13.07.2015 Aufrufe

GESAMTAUSGABE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE ...

GESAMTAUSGABE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE ...

GESAMTAUSGABE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

MARTIN HEIDEGGERMARTIN HEIDEGGER<strong>GESAMTAUSGABE</strong>II. ABTEILUNG: VORLESUNGEN 1919-1944<strong>GRUNDPROBLEME</strong> <strong>DER</strong><strong>PHÄNOMENOLOGIE</strong> (1919/20)BAND 58<strong>GRUNDPROBLEME</strong> <strong>DER</strong> <strong>PHÄNOMENOLOGIE</strong> (1919/20)VITTORIO KLOSTERMANNFRANKFURT AM MAINVITTORIO KLOSTERMANNFRANKFURT AM MAIN


Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20Herausgegeben von Hans-Helmuth GanderINHALTVORBETRACHTUNGHistorische Überschau als exoterische Feststellung der esoterischenDisposition des phänomenologischen Problembewußtseins§ 1. Voranzeige der Phänomenologie als Ursprungswissenschaft vomLeben an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1a) Der Sinn der Idee der Ursprungswissenschaft . 1b) Die Frage des Anfangs. . . . . . . . . . . . . 4c) Das Problem der Methode. . . . . . . . . . . 4§ 2. Standpunkte, Richtungen, Systeme der gegenwärtigen Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6§ 3. Historische und systematische Aspekte der Verwendung des Wortes»Phänomenologie« ............ 11§ 4. Verunstaltungen der Idee der Phänomenologie . . . . . . . . .. 18ERSTER ABSCHNITTDas Leben als Urspntngsgebiet der PhänomenologieErstes KapitelAufweis des Lebens als Problemsphäre der Phänomenologie© Vittorio Klostermann GmbH· Frankfurt am Main· 1993Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teilein einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unterVerwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zuverbreiten.Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, DarmstadtDruck: Druckhaus Beltz, HemsbachPrinted in Germany§ 5. Die phänomenologische Grundhaltung als Sicheinstellen in diewissenschaftlich forschende Haltung und Kritik . . . . . 25§ 6. Zum Problem der Gegebenheit des Ursprungsgebietes . . 27§ 7. Vorläufige Umgrenzung des Begriffes des Lebens an sich 29a) Selbstgenügsamkeit als Erfüllungsform des Lebens 30b) Mannigfaltigkeit der Lebenstendenzen . . . . . . . . 32c) Der Weltcharakter des Lebens. . . . . . . . . . . . . 33d) Die Selbstverständlichkeit des Lebens als radikales Problemeiner Ursprungswissenschaft vom Leben . . . . . . . 36§ 8. Erneuter Anlauf: der Reliefcharakter des Lebens an sich . 38Zweites KapitelDas faktische Leben als Mannigfaltigkeitsich ineinanderschiebender Bekundungsschichten§ 9. Zum Phänomen der Selbstgenügsamkeit ........ . 41


VIInhaltInhaltVII§ 10.§11.§ 12.§ 13.§ 14.§ 15.§ 16.§ 17.§ 18.§ 19.Bekundungsgestalten von Selbstwelt, Mitwelt, Umwelt .Wissenschaft als Ausdruckszusammenhang des faktischen Lebens.............................. .a) Der Aufbau der historischen Wissenschaften . . . . . . . . .b) Der Bekundungszusammenhang der Naturwissenschaften ..Rückkehr zum Ausgangspunkt der Betrachtung: das faktischeLeben in seinen BekundungsschichtenAusdrucksformen der Selbstbesinnunga) Selbstbiographie. . . . . . . . . .b) Biographische Forschung .....Die Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelta) Die funktionale Betontheit der Selbstwelt. . . . . . . .b) Das Christentum als historisches Paradigma für die Verlegungdes Schwerpunktes des faktischen Lebens in die Selbstwelt.......................... .c) Der Situationscharakter der Selbstwelt ........ .d) Selbstgenügsamkeit als Grundcharakter der Selbstwelt .e) Rückbesinnung auf die Grundrichtung der BetrachtungZWEITER ABSCHNITTPhänomenologie als UrspnmgswissenschaJt des faktischen LebensansiehErstes KapitelWissenschaft als Bekundungszusammenhang eines LebensgebietesStufen und Momente der apriorischen Genesis des AusdruckszusammenhangsWissenschaft.a) Das Entwachsen der Wissenschaft aus der faktischen Lebenswelt.b) Erfahrung in ihren verschiedenen Modifikationenc) Der Erfahrungsboden der Wissenschaft.Wissenschaft als konkrete Logik eines SachgebietesWissenschaft und ihr Bezug auf die Selbstweltsituationen alsTendenz der Entlebung der LebensweltenSchwierigkeiten mit der Idee der Phänomenologie als Ursprungswissenschaftvom Leben an sichEin Grundproblem der Phänomenologie: die Zugänglichkeit desUrsprungsgebietes vom faktischen Leben aus.a) Die leitende Tendenz: das Verstehen des Lebens aus seinemUrsprung.b) Der spezifische Wiegehalt des faktischen Lebens.c) Erste Anzeige der Selbstwelt als das gesuchte Ursprungsgebiet.43464650545656575959616263646565676972757881818385§ 20.§21.§ 22.§ 23.§ 24.§ 25.§ 26.Überlieferte Probleme in der erkenntnismäßigen Bemächtigungder Selbstwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .a) Die ungelöste Verwirrung in der Bestimmung, Bedeutungund Stellung der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . .b) Historische Orientierung über Tendenzen der Selbstbemächtigung............................ .c) Die strengwissenschaftliche Erkenntnis als echtes Motiv dermode=:en Psychologie und seine Verkehrung ins Unechtedurch Ubernahme naturwissenschaftlicher Fragestellungenund Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .' .Zweites KapitelPhänomenologische Bereitung des E1ahrungsbodens für dieUrsprungswissenschaft vom LebenExposition der Aufgaben des zu gewinnenden theoretisch-wissenschaftlichenAusdruckszusammenhangs der Selbstwelt. DieFrage nach der Grunderfahrung der Selbstwelt . . . , . . . . . .Erneute Verdeutlichung der Problemrichtung der theoretischwissenschaftlichenErkenntnis von der Selbstwelt ....... .Das Problem der Gewinnung der Grunderfahrung der SelbstweltDer Bedeutsamkeitscharakter des konkreten Lebenserfahrungszusammenhangs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .a) Die faktisch unabgehobene Lebenserfahrung. . . . . . . . .b) Bedeutsamkeit als Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens............................. .Die Kenntnisnahme als Grundphänomen . . . . . . . . . . . . .a) Natürliche Kenntnisnahme als im Stil des faktischen Erfahrenssich haltende nicht theoretisch-wissenschaftliche Gegenständlichung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .b) Phänomenologische Bestimmung der Kenntnisnahme alsModifikation der Einstellung des faktischen Erfahrens ....Radikalisierung der Kenntnisnahme zum theoretischen Dingerkennenals Erlöschen des spezifisch faktischen Erfahrungszusammenhangs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .a) Vergegenwärtigung der phänomenalen Charaktere vor undnach der Modifikation der Kenntnisnahme . . . . . . . . . .b) Das Erlöschen der ganzheitsbildenden Leistung der faktischenErfahrung als methodische Fiktion . . . . . . . .c) Die Idee der DingIichkeit als Leitidee der Wissenschaft878789909397101102102104110110114120120122126


