Selbsthilfe: gestern - heute - morgenSelbsthilfegruppen im Wandel der ZeitAktuelle SituationGesundheitsbezogene Selbsthilfegruppenhaben in den vergangenenJahrzehnten zunehmend anBedeutung gewonnen; sie werdengelegentlich neben der ambulanten,stationären und rehabilitativen professionellenVersorgung auch alsdie vierte Säule des Gesundheitswesensbezeichnet [1]. Derzeit gehtman von bundesweit etwa 100.000Selbsthilfegruppen aus, in denensich ca. vier Millionen Personen engagieren[2]. Gesundheits-Selbsthilfewird als Grundlage für neue Ansätzein der besseren Bewältigung vonKrankheiten, der Selbstbestimmungdes Individuums und der aktivenBeteiligung am Gemeinwesen betrachtet[3]. Selbsthilfegruppen sehenihre Aufgaben heute im Wesentlichenin folgenden Bereichen:l Gegenseitige Hilfe bei der Krankheitsbewältigung;l Austausch praktischer Ratschläge,z. B. in Fragen von Rehabilitation,Schwerbehindertenrechtund Rentenfragen;l Bereithaltung eines niedrigschwelligenBeratungsangebotesfür Personen mit schwierigemsozialen Hintergrund, z. B.Migrantinnen und Migranten;l Organisation von Fortbildungenund Kongressbesuchen;l Hilfe bei der Lokalisation geeignetermedizinischer Einrichtungenfür die Diagnostik undder Therapie der zum Teil sehrseltenen Erkrankungen;lInformation der Öffentlichkeitund Werben für ein besseresVerständnis der Erkrankungen;l Einflussnahme auf die Politik,z.B. wenn es um die Zulassungneuer diagnostischeroder therapeutischerVerfahrengeht.professionelle Gesundheitsversorgungnicht vorhanden war, also inder vorindustriellen und vorurbanenZeit [3]. Aus der Notwendigkeit,sich in Ermangelung einer vomStaat gewährleisteten Absicherunggegenseitig selbst zu helfen, entstandendamals Organisationen wieArbeiterselbsthilfekassen und Wohnungsbaugenossenschaften[3].Auch die Geschichte des Verbraucherschutzes,die viele Gemeinsamkeitenmit dem Gedanken derGesundheits-Selbsthilfe hat, ist engmit der Entwicklung der modernenIndustriegesellschaft verknüpft [4].Im Zuge der Industrialisierung wurdees notwendig, zum Schutz dereinzelnen Verbraucher vor einer inimmer größeren Zusammenschlüssenauftretenden Anbieterseiteentsprechende Bewegungen zugründen, um den Konsumenten vorÜbervorteilung und Ausbeutung zuschützen.Nachdem nun zumindest in Mitteleuropaalle BevölkerungsschichtenZugang zu einer bezahlbaren medizinischenVersorgung haben, kannman Selbsthilfe auch in einem größerenZusammenhang als Synonymfür eine soziale Bewegung verste-Selbsthilfegruppenwerden politischgewünschtund gefördert; Paragraph20 Absatz4 des SGB (Sozialgesetzbuch)Vsieht ausdrücklicheine Unterstützungder Selbsthilfegruppen durchdie Krankenkassen vor.Selbsthilfegruppen werden zunehmendin die Gestaltung von Leitliniendurch die medizinischen Fachgesellschafteneinbezogen; derDachverband Osteologie (DVO) gibtneben den DVO-Leitlinien für Ärzteinzwischen auch eine Patienten-Version der Osteoporose-Leitlinieheraus.Die Kommunikation mit den regionalenSelbsthilfeorganisationen undeine kontinuierliche Kontaktpflegesind bei einigen FachgesellschaftenVoraussetzung für die Zertifizierungeines Zentrums.Bereits aus dieser kurzen Darstellunggeht hervor, dass Selbsthilfegruppenaus der gegenwärtigenVersorgungsstruktur nicht mehrwegzudenken und zu einem wichtigenPartner der professionellenAnbieter von Gesundheitsleistungengeworden sind.Historische EntwicklungProf. Dr. med. Heiner MönigUniv.-Kinikum Schleswig-Holstein, Campus KielKlinik für Innere Medizin IHistorisch hat die Selbsthilfe ihreWurzeln in der Notwendigkeit, sichzu Zeiten medizinisch selbst zuhelfen, als eine flächendeckendeProf. Dr. med. Hendrik LehnertUniv.-Kinikum Schleswig-Holstein, Campus LübeckMedizinische Klinik I38<strong>Netzwerk</strong> <strong>Neuroendokrine</strong> <strong>Tumoren</strong> (<strong>NeT</strong>) e.V. - Nürnberg
Selbsthilfe: gestern - heute - morgenhen, die die Themen Selbstbestimmungund Autonomie in den Mittelpunktgestellt hat [5]. Hier mag auchdas Unbehagen an einer professionellenMedizin eine Rolle gespielthaben, die als zunehmend anonymund übertechnisiert, vielleicht auchals fremdbestimmt empfunden wird(Stichwort „Medizinisch-industriellerKomplex”).Die Selbsthilfebewegung war undist insofern Teil einer Alternativbewegung,die mit Projekten und neuenOrganisationen andere Formen vonArbeit und Leben schaffen will. DieKraft der Selbsthilfebewegung lagund liegt in der Kombination dieserbeiden Elemente: des individuellen,persönlichen Handeln-Wollens mitdem gesellschaftlichen Veränderungswillen[4].Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppenhaben sich etwa ab Mitteder 1970er Jahre etabliert. Parallelzur Entwicklung der Selbsthilfegruppenwar eine wesentlicheVeränderung in der Arzt-Patienten-Beziehung zu beobachten. Hier isteine Entwicklung von einer auf Seitendes Arztes autoritär geprägtenBeziehung hin zu einer patientenzentriertenMedizin zu beobachten;es kommt der Begriff der „Verantwortungspartnerschaft”von Arztund Patient ins Spiel [6]. Diese neueAuffassung einer Arzt-Patienten-Interaktion verlangt, dass der Arztauf den einzelnen Patienten, seinePersönlichkeit und seine Lebenssituationdurch Beratung und Begleitungeingeht [6]. Andererseits istaber genau dieser wünschenswerteDialog in der durch Zeitdruck dominiertenRealität der Kliniken undAmbulanzen zunehmend schwierigaufzubauen. Hier setzt eine weiterewichtige Funktion von Selbsthilfegruppenein, indem sie nämlich eineBrücke zwischen der „professionellen”Ebene und der Patientenebenebilden.Wie werden Patientenorganisationen,insbesondereSelbsthilfeorganisationen, heutevon den Ärztinnen und Ärztengesehen?Aus der persönlichen Erfahrung derAutoren sehen die meisten Kolleginnenund Kollegen die Funktionvon Selbsthilfegruppen als außerordentlichwichtig an und investierennicht wenig Zeit, um diese Gruppenzu unterstützen, z. B. als medizinischerBeirat oder Betreuer einerRegionalgruppe. Gut informiertePatienten sind erwünscht, weil sieeinen Teil der Verantwortung mittragen.Dies gilt besonders, wenn füreine Erkrankung keine leitliniengestützteStandardtherapie zur Verfügungsteht und aus der Vielzahl vonAlternativen die richtige Behandlungausgewählt werden muss. DieseFragestellung ist gerade bei neuroendokrinen<strong>Tumoren</strong> eine täglich zubewältigende Aufgabe. Auch erfährtein Arzt, der eine Selbsthilfegruppebetreut, bei den Gruppentreffen vielüber die Art, wie seine Institutionoder seine eigene Arbeit von denBetroffenen wahrgenommen wird;er kann diese Informationen direktfür eine Verbesserung der Versorgungsqualitätnutzen.Leider gewinnt im Zeitalter der Informationstechnologiedie Arbeitder Selbsthilfegruppen gelegentlichauch eine Dimension, die auf Seitender professionellen Anbieter medizinischerVersorgung auf Kritik stößt.Diese Problematik ergibt sich immerdann, wenn im Internet medizinischeFehlinformationen verbreitetoder wenn Arzt- oder Klinikbewertungenhinterlegt werden, die lediglichdem subjektiven Eindruck einereinzelnen Patientin oder eines einzelnenPatienten entspringen. Dieweit verbreiteten chat-Foren, blogsund virtuellen communities müssenzum Teil äußerst kritisch gesehenwerden, da sie gelegentlich dieärztliche Seite diskriminieren, waseinem fruchtbaren Arzt-Patienten-Dialog sicherlich nicht förderlich ist.Wie werden lokale/regionaleSelbsthilfegruppenangenommen?Die Autoren dieses Beitrages habenan mehreren universitärenStandorten Selbsthilfegruppenmit unterschiedlichen chronischenErkrankungen betreut (neuroendokrine<strong>Tumoren</strong>, Osteoporose,Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen).Aus dieser Erfahrungheraus kann man feststellen, dassSelbsthilfegruppen durchaus nichtfür jede Patientin oder jeden Patientengeeignet sind. Dies zum einendeshalb, weil ein Teil der Patientenauch im Jahre 2010 mit derregelmäßigen ärztlichen Betreuung,z. B. in einer Hochschulambulanz,so zufrieden ist, dass sie keinenweiteren Gesprächsbedarf habenund im Rahmen von Selbsthilfegruppen-Treffennicht immer wiederan ihre Erkrankung erinnert werdenwollen. Auch kann die Konfrontationmit Menschen, die zwar die gleicheKrankheit, aber einen ungünstigerenVerlauf haben, als Belastung empfundenwerden. Dabei bedeutet esnatürlich einen großen Unterschied,ob es sich um eine chronische gutartigeErkrankung wie z. B. die Osteoporoseoder aber eine bösartigeErkrankung wie die neuroendokrinenTumorerkrankungen handelt.Bei bösartigen Erkrankungen ist dieSorge, aus Unkenntnis möglicherweisenicht die optimale TherapieTel.: 0911 / 25 28 999 · E-Mail: netzwerk@glandula-net-online.de · www.glandula-net-online.de39