vgl. Stradal, 1981, S.60f.54) <strong>Die</strong>s ergaben anlässlich <strong>der</strong> Gruftöffnung (1979) von ProfessorW. Zeller-Zellenberg festgestellte Hinweise und Inschriften, dieeine Mitgliedschaft bei den Rosenkreuzern als sehr wahrscheinlicherscheinen lassen. <strong>Die</strong> Rosenkreuzer stellten eine geheime Bru<strong>der</strong>schaftdar, die in das 17. Jahrhun<strong>der</strong>t zurückreicht (<strong>der</strong> Lehre folgend,noch weitaus älter) und vom reformierten Protestantismus etlicheImpulse ableitete. Sie wollten eine Gesamtreform aller religiösen,kulturellen und politischen Verhältnisse. Später widmeten sich dieRosenkreuzer-Logen auch <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit astronomischen,astrologischen und alchimistischen Fragen.55) Vgl. Stradal, 1981, S.101ff.56) Vgl. Daniela Hagenbüchl: Der Heldenberg/Führer durch dieGedenkstätte in Kleinwetzdorf, Nie<strong>der</strong>österreich, Großwetzdorf: o.J., S.15; Stefan Heym: Pargfri<strong>der</strong>, München: Bertelsmann, 20002,S.71ff.57) Vgl. Wurzbach, 56/1888, S.259.58) Hirtenfeld, 1857, S.877.59) Zit. nach: Wurzbach, 56/1888, S.258f.60) Erschienen in Leipzig, 1810.61) Vgl. dazu: Allgemeine Literatur-Zeitung, 30.5.1810.62) Jeans-Florian Ebert: <strong>Die</strong> Österreichischen Generäle 1792-1815/Feldmarschall Freiherr von Wimpffen, unter URL: http://www.napoleon-online.de/AU_Generale/html/wimpffen.html[23.7.2008].32Hofrat Dr.Hubert Michael Ma<strong>der</strong>Geb. 1955; Studium <strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialgeschichte/ÖsterreichischeGeschichte; seit 1991 an <strong>der</strong>Landesverteidigungsakademie; seit 1993 am Institutfür Wehrpädagogik, jetzt Institut für Human- und Sozialwissenschaften(IHSW); Forschungsschwerpunkte:Offiziersethos, Sozialgeschichte des Militärwesens;zahlreiche Publikationen zu diversen militär- und kulturwissenschaftlichenThemenstellungen. Mitarbeiter<strong>der</strong> Evangelischen Militärseelsorge.ÖMZ-Online 6/2011


<strong>Die</strong> Schlacht bei Marathonvor 2.500 Jahren„... ein Ereignis von nicht großer militärischerDimension, aber voll von Zukunft, gleichsam ein ernstesWort des Schicksals“ 1)Eberhard BirkJubiläen waren, sind und bleiben neben individuellenNeigungen ein starkes Movens historischenForschens, Denkens und Lernens - umso mehr,wenn den dahinterliegenden Ereignissen und Prozesseneine starke, individuelle und kollektive, regionale o<strong>der</strong>nationale sowie kulturelle und geschichtsphilosophischeIdentität(en) stiftende Kraft zugeschrieben wurde o<strong>der</strong>wird. Verbinden sich dabei „runde“ historische Daten mitaktuellen Prozessen wie zum Beispiel 1789 (FranzösischeRevolution) und 1989 (Mauerfall und Ende des KaltenKrieges), so mochte mancher das „Ende <strong>der</strong> Geschichte“ 2)in Form ideologischer Auseinan<strong>der</strong>setzungen o<strong>der</strong> eineBestätigung geschichtsphilosophischer Teleologien imSinne Hegels erkennen, <strong>der</strong> hinter den Ereignissen undGestalten das Prinzip <strong>der</strong> „Freiheit“ vermutete, das seit <strong>der</strong>Antike in wechselnden Phasen, mit Brüchen und Grenzendie europäische Geschichte beschleunigte. 3)Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Perserkriege um 500 v.Chr. nahmen für Hegel „die Griechen“ als Verteidigerdes Prinzips <strong>der</strong> Freiheit vieler gegen das „persischePrinzip“ <strong>der</strong> Freiheit des Einen - jener des Großkönigs- eine prominente Rolle ein. Dass dabei gerade die PolisAthen durch die siegreichen Schlachten von Marathon(490 v. Chr.) und Salamis (480 v. Chr.) gestärkt aus dieserAuseinan<strong>der</strong>setzung hervorging und in <strong>der</strong> Folgezeit biszum Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.), einemDreißigjährigen Krieg <strong>der</strong> Antike, in <strong>der</strong> Lage war, das5. vorchristliche Jahrhun<strong>der</strong>t zu einem <strong>der</strong> athenischenSuprematie in Politik, Militär und v.a. Kultur zu gestalten,lag jedoch zu Beginn des Ringens in weiter Ferne.Gleichwohl soll es im Folgenden nicht um eineWie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> „Entstehung des Politischen bei denGriechen“ 4) und noch weniger um eine „KulturgeschichteGriechenlands“ 5) gehen. Im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchungsollen allein mögliche „strategische“ historisch-politischeund militärische Ableitungen stehen - orientiert anMarathon.Selbst wenn <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Strategie im griechischenAltertum durch seine Fokussierung auf die militärische<strong>Führung</strong>sfähigkeit des Feldherrn (des strategós) vorund im Gefecht auf taktischer Ebene angesiedelt warund sich erst in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dem Bedeutungsinhalt <strong>der</strong>gegenwärtigen Terminologie angenähert hat, 6) so waren- abseits ihrer Kodifizierung - die verschiedenen Facettenrespektive Komponenten von strategische Handlungsoptionenbegünstigenden o<strong>der</strong> limitierenden Faktoren einerhöheren Gesamtführung bekannt: Politik und Diplomatie,wirtschaftliche Ressourcen und Finanzen sowie Geographieund sozio-kulturelle Faktoren, aber auch Bewaffnung,Stärke und Einsatzwert <strong>der</strong> Truppen. Daraus lassen sich inForm eines induktiven Ansatzes respektive interpretativenAnnäherungsprozesses plausible, indes nicht immer belegbarestrategische Horizonte <strong>der</strong> Akteure rekonstruieren. 7)Hierfür ist es notwendig, über eine Analyse <strong>der</strong>Gesamtheit <strong>der</strong> politischen Rahmenbedingungen dieZielsetzungen <strong>der</strong> Kontrahenten ebenso zu erörtern wieden Ablauf <strong>der</strong> militärischen Operationen vor dem Verlauf<strong>der</strong> Schlacht bei Marathon, da erst dadurch Ableitungenin ihren politischen, militärischen und traditionsstiftendenDimensionen ermöglicht werden.Strategische RahmenbedingungenSeit dem Ende des 6. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>tshatte sich das Persische Reich insbeson<strong>der</strong>e unter seinenachaimenidischen Großkönigen Kyros (559-530 v. Chr.),Kambyses (530-522 v. Chr.) und Dareios I. (522-486 v.Chr.) zum geopolitischen Gravitationszentrum entwickelt,dessen Grenzen nach <strong>der</strong> militärischen Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong>medischen, babylonischen, lydischen und ägyptischenKönigreiche ein gigantisches Landimperium zwischenden Außenbastionen Schwarzes und Kaspisches Meer,Hindukusch, Indus und Indik umfassten - es war bereitsHerodots Antrieb, dessen Entstehung und Entwicklung zuergründen. 8) <strong>Die</strong> Landbrücke nach Ägypten wurde durchdie syrische Küste gebildet. Und obwohl es eine Arabiagenannte Satrapie (IV) gab, war die gesamte arabischeHalbinsel außerhalb persischer Einflussnahme. Gleichesgalt auch für die nördlichen Steppen hinter dem Kaukasusund dem Schwarzen Meer, wo das Reitervolk <strong>der</strong> Skythenkeine strategische, das Perserreich existenziell bedrohendeGefahr bildete.Gänzlich an<strong>der</strong>s war hingegen die strategische Herausfor<strong>der</strong>ungan <strong>der</strong> westlichen Flanke - <strong>der</strong> Nahtgrenze zwischenpersischer Landmacht und <strong>der</strong> ägäischen Inselwelt.ÖMZ-Online 6/2011 33


Birk: <strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor 2.500 Jahren34Das Ausgreifen <strong>der</strong> griechischen Poleis im mediterranenRaum, von Sokrates - nach Platon (Phaidon, 109b2-3)- drastisch mit den um einen Sumpf sitzenden Ameisenund Fröschen verglichen, traf auf das Selbstverständnisdes persischen Weltreiches mit seinen unter Dareioseingerichteten 20 Satrapien (Hdt. III, 89). Das sich aus<strong>der</strong> Dynamik jahrzehntelanger Landnahme sukzessiveentwickelnde - Großmächten oft inhärenten - Arrondierungsbestrebenließ einen prinzipiell universalistischenHerrschaftsanspruch persischer Großkönige entstehen,die sich in traditioneller Weiterführung altorientalischerTopoi sämtlich als „König des Alls, König <strong>der</strong> vier Weltgegenden“9) verstanden.Nachdem unter Dareios im Jahre 512 v. Chr. <strong>der</strong>Versuch fehlgeschlagen war, aus dem Schwarzen Meerein persisch kontrolliertes Binnenmeer zu machen, warzumindest ein „europäischer“ Brückenkopf im nordöstlichengriechischen Raum geschaffen worden, <strong>der</strong>die „Hellenen“ mit <strong>der</strong> persischen Landmacht in ihremNorden konfrontierte. <strong>Die</strong>ser Brückenkopf eröffnete denPersern eine (in-)direkte politische Einflussnahme aufdie Politik Thrakiens und Makedoniens. Zusammen mitdem zuvor unter Kambyses eroberten Ägypten und <strong>der</strong>Kontrolle <strong>der</strong> griechischen Poleis an <strong>der</strong> kleinasiatischenKüste war es Persien durch die Kontrolle <strong>der</strong> wichtigenWirtschafts- und Handelsströme - insbeson<strong>der</strong>e auch <strong>der</strong>Meerenge zwischen Ägäis und Schwarzem Meer - durchSpielen auf Zeit möglich, die griechischen Poleis in einestrategische Zange zu nehmen.In diese angespannte Situation fiel, nachdem eineNie<strong>der</strong>lage Dareios’ gegen die Skythen für die kleinasiatischenGriechen ein „window of opportunity“ geöffnethatte, <strong>der</strong> Startschuss zu den Perserkriegen, 10) die im IonischenAufstand (500-494 v. Chr.) ihr Präludium fandenund die persische Herrschaft über die kleinasiatischengriechischen Poleis gefährdeten. Aristagoras von Milet,<strong>der</strong> zunächst die Perser zu einem Vorstoß in die Ägäisermunterte, dann aber die Seiten wechselte, konnte hierfürjedoch - Sparta wies eine Auffor<strong>der</strong>ung zur Hilfeleistungbrüsk zurück - lediglich die „strategische“ Unterstützungvon Eretria und Athen erreichen, <strong>der</strong>en 25 Schiffe (Hdt.V, 99) als maritime Kontingente für eine entscheidendeAuswirkung in dieser Auseinan<strong>der</strong>setzung viel zu schwachausfielen. Gleichwohl wurde damit Athen, das geradenach mehrmaligen Anläufen - selbst unter Hilfeleistung<strong>der</strong> Spartaner, die sich ein machtpolitisch geschwächtesAthen erhofften - die Tyrannis <strong>der</strong> Peisistratiden beendethatte, aus persischer Sicht zu einem latenten bzw. potenziellenStörfaktor, <strong>der</strong> aus innenpolitischen und ideellenGründen - auch als klassische außenpolitische Ablenkungbei innenpolitischen Problemen interpretierbar - geneigtwar, dem imperialen Ordnungsanspruch des PersischenReiches entgegenzutreten.Anfängliche militärische Erfolge <strong>der</strong> ionischenPoleis, wie die Einnahme von Sardeis, wurden durchmassive Vorstöße gegen Zypern, den Hellespont undMilet beantwortet, an <strong>der</strong>en Ende nach <strong>der</strong> für die Persersiegreichen Seeschlacht bei Lade 494 v. Chr. die kompletteNie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes stand. Das SchicksalMilets stand als Menetekel auch für spätere Zeiten Pate:Zerstörung, Versklavung und Zwangsumsiedelung <strong>der</strong>Aufständischen durch den Bezwinger gehörten zumÖMZ-Online 6/2011


„antiken Standard“ (Hdt. VI, 18-20). Der kurze Traum<strong>der</strong> Selbstbehauptung führte trotz Aufrechterhaltungwirtschaftlichen Wohlstandes und kultureller Blüte zu<strong>der</strong> Erkenntnis, dass Dareios, seinem Selbstverständnisgeschuldet, politische Autonomiebestrebungen an <strong>der</strong>Peripherie seines Reiches nicht hinzunehmen bereit war- mochten <strong>der</strong>artige Unbotmäßigkeiten auch mehr als2.000 Kilometer von seiner Hauptstadt Susa entfernt stattfinden.Im Gegenteil: <strong>Die</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung wurde darüberhinaus verbunden mit dem machtpolitischen Willen zurAusmerzung des vermuteten „Treibsatzes“ hinter demionischen Aufstand.Strategische Reformenund StrategenamtDas gesamte politische Potenzial Athens wird in <strong>der</strong>Revolutionierung des politischen Systems durch den AlkmaionidenKleisthenes gegen Ende des 6. Jahrhun<strong>der</strong>ts v.Chr. fassbar. Mit <strong>der</strong> Einteilung <strong>der</strong> Bürgerschaft <strong>der</strong> dreiBereiche Küste, Binnenland und Stadt in zehn Phylen,30 Trittyen mit je drei bis vier Demen (unter Kleisthenesinsgesamt 139) zielte er darauf, die sozialgeographischeDreiteilung <strong>der</strong> Polis zu durchbrechen. Dadurch hoffte er,seinen politischen <strong>Führung</strong>sanspruch gegenüber seinenadeligen Konkurrenten durchsetzen zu können, <strong>der</strong>en Klientelherrschafter damit unterminieren wollte. Trotz allerNeuerungen des Kleisthenes blieben jedoch traditionelleEinrichtungen wie <strong>der</strong> Areopag, das Archontat mit seinenneun Archonten aus <strong>der</strong> höchsten Gesellschaftsschicht sowiedie generelle <strong>Führung</strong>srolle des Adels aufgrund seinerwirtschaftlichen Überlegenheit, seinem sozialen Prestigesowie seiner politischen Erfahrung und Fähigkeit, je<strong>der</strong>zeitpolitische und militärische Spitzenämter ausfüllen zukönnen, nahezu unangetastet.Doch so sehr Kleisthenes eigene politische Zielsetzungenverfolgte, so gelang ihm perspektivisch mitseiner Phylenreform dennoch unbestritten ein Meilensteinpolitischen Denkens und Handelns. 11) <strong>Die</strong> von Kleisthenesermöglichte Isonomia, <strong>der</strong>en Kern - das „gleichverteilte“individuelle bürgerliche politische Partizipationsrecht -sich zur Demokratie als Selbstrepräsentation des Volkesweiterentwickelte, fand ihre militärische Abbildung inden als Phalangiten respektive Hopliten die Hauptlast desGefechtes gegen auswärtige Feinde tragenden schwerbewaffnetenVollbürgern.Aus den zehn Phylen, die je eine Hoplitenabteilung(Taxis) als Regimentsäquivalent bildeten, 12) wurde einStratege als militärischer Führer <strong>der</strong> Abteilung in daszehn Strategen und einen Archon polemarchos umfassendeKollegium abgeordnet. Gegenüber dem Zufall desLoses für politische Ämter war die Wahl <strong>der</strong> Strategenein Zugeständnis an die notwendige Fachexpertise. Dass<strong>der</strong>en Kommando im Krieg täglich wechseln sollte, warideell dem neuen „demokratischen“ politischen Systemgeschuldet; es war jedoch gleichzeitig vor dem Hintergrundtheoretisch täglich neuer Entschlüsse und wechseln<strong>der</strong>Operationsplanungen für eine nachhaltige undim Kern unteilbare militärische <strong>Führung</strong>sverantwortungdysfunktional - wie es in <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung Herodots vomvermeintlichen <strong>Führung</strong>sdisput im Vorfeld <strong>der</strong> Schlachtbei Marathon, wenn auch als literarische Fiktion (Hdt. VI,109), exemplarisch deutlich wird.Miltiades, <strong>der</strong> schließlich in <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung Herodotsals energischer Feldherr die mit Truppen aus Athen undPlataiai gebildete Hoplitenphalanx bei Marathon zumSieg führte, schien für das Strategenamt genügend politischeErfahrung mitzubringen: Als Schwiegersohn einesthrakischen Fürsten konnte er auf ein Informations- undBeziehungsgeflecht zurückgreifen; <strong>Führung</strong>sverantwortunghatte er als Nachfolger seines Onkels, dessen Tyrannisauf <strong>der</strong> thrakischen Chersones (heute: Gallipoli) er inpersischem Einflussbereich fortführte, wodurch er auchEinblicke in das persische Militärwesen erhielt. Obgleicher vielen Athenern nach seiner (erzwungenen) Rückkehrin die Polis als Ex-Tyrann kaum als vorbehaltloser Protagonist<strong>der</strong> <strong>der</strong> Isonomia verpflichteten neuen politischenKultur erscheinen konnte - seine innenpolitischen Kontrahentenwollten ihn von <strong>der</strong> Volksversammlung, indesergebnislos, verurteilen lassen -, erwies er sich in Athenals kompromissloser Verfechter eines Krieges gegen diePerser.Strategische Zielsetzungund operativer VerlaufAus persischer Perspektive schien gerade die vonKleisthenes durch seine Phylenreform geschaffene innenpolitischeOrdnung <strong>der</strong> Isonomia als ideelles Movenshinter dem ionischen Aufstand zu stehen - ein Beleg dafür,wie eine Verän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> innenpolitischen OrganisationAuswirkungen auf die außenpolitische Perzeption hat. Auf<strong>der</strong> attischen Gegenküste, die auch für Persien den Freiheitswillenund politischen Selbstgestaltungswillen verkörperte,sollte durch die (Re-)Installation einer Tyrannis 13)des von den Athenern 510 v. Chr. vertriebenen Hippias einepotenzielle neue Empörung, diesmal indes präventiv unddauerhaft, ausgeschaltet werden. Auch wenn <strong>der</strong> nunmehrgreise Ex-Tyrann für die persische Perspektive nur eineZwischenlösung war, konnte <strong>der</strong> „Großkönig“ für seinePolitik durchaus auf Zuspruch auf <strong>der</strong> attischen Halbinselhoffen. <strong>Die</strong> jahrzehntelange Gewöhnung an die Tyrannis<strong>der</strong> Peisistratiden und das spartanische Doppelkönigtumließen dieses Unterfangen in Reichweite kommen. Auchdurfte er im Rahmen seiner Beurteilung <strong>der</strong> strategischenLage in Rechnung stellen, dass es auf dem griechischenFestland viele perserfreundliche, oligarchische Kreisegab, die sich nicht für die „demokratische“ Selbstverwirklichung<strong>der</strong> Athener in vor<strong>der</strong>ster Front opfern wollten- zudem gab es Hellenen, die sich vom persischen Königeine (militärische) Kampagne, einen „war to end all wars“zwischen den griechischen Poleis geradezu erhofften.Hinzu kam die schier gigantische Größe des PersischenReiches im Vergleich zu den kleinen Poleis.Spätestens nach dem Scheitern <strong>der</strong> ersten, unter <strong>der</strong><strong>Führung</strong> von Dareios’ Schwiegersohn Mardonios mitLand- und Seestreitkräften vorgetragenen Strafexpedition- die persischen Flottenkontingente wurden 492 v. Chr.während eines Unwetters am Berg Athos zerstört -, 14) dieals einzigen Erfolg die Bestätigung <strong>der</strong> Nordflanke durchein erfolgreiches Vorstoßen und Festsetzen in Thrakien undMakedonien, die möglicherweise als Grundstein einer 21.ÖMZ-Online 6/2011 35


Birk: <strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor 2.500 JahrenSatrapie vorgesehen waren, brachte, wussten Athen undSparta, dass es um alles ging - die Aufrechterhaltung ihrerpolitischen Souveränität für die Zukunft. Sparta würde dieHegemonie über den Peloponnes verlieren, Athen hatte miteiner exemplarischen Abstrafung zu rechnen.Aus strategischer Perspektive war es für die persischeStrafexpedition unter dem Kommando des medischenFeldherrn Datis und des persischen Prinzen Artaphernes,eines Neffen Dareios’, nicht notwendig, über den zeitintensivenLandweg auf das griechische Festland vorzustoßen,da dieses noch persischer Einflussnahme unterlag,wodurch seine Nordflanke hinreichend geschützt war. 15)Datis entschied sich daher zu einem Vorstoß über dieZentralägäis, wo zunächst die Insel Naxos, die aufgrundihrer Zentralposition in den Kykladen die persischenSeeverbindungen bedrohen konnte, auszuschalten war.Im Anschluss daran war <strong>der</strong> Weg nach Euböa frei. <strong>Die</strong>Inbesitznahme dieser Insel - als persische Gegenküste vordem griechischen Festland - markiert den Schlussstein <strong>der</strong>Herstellung einer stabilen ägäischen Seeposition für dasPersische Reich. Von dieser Basis aus konnten die Dispositionenfür das Übersetzen auf das gegenüberliegendeFestland getroffen werden.<strong>Die</strong> Wahl <strong>der</strong> Ebene von Marathon für dieses Unternehmenhatte symbolische, politische und militärischeGründe: Sie war <strong>der</strong> „symbolische Ort“, von dem ausPeisistratos - <strong>der</strong> Vater des Hippias - seinen „Marsch aufAthen“ zur Etablierung seiner Tyrannis wählte; sie war <strong>der</strong>„politische Ort“, <strong>der</strong> die größtmögliche und notwendigeadelig-konservative Unterstützung aus dem Hinterlandversprach, und sie war <strong>der</strong> „militärische Ort“, an dem - an<strong>der</strong>sals etwa direkt vor Athen - ein ungestörtes Anlandengrößerer Kontingente möglich war.Strategisches ZögernSo zielgerichtet Datis seine Truppen direkt auf dieattische Halbinsel führte und die athenischen Truppen,zu denen auch ein ca. 1.000 Mann starkes Hilfskontingentaus Plataiai gehörte, einen Platz unweit Marathonals Versammlungsort respektive Verfügungsraum einnahmen,so sehr erstaunt auch in <strong>der</strong> Retrospektive das„strategische Zögern“ vor den Kampfhandlungen. <strong>Die</strong>slässt sich allerdings mit den dahinterliegenden politischen,militärstrategischen und operativ-taktischen Zielen <strong>der</strong>Kontrahenten erklären.Zunächst zur Beurteilung <strong>der</strong> Lage aus persischerPerspektive: <strong>Die</strong> Perser benötigten keinen schnellen militärischenErfolg. <strong>Die</strong> Zeit konnte, insbeson<strong>der</strong>e nach denvorangegangenen Erfolgen des „island hopping“, für siespielen, wenn es gelang, durch die schiere Präsenz die aufdie innenpolitische Psyche zielende Anspannung bei denbedrohten Poleis aufrechtzuerhalten. Das übergeordnetepolitische Ziel bestand darin, durch diese Drohkulisse eine„freiwillige“ Unterwerfung und „Bitte“ um Aufnahme inein Schutzverhältnis zu erwirken. Das militärische Zielwar die Bindung des athenischen Heeres außerhalb <strong>der</strong>Stadtmauern, d.h. die Ermöglichung des Umsturzes in<strong>der</strong> Stadt ohne Schlacht - Ausweis einer überlegenen politischenindirekten Strategie <strong>der</strong> Ablenkung. 16) So wenigsie gelang - die persischen Parteigänger überschritten nicht36die Grenzlinie zwischen politischer Unterstützung undVerrat -, so klug war sie in ihrem Ansatz.<strong>Die</strong> Methode des Herauslockens <strong>der</strong> athenischen Hopliten,um wehrfähige Männer vom Ziel des Umsturzes inAthen fernzuhalten, korrespondierte mit <strong>der</strong> Überlegungdes Miltiades, seine Truppen aus eventuell aufflammendenbürgerkriegsähnlichen Zuständen in Athen herauszuhalten.Das Dislozieren <strong>der</strong> Kräfte am Strand vor Marathon wurdezur alle verbindende und in die Pflicht nehmende Verteidigung<strong>der</strong> Heimat, <strong>der</strong> sich kein Hoplit verwehren durfte.Zudem hatte Miltiades ein aktuelles Negativbeispiel vorAugen: <strong>Die</strong> Perser hatten Eretria auf Euböa, nicht zuletztaufgrund des Verrats durch angesehene Bürger, siegreichbelagert und zerstört (Hdt. VI, 101) - ein „Schicksal“, daser für Athen, unabhängig von <strong>der</strong> (ungewissen) Qualitätseiner Befestigungsanlagen, verhin<strong>der</strong>n wollte. <strong>Die</strong>s warmit ausschlaggebend für seinen Entschluss, eine Schlachtweit vor den Toren Athens zu wagen. Hierfür wollte Miltiadeszunächst auf die Spartaner warten, sah aber auchdie Gefahr, dass ein untätiges Heer Dutzende Kilometervon <strong>der</strong> Stadt entfernt gebunden war.Seine militärischen Chancen gegen das Expeditionsheerdes Datis wurden jedoch dadurch gesteigert, dass diepersischen Streitkräfte aus einem die Möglichkeiten nichtausschöpfenden relativ kleinen Kontingent bestanden. RealistischeSchätzungen gehen von 15.-20.000 persischenTruppen aus. Dabei ist anzunehmen, dass die Zahl vonBeginn des Kriegszuges über die zu sichernden Seepositionenin <strong>der</strong> Ägäis bis zum Anlanden in <strong>der</strong> Bucht vonMarathon abnahm. <strong>Die</strong> relativ geringe Zahl an Truppenwar Ausfluss <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> politischen Lage sowie<strong>der</strong> verfolgten übergeordneten Zielsetzung. Sie hatte imKern drei Gründe: Erstens war das Unternehmen alsquasi-polizeiliche Bestrafungsaktion geplant, ein Schießenmit „Kanonen auf Spatzen“ schien nicht vonnöten.Zweitens wurden Athen keine überragenden militärischenFähigkeiten zugetraut - und ob die MilitärmaschinerieSpartas nach <strong>der</strong> Brüskierung aufgrund des gescheitertenEingreifens in den athenischen Bürgerkrieg auf Seitendes Isagoras, <strong>der</strong> die Isonomia des Kleisthenes beseitigenwollte, um ein von Sparta abhängiges „Ancien Régime“zu etablieren, ausgerechnet zur Verteidigung dieser Isonomiagegen das Persische Reich an die Seite Athenstreten würde, schien zumindest fraglich. Drittens bot daszerklüftete Terrain <strong>der</strong> südlichen Balkanhalbinsel kaumgeeignetes Gelände zur Entfaltung größerer Truppenmassierungen.Im Übrigen war mit Hippias ein politischerBerater mit landeskundlichen Kenntnissen im Gefolge.<strong>Die</strong>s führte auf <strong>der</strong> persischen Seite zu <strong>der</strong> Hoffnung aufein Überlaufen alter Gefolgsleute bereits bei <strong>der</strong> Landung.<strong>Die</strong>s konnte als Fanal - insbeson<strong>der</strong>e die persisch-monarchischePerspektive ließ sich von systemimmanentenVerlockungen täuschen - Kampfhandlungen überflüssigerscheinen lassen.Aber auch Sparta schien auf Zeit zu spielen. <strong>Die</strong> Spartanerwollten die Gefahr einer verheerenden Nie<strong>der</strong>lagedes Feldheeres minimieren. <strong>Die</strong>se hätte möglicherweiseeinen Helotenaufstand heraufbeschworen und damit nichtnur die spartanische Hegemonie auf dem Peloponnes, son<strong>der</strong>nauch das gesamte politische System gefährdet. An-ÖMZ-Online 6/2011


<strong>der</strong>erseits - dies als Argument zur Entlastung - kam es beiden bisherigen Kriegen Spartas niemals darauf an, unterZeitdruck zur Schlacht aufzumarschieren. Eine Schlachtzur Disziplinierung von in <strong>der</strong> Handhabung <strong>der</strong> Waffenungeübten Aufständischen war jedoch von geringererQualität im Vergleich mit <strong>der</strong> potenziell existenziellenstrategischen Herausfor<strong>der</strong>ung durch Persien. <strong>Die</strong> späterdurch die athenische Überlieferung „geschichtsmächtig“gewordenen kultischen Verpflichtungen aufgrund desKarneia-Festes erschienen daher bereits den Zeitgenossenals vorgeschobenes Argument <strong>der</strong> Spartaner. 17)<strong>Die</strong> Episode von den 2.000 Spartanern, die nachHerodot im Anschluss an die Feierlichkeiten bis zumSchlachtfeld von Marathon marschierten und die Tat <strong>der</strong>Athener rühmten (Hdt. VI, 120), könnte daher eher - sofernsie einen, durch die Forschung allerdings bestrittenen, historischenKern besitzt - als diplomatisches Nachgeplänkelverstanden werden. Vielmehr konnte aus <strong>der</strong> Sicht Spartaseine Nichtteilnahme an einer Schlacht nach einer athenischenNie<strong>der</strong>lage als Argument für einen „Ausgleich“mit Dareios dienen. Der „Verrat“ an <strong>der</strong> gemeinsamengriechischen Abwehrfront wäre dann zu einem nützlichenArgument für die Akzeptanz eines weiterbestehendenSparta als regionaler Ordnungsmacht auf dem Peloponnesgeworden - als persischer Juniorpartner im strategischenRücken <strong>der</strong> griechischen Poleis zur Verhin<strong>der</strong>ung erneuter„demokratischer Selbstverwirklichung“ Athens.Taktische Dispositionenfür die Schlacht<strong>Die</strong> in vielen Darstellungen Miltiades zugeschriebeneInitiative zur Eröffnung <strong>der</strong> Schlacht ist mehr als fraglich.Selbst wenn ihn Herodot, geprägt von seiner zeitgenössischenathenischen Informationslage, in fiktiver Redeals zur Tat drängenden Feldherrn charakterisiert (Hdt. VI,109), so gilt es auch zu beachten, dass Miltiades als einervon zehn Strategen ein bürgerliches Milizheer, wie es dieathenische Hoplitenphalanx in ihrem Kern war, kaumauf eigene Verantwortung in eine potenziell desaströseKampfsituation schicken konnte - zumal je<strong>der</strong> Stratege<strong>der</strong> Volksversammlung Rechenschaft, und dies mit gegebenenfallstödlichem Ausgang, schuldig war. 18)Ein Warten auf die Spartaner konnte seine Siegeschancenerhöhen, jene <strong>der</strong> Perser vermin<strong>der</strong>n. Sehr viel eher istdaher zu vermuten, dass die persische Seite die Initiativeergriff. Der Entschluss zum persischen Vorrücken wurdenicht zuletzt aus Enttäuschung über eine ausbleibende politischeUnterwerfung ausgelöst. Auch war ein möglichesHinzutreten <strong>der</strong> kampferprobten spartanischen Krieger insKalkül zu ziehen: Zwei zeitlich und räumlich aufeinan<strong>der</strong>folgende Schlachten - zunächst gegen Athen und danngegen Sparta - waren leichter zu gewinnen als ein Gefechtgegen Athen und Sparta gleichzeitig. Vielleicht konnteeine Nie<strong>der</strong>lage Athens dazu führen, dass sich Sparta <strong>der</strong>Aussichtslosigkeit weiteren militärischen Wi<strong>der</strong>standesbewusst werden würde.Hier ist zunächst, in Form einiger Überlegungen, dietaktische Ausgangssituation zu skizzieren. <strong>Die</strong> von denathenischen Streitkräften bezogene Stellung am Ausgangdes Vrana-Tales am südwestlichen Rand <strong>der</strong> Ebene vonMarathon war, neben <strong>der</strong> Kontrolle des Zugangs in RichtungAthen zwischen den Ausläufern des Agriliki und einessich bis zur See erstreckenden sumpfigen Geländes, 19) inmehrerlei Hinsicht militärisch zweckmäßig:1. <strong>Die</strong> Stellung nahe dem Heiligtum des Heraklessicherte durch den mythologischen Bezug die „Unterstützung“des Heros in <strong>der</strong> Schlacht - ein Ausweis klugerMenschenführung im Sinne einer religiös-kulturellen„Kompetenz“ zur Steigerung des motivationalen Einsatzwertes.2. <strong>Die</strong> Enge des Tales ermöglichte eine stabile dichteund wuchtige Aufstellung <strong>der</strong> Hoplitenphalanx mitgeschützten Flügeln und reduzierte die Gefährdung <strong>der</strong>Flanken und des Rückens durch eine drohende Entwicklung<strong>der</strong> persischen Reiterei gegen Null. Daher warvermutlich von Datis die Reiterei, über <strong>der</strong>en Existenz,Anzahl und militärisch-taktische Funktion in <strong>der</strong> Forschungnach wie vor Uneinigkeit besteht, 20) nicht für dieSchlacht vorgesehen.3. Sollte die persische Kavallerie tatsächlich in nennenswerterWeise vorhanden gewesen sein, so wäre ihrEinsatz allein bei <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Schlacht sinnvollgewesen. Denn sobald die Infanteriekräfte aufeinan<strong>der</strong>treffenund im Nahkampf ineinan<strong>der</strong> verwoben sind, ist<strong>der</strong> taktische Einsatzwert <strong>der</strong> Reiterei aufgrund <strong>der</strong> Unübersichtlichkeit<strong>der</strong> Gefechtssituation äußerst begrenzt.Eine Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> attisch-platäischen Phalanx machteeinen persischen Kavallerieeinsatz genauso überflüssigwie <strong>der</strong>en Sieg. <strong>Die</strong> militärische <strong>Führung</strong> <strong>der</strong> Perser konntekaum von dem sie überraschenden Antritt zum Angriff <strong>der</strong>Hoplitenphalanx aus <strong>der</strong> gesicherten Defensivstellung herausausgehen. Es ist daher zu vermuten, dass die geringenBestände an persischer Reiterei von Datis sehr viel eherzur Aufklärung in Richtung Athen angesetzt wurden - nurauf diesem Wege war ein Anmarsch spartanischer Truppenmilitärisch sinnvoll.4. Ein möglicher Ab- bzw. Vorbeimarsch <strong>der</strong> persischenInfanterie entlang des Meeres in Richtung Athenmusste mit einer Bedrohung des eigenen rechten Flügelsrechnen. Je<strong>der</strong> athenische Stratege hätte dann seineHopliten zum Angriff führen müssen. Zudem musste,da in einem Worst-Case-Szenario mit einem Anmarschspartanischer Kräfte zu rechnen war, eine <strong>der</strong>artige Optiondazu führen, dass die persischen Kräfte zwischen den sieverfolgenden athenischen und dem ihnen entgegenmarschierendenspartanischen Kontingent eingeschlossen seinkonnten. <strong>Die</strong> militärische <strong>Führung</strong>sfähigkeit einer hierfürnotwendigen kombinierten Land-See-Operation zwischenzwei feindlichen Kontingenten war kaum gegeben.5. <strong>Die</strong> Anzahl <strong>der</strong> persischen Truppen kann kaum mehrals doppelt so groß wie jene <strong>der</strong> athenischen Gegenseitegewesen sein - ansonsten hätte Datis, unter <strong>Führung</strong> desortskundigen Hippias, wohl die Gelegenheit ergriffen,durch eine Umgehung mit einem Detachement die athenischenTruppen im Rücken zu bedrohen. Hierfür warzunächst genügend Zeit vorhanden. Dass diese Optionnicht in Erwägung gezogen wurde, ist ein Indiz für einerelativ geringe Anzahl persischer Truppen. Im Umkehrschlussbedeutet dies nämlich, dass ein Teilen <strong>der</strong> geringenKräfte ein Vorrücken <strong>der</strong> athenischen Hoplitenphalanx zurÖMZ-Online 6/2011 37


Birk: <strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor 2.500 JahrenSchlacht zur Folge gehabt hätte. Deren wahrscheinlicherErfolg hätte das Scheitern <strong>der</strong> persischen Strafexpeditionbedeutet.6. Aufgrund <strong>der</strong> Tatsache, dass die athenischen Kräftenicht geneigt waren, ihre defensivstarke Stellung ohne Notpreiszugeben - sie hätte damit <strong>der</strong> persischen Seite mit ihrer(zahlreichen) leichten Infanterie die Option zur Überflügelunggeboten - sah Datis keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit zurAufrechterhaltung des „Gesetzes des Handelns“, als dieSchlacht, selbst bei ungünstiger Lage, zu wagen. Mit <strong>der</strong>Stellungswahl für die athenische Hoplitenphalanx wurdeDatis daher von Miltiades zum Ergreifen <strong>der</strong> Initiativegezwungen. Nur ein militärischer Sieg <strong>der</strong> Perser konnteihnen den ungefährdeten Weg aus <strong>der</strong> marathonischenEbene durch den südlichen „Flaschenhals“ ebnen. Dahermussten sie die Schlacht wagen: „<strong>Die</strong> Perser packtenden Stier bei den Hörnern, weil ihnen nichts an<strong>der</strong>esübrig blieb.“ 21)38<strong>Die</strong> Schlacht bei MarathonDer tatsächliche Verlauf <strong>der</strong> Schlacht - bereits die überliefertenQuellen enthalten wi<strong>der</strong>sprüchliche Aussagen - istnach wie vor umstritten, 22) zumal zur Zeit <strong>der</strong> Erstellung<strong>der</strong> Historien, ca. 65 Jahre nach <strong>der</strong> Schlacht, Herodotkaum mehr Marathon-Veteranen befragen konnte. Folgtman Herodot (Hdt. VI, 109ff.), so besprachen die athenischenStrategen einen Plan für den Einsatz (109), stelltenihr Milizheer für das Gefecht in traditioneller Hoplitenphalanxauf (111)und ergriffen dieInitiative „im Laufschritt“(112) - einoffensichtlichesPlausibilitätsdefizitbei Herodot, dessengeschil<strong>der</strong>ter „Waffenlauf“über ca. 1,5Kilometer auf unrealistischenAnnahmenbasiert. 23) Daein Ausweichen <strong>der</strong>Hopliten vor dempersischen Pfeilbeschusszu den Flankenin Richtung Anhöhenaufgrund <strong>der</strong>Gefahr <strong>der</strong> Auflösung<strong>der</strong> taktischenFormation nichtmöglich war, bliebnur die „Flucht nachvorne“. <strong>Die</strong>se hatteeinen doppeltenZweck: Erstens galtes, die Dynamik desAngriffs „moralischund physisch zuverstärken“ 24) undzweitens die Wirkung<strong>der</strong> persischenBogenschützen in den eigenen Reihen durch das Unterlaufendes Pfeilhagels zu minimieren.Aufgrund <strong>der</strong> stärkeren Flügel - rechts die Athenerunter Kallimachos, links die Truppen von Plataiai -, diebei einem Vorwärtsbewegen in Richtung Schlachtfeldfür den eigenen Flügelschutz notwendig waren und wasim Umkehrschluss ein schwächeres Zentrum bedingte,brach das athenische Zentrum. Parallel dazu schwenktenjedoch die beiden Flügel zur Mitte hin, und die Hoplitenzerrieben im Nahkampf die leichte persische Infanterie.Im Anschluss daran verfolgten sie den geschlagenen Feindbis zu dessen am Strand befindlichen Schiffen (113). Mit<strong>der</strong> persischen Flucht endete die Schlacht, in <strong>der</strong> viele„angesehene Bürger von Athen“ (114), nicht zuletztKallimachos, ein weiterer Stratege und ein Bru<strong>der</strong> vonAischylos ihr Leben ließen: „Militärischer Sieger war<strong>der</strong> attische Hoplit, die feste Ordnung <strong>der</strong> Phalanx. <strong>Die</strong>sedisziplinierte Form des Kampfes war den Persern nochunbekannt.“ 25) <strong>Die</strong> von Herodot überlieferte Zahlenangabevon 6.400 toten Persern (117) ist eindeutig zu hoch.Selbst wenn sie wohl ein Mehrfaches <strong>der</strong> 192 gefallenenathenischen Hopliten (117) betrug, ist sie, als das 33 1/3-fache <strong>der</strong> athenischen Verluste, eher als symbolisch-fiktivzu bewerten. Ihre Höhe ist nur dadurch zu erklären, dassdie Kommandanten <strong>der</strong> persischen Landungsboote zu frühvom Festland absetzten, sodass die fliehenden persischenTruppen ohne taktische <strong>Führung</strong> von den den Sieg ausnutzendenHopliten nie<strong>der</strong>gemacht wurden.ÖMZ-Online 6/2011


EpilogDer persische Flottenvorstoß nach <strong>der</strong> Schlacht beiMarathon um das Kap Sunion herum in Richtung Athen(115) wurde in <strong>der</strong> Regel als Indiz dafür gewertet, dassdie persischen Befehlshaber die verlorene Schlacht nichtals Ausweis einer gescheiterten Kampagne betrachteten. 26)<strong>Die</strong>s erscheint jedoch fraglich: <strong>Die</strong> gesamte Planung undAnlage <strong>der</strong> persischen Kampagne ist - verstärkt durch denerfolgreichen Vorstoß über die Zentralägäis bis zur Ebenevon Marathon - darauf angelegt, dort den (militärischen)Erfolg zu erzielen. Ansonsten wäre eine auf zwei Orte -Marathon und Athen - fokussierte Truppenkonzentrationzur Diversion <strong>der</strong> athenischen Truppen erfolgversprechen<strong>der</strong>gewesen. Dass nach einem Verlust Tausen<strong>der</strong>Soldaten ein Plan B in Form einer auf Dauer angelegtenBelagerung mit geringerer Truppenstärke das Ziel Datis’nach <strong>der</strong> Schlacht gewesen sein könnte, ist zweifelhaft.Das im Anschluss an die Schlacht bei Marathon folgende„showing of flag“ <strong>der</strong> Reste <strong>der</strong> persischen Invasionstruppenvor Athen war vielmehr schon <strong>der</strong> präventiven„Aufarbeitung“ geschuldet: „The motive of Datis andArtaphernes is transparent enough: they had to reportdefeat to the Great King, and it would go better for themif they left nothing untried in their effort to carry out theirmission.“ 27)Das erneute Scheitern einer „Strafexpedition“ führteauf <strong>der</strong> persischen Seite zu <strong>der</strong> Überzeugung, durch eineBündelung <strong>der</strong> Ressourcen an <strong>der</strong> Ägäisfront eine politisch-strategischeTabula rasa durchzuführen.Nach dem Wi<strong>der</strong>hall <strong>der</strong> Jahre <strong>der</strong> Aufrüstung,Dareios’ Tod und des Nie<strong>der</strong>schlagens regionaler Aufständenach dem Bekanntwerden <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage beiMarathon war es <strong>der</strong> neue „Großkönig“ Xerxes, <strong>der</strong> selbstzum „Finale“ 480 v. Chr. mit gigantischem Aufwand nachHellas zog (Hdt. VII, 1-8). <strong>Die</strong>ser Heerzug ist sicherlich alsvollkommen unangemessen zu werten, wäre er in seinerBeurteilung <strong>der</strong> Lage davon überzeugt gewesen, dasses bei Marathon lediglich ein für seinen Machtanspruchunbedeutendes Geplänkel gegeben hätte. Entscheidendwar hier nicht die relativ geringe Größe <strong>der</strong> militärischenAuseinan<strong>der</strong>setzung, son<strong>der</strong>n die strategische Qualitätihres ideellen „Sprengsatzes“.Strategische AbleitungenMilitärpolitische AbleitungenMit <strong>der</strong> siegreichen Gestaltung <strong>der</strong> Schlacht bei Marathonwar <strong>der</strong> Beweis erbracht worden, dass ein erfolgreichesmilitärisches Bestehen gegen die Perser möglichwar. Hierfür waren nicht die Unbilden des Wetters - wiezwei Jahre zuvor am Berg Athos - notwendig; auch dietraditionelle Furcht vor dem Anblick <strong>der</strong> „medischenTracht“ (Hdt. VI, 112) war unbegründet. Eine „klassisch“militärhistorische Würdigung <strong>der</strong> militärischen DispositionenMiltiades’ vor und in <strong>der</strong> Schlacht greift indes viel zukurz. Denn die geschickte Wahl eines für die eigenen militärischenPlanungen günstigen Geländes, das Beachten eigenerstarker Flügel und sicherer Flanken, die persönliche<strong>Führung</strong> durch einen klugen, umsichtigen und engagiertenkommandierenden Feldherrn, das überraschende Ergreifen<strong>der</strong> (taktischen) Initiative (in <strong>der</strong> Defensive) sowie einesouveräne „Menschenführung“ - hier die Integration religiöserrespektive weltanschaulicher Überzeugungen durchdas Beziehen des Lagers am Heiligtum des Herakles, umauf seine „Unterstützung“ in <strong>der</strong> Schlacht zu vertrauen- gehörten in allen Epochen neben <strong>der</strong> Fortune im „Fogof War“ zum notwendigen und erwünschten Repertoiremilitärischer <strong>Führung</strong>skunst mit taktisch geschulten undgut ausgebildeten Truppen.Vielmehr gilt es den Blick erneut auf eine banale Einsichtzu lenken: Vor dem Hintergrund einer existenziellenHerausfor<strong>der</strong>ung steigen die Erfolgschancen, wenn denim Felde stehenden Soldaten ein zu bewahrendes undverteidigenswertes politisches Gemeinwesen mit einemgrößtmöglichen bürgerlichen Freiheitsraum angebotenwird. <strong>Die</strong>s war den „Siegern von Marathon“ durch diepolitischen Reformen des Kleisthenes gegeben. Für sieging es, geradezu intrinsisch motiviert, in <strong>der</strong> Ebene vonMarathon um die Bewahrung und Verteidigung ihrerproto-demokratischen Freiheiten. Ihre Hoplitenphalanxwar die logische Wehrform <strong>der</strong> besitzenden bürgerlichenSchichten, die hier auch noch für kurze Zeit ihren innenpolitischen<strong>Führung</strong>sanspruch gegenüber den „besitzlosen“Theten behaupteten.<strong>Die</strong> Weiterentwicklung des „Streitkräftesystems“durch die Einbeziehung <strong>der</strong> Theten, die als unterste Zensusklassedas Reservoir <strong>der</strong> Ru<strong>der</strong>er im Flottenprogrammdes Themistokles stellten, <strong>der</strong> später als Vater des Sieges in<strong>der</strong> Seeschlacht bei Salamis 480 v. Chr. in die Geschichteeinging, 28) löste eine doppelte Herausfor<strong>der</strong>ung.Mit <strong>der</strong> Integration <strong>der</strong> Theten in das militärische Systemwuchs erstens die militärische Verteidigungskapazität- eine Transformation des wehrpolitischen Systems <strong>der</strong>Polis Athen durch die Verlagerung des Schwerpunktesvon einem land- zu einem seezentrierten Ansatz, <strong>der</strong> in<strong>der</strong> folgenden Entwicklung zum strategischen Rückgratbei <strong>der</strong> Durchführung offensiver machtpolitischer Ambitionenumfunktioniert wurde. Zweitens hatten adeligepersische Interessenvertreter keine reale Chance mehr aufeinen Umsturz, nachdem die Mehrheit <strong>der</strong> Polisbewohner,nun als Souverän, politische Partizipationsrechte besaß- die innen- und außenpolitisch instrumentalisierbare„fünfte Kolonne“ war auf Dauer, zumindest theoretisch,ausgeschaltet. Daher erwies sich die Weiterentwicklungdes „Streitkräftesystems“ - als Katalysator für einenfortschreitenden Demokratisierungsprozess - auch alsStabilisator des politischen Systems in Form einer höherenIdentifikation, was sich bei Salamis als richtigherausstellte: Geschlossene innere Fronten erlauben einegeschlossene äußere Front. Entscheidend hierfür war <strong>der</strong>Wille zur politischen Selbstbehauptung.Historisch-politische IdentitätskonstruktionenPolitische Gemeinwesen benötigen für eine erfolgreicheSelbstbehauptung nicht nur ein „Außen“ zurAbgrenzung, son<strong>der</strong>n auch eine tief reichende Identitätswurzelnach „Innen“. Daher ist für die Aufrechterhaltungdes Selbstbehauptungswillens eine auch für die und in <strong>der</strong>jeweiligen Gegenwart begründbare fortlaufende positiveWeiter- und „Meistererzählung“ eigener Leistungen in <strong>der</strong>ÖMZ-Online 6/2011 39


Birk: <strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor 2.500 JahrenVergangenheit wichtig. Sie dient <strong>der</strong> Selbstvergewisserungdurch gezielte Traditionsbildung. <strong>Die</strong>se bezieht sich entwe<strong>der</strong>auf die Geschichte <strong>der</strong> eigenen sozialen Großgruppeo<strong>der</strong> - abstrahiert - auf einen außerhalb stehenden kanonisiertenhistorischen Ereignishorizont wie zum Beispieldie griechische respektive römische Antike. Während<strong>der</strong> Topos Rom für die Effizienz imperialer Herrschaft,politischer Stabilität und militärischer Organisation steht,fiel <strong>der</strong> Polis Athen des 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>tsstets eine prominente Rolle in politiktheoretischer und -praktischer sowie kultureller, aber auch militärhistorischerHinsicht zu.Der historiographische Siegeslauf <strong>der</strong> „Sieger vonMarathon“ hatte seinen ersten Schwerpunkt in <strong>der</strong> nachSelbstbestätigung und -legitimation suchenden attischenPolis, einen zweiten im neuzeitlichen Europa des 19.Jahrhun<strong>der</strong>ts 29) sowie einen etwas modifizierten dritten imKalten Krieg des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Er spiegelt damit auchdie mögliche Instrumentalisierung des Topos Marathonauf kommunal-regionaler, nationaler und übernationalglobalerEbene wi<strong>der</strong>.Zunächst zum antiken „Siegeslauf“: Das eigene ideellestaatspolitische Selbstverständnis als erfolgreiche „wehrhafteDemokratie“ - noch dazu gegen die „Weltmacht“Persien - sowie zur Legitimation eigener hegemonialerAbsichten <strong>der</strong> folgenden Jahrzehnte (Attisch-delischerSeebund) führte zu einer legendenreichen Ausschmückung<strong>der</strong> Schlacht. Athen siegte bei Marathon in seinemkonstruierten Selbstverständnis in <strong>der</strong> Zeit existenziellerHerausfor<strong>der</strong>ung stellvertretend für die „Hellenen“ gegendas 46 Völkerschaften umfassende persische Aufgebot(Hdt. IX, 27). Was als Erzählung begann, wurde überden gesellschaftlich akzeptierten Transmissionsriemen„Meistererzählung“ aus individuellen (je<strong>der</strong> Marathon-Krieger), familiären (Miltiades’ Sohn Kimon forcierte dieBedeutung seines Vaters und <strong>der</strong> Schlacht bei Marathon)und staatspolitischen Erwägungen (Legitimation <strong>der</strong><strong>Führung</strong>srolle Athens) zur „gesicherten“ historischenWahrheit. Weshalb sollte Athen auch darauf verzichten,Marathon als Erinnerungsort - „Gibt uns nicht schon dieseeine Tat allein ein Anrecht auf diesen Platz?“ (Hdt. IX,27) - für die Legitimation seiner Politik im 5. Jahrhun<strong>der</strong>tzu benutzen? 30)So reizvoll es auch ist und bleibt, die verschiedenenMotivationslagen bei <strong>der</strong> Selbstmystifizierung <strong>der</strong> Athenerim Sinne <strong>der</strong> von Historikern stets gefor<strong>der</strong>ten Dekonstruktionnachzuzeichnen und darauf zu verweisen, dieAthener hätten Marathon nach Salamis und <strong>der</strong> Bedeutung<strong>der</strong> spartanischen <strong>Führung</strong>srolle im Kampf gegen Xerxesüberzeichnet und die gewaltige Dimension und Bedeutungum zehn Jahre zurückprojiziert, ist doch auch darauf hinzuweisen,dass eben dies, aus athenischem Selbstverständnisheraus, ein noch heute nachvollziehbarer Topos war.<strong>Die</strong> zweite bedeutsame Phase <strong>der</strong> Marathon-Rezeptionbegann im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t und verknüpfte Marathon vordem Hintergrund des Zeitalters <strong>der</strong> (beginnenden) Nationalstaatenmit einer europäisch-aufgeklärten Identitätskonstruktion.Im Zuge des griechischen Befreiungskriegeszur Abschüttelung <strong>der</strong> osmanischen Herrschaft 1821-1829, <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e auch unter humanistisch gebildeten40Zentraleuropäern sofort zur Assoziation des ionischenAufstandes gegen das persische Reich führte, erfuhrauch die Schlacht bei Marathon eine neue publizistischesowie historiographische und literarische Renaissance. 31)Kurze Zeit später wurde sie durch die Aufnahme als ersteSchlacht <strong>der</strong> „Fifteen Decisive Battles of the World: fromMarathon to Waterloo“ in dem Werk des britischen HistorikersEdward Shepherd Creasy (1851) vor dem Hintergrunddes Viktorianischen Zeitalters kanonisiert. Dadurchwurde sie zum archimedischen Punkt einer Kausalkette,die von <strong>der</strong> athenischen Demokratie und griechischenKlassik sowie <strong>der</strong> Vermittlerfunktion Roms als Träger des„griechischen Erbes“ über Renaissance und Humanismuszu Aufklärung und europäischer Mo<strong>der</strong>ne zielte - gewissermaßenals reziproke teleologische Retroprojektion.Eine zusätzliche, ebenso ahistorische, Übersteigerung<strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Schlacht bei Marathon erwuchs ausdem 1846 verfassten Diktum John Stuart Mills, wonachdie Schlacht bei Marathon für die englische Geschichteeine größere Bedeutung habe als jene bei Hastings imJahre 1066. 32)<strong>Die</strong>se euro- und anglozentrischen Extrema fanden ihrPendant in kontrafaktischen Versuchen, <strong>der</strong> Schlacht beiMarathon ihren Nimbus zu bestreiten - aber: Was hättedie Welt gewonnen, wäre Athen bei Marathon besiegtworden? Dabei wurde Marathon einerseits - literarisch- zu einem unbedeutenden Gefecht am Ägäisstrand:„Truthloving Persians do not dwell upon/the trivialskirmish fought near Marathon.“ 33) An<strong>der</strong>erseits wurde,historisch nicht unbegründet, Sparta nach einer Nie<strong>der</strong>lageAthens bei Marathon die Rolle einer den persischen Suprematieanspruchauf dem griechischen Festland infolgeeiner machtpolitischen Überdehnung herausfor<strong>der</strong>ndenOrdnungsmacht zugeschrieben - indes ohne Auswirkungauf den Aufstieg Roms o<strong>der</strong> Europas in <strong>der</strong> Neuzeit. 34)Neben <strong>der</strong> Landschlacht bei Marathon 490 v. Chr.wurde auch die Seeschlacht bei Salamis 480 v. Chr. als„Nadelöhr, durch das die Geschichte hindurch musste“, 35)hervorgehoben. <strong>Die</strong> beiden militärischen Abwehrerfolge<strong>der</strong> griechischen Poleis gegen den Machtanspruch desPerserreiches brachten die folgenden Generationen bisin die Gegenwart zu einem begeisternden Betrachten <strong>der</strong>Bedingungen des Möglichen, wollte man nicht wie Hegeldas historisch Notwendige konstatieren: „Das Interessedes Weltgeistes hat hier auf <strong>der</strong> Waagschale gelegen.“ 36)<strong>Die</strong>s gipfelte letztlich in dem berühmten Diktum Fullers:„Marathon was the birth cry of Europe.“ 37)Vor dem Hintergrund dieses geschichtsphilosophischenKonstrukts wurde nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges - die dritte Rezeptionsphase - Marathonals ein Zentralereignis <strong>der</strong> Perserkriege in Form einermacht-, strategie- und sicherheitspolitischen Chiffrezum Angelpunkt historisch-politischer Selbst- undFremdzuschreibungen. Dabei wurden die NATO und <strong>der</strong>Warschauer Pakt in Form einer vergleichenden Analogiein kontinuitätsstiften<strong>der</strong> Perspektive betrachtet: Derattische Seebund im Westen, eine maritime Allianz mitausgeprägten Wirtschaftsinteressen, und seinen Auxiliartruppeneinerseits, das halbkontinentale, bodenschwerePerserreich im Osten mit seinen Satrapien als westlichesÖMZ-Online 6/2011


Sicherheitsglacis an<strong>der</strong>erseits machten einen Vergleichgeradezu zwingend. 38)<strong>Die</strong> Ambivalenz historisch-politischer Identitätskonstruktionenwächst indes mit dem zeitlichenAbstand: So sehr die USA es lieben, sich selbst imkapitalistisch-kulturellen und demokratischen GlanzeAthens zu spiegeln, so sehr erinnern sie eben auch inihrem machtpolitisch-globalen Auftreten an Rom undPersien. Letztlich wird auch in diesen (geschichts-)philosophischen,literarischen und kontrafaktischen (Über-)Interpretationen genauso wie in <strong>der</strong> wissenschaftlichenAkribie verpflichteten rezeptionsgeschichtlichen Studiendeutlich, dass das Nachleben von „großen“ politischen undmilitärischen Ereignissen mehr von jeweils gegenwartsbezogenen- individuellen und kollektiven - Intentionenabhängig war (und ist) als vom exakten Wissen um dietatsächlichen historischen Begebenheiten. Daher gilt:„Marathon was one birth cry of Europe“ - aber einer, inden viel hineininterpretiert werden kann.Strategisches FazitUm 500 v. Chr. hatte sich im östlichen Mittelmeerraumeine politisch-strategische Situation herausentwickelt, dieGroß-, Mittel- und Kleinmächte (Persien, Sparta, Athen)in miteinan<strong>der</strong> vernetzte außen- und innenpolitischeKonfliktszenarien führte, die in ihrem Kern zeitlose, d.h.„klassische“, Lehren bereithalten, <strong>der</strong>en Aktualität auchnach 2.500 Jahren gegeben ist. „Strategische“ Ableitungenaus (militär-) historischen Einzelereignissen im Sinneeines modifizierten „Lessons learned“-Ansatzes bedürfen<strong>der</strong> interpretativen Abstraktion.Bei dem Versuch eines strategischen Fazits ist zunächstfestzuhalten, dass sich sämtliche Akteure (Persien,Athen, Sparta) innerhalb ihrer weltanschaulich-ideellen„Systeme“ sowie ihrer veranschlagten politischen undmilitärischen (Nicht-) Vorgehensweisen zweckrationalverhielten. Es wurde aber auch deutlich, dass selbst kluggewählte politische und militärstrategische Zielsetzungensowie operative Maßnahmen - wie jene Spartas und insbeson<strong>der</strong>ePersiens - in <strong>der</strong> Konfrontation mit an<strong>der</strong>s als„geplant“ handelnden Akteuren nicht zwangsläufig zumErfolg führen müssen. <strong>Die</strong> Verknüpfung von Innen-, Militär-und Außen- respektive Sicherheitspolitik führt darüberhinaus zu einer grundsätzlichen strategischen Ableitungin Form einer axiomatischen Überlegung: Es gehört ganzwesentlich zum strategischen Lernen dazu, am eigenen(Miss-)Erfolg, dem (gescheiterten) Kulminationspunkt<strong>der</strong> Zielverwirklichung respektive Selbstbehauptung,nicht mit den eigenen Anstrengungen aufzuhören. NeueHerausfor<strong>der</strong>ungen bedürfen neben ihrem Erkennen neuerAntworten. Bereits die nächste strategische Konstellationkann ganz an<strong>der</strong>e Ursachen haben und Erscheinungsformenannehmen. Ergo: Das Antizipieren von Zukunfterfor<strong>der</strong>t rechtzeitiges, gelegentlich auch radikales Erneuern<strong>der</strong> - ideellen und professionellen - Instrumentezur Begegnung.<strong>Die</strong>s zeigt auch die strategische NeuausrichtungAthens nach dem Erfolg bei Marathon unter Themistokles.<strong>Die</strong>ser sah wohl bereits nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung desionischen Aufstandes die Notwendigkeit, den maritimenFähigkeiten Persiens im östlichen Mittelmeerraum mitdem Aufbau einer starken Flottenkomponente entgegenzutreten,die auch als Aufbau einer Drohkulisse gegenden in unmittelbarer Sichtweite liegenden Rivalen Aiginavon Nutzen war - sein strategischer Weitblick konnte sichindes zunächst vor dem Hintergrund <strong>der</strong> innenpolitischenLage <strong>der</strong> attischen Polis nicht durchsetzen, macht aber dasenorme strategische Potenzial dieser Polis deutlich.Zu einer strategischen Ableitung gehört jedoch aucheine objektive Betrachtung bei<strong>der</strong> Seiten. Sie offenbarteine gewisse Janusköpfigkeit, wenn man sie auf die Mo<strong>der</strong>ne,und hier insbeson<strong>der</strong>e auf die Gegenwart, anwendet:Persien war - eine Analogie zu Rom o<strong>der</strong> den USA zwingtsich geradezu auf - zum damaligen Zeitpunkt die antike„leading nation“. Über direkte (Eroberung) und indirekteEinflussnahme entstand ein gigantisches Imperium, dasnach seinem Selbstverständnis Herausfor<strong>der</strong>er o<strong>der</strong> Insurgentenabzustrafen hatte. Der ionische Aufstand warim Kern eine Bestreitung des universalen Herrschaftsanspruches.Eine militärische Intervention zur Stabilisierungdes ägäischen Raumes sollte begleitet werden durch einenRegimewechsel (Re-Installation von Tyrannis respektiveMonarchie o<strong>der</strong> Oligarchie). Als dies 490 v. Chr. bei Marathonkeinen Erfolg zeitigte, wurden 480 v. Chr. mehrTruppen entsandt - am Ende stand die große Nie<strong>der</strong>lage.Persiens strategische Politik liest sich - Paradoxie o<strong>der</strong> List<strong>der</strong> Geschichte? - wie jene <strong>der</strong> Gegenwart, in <strong>der</strong> die USA,stellvertretend für einen „westlichen“ Politikansatz, in undmit ihrem nach wie vor imperialen Selbstverständnis als„indispensable nation“ (unverzichtbare Nation) - so <strong>der</strong>ehemalige US-amerikanische Präsident Clinton - dengleichen strukturellen Herausfor<strong>der</strong>ungen ausgesetzt sindwie jedes Imperium zuvor. 39)Betrachtet man die Geschichte in ihrer Gesamtheit, solautet ihr fundamentales Lernangebot - hier in den Wortendes ehemaligen bundesdeutschen Präsidenten Richard vonWeizsäcker: „<strong>Die</strong> geistige Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Geschichtebietet dem Menschen nicht Ausbildung, son<strong>der</strong>nBildung, nicht Handlungsanweisung, son<strong>der</strong>n Horizonte.Man lernt aus <strong>der</strong> Geschichte nicht, was man tun soll: Aberman kann aus ihr lernen, was man bedenken muß.“ <strong>Die</strong>sgilt auch für ihre Subdisziplin Militärgeschichte: „Militaryhistory should be studied in width, depth, and context.“ 40)Nur so können sie valides Orientierungswissen für politischeund militärische Transformationsprozesse für diejeweiligen Gegenwarten bereitstellen.■ANMERKUNGEN:1) Leopold von Ranke: Weltgeschichte Band 1: <strong>Die</strong> älteste historischeVölkergruppe und die Griechen, Hamburg 1935, S.159.2) Francis Fukuyama: Das Ende <strong>der</strong> Geschichte: Wo stehen wir?,München 1992.3) G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie <strong>der</strong> Geschichte(=Werke 12), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S.76f.4) Christian Meier: <strong>Die</strong> Entstehung des Politischen bei den Griechen,2. Aufl. Frankfurt/M. 1989.5) Egon Friedell: Kulturgeschichte Griechenlands, München 1981.6) Vgl. zuletzt Beatrice Heuser: Den Krieg denken. <strong>Die</strong> Entwicklung<strong>der</strong> Strategie seit <strong>der</strong> Antike, Pa<strong>der</strong>born 2010.7) Vgl. hierzu auch die Beiträge des Autors in <strong>der</strong> ÖMZ zu strategischenAnsätzen von Alexan<strong>der</strong> (5/2005, S.647-654), Hannibal (6/2006, S.675-684) und Arminius (6/2009, S.694-706).ÖMZ-Online 6/2011 41


Birk: <strong>Die</strong> Schlacht bei Marathon vor 2.500 Jahren8) Zur Bedeutung von Herodots Historien für die Geschichtsschreibungvgl. Meier, Entstehung, S.360-434.9) Zit. nach Werner Dahlheim: <strong>Die</strong> Antike. Griechenland und Rom vonden Anfängen bis zur Expansion des Islam, 4., erw. u. überarb. Aufl.Pa<strong>der</strong>born u.a. 1995, S.177.10) Vgl. für den allgemeinen Hintergrund und Verlauf Peter Green: TheGreco-Persian Wars, Berkeley 1996 sowie Bruno Bleckmann (Hrsg.):Herodot und die Epoche <strong>der</strong> Perserkriege: Realität und Fiktionen, Kölnu.a. 2007.11) <strong>Die</strong> hier benutzten politischen Begriffe bildeten sich zwar erst imLaufe des 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>ts in ihrem heutigen Bedeutungsinhaltheraus (vgl. Meier: Entstehung des Politischen, S.275-325), siedienen gleichwohl zur besseren Veranschaulichung <strong>der</strong> Grundpositionen.Zur weiteren Entwicklung vgl. Kurt Raaflaub: Kleisthenes, Ephialtesund die Begründung <strong>der</strong> Demokratie. In: Konrad H. Kinzl (Hrsg.): Demokratia,Darmstadt 1995, S.1-54 und Jochen Martin: Von Kleistheneszu Ephialtes. Zur Entstehung <strong>der</strong> athenischen Demokratie. In: Chiron4 (1974), S.5-42 sowie Jochen Bleicken: <strong>Die</strong> athenische Demokratie,4. Aufl. Pa<strong>der</strong>born u.a. 1995; vgl. zur Gesamteinordnung auch Meier:Entstehung des Politischen, S.51-143.12) Vgl. Peter Siewert: <strong>Die</strong> Trittyen Attikas und die Heeresreform desKleisthenes, München 1982.13) Vgl. Loretana de Libero: <strong>Die</strong> archaische Tyrannis, Stuttgart 1996.14) Vgl. Michael Zahrnt: Der Mardonioszug des Jahres 492 v. Chr. undseine historische Einordnung. In: Chiron 22 (1992), S.237-317.15) Hdt. VI, 95 verweist auf die evtl. noch vorhandene Furcht vor einerWie<strong>der</strong>holung des Unglücks von 492 v. Chr.16) Vgl. B.H. Liddell Hart: Strategie, Wiesbaden 1954, S.26f.17) Vgl. dazu zudem Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Nie<strong>der</strong>gangeiner antiken Großmacht, Stuttgart 2004, S.122.18) Vgl. Bleicken: Athenische Demokratie, S.145.19) Zur Topographie des Schlachtfeldes vgl. William Kendrick Pritchett:Studies in Ancient Greek Topography. Teil II (Battlefields), Berkeley/LosAngeles 1969 sowie Norman A. Doenges: The Campaign and Battle ofMarathon. In: Historia 47 (1998), S.1-17.20) Vgl. die Diskussion und Abwägung bei James A.S. Evans: Herodotusand the Battle of Marathon. In: Historia 42 (1993), S.279-307,hier S.293-299.21) Hans Delbrück: Geschichte <strong>der</strong> Kriegskunst im Rahmen <strong>der</strong> politischenGeschichte (Band 1: Altertum), photomechanischer Nachdruck<strong>der</strong> dritten Auflage Berlin 1964, S.61.22.) So wurde von Johan Henrik Schreiner, Two Battles and Two Bills:Marathon and the Athenian Fleet, Athen – Oslo 2004 (=Monographsfrom the Norwegian Institute at Athens 3) sogar vorgeschlagen, dass eszwei aufeinan<strong>der</strong>folgende Schlachten gab – eine erste mit einem Erfolgdes Kallimachos und eine zweite, von Miltiades gewonnene; vgl. zudemzuletzt Karoline Resch, Grenzen kriegsgeschichtlicher Beispiele - dieSchlacht bei Marathon, in: ÖMZ 5/2011, S.572-580 und hier insbeson<strong>der</strong>eihr Fazit auf S.579.23) So bereits Delbrück: Geschichte <strong>der</strong> Kriegskunst, S.54.24) Ebenda, S.61.25) Alfred Heuß: Hellas. In: Golo Mann/Alfred Heuß (Hrsg.): PropyläenWeltgeschichte. Eine Universalgeschichte Band 3, S.69-400,hier S.222.26) Vgl. etwa Hölkeskamp: Marathon, S.332.27) Evans: Herodotus and the Battle of Marathon, S.303.28) Vgl. Albrecht Behmel: Themistokles. Sieger von Salamis und Herrvon Magnesia, 2. Aufl. Stuttgart 2002.29) Vgl. Michael Zahrnt: Marathon - das Schlachtfeld als „Erinnerung“,einst und jetzt. In: Elke Stein-Hölkeskamp/Karl-Joachim Hölkeskamp(Hrsg.): <strong>Die</strong> griechische Welt. Erinnerungsorte <strong>der</strong> Antike, München2010, S.114-127; Hans-Joachim Gehrke: Marathon (490 v. Chr.) alsMythos: Von Helden und Barbaren. In: Gerd Krumeich/Susanne Brandt(Hrsg.): Schlachtenmythen. Ereignis - Erzählung - Erinnerung, Köln u.a.2003, S.19-32; Martin Flashar: <strong>Die</strong> Sieger von Marathon - ZwischenMythisierung und Vorbildlichkeit. In: Ders./Hans-Joachim Gehrke/ErnstHeinrich (Hrsg.), Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in <strong>der</strong> griechisch-römischenAntike, München 1996, S.63-85 sowie Karl-JoachimHölkeskamp: Marathon - vom Monument zum Mythos. In: <strong>Die</strong>trichPapenfuss/Volker Michael Strocka (Hrsg.): Gab es das griechischeWun<strong>der</strong>? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und <strong>der</strong> Mitte des 5.Jahrhun<strong>der</strong>ts v. Chr., Mainz 2001, S.329-353 und Thomas A. Schmitz:Marathon - ein antiker Mythos. In: Peter Tepe (Hrsg.): Politische Mythen(=Mythos No. 2), Würzburg 2006, S.82-103.30) Vgl. zum Gesamtkomplex Michael Jung: Marathon und Plataiai.42Zwei Perserschlachten als „lieux de mémoire“ im antiken Griechenland,Göttingen 2006 (Hypomnemata, Band 164).31) Vgl. hierzu die Beiträge <strong>der</strong> Sektion 4 („Nationhood and Identity“)in: Bridges, Emma/Edith Hall/P.J. Rhodes (Hrsg.): Cultural Responses tothe Persian Wars. Antiquity to the Third Millenium, Oxford 2007.32) J.M. Robson (Ed.): Collected Works of John Stuart Mill, Vol. XI- Essays on Philosophy and the Classics, London 1978, S.273.33) So <strong>der</strong> Dichter Robert Graves: Collected Poems (1914-1947),London etc. 1948, S.210.34) Vgl. etwa Josef Wiesenhöfer: „Griechenland wäre unter persischeHerrschaft geraten ...“ <strong>Die</strong> Perserkriege als Zeitenwende? In: H. Brinkhaus/S.Sellmer (Hrsg.), Zeitenwenden (=Asien und Afrika, 4), Hamburg2002, S.209-232.35) Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn <strong>der</strong> Weltgeschichte, München1993, S.33.36) Hegel: Philosophie <strong>der</strong> Geschichte, S.315.37) J.F.C. Fuller: A Military History of the Western World, new ed. NewYork 1988, S.25.38) Vgl. Eberhard Birk: <strong>Die</strong> Paulskirche(n) und die NATO. Der DeutschenAmbivalenzen im Spiegel <strong>der</strong> (un)geschützten Freiheiten. In:E. Birk (Hrsg.), Streitkräfte und Erziehung, Fürstenfeldbruck 2007(=Gneisenau Blätter 5), S.68-75 sowie <strong>der</strong>s., Napoleon Imperator. In:ÖMZ 2/2010, S.168-185, hier S.183.39) Zum Selbstverständnis und Handeln von Imperien vgl. HerfriedMünkler: Imperien. <strong>Die</strong> Logik <strong>der</strong> Weltherrschaft - vom Alten Rom biszu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. Es ist evident, dass <strong>der</strong> Begriff<strong>der</strong> Nation für die Antike keine Relevanz hat.40) Milan Vego: Military History and the Study of Operational Art. In:Joint Forces Quarterly 57 (2nd quarter 2010), S.124-129, hier S.127.Dr. Eberhard BirkGeb. 1967; Oberregierungsrat, Oberstleutnant d.R.;1987-93 Soldat auf Zeit; 1993-97 Studium <strong>der</strong> Geschichteund Politikwissenschaft an <strong>der</strong> UniversitätAugsburg, Stipendiat <strong>der</strong> deutschen Studenten- undGraduiertenför<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftunge.V. 1995-99; 1999 Promotion zum Dr. phil miteiner Diss. zum Thema: „Der Funktionswandel <strong>der</strong>Westeuropäischen Union (WEU) im europäischenIntegrationsprozeß“, seit Juli 2000 Dozent für Militärgeschichteund Politische Bildung an <strong>der</strong> Offizierschule<strong>der</strong> Luftwaffe in Fürstenfeldbruck. ZahlreichePublikationen zur Deutschen Militärgeschichte imeuropäischen Kontext sowie zu Fragen <strong>der</strong> Tradition,Strategie und Sicherheitspolitik (Aufsätze in <strong>der</strong> ÖMZu.a. zu Alexan<strong>der</strong>, Hannibal, Varusschlacht, OranischeHeeresreform, Schlacht bei Leuthen, Napoleon, Radetzky,Moltke und Königgrätz, Douhet); Herausgeber<strong>der</strong> Gneisenau Blätter seit 2004 mit den Themen-Bänden: Aspekte einer europäischen Identität (2004),Militärische Tradition (2004), Transformation (2006),Erziehung und Streitkräfte (2007), Einsatzarmee undInnere <strong>Führung</strong> (2007), Militärisches Selbstverständnis(2008), Soldat und digitales Schlachtfeld (2009),Technik - Innovation - Strategie (2010); sie sind digitalabrufbar unter: www.gneisenau-gesellschaft.de.ÖMZ-Online 6/2011

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