VIIIInhaltInhaltIXANHANGAANHANGB1. Ergänzungen zur ausgearbeiteten Vorlesung aus der Nachschriftvon Oskar Becker1. Rekonstruktion des Schluß teiles der Vorlesung aus Heideggerseigenen Aufzeichnungen1. Problem der dinglichen Objektivität und das Problemfeld der spezifischenGrunderfahrung ......... .2. Philosophie - ein Ringen um die Methode . . . . . . . . . . . . . .3. Echte »Stufen« des reinen Verstehens ............... .4. Der Weg zur phänomenologischen Methode und Grundcharaktereder Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .5. Geschichte - Leben - Phänomenologie - (Ontologie) ...6. Tendenz und Motiv psychologischer Vergegenständlichung7. Wege und Gestalten der Erfassung des Lebens ..... .8. Faktum .......................... .9. Vorverstehen (Grunderfahrung) - Verstehen. Seine Ausformung zurphänomenologisch-philosophischen Grundhaltung10. Für Schlußvorlesung .......... .II. BeilagenA. Zum ausgearbeiteten VorlesungsmanuskriptBeilage 1 (zu S. 36) .Beilage 2 (zu S. 46ff.)Beilage 3 (zu S. 59ff.)Beilage 4 (zu S. 63) .Beilage 5 (zu S. 64) .Beilage 6 (Erste Fassung des § 19)Beilage 7 (zu S. 106) . . . . . . . .Beilage 8 (zu S. 164) ....... .B. Lose Blätter aus dem Umkreis der VorlesungBlatt 1 ... .Blatt 2 ... .Blatt 3: Phänomenologische AnschauungBlatt 4: Verstehen. . . . . . . . . . . . .Blatt 5: Objektivität- Verdinglichung ..Blatt 6: Die »Gegebenheit« des Ich und die Überschätzung seiner Rollein der Phänomenologie .................... .Blatt 7: Phänomenologie und Leben - interpretatives Verstehen - »Idealtypus«(Max Weber) ..... .Blatt 8: Merkpunkte für die Umarbeitung ............... .131135138139147151155162163168169170171172172173180181182184185185187188189197Ergänzung 1 (zu S. 27) . 203Ergänzung 2 (zu S. 47) . 203Ergänzung 3 (zu S. 58) . 205Ergänzung 4 (zu S. 62) . 205Ergänzung 5 (zu S. 70) . 206Ergänzung 6 (zu S. 81) . 210Ergänzung 7 (zu S. 90) . 211Ergänzung 8 (zu S. 107) 216Ergänzung 9 (zu S. 110) 218Ergänzung 10 (zu S. 115) 221II. Der Schlußteil der Vorlesung in der Nachschrift von Oskar Becher1. Die Dingerkenntnis. Ihre Ungeeignetheit zum Erfassen der Selbstwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2232. Das Problem der Gegebenheit - Kritik Natorps und Rickerts . . .. 2243. Primat des Lebens an sich. - Neue Frage nach der Grunderfahrungvon der Selbstwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2274. Bemerkung über den Fortgang der Vorlesung . . . . . . . . . . .. 2285. Rückblick auf das Gesamtproblem: den Weg zum Ursprung zu finden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2286. Kritik der »transzendentalen Problematik« ............. 2297. Rückblick auf die Analyse des faktischen Lebens unter dem Aspektder Ursprungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2308. Vorblick auf das reine >>Verstehen« . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2339. Einwände gegen die Phänomenologie als »wissenschaftliche Philosophie«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23310. Die Phänomenologie keine Objektswissenschaft . . . . . . . . 23511. Beispiel einer phänomenologischen Kritik: »Anschauung« undElöo~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23712. Charakter des phänomenologischen Verstehens. - Seine beschränkteAllgemeingültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23813. Kritische Destruktion - Ausdrucks- und Ordnungsbegriffe . . . .. 24014. Kritik der Psychologie - ihrer Einstellungsrichtung - ihrer Begriffsbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 24115. Radikale Fassung des psychologischen Problems: das Problem des»Sich-selbst-Habens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 24616. Kritik der »transzendentalen Problematik« - das Begriffspaar:»Form-Inhalt«. . . . . . . . . . . . . . . . 24817. Phänomenologische Reduktion ..... . . 24918. Die »weltliche« Richtung des faktischen Lebens. 25019. Das Vertrautsein mit sich selbst. . . . . . . . . . 25120. Die Rolle der Erinnerung - Die Geschichte als Leiterfahrung derphänomenologischen Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 252


xInhalt21. Gliederung der Problematik des Sich-selbst-Habens 25322. Die Stufen des phänomenologischen Verstehens . . . 25423. Das Problem des Verhältnisses von »Faktum« und »Sinn« . 25624. Das Faktische als Ausdruck ..... .......... 25725. Die Situation als Ausdruck des Selbst. . . . . . . . . . . . 25826. Die Spontaneität des Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26027. Bezugssinn, Vollzugssinn, Gehaltssinn (Idee) als die Urstruktur derSituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26128. Das Leben-an-und-für-sich oder der Ursprung . . . . . . . . . 26229. Die Begriffe der Philosophie. Ihre Dialektik ist Diahermeneutik 26230. Der platonische EQm,; als philosophische Grundhaltung 263NACHWORT DES HERAUSGEBERS . . . . . . . . . . . . . . . .. 265VORBETRACHTUNGnous sommes en d'ouvrir toujoursdevant nuus l' espace, de refermertoujours derriere nous la dun~e*Historische Überschauals exoterische Feststellung der esoterischenDisposition des phänomenologischenPro blembewußtseins§ 1. Voranzeige der Phänomenologie als Ursprungswissenschaftvom Leben an sicha) Der Sinn der Idee der Ursprungswissenschaft»Grundprobleme der Phänomenologie« - das brennendste undnie austilgbare, das ursprünglichste und endgültigste Grundproblernder Phänomenologie ist sie selbst für sich selbst.Sie ist die Urwissenschaft, die Wissenschaft vom absolutenUrsprung des Geistes an und für sich - »Leben an und für sich«.Zunächst leere Worte, die lediglich prätendieren, etwas ganzbestimmtes, echt und absolut Ausweisbares zu bedeuten - Wortselbst »zufällig«. Sie fällt daher selbst als eine Manifestationseiner in ihren Gegenstand, in sich selbst zurück. Das ist keinihr anhaftender Mangel, kein sie beschwerendes Hemmnis,sondern der spezifische Charakter der Lebendigkeit, der »Fügung«ihrer Fragen und Weisen der Lösung, der Vorzug derVerlaufsform ihrer Problematik.Diese innerste, lebendige Berufung, das Schicksal der Philosophie,ihre Idee, deren größte Manifestationen wir kennen* H. Bergson, Matiere et memoire. Essai sur la relation du corps a I'esprit.Paris 1908, p. 161.


2 Historische Überschauunter den Namen: Plato, Kant, Hegel, gilt es ursprünglich undradikal aus einer neuen Grundsituation heraus zum »Leben« zubringen. Was das heißt - das zu verstehen ist unsere nächsteAufgabe.Die Idee der Ursprungswissenschaft (I) gibt sich den Sinn, daßsie durch die Erzeugung ihrer Aufgabe und die echte Auswirkungihrer eigensten Motive in der forschenden Aufhellung undErledigung der »Aufgabe« erst zum ursprünglichen Verstehenihrer selbst gelangt. Damit ist einmal angezeigt, daß die Phänomenologiemit einer Paradoxie unablässig kämpft, die wir alsdie Urparadoxie des Lebens an und für sich verstehen werden.Zum anderen aber ergibt sich aus der Idee der Urwissenschaftdie Grundanweisung: jeden Versuch, sie selbst und die Weiseihrer Verlebendigung in abgezogen begrifflichen Konstruktionener-denken oder in formalen Ordnungs begriffen - Resulateobjektivierend - sie stillstellen zu wollen - d. h. sich aus dem lebendigenRückgang in den Ursprung und dem lebendigen Hervorgangaus ihm (bildliche Redeweise) herauszustellen - rücksichtsloszurückzuweisen. Mit anderen Worten: nur die echte,konkrete Verwirklichung und der Vollzug (Befolgung) der in ihrselbst wirkenden »Tendenzen« führen zu ihr selbst und ihremeigensten Problemgebiet, das anspricht nur, wenn es in dieGrundtendenz der Phänomenologie selbst genommen ist. Siemuß sich echt manifestieren, um sich selbst als Manifestationmanifestierend zu verstehen.Die Idee der Ursprungswissenschaft (II) zeichnet selbst vor dieWeise ihrer konkret lebendigen Verwirklichung; nämlich: dieseist genommen in die Idee »Wissenschaft«. Erkenntnis - es gibtin ihr - und in ihr ursprünglich - so etwas wie Probleme -Methode. Was das heißt, hat sie selbst zum Verstehen zu bringenals Urwissenschaft. Als solche darf sie sich ihre urwissenschaftlicheProblematik und Methodik nicht von außen her, vonetwas ihr Fremdem, von Spezial wissenschaften aufdrängen lassen,sondern sie müssen dem Ursprung selbst, aus dem Ursprungin ursprünglicher Erzeugung und ständig zu erneuern-§ 1. Voranzeige der Phänomenologie 3der Bewährung und evidenter Tendenzerfüllung erwachsen.Das erstreckt sich sogar auf die Idee Wissenschaft - Erkenntnis_ Ausdruck derselben - Evidenz - Beweis und Begründungsartselbst. Es ist nicht so, daß gleichsam zwar keine besondereEinzelwissenschaft als Idealtypus, wohl aber eine formalisierteoder sonstige Verallgemeinerung der Idee Wissenschaft zugrundegelegt wird. . ..Die Wortbedeutungen alle sind noch ganz formal, mchts prajudizierend,lassen nur eine Direktion anklingen - ohne Festlegungauf sie -, vielleicht, daß sie nur dazu dient, auf ihrem W~gzurückzugehen zu ursprünglichsten Motiven des Lebens, dIezwar nicht theoretisch-wissenschaftlich sind. Jede ihrer echtenMethodenfragen ist ein in ihr selbst gelegenes »sachliches« Problemund führt echt verfolgt notwendig in den »Ursprung«.Aber was bedeutet »Ursprung«, was heißt »Idee«? Wie ist zuverstehen: »unter eine Idee stellen«, »in eine Tendenz nehmen«?Was besagt überhaupt »Wissenschaft«, »Wissenschaftvom Leben des Geistes«? Was heißt: Leben »in Begriffe fassen«,»Begriffe«, »Bedeutungen klären«, »das Geklärte und dieKlärung ausdrücken«, »in Worte bringen«, wo doch die Worteals volle Ausdrücke zugeschnitten sein sollen auf unsere Umwelt,auf den Raum, etwas Räumliches, räumliche Beziehungenmitmeinen - was Bergson vor 30 Jahren bereits unübertrefflichherausgestellt hat, was man aber heute als etwas unerhörtNeues dem verbildeten europäischen Bürger in einem umfänglichenBuch! anpreisen darf, auf das man bei uns nun auchprompt - gleich fakultätsweise - hereingefallen ist. Um echteProbleme geht es, nicht um geistreiche, ein mit bewundernswertemFleiß zusammengerafftes Material spektralistisch beleuchtende,sich aber auf jeder Seite selbst ins Gesicht schlagendeSkeptizismen.1 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Erster Band: Gestalt undWirklichkeit. Wien und Leipzig 1918.


4 Historische Überschaub) Die Frage des AnfangsWo soll in der prinzipiellen Aufhellung der nur andeutungsweiseberührten Fragen der Anfang gemacht werden? Washeißt »anfangen« in einer Wissenschaft und gar in der prätendiertenUrwissenschaft? Und all das auf die Phänomenologiebezügliche Fragen soll selbst phänomenologisches sein undphänomenologisch erledigt werden. Wozu aber diese künstlichenUmwege, die an berüchtigte Praktiken der sogenanntenErkenntnistheorie erinnern, die ständig das Messer schleift,ohne je zum Schneiden zu kommen? Bringen wir in den Sinnvon Anfang nicht das Bild eines Einsetzens an einem Punkt undFortgangs in einer Linie? Da wir nun selbst in der Linie stehen,kann es nicht gelingen, von einem außerhalb ihrer an den erstenPunkt sich zu setzen. Schwierigkeiten nur aus der Objektivierungdes Anfangs in der objektiven Zeit und an einem objektiviertengegenständlichen Was gelegen!Reflektieren wir doch nicht über das Anfangen, sondern fangenfaktisch an! Aber wie? Läßt sich eine echte wissenschaftlicheMethode einfach aufgreifen, als etwas von dem Gegenstandscharakterder Wissenschaft Abgelöstes, als ein technisches Mittel,Handwerkszeug, das man sich aneignet, dessen Gebrauchman einübt und nun frisch drauflos Phänomenologie treibt?c) Das Problem der MethodeMan beachtet auf phänomenologischer Seite - oder sagen wir:bei solchen, die sich so nennen - nicht, daß echte Methode immernur - wie Husserl das eindringlich zum Bewußtsein gebrachthat - dem Grundcharakter eines bestimmten Gegenstandsgebietesund seiner Problematik entwächst. Aber - das istdoch nur die eine Seite? Was heißt: die Methode erwächst einerbestimmten Problematik einer Gegenstandsregion? Was heißtProblem? Liegen denn Probleme einfach nur in dem betreffendenGegenstandsgebiet gleichsam am Wege, daß man sie aufgreiftund nach ihnen die Methode gestaltet! Oder erwachsen§ 1. Voranzeige der Phänomenologie 5die Probleme nicht selbst erst, und zwar in der Weise der Fragestellung,in der Methode, bezogen auf das betreffende Gegenstandsgebiet?Also stehen wir bei der genau umgekehrten Sachlage.. ...Die Methodik entwächst der ProblematIk und dIese Ist emeMethode der Grundfragestellung mit Bezug auf ein zu bearbeitendesGegenstandsgebiet. Und dieses? Liegt das einfach schlichtda, so daß man nur Fragen in es hineinzusenden braucht? Ist esschlecht und recht gegeben, vorgegeben? Was heißt »gegeben«,»Gegebenheit« - dieses Zauberwort der Phänomenologie undder »Stein des Anstoßes« bei den anderen.Es soll aber in der Phänomenologie nicht wuchern: die »Unmethodedes Ahndens und der Begeisterung«, auch nicht »dieWillkür des prophetischen Redens«2, aber ebensowenig hausbackeneBürgerlichkeit und Allüren des wissenschaftlichenTagelöhners, sondern echtes, ursprüngliches, lebendiges, sichständig neu bis auf den Grund aufwühlendes, nie ruhendesProblembewußtsein - echte Wissenschaft, die unserer Zeit unddem 19. Jahrhundert verlorenging, die man nicht einer neu anbrechendenZeit andernonstrieren kann, sondern die neu gelebtwerden will. Eine Angelegenheit lebendigen, persönlichenSeins und Schaffens (~Radikalismus).In der Idee der Ursprungswissenschaft und ihres echten Vollzugsist gelegen die Forderung des absoluten Radikalismus desFragens und der Kritik. Gerade das echte historische Verstehen,das der Phänomenologie erwächst und ihr eine neue Schätzungund Auswertung der Geistesgeschichte, ein neues Sehen ihrerermöglicht, muß sie rücksichtslos machen gegen deren Leistungen,in dem Sinne, daß sie sich nichts unvermittelt und ungeprüftaus ihr vorgeben (suggerieren) läßt. Das gilt noch mehrvon der Philosophie der jeweilig »zufälligen« Gegenwart.2 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hg. J. Schulze .. In: Werke.Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewlgten. Bd. 2.Berlin 1832, S. 38.


6 Historische ÜberschauAm radikalsten hat sich aber der Radikalismus der Phänomenologieauszuwirken gegen sie selbst und alles, was als phänomenologischeErkenntnis sich äußert.Es gibt kein iurare in verba magistri innerhalb der wissenschaftlichenForschung, und das Wesen einer echten Forschergenerationund Generationsfolge liegt darin, daß sie sich nichtan die Randbezirke der Spezialfragen verliert, sondern neu undecht auf die Urquellen der Probleme zurückgeht und sie tieferleitet.Damit ist zugleich angedeutet, daß die Stetigkeit phänomenologisch-philosophischerForschung einen eigenen Charakterhat und nichts zu tun hat mit der Nachahmung der Fortschrittsformender Einzelwissenschaften, z. B. der mathematischenNaturwissenschaft. Husserls Aufsatz: »Philosophie als strengeWissenschaft«' wird meist in diesem Sinne mißverstanden; dasum so leichter, als Husserl selbst gern und häufig an der mathematischenNaturwissenschaft exemplifiziert.§ 2. Standpunkte, Richtungen, Systeme der gegenwärtigenPhilosophieGerade weil es die Absicht dieser Vorlesung ist, nur an ganzwichtigen Stellen in kritische, die Problematik selbst befruchtendeAuseinandersetzungen einzutreten, soll ihr eine umschauhaltende,lediglich historisch feststellende Vorbetrachtunggegeben werden, dergestalt allerdings, daß sie exoterischerweisedie esoterische Disposition des phänomenologischen Problembewußtseinsanklingen läßt.Die Überschau soll betrachten: die Philosophie der Gegenwartim Ganzen. Das alles jedoch nur in der vorläufigen Gestaltdes rohen und handgreiflich Charakteristischen, ohne Einge-3 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos. Intern. Zeitschriftfür Philosophie der Kultur. Bd. 1 (1910/11), S. 289-341.§ 2. Standpunkte, Richtungen, Systeme 7hen auf den bestimmten Inhalt der Lehren, also mehr ein Hinweisauf ihr überhaupt charakteristisches Vorhandensein undWirken im geistig philosophischen Leben der Gegenwart.[Wenn ich also das »System« irgendeines Philosophieprofessorsoder Privatdozenten nicht namhaft machen sollte, dann müssenSie das allerdings nicht nur der Kürze der Zeit zugute halten.Ebensowenig werde ich auf ganz »linkische« Formen der Phänomenologieeingehen.] Im besonderen dann sehen wir zu, wassich heute unter der Bezeichnung »Phänomenologie« gibt, woechte Ansätze und Motive lebendig sind und wo es lediglich soaussieht »als ob«.Eine unter der Leitidee wissenschaftlich philosophischer Forschungins Werk gesetzte Orientierung innerhalb der gegenwärtigenPhilosophie gibt folgendes Bild der Standpunkte,Richtungen und Systeme:Zunächst ist zu beachten der immer noch steigende Einflußder platten Unphilosophie des kritischen Realismus, der sich- um ihn mit der Phrase am besten zu charakterisieren - »allseitigerBeliebtheit erfreut«, und das zwar vor allem bei denVertretern der Einzelwissenschaften (Natur- und Geisteswissenschaften),die in ihm eine willkommene und beruhigende philosophischeBestätigung ihres eigenen Tuns begrüßen. Es ist derStandpunkt des mißdeuteten Aristoteles, die Philosophie des gesundenMenschenverstandes, die vielbegehrte Vorspanndiensteleistet der heute gänzlich verlotterten systematischen Theologiebeider Konfessionen. Es ist die Philosophie, für die alle Fragenirgendwie sich herleiten aus der oder zurücklaufen in dieFrage, ob die Außenwelt nun wirklich existiert oder nicht, unddie dem beunruhigten Bürger immer neue wissenschaftlicheBeweise liefert, daß die Welt »in Tat und Wahrheit« existiert.Also eine, wie man sagt, »erkenntnistheoretische« Richtung -neben anderen. Damit ist angezeigt, daß erkenntnistheoretischeFragestellungen die heutige Philosophie charakterisieren. Dashängt zusammen mit der Art und Weise, in der die Neubelebungder Philosophie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts


8 Historische Überschaumotiviert ist im »Zurück zu Kant«, in der Erneuerung der KantischenPhilosophie (Neukantianismus - eine heute nicht mehrganz auf dieselben Richtungen zutreffende Bezeichnung). Diebeiden Hauptrichtungen des Neukantianismus sind charakterisiertin der Marburger Schule (Cohen, Natorp, Cassirer) und inder Wertphilosophischen (Windelband, Rickert, Lask). BeideRichtungen sind seit Jahren in einer Umbildung begriffen, diehistorisch sich kennzeichnen läßt als ein Zurückgehen aufFichte und vor allem auf Hegel. Unter den jüngeren Vertreternder beiden Schulen bereitet sich unverkennlich ein Neuhegelianismusvor. Die Motive hierzu sind nicht überall die gleichen.Bei den Marburgern sind es vorwiegend Versuche der Fortführungund radikalen Begründung der Logik; in der Wertphilosophieist es das Problem der Geschichte und Religion.In beiden Richtungen sind echte Motive lebendig und es wird- von Ausnahmen abgesehen - philosophische Arbeit geleistet,die die Phänomenologie doch nicht ganz übersehen darf, soscharf sie andererseits diesen Typus von Philosophie bekämpft.Neukantianismus, Neuhegelianismus sind in gewissem Betracht»Standpunktsphilosophien«, insofern und solange siediese historischen Standpunkte selbst nicht radikal auflockernund zum Problem machen, statt dessen dabei als einem Letztenstehenbleiben, sie zum Leitfaden nehmen und an ihm fortgehenddie Philosophie weiterzubringen suchen. Gewisse Sätzeund Thesen werden übernommen, ohne die Begründungsweisedes Rechts dieser Übernahme selbst zu prüfen, ohne daß sie wederzur letzten Evidenz gebracht sind noch über diese Evidenzund ihre absolute Notwendigkeit und methodische Tragweiteselbst radikale Rechenschaft gegeben wird. Dabei geschieht es- wie das bei jeder echten geistigen Arbeit zutrifft -, daß halbklareErkenntnisse durchscheinen und den Standpunkt selbstfür halbklare und unradikale Evidenzansprüche gesichert erscheinenlassen.Beim Fehlen dieser strengwissenschaftlichen, forschendenProblematik (bei Natorp ist sie zum Teil lebendig) und bei dem§ 2. Standpunkte, Richtungen, Systeme 9Hereinspielen nichtwissenschaftlicher Tendenzen auf Weltanschauungist es eine weitere verständliche Eigenart dieser Richtungen,daß sie überschnell nach systematischem Abschluß,nach Systemen der Philosophie streben und noch mehr: aus solchenSystemtendenzen sich ihre philosophische Arbeit begrenzenund alterieren lassen. (Es wird verwechselt: Systematik derstreng methodischen Forschung und Systematik des konstruktivenauf letzte Begriffe Bringen, welche letzten Begriffe selbstabsolut ungeklärt bleiben, sonst sie nicht diese billige Funktionübernehmen könnten.)Ganz vereinzelt, seiner geistigen Herkunft nach - jeder wissenschaftlicheForscher hat eine solche - im deutschen Idealismusverwurzelt, zwar nicht in dessen toten Begriffen, sondernlebendigen Tendenzen - vor allem Schleiermacher und Hegel-,wirkte Wilhelm Dilthey (gest. 1911). Er hat kein System geschaffen,wirkt aber umso lebendiger auf die philosophischeForschung und wird wirken in den nächsten Jahrzehnten. Diltheyeröffnete, sowenig er noch bis zum Ursprung vordrang,einen neuen Aspekt der Geistesgeschichte, schuf überhauptihre echte Idee.! (Die laute Gespreiztheit also, mit der heute geradeSpengler in seinem »europäischen« Buche gerade in denprinzipiellen Punkten auftritt, wirkt für den, der die Dingewirklich kennt, einfach lächerlich.)Seine Grundhaltung philosophischen Sehens aufnehmend,durch die neukantischen Richtungen in seiner Systematik wesentlichgeklärt, von Bergson und zuletzt noch von der Phänomenologiestark und wesentlich bestimmt, hat Simmel derneuen Art des Sehens des lebendigen Geistes und seiner ProduktionenEingang verschafft, in einer Weise, die allerdings vonden vielen heute geschäftigen kleinen »Simmels« gehandhabtleicht zur geistreichelnden Begriffsspielerei wird, von der Simmelselbst nicht frei war. Sein Denken und Vorstellen ist starkformalistisch, an fest hingesetzten Begriffsgruppen immer neu1 Diltheys Idee einer beschreibenden Psychologie.


10 Historische Überschauauf- und abkletternd - aber, was das Wertvolle an seiner Leistungist, immer wieder durchbrochen und genährt von echtenIntuitionen; in seiner letzten Schaffensperiode immer drängendernach einer Grundanschauung suchend, die mit Bergsonwesentlich zusammentrifft und in ihrem Kern ein wertvollesFerment der philosophischen Problematik darstellt. (Sein Anklopfenan und Flüssigmachen der verschiedensten Lebensgebiete- Gefahr des Formalismus.)Rationalistische Velleitäten dürfen auch nicht die z. T. genialeIntuition Bergsons herabsetzen wollen, so sehr er auch vonSchelling und Schopenhauer beeinflußt erscheint. Ich rede hierallerdings nicht von der notwendig hohen Einschätzung desBergsons der Mode, sondern jenes Bergson, den die wenigstenkennen und verstehen, der aber gerade wegen seiner Bedeutungauf das schärfste bekämpft werden muß - in positiver, forschenderKritik.Dasselbe gilt von einem anderen ausländischen Denker:WJames.Bei den Marburgem die Idee der Wissenschaft - kulminiertim Bewußtsein: etwas wird objektiviert im Subjekt; »logischeGrundlage der Wissenschaften« - Grundproblem der Objektivierungüberhaupt.In der Wertphilosophie letzte Werte, ein System ihrer dieletzte Basis der Deutung des Lebens - der Natur und Kulturgebiete.Dilthey: Geschichte des Geistes - die Gestalten und morphologischenTypen seiner Ausprägung in seiner Geschichte - Formenund Wege seines Verstehens.Simmel, Bergson, James: Lebensanschauung - »schöpferischeEntwicklung« - Pragmatismus. Motive verschiedenster Art, vonverschiedenen Situationen der Betrachtung verweisen in verschiedeneHorizonte; ein irgendwie aus einer allerdings verdecktenGrundquelle drängendes Suchen, Motive aufnehmendaus dem deutschen Idealismus, sie aber doch bearbeitend ineiner unechten, halbklaren und oft sich verlaufenden vor-§ 3. Aspekte zum Wort ,Phänomenologie< 11schnellen Weise. Wenn phänomenologisch so geurteilt wird undeigens - was sich herausstellen soll - mit absolut gegründetemund ausgewiesenem Recht, dann muß sich in der Phänomenologieeine radikale Basis des Sehens und der echten Horizontgebungeröffnen.§ 3. Historische und systematische Aspekte der Verwendungdes Wortes »Phänomenologie«Die echten, den vorgenannten »Richtungen« philosophischenDenkens meist selbst verdeckten Motive der wissenschaftlichenProblematik werden im Fortgang der phänomenologischenForschung an ihrer genuinen »Stelle« (Fügungstendenz) zumAusdruck kommen. Freilich nicht, insofern etwa die Phänomenologieaus den »Richtungen« entstanden wäre oder gareine zusammenfassende Verallgemeinerung ihrer aller darstellte,sondern weil sie den Radikalismus der philosophischenFragestellung anstrebt und in neuer strenger Methodik inden Ursprung zurückgeht und sie - freilich in einem anderenSinne als Hegel -, zuvor zur Echtheit gebracht, in sich aufhebt.In diesem Rückgang untersteht sie selbst immer wieder phänomenologischerPrüfung und erneuter Fundierung. Im Sinneder methodischen Freilegung solcher letzten Motive und desecht~:z Veifolgs der erwachsenden Tendenzen ist vorläufig jetztdie Uberprüfung dessen anzustellen, was sich als Phänomenologieselbst gibt und was von anderen als solche gedeutet wird.(Dabei müssen wir uns in methodischer Hinsicht klar sein, daßes sich hier um zufälliges Einsetzen und Ansatzpunkte der Problematikhandelt.)Bekannt ist das Wort »Phänomenologie« durch den Titeldes Grundwerkes von Hegel: »Phänomenologie des Geistes«(1807). Es hat das Motto: Wuxfj~ Eon A.6yo~ eau'tov aü~wv.»Des Geistes Sinn ist es, sich selbst zu steigern«. Hegel spricht


12 Historische Überschaueinmal von dem »von Aussen nichts hereinnehmenden Gange« 1der Selbstbewegung »des Geistes«. Auf die Frage, was die anderePhänomenologie mit der Hegeischen zu tun und gemeinsamhabe, ist zu antworten: sehr viel und sehr wenig, je nachdem mansie versteht. (Ich glaube allerdings, daß man die letzten Tendenzendieses Werkes erst von der modernen Phänomenologie ausversteht.)Das Wort findet dann verstreute Verwendung (eine exakteNachforschung darüber gibt es nicht) in der protestantischenTheologie, und zwar begegnet es da in den achtziger Jahren inder Bedeutung einer Beschreibung der immanenten und transzendent-historischenEntwicklung des religiösen Bewußtseins.Der Nachdruck ruht aber schon sichtlich auf der Funktion des»Beschreibens«, die in dem Wort mitgemeint ist. Es kommtgleichzeitig vor in Verbindung mit Psychologie des religiösenBewußtseins (vgl. Max Reischle 2 ) - »Beschreibung der religiösenPhänomene«.1900 gebraucht Pfänder (kommt her aus der Psychologie vonTh. Lipps) das Wort im Titel seiner Habilitationsschrift »Phänomenologiedes Wollens«3. Das Wort soll in dem Gegensatzgegen die erklärende, hypothetisch psychische Vorgänge substruierendePsychologie verstanden werden im Sinne der deskriptivenPsychologie (vorausgegangen bereits Dilthey: Ideenzu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie+).Pfänder gibt in seiner Schrift selbst keine ausdrückliche »Erklärung«des Wortes, aber aus der »Einleitung« ergeben sich dieGesichtspunkte seiner Einstellung ganz klar. Es kommt ihm1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objective Logik.Nürnberg 1812, S. XX.2 M. Reischle, Die Frage nach dem Wesen der Religion. Grundlegung zu einerMethodologie der Religionsphilosophie. Freiburg 1889.3 A. Pfänder, Phänomenologie des Wollens. Eine p,ychologische Analyse.Leipzig 1900.4 W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie.In: Sitzungsberichte der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin.Jg. 1894/2. Halbbd., S. 1309-1407.§ 3. Aspekte zum Wort ,Phänomenologie< 13darauf an, »das Wollen in seiner thatsächlichen Beschaffenheitfestzustellen«5. Ferngehalten soll werden jede vorgefaßte Theorieüber das Wesen des Psychischen. Dieses soll nicht aus vorgefaßtenMethoden heraus in letzte Elemente »zerlegt« werden(z. B. in Empfindungsdaten). Es soll nichts darüber ausgemachtwerden, wo und wie überall das Wollen sonst noch im Psychischenvorkommt, auch nicht entschieden werden, ob es die»Grundfunktion« des Psychischen sei, sondern es soll erst einmallediglich beschrieben werden. Die Methode ist die subjektive,introspektive, die nicht Objekte, physiologische Vorgänge,Gehirnbahnen und ähnliches zum Gegenstand hat, sondern dasSubjekt, das Selbst. In derselben Bedeutung - Beschreibung derpsychischen »Vorkommnisse«, nicht Erklärung der und durch»Vorgänge« - gebraucht dann auch Lipps das Wort >phänomenologischPhänomenologie


14 Historische Überschaugeschehen, daß Husserl selbst unmittelbar nach der Publikationdieses Grundbuches aller künftigen wissenschaftlichen Phi-10sophie selbst über seine eigenen Entdeckungen, d. i. ihrenvollen Sinn und ihre ganze Tragweite, nicht völlig reflektiv klarwar. Es ist eines, eine neue echte Forschungsmethode unmittelbarschaffend zu realisieren, sich in ihr voll lebendig bewegen,ein anderes, selbst über sie zur letzten reflektiven Klarheitkommen, die treibenden Motive in ihrer Tendenz klar herauszuarbeiten.So geschah es, daß Husserl in der Einleitung zumBand 11 die phänomenologische Methode kennzeichnete als deskriptiveund zwar deskriptive Psychologie gegenüber der genetisch-erklärenden.Dabei stehen oft auf derselben Seite Sätze,die in eine ganz andere Richtung weisen, die nichts mit deskriptiverPsychologie zu tun haben.Es soll ein deskriptives Verständnis der psychischen Erlebnissegewonnen werden. »Die Phänomenologie [ ... ] hat alsoden Zweck, uns ein so weitreichendes deskriptives (nicht etwaein genetisch-psychologisches) Verständnis dieser psychischenErlebnisse zu verschaffen, als nötig ist, um allen logischen FundamentalbegriffenfesteBedeutungen zu geben«7. »Die eben erörtertenMotive der phänomenologischen Analyse, sind [ ... ]nicht wesentlich von denjenigen verschieden, welche aus den erkenntnistheoretischenGrundfragen entspringen. «8 Wir sehen dieTatsache, daß Gegenstände sich geben in einer Mannigfaltigkeitvon Umwelterlebnissen. Diese Tatsache regt immer wiederdie Frage auf, wie denn das >an sich< der Objektivität zur Vorstellungkommen, also gewissermaßen doch wieder subjektivwerden mag; »was das heißt, der Gegenstand sei >an sich< undin der Erkenntnis >gegeben«Phänomenologie< 15gebundenen) Motivs und des Erkenntnistheoretischen; ferner:die Deskription steht im Dienste von systematisch-logischenZielen (philosophische); letzeres ist die eigentliche Ausprägungder Tendenz, in die die Problematik genommen wird - dasTranszendentale, die Fruchtbarkeit und eigentlich bewegendeFunktion der Tendenzen für die wissenschaftliche Problematik.Der Nachdruck ruht auf dem Gegenständlichen der Objektivität- nicht so: wie im Kleinkram sich ein Objektives gestalte -,im Prinzip desselben.Aber vor allem sind die faktisch durchgeführten Untersuchungendes 11. Bandes schließlich das Entscheidende und zeigen,daß die Kennzeichnung, die Husserl von seiner eigenenMethode in der hinterher geschriebenen Einleitung gab, ganzungenügend war. Husserl wurde auch kurz darauf über die falscheKennzeichnung klar und hat sie schon 1903 klargestellt. 10Trotzdem knüpften sich an das Werk in der Folgezeit eineganze Reihe schwerer Mißverständnisse und auch heute werdenseine echten Tendenzen kaum verstanden, was meist daherkommt, daß man phänomenologische Untersuchungen eben»liest« wie man Spengler »liest«, aber nicht wissenschaftlichmethodischdurcharbeitet und den letzten Motiven nachgeht.Die Lippssche Schule faßte auch gleich die »Logischen Untersuchungen«in ihrem Sinne als Untersuchungen zur deskriptivenPsychologie auf und übersah völlig das eigentlich stimulierendetranszendentale Motiv und arbeitete sie mit der ihreigenen Energie durch, was eine Annäherung an die Phänomenologiebewirkte, freilich so, daß die eigentlichen Tendenzennicht aufgenommen wurden und man kann sagen: bis heutenicht.Der übrigen, empiristisch-psychologistischen wie der idealistischenzeitgenössischen Philosophie blieb die Idee der Phäno-10 E. Husserl, Bericht über deutsche Schriften zur Logik in den Jahren1895-98. In: Archiv für Philosophie. II. Abt.: Archiv für systematische Philosophie.Neue Folge IX. Band (1903).


16 Historische Überschaumenologie ein Buch mit sieben und noch mehr Siegeln. Meistlas man nur den ersten Band, die radikale Kritik des Psychologismus,übersah auch hier das Positive - die Idee der mathesisuniversalis (der einzige, der diese Dinge verstanden und ihrevolle Tragweite gesehen hat, war Lask) -, und war begeistertüber diese Widerlegung, merkte aber nicht, daß die Kritik nichtSelbstzweck war, sondern das Problemfast bis zur Überspannungallererst stellte und stellen konnte nur aus den Perspektiven undin der Methode, mit der der H. Band arbeitete. Wäre das gesehenworden, dann hätten die Untersuchungen des H. Bandeseine ganz andere Auffassung und Beachtung erfahren müssen.Diesen »las« man entweder oder überhaupt nicht oder verkehrt.Man tat ihn ab mit der Bemerkung, der glänzende Kritiker desPsychologismus verfalle selbst wieder in ihn zurück. Die Psychologensahen darin nur Psychologie und zwar nicht einmaldie echte, sondern eine scholastische, spintisierende. Für Kantianerwar der II. Band erst recht Psychologie, war da doch ständigvon Erlebnissen, Akten, Intentionalität die Rede. [So habeich bei anderer Gelegenheit gezeigt (Vorlesung S.S. 1919,»Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie«) 11 ,daß auf Rickert der I. Band stark wirkte, Phänomenologie abergleichzeitig für ihn gleichbedeutend ist mit Psychologie, unddaß in seinem Begriff »Transzendentalpsychologie« - »hölzernesEisen« - prinzipielle Verwirrungen liegen.]1910 publizierte Husserl seinen Aufsatz: »Philosophie alsstrenge Wissenschaft« 12, eine prinzipielle Darlegung der eigentlichenund letzten Tendenzen der phänomenologischen Philosophie,so zwar, daß aus ihnen nun rückwärts all die verstreutenmethodischen Ansätze, die scheinbar bruchstückhaften Einzeluntersuchungenausdrücklich in eine einheitlich wissenschaftlichsystematische Einheit zusammenrücken mußten.§ 3. Aspekte zum Wort ,Phänomenologie< 17Seit 1913 hat sich die Phänomenologie noch enger zu einerForschergemeinschaft zusammengeschlossen im »Jahrbuch fürPhilosophie und phänomenologische Forschung«. Das Jahrbuchist eröffnet mit Husserls Untersuchung »Ideen zu einerreinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«.Was Husserl in seinem Logosaufsatz nur angedeutet hat,wird hier in strengen Untersuchungen begründet. Es ist typisch,daß man in den Kreisen der Münchner Phänomenologie die»Ideen« lediglich für eine »Spezialuntersuchung«13 hält. Diese»Spannung« innerhalb der Phänomenologie - wie sie Husserldieser Tage 14 genannt hat - ist doch prinzipieller und ihre Lösungso oder so für die ganze künftige Entwicklung der Problematikschwerer ins Gewicht fallend als Husserl selbst glaubenmöchte. Sie ist aber innerhalb einer Forschergemeinschaft dasdenkbar Wertvollste - das echte Angreifen von wirklichem wissenschaftlichenLeben, das unechte Nivellierungen und Verwaschungenverschmäht.Die Untersuchungen sind so schwierig, daß man sie wohl»las« - aber nicht studierte. Sie sind unbequem - man schiebtsie ab und sieht zu, daß man sein philosophisches System, das jaheute jeder halbwegs anständige Philosoph der Welt hinterlassenmuß, unter Dach und Fach bringt. Auf dem Niveau deshalbwissenschaftlichen Arbeitens bewegen sich dann auch dieAuseinandersetzungen, auf die ich nicht eingehe. Vielmehr sollennur charakterisiert sein: die typischen Verunstaltungen derIdee der Phänomenologie, wie sie heute im Umlauf sind.Vielleicht ist es nicht unwichtig zu bemerken, daß es nicht soetwas gibt wie eine orthodoxe Phänomenologie oder Schulzwang:entscheidend ist die echte forschende, nichtdilettierendeArbeit.11 Jetzt in: Gesamtausgabe. Bd. 56/57. Hg. B. Heimbüchel. Frankfurt a. M.1987.12 Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. A. a. O.13 Ausspruch Pfänders, September 1919.14 Einleitung zum Seminar »Transzendentale Aesthetik und transzendentalerIdealismus


18 Historische Überschau§ 4. Verunstaltungen der Idee der PhänomenologieDie Verunstaltungen der Idee der Phänomenologie sind zweifacherArt: einmal im Sinne einer Verengung und Verdunkelungder Motive, dann im Sinne der unkritisch modischen,weltanschaulichen Überspannung.Zur ersten Art gehören Reden wie: die Phänomenologie istlediglich eine »Erklärung von Wortbedeutungen« und bewegtsich im Grunde in lauter Tautologien. Anfang und Schluß allihrer Weisheiten heißt: a = a. Etwas entgegenkommender istdie Meinung: Phänomenologie ist eine sehr brauchbare Vorwissenschaftder Philosophie, zwar nicht eigentliche Philosophie,aber sie tut sehr begrüßenswerte Dienste in der schärferenBestimmung und Umgrenzung der philosophischen Grundbegriffe.Sie ist ein guter Ersatz für die experimentelle Psychologie.Oder man erreicht das Niveau und glaubt damit schon sehrweit im Verständnis gekommen zu sein, daß man sie faßt alseine neue Erkenntnistheorie, sei es in der Richtung einer etwasverbesserten Neuauflage des Problems transzendentaler Konstitution(was ein echter Kern der Phänomenologie ist, aber nichtdas Ursprünglichste, Letzte), sei es in der Weise einer Ausbeutungihrer mißverstandenen Resultate für naiv-realistischeAspirationen (realistische Phänomenologie!).Die hier zum Ausdruck kommenden Verengungen der Ideehaben die Gestalt, daß sie die Phänomenologie an irgendwelcheder landläufig und zufällig vorgegebenen Disziplinen derPhilosophie anheften, sie irgendwie in der historisch gegebenenPhilosophie unterzubringen suchen, statt radikal den Aufbauder wissenschaftlichen Philosophie sich vollziehen zu lassen(denn wo steht verbrieft, daß Zahl und Gliederung der philosophischenDisziplinen, wie sie von der Geschichte überliefertsind, wirklich einer radikalen Kritik standhalten?).!Diese Verengungen der Idee hemmen zwar eine gedeihliche1 Vgl. später [II. Abschn., 1. Kap.].§ 4. Verunstaltungen der Phänomenologie 19letzte Auswirkung der systematischen Problemmotive, die immerzurückwirken bis in jedes Einzelproblem und seine Auffassung,sind aber für den Fortgang der Forschung nicht besondersgefährlich. Das muß aber gesagt werden von den Verunstaltungender zweiten Art: die unkritischen Überspannungen, die einegrundverkehrte, überhaupt unwissenschaftliche und widerwissenschaftlicheDisposition erzeugen und da, wo sie eindringen,die Forschung durch und durch verderben.Es ist in der Phänomenologie die Rede von Intuition, Schau,Wesensschau - die willkommensten Schlagworte, die man sichdenken kann, um in der intuitions- und sensationshungrigenZeit philosophischen und phänomenologischen Unfug zu treiben.So gibt es Phänomenologen, die ihre Mitmenschen mitWesensschauungen förmlich überschütten - wo es am Endenicht mehr sind als übertriebene Verabsolutierungen von Lesefrüchtenund Apen;us - und mit ihrem unwissenschaftlichenDogmatismus die echten Tendenzen und die Methode der Phänomenologiediskreditieren. Man propagiert und begünstigt inrohen Mißverständnissen die Meinung, man brauche sich nurintuitiv einstellen, dann komme alles und alle Evidenzen zugeflogen.Kommt's nicht, dann ist man enttäuscht und verspottetPhänomenologie als mystische Illusion.Übereilte Geschäftigkeit geht schon so weit, die Phänomenologieveralteten und gänzlich verworrenen metaphysischen Interessenvorzuspannen. Man nennt in einem Atemzuge: Mystikund Phänomenologie, die sowenig und soviel miteinander zutun haben wie Phänomenologie und Botanik, Musik und Phänomenologie,bürgerliches Recht und Phänomenologie. Gegensolche theosophischen Velleitäten und weltanschaulichen Ausuferungenkann man höchstens protestieren, eine Widerlegungsind sie nicht wert und als Äußerungen eines unwissenschaftlichenGeistes einer solchen überhaupt nicht zugänglich.Die Idee der Phänomenologie als absolute Ursprungswissenschaftdes Geistes überhaupt schließt alles andere ein als dieüberschwängliche Meinung, es lasse sich in ihr und durch sie


20 Historische Überschaualles und jedes (Erlebbare) streng wissenschaftlich erkennen,d. h. das genuine Erleben durch theoretisches Erkennen aufbessern,vertiefen oder gar er-setzen [als könnte man z. B. durchPhänomenologie eine höhere Stufe und Lebendigkeit von Religiositäterreichen u. ä.]. Die Phänomenologie bekämpft geradeden absoluten Rationalismus, den Rationalismus überhaupt injeder Gestalt. Sie bekämpft auch jedes verworrene Stammelnmit irrationalistischen »Urworten« in der Philosophie. Sie läßtüberhaupt die Scheidung von Rationalismus und irrationalismus,in der man heute beliebterweise alles unterbringt, als einegrundverkehrte verstehen. Sie bewegt sich aber nicht etwa aufeinem mittleren Weg - eine Art »Vermittlungsphilosophie« -,sondern radikal in einer ganz ursprünglichen Richtung, die diesembeliebten Gegensatz überhaupt nicht begegnet. Eine weiteHilflosigkeit liegt über allem heutigen Leben, weil es sich entfernthat von den echten Urquellen seiner selbst und lediglichan der eigenen Peripherie abläuft. Typisch: die Schreibereienüber den Sinn der Kultur und die Kulturprobleme - wie mansich's denkt aus einer Froschperspektive, wie man es machensollte, wenn man spintisiert über Kulturprobleme, statt aktivund schöpferisch eine neue Kultur zu schaffen. Das gilt auchvon den Wissenschaften. Ihrem Bankrott kann man nicht soaufhelfen, daß man prophetisch redet und sich als ihr »Feind«in Pose setzt und sie durch Religion er-setzt, sondern nur so,daß die verschüttete Idee selbst wieder ans Licht gebracht undWissenschaft wieder wird eine Lebensform, nicht ein Handwerkund Geschäft.Wir sind heute so sehr durch eine unechte Begrifflichkeitmißleitet und verdorben, daß man nicht einmal mehr dieMöglichkeit sieht, aus dieser bis an die Wurzeln greifenden wissenschaftlichenVerdorbenheit herauszukommen. Es ist abergerade notwendig für die Phänomenologie und diejenigen, die[ ... ]* daran mitarbeiten, sich klar in die Aufgabe einzustellen,• runleserliches Wort 1§ 4. Verunstaltungen der Phänomenologie 21weshalb eine gewisse Breite und Umständlichkeit einleitendnicht vermieden werden soll. Falsche Erwartungen, mit denenman eventuell an die Phänomenologie herankommt, müssengleich anfangs entwurzelt werden. (»Bilde Künstler, redenicht!«)Gewisse hemmende, aber versteckte, daher gefährlichereMotive, die sich immer wieder in den echten Zug der Problematikhereindrängen, müssen schon in den Anfängen als solchegekennzeichnet werden. Sie ergeben sich allerdings selbst erst,d. h. die Erkenntnis ihrer Unechtheit und die Notwendigkeitihrer Vernichtung, aus und im Fortgang der phänomenologischenForschung. Wieder der »Zirkel«, der den Laien irritiert.Ein besonders verstecktes, die philosophischen Problemeaber wie selbstverständlich vor-bestimmendes Motiv ist dieüberlieferte, zuweilen nur leicht verschobene Einteilung, Anzahlund Ordnung der philosophischen Disziplinen. Manspricht vom Wahren, Guten, Schönen als den höchsten Werten,den letzten Ideen und ordnet ihnen zu die philosophischen DisziplinenLogik, Ethik, Aesthetik. Den Ideen entsprechen dreiverschiedene Betätigungsweisen der Seele: Verstand, Wille, Gefühl.Die muß dann die Psychologie als Grund- oder Vorwissenschaftder erstgenannten studieren, und dann kommt das berühmteEinheitsbedürfnis der Vernunft hinterher, steckt alle inden einen Sack: die Religionsphilosophie oder Metaphysik - dieKrone der philosophischen Disziplinen, wo dann erst recht »gewurstelt«wird. Will man ganz modern sein, dann bringt mannoch Geschichtsphilosophie irgendwie unter, oder alles in ihr,oder man »fundiert« die Logik in der Ethik - oder ähnliche Variationen.Je nachdem entwirft man dann von hier aus ein System derWissenschaften überhaupt von der Art, wie wir fast jedes Jahrirgendeines vorgelegt bekommen, und der betreffende Philosophist dann plötzlich baß erstaunt, daß sich die Wissenschaftengar nicht um sein System kümmern, keine Lust verspüren,über Nacht in den von ihm erfundenen Rahmen sich einzufü-


22 Historische Überschaugen, sondern ihren eigenen Trott weiterlaufen. Bei diesen sogenanntenWissenschaftstheorien ist der ständig wiederkehrendeund als selbstverständlich hingenommene »Ladenhüter« dieGrundteilung >Natur - Kultur, Naturwissenschaften - KulturwissenschaftenNatur - Geist, Naturwissenschaften -GeisteswissenschaftenSchaltwerk


24 Historische ÜberschauDas liegt, von der lebendigen Einstellung des Forsch~rs ~usgesehen, in der Idee der Ursprungswissenschaft, des SIchemsteIlensin die lebendigen Motivationen und Tendenzen desGeistes - der elan vital, aber in einem anderen als dem mystizistischverworrenen Sinne Bergsons. Aber hier entscheidet - bezüglichder Art und Weise und Grenze wirklich lebendiger Auswirkung- innere Berufung und Selbstprüfun~. Daru~ muß d~sGesagte, vielleicht schon zu laut Gesagte genugen. DIe ~or~, mder dieses Schweigen allein gebrochen werden darf, 1st WIrkliche,unentwegte Arbeit »an den Sachen«.ERSTER ABSCHNITTDAS LEBEN ALS URSPRUNGSGEBIET <strong>DER</strong><strong>PHÄNOMENOLOGIE</strong>ERSTES KAPITELAufweis des Lebens als Problemsphäreder Phänomenologie§ 5. Die phänomenologische Grundhaltung als Sicheinstellenin die wissenschaftlich forschende Haltung und KritikDie entschlossene Abweisung aller Konstruktions- und Weltanschauungsaspirationen ist aber nicht gleichbedeutend mitRückfall in engbrüstige Spezialistik, die sich an isolierten, zufälliggefundenen kleinen Problemen auslebt, sondern besagt:Sicheinstellen in die wissenschaftlich forschende Haltung undKritik. Jede echte Forschung kommt in Gang, erhält sich lebendigund läßt aus sich entwachsen echte Probleme und Horizonteder Bearbeitung aus letzten Ideen, leitenden Tendenzen,die ihr selbst sich ergeben.In der Phänomenologie ist die Einstellung auf sie, die ständignachprüfende und revidierende, nicht nur deshalb notwendig,weil sie jetzt gerade in den Anfängen steht, sondern die letzteTendenzgebung und die ständig zu erneuernde gehärt zu ihrselbst als Ursprungswissenschaft. (Diese Vorlesung selbst hatdie Systematik der Forschung: »Grundproblem«.)Dieser Primat der wissenschaftlichforschenden Tendenz ist inihr selbst ein Offen-Lassen der Perspektive und des ständigNeu-Ansetzens. Alle »Erledigung« ist relativ, d. h. absolut nur,


26 Leben als Problemsphärewenn gesehen in einer bestimmten echten, aber mit anderen»ursprünglich« verwachsenen Problemtendenz.Es gibt in der Phänomenologie als Ursprungswissenschaftkeine Spezialprobleme - d. h. nicht, daß in ihr sogenannte allgemeineund allgemeinste Probleme im Sinne eines unklarenallgemeinen Raisonnements und üblichen Philosophierens gepflegtwerden, sondern es gibt in ihr keine Spezialprobleme,weil und solange es in ihr konkrete Probleme gibt. Beides istnicht dasselbe. Die Phänomenologie gibt erst zu sehen, daßanstelle des Nebulösen, in dem sich die übliche Philosophie bewegt,das Konkrete, das letzte Konkrete phänomenologisch faßbargemacht werden muß und kann, daß allerdings diese Konkretisierungsolcher »abstrakter« Probleme erst in und durchdie phänomenologische Methode sich vollzieht. Die Fugen undFügungstendenzen, Schichten, Horizonte - diese Reden deutenauf einen ganz bestimmten Aspekt.Der >Ursprung< ist nicht ein letzter einfacher Satz, ein Axiom,aus dem alles abzuleiten wäre, sondern ein ganz Anderes;nichts Mystisches, Mythisches, sondern etwas, dem wir in immerstrenger werdender Betrachtung, die sich auf diesem Wegeimmer zugleich selbst erhält, nahezukommen suchen und zwarauf verschiedenen Zugängen - und zwar näherkommen in einerwissenschaftlichen, urwissenschaftlichen Methode und nurin ihr. Nicht etwas, das man sonst noch in anderer Weise erleben,erlebnismäßig in das Leben einfügen und ihm da eineFunktion verleihen könnte. Der Ursprung und das Ursprungsgebiethaben eine ganz ursprüngliche Weise des erlebenden Erfassenszum Korrelat. Jetzt stehen wir ihm noch »fern«. Wasdiese »Feme« zum Gegenstand der Phänomenologie heißt undwas »Nahebringen«, »Näherkommen« heißt, sollen wir verstehenlernen. Wir stehen dem Gegenstand der Phänomenologie sogarso fern, daß wir noch gar nicht wissen, wo er liegt - eine räumlicheRedeweise, ihr Sinn aber ist jetzt schon roh verständlich.Die berühmten und »berüchtigten« >>unmittelbaren Gegebenheiten«der Phänomenologie und phänomenologischen Wissen-§ 6. Zur Gegebenheit des Ursprungsgebietes 27schaft sind »zunächst« »bekanntermaßen« nie und nirgendsgegeben, wir mögen das Leben in seiner aktuellen Strömungsrichtungnach allen Dimensionen durchsuchen. Vielleicht ist dasUrsprungsgebiet uns jetzt noch nicht gegeben - aber wenn diePhänomenologie weiter ist? Auch dann nicht - und nie. Ja,wäre sie absolut vollendet, sie wäre dem aktuellen strömendenLeben an sich doch völlig verborgen.1. Ursprungsgebiet nicht im Leben an sich (dessen Grundaspekt»Selbstgenügsamkeit«, der es zugleich fraglich macht, obüberhaupt ein Ursprungsgebiet des Lebens zugänglich wird).2. Ursprungsgebiet nur radikaler wissenschaftlicher Methodezugänglich, überhaupt gegenständlich nicht in anderer Weiseerlebnismäßigen Erfassens.!§ 6. Zum Problem der Gegebenheit des UrsprungsgebietesDas Gegenstandsgebiet der wissenschaftlichen Philosophiemuß also immer wieder neu gesucht, die Zugänge immer neugeöffnet werden. Das liegt nicht in einem zufällig, historischvielleicht unvollkommenen Zustand der Philosophie, sondern inihr selbst - und das aus mehrfachen Gründen, die zugleich dieKompliziertheit der philosophischen Methodik bestimmen.Die Problemsphäre der Phänomenologie ist also nicht unmittelbarschlicht vorgegeben; sie muß vermittelt werden. Washeißt nun: etwas ist schlicht vorgegeben? In welchem Sinne ist soetwas überhaupt möglich? Und was besagt: etwas muß vermittelt,allererst zur Gegebenheit »gebracht« werden? Und washeißt dann: die phänomenologische Problematik ist dem >Lebenan sich< nicht vorgegeben, sondern erst zu geben in einemaus dem Leben selbst irgendwie motivierten Prozeß? Und zwarhaben wir bei diesem Prozeß zu unterscheiden: a) die erstmalige(im Sinne des überhaupt) radikale und reine Vorgabe dest V gl. dazu Anhang BII., Ergänzung 1, S. 203.


28 Leben als ProblemsphäreProblemgebietes, d. h. zugleich der phänomenologische Aufschlußüber den Sinn dieser radikalen Vorgabe selbst und ihrerMöglichkeiten und innerhalb des überhaupt Gegebenen dieprinzipiell notwendigen Stufen des Fortgangs der Gebung;b) die Ausformungen der verschiedenen Möglichkeiten der Vorgabeund des darin beschlossenen vielartigen Ein- und Ansetzens.Bei solchen prinzipiellen Problemen, wo es darauf ankommt,Forschungsgebiete freizulegen, ist jeder Schematismus von Einteilungenund gar voreilige Zuteilung von Problembereichen inbereitgehaltenen Disziplinen zu vermeiden. Diese scheinbaresystematische, aber verfrühte Ordnung, die Problemlösungenvortäuscht, wird ersetzt durch den beunruhigenden, stets stimulierendenCharakter echter Problemperspektiven.In den einleitenden, historisch umschauhaltenden Vorbetrachtungenwurde scheinbar vielerlei berührt, das sich aberdoch auf weniges zusammendrängt. Es war die Rede von logischenGrundlagen der Wissenschaften, von einem Wertsystemund letzten Werten als Normen der Deutung des Lebens undder Kultur, von der Geschichte des Geistes und seinen Gestalten,von der Entwicklung des Lebens und seiner unendlichenStrömung - irgendwie verschieden gerichtete letzte Fragen, diedas Leben als solches zu fassen suchen, sogenannte Weltanschauungsfragen,die wir jedoch von vornherein scharf ablehntenin einem bestimmten Sinne, so zwar, daß der allgemeineBereich doch bleiben sollte, aber als solcher einerstrengen Wissenschaft.Dann war bei der Betrachtung der »phänomenologischenStrömungen« von Verengung die Rede, Verkehrtheit der Einschränkungauf Psychologie, seelische Erlebnisse. Diese sollendoch eine Rolle spielen nur in einem weiteren und vielleichtprinzipiell anderen Ausmaß. Es wurden abgewiesen wiederumweltanschauliche Verstiegenheiten, die strenge Einhaltungder forschend-wissenschaftlichen Einstellung zum Prinzip erhoben.§ 7. Umgrenzung des Begriffs des Lebens 29Leben - Geistesgeschichte - Erlebnisse - Wissenschaft,davon sogar Urwissenschaft - -? Und doch wieder: das Ursprungsgebietsoll nