FÜR SIE GELESENFÜR SIE GELESEN«Mit Buchstaben konnte ich nichts anfangen»Pascal Russo, 35: Leben mit Lese- und SchreibschwächeEinmal bezeichnete mich jemand als Analphabeten. Das war wie ein Hammerschlag.Ich habe grosse Mühe mit Lesen und Schreiben. Bis vor drei Jahrenhabe ich mit keinem darüber gesprochen. Ich traute mich nicht. Meine Fassadewäre zusammengestürzt. Jahrelang habe ich mit sportlichen Leistungen undsozialem Engagement das Bild eines starken und sorglosen Mannes aufgebaut.Ich fühlte mich aber unsicher. Dieser Zwiespalt hat mich sehr belastet.Als Jugendlicher verdrängte ich mein Problem einfach. Ich sagte mir: Spracheinteressiert mich nicht. Ich hatte immer ungenügende Deutschnoten. MitBuchstaben und Grammatikregeln konnte ich einfach nichts anfangen. Ichkonnte sie wohl auswendig lernen, aber nicht richtig zusammensetzen. Sonstwar ich ein guter Schüler. Ich ging auch mit den anderen in die Bibliothek. DieBücher brachte ich jedoch nach vier Wochen ungelesen wieder zurück.Später wollte ich mein Sprachdefizit nicht wahrhaben, obwohl ich bereits nachder Lehre realisiert hatte, dass ich ohne Sprache nirgends richtig durchkomme.Ich hatte Maurer gelernt. Da musste ich mich nicht über die Sprache definieren,da gings ums Handwerk. Wäre ich jedoch Polier geworden, hätte ichmehr schriftliche Arbeit erledigen müssen. Davor hatte ich Angst.Immer wenn ich vor einer beruflichen Neuorientierung stand, bin ich ins Auslandabgehauen. Nach England, Amerika und nach Afrika. Dort fühlte ichmich gut. Im Englischunterricht hatte ich zwar dieselben Schwierigkeiten mitder Grammatik wie daheim. Aber im Englisch hatte ich eine Entschuldigung:Ich war Anfänger. Das hat mich entlastet und ich konnte lernen, wie es mirentspricht: übers Gehör und über die Augen. Englisch kann ich jetzt sehr gut,aber ich spreche die Umgangssprache.Die Rückkehr in die Schweiz war jedes Mal ein kleiner Schock. Das Sprachproblemblieb ungelöst. Eine Zeitlang fiel mir sogar das Sprechen schwer. Ichredete nur noch ganz langsam und stotterte manchmal.Schliesslich wechselte ich in den Pflegeberuf. Zuerst war ich Hilfspfleger, dannhabe ich die Ausbildung zum Hauspfleger gemacht. Während dieser Zeit lernteich den Computer kennen. Das war ein Schlüsselerlebnis. Plötzlich sah ichdie Buchstaben. Vorher musste ich sie irgendwo aus der Luft holen. Wenn ichsie auf der Tastatur sehe, kann ich sie wie in einem Spiel zusammensetzen.Zwei enge Freunde haben mir in dieser Zeit viel geholfen.Anne hat mir das Schriftdeutsche näher gebracht. Es fasziniertmich, wie differenziert sich unsere deutschen Nachbarnausdrücken können. Und Dani hat alle meine schriftlichenArbeiten korrigiert.Seit einem Jahr besuche ich jetzt einen Deutschkurs,um richtig lesen und schreiben zu lernen. Ich bin froh,dass ich mein Problem endlich angepackt habe. ImKurs fühle ich mich verstanden. Wir arbeiten langsam,und es geht nicht nur um die Sprache. Auchunsere Lebensgeschichte wird mit einbezogen. Fürmich ist das sehr wichtig. Denn ich spüre immer nochVerletzungen und habe Schamgefühle.Der Sprachkurs ist ein Prozess mit Hochs und Tiefs. Manchmal kann ich jetztsogar über meine Fehler lachen. Und der Kurs hat meine Lust am Lesen geweckt.Neulich lag ich den ganzen Nachmittag auf meiner Terrasse, vertieft ineinen Roman. So etwas hätte ich mir früher nicht vorstellen können.aus: Gesundheitstipp September 2005«Ihr Vorbild ist wichtiger denn je»Aus der Erklärung der UNESCO zum «World Teachers‘ Day» vom 5. Okt. 2001.«Aus Anlass des World Teachers‘ Day 2001 laden wir Menschen aus allen Berufenein, die unverzichtbare, oft schwierige und aufopfernde Rolle von Lehrerinnenund Lehrern bei der Bereitstellung einer guten Bildung anzuerkennen.Wir sprechen allen Mitgliedern des Berufsstandes unsere Hochachtungaus, nicht zuletzt denen, die unter schwierigsten Bedingungen arbeiten. Wirermutigen alle Lehrerinnen und Lehrer, stolz auf ihre Berufung zu sein undihre gewählte Aufgabe weiterzuführen. In ihrem untermüdlichen Strebennach grösserem Wissen, höherer Qualität ihres Lehrens und zunehmendenFortschritten ihrer Zöglinge sind Lehrerinnen und Lehrer lebendige Beispielefür lebenslanges Lernen. Auf unserem Weg zur Gestaltung von Lern- undInformationsgesellschaften ist ihr Vorbild wichtiger denn je.»Vollständiger Text: www.unesco.org aus: Bildung CHBUCHSTAB42 43
FÜR SIE GELESENFÜR SIE GELESENReformhektik gefährdet nachhaltige LernerfolgeZwei in Westeuropa zu beobachtende Entwicklungen geben Anlasszu Besorgnis. Einerseits behindern viele «Baustellen» im Schulsystemnachhaltige Bildungsreformen. Andererseits zeigen sich bei immermehr Lehrpersonen Resignationserscheinungen. Die Mischung ist bildungspolitischexplosiv.Viele noch so populäre Schulreformen («Baustellen»)führen so lange nicht zu einer Verbesserung der Qualitätder Schule, als sie nicht in koordinierterWeise auf Nachhaltigkeit ausgerichtetsind. Nachhaltigkeit ist aber nur erreichbar,wenn sich alle Partner über die Ziele derWeiterentwicklung des Schulsystems einigen können.Konservative Kräfte müssten erkennen, dass blosse Beschäftigung mit derUmschreibung von Bildungsbegriffen und der normativen Legitimation vonBildungsinhalten nicht mehr genügt und sie sich stärker mit der Bildungsrealitätbeschäftigen sollten — was lernen Jugendliche wirklich, und wie werdensie auf ihre zu erwartende Lebenswirklichkeit vorbereitet? NeoliberaleKreise hingegen müssten sich ernsthafter mit der Frage auseinandersetzen,ob die Übertragung marktradikaler Prinzipien auf das Schulwesen tatsächlichzu besseren Lernergebnissen führt. Und sich fortschrittlich nennendeGruppierungen schliesslich müssten sich überlegen, ob sich auf dem verschwommenenBegriff der Chancengleichheit und dem Schlagwort «Fördernstatt fordern» allein eine wirksame Bildungspolitik aufbauen lässt.Moderaterer Rhythmus bei ReformenAuch die einzelnen Akteure der Reformpolitik sollten sich differenzierterverhalten. Bildungspolitiker etwa müssten sich der vielen Zielkonfliktein der Bildungspolitik bewusster werden und erkennen, dass es im Erziehungswesenkeine Konzepte gibt, die nicht auch Nachteile haben. Aufgabeder Bildungspolitik wäre es, dem Schulsystem eine langfristige und widerspruchsfreieRahmenordnung zu geben und Reformmassnahmen nur ineinem für Lehrpersonen verkraftbaren Rhythmus umzusetzen. Deshalb eignetsich eine wirksame Bildungspolitik nicht für die persönliche Profilierungin politischen Auseinandersetzungen. Auch Wissenschafter sollten sichstärker um eine ganzheitliche Betrachtung ihrer Reformvorschläge bemühen,indem sie die Wert- und Zielvorstellungen ihrer Untersuchungen transparentmachen und die Schulwirklichkeit sowie die Berufssituation derLehrerschaft in ihre Überlegungen einbeziehen. Die Lehrkräfte ihrerseitsmüssten bedachten Neuerungen gegenüber aufgeschlossener werden, und dieEltern schliesslich sollten ihre schulpolitischen Forderungen nicht nur auf die– meist kurzfristigen – eigenen Idealvorstellungen und persönlichen Interessenihrer eigenen Kinder ausrichten, die ihnen vermeintlich bessere Lebenschancengeben und das Leben in der Schule angenehmer machen.Zusammenfassend darf sich also eine nachhaltige Bildungspolitik nicht primäran der Frage orientieren, was aufgrund momentaner Opportunitäten zu reformierenist. Zu fragen ist vielmehr, wie das Bewährte zusammen mit den nötigenAnpassungen weitergeführt werden kann.aus: NZZ, 17.01.06, von Prof. Rolf Dubsmitnie in dieKreidegeratenreinschauen,Spass haben:www.biwa.ch15‘000 Artikel und allerlei Kreiden für einerlei wenig KohleBIWA Schulbedarf, Telefon 071 987 00 00, Telefax 071 987 00 01, www.biwa.ch44 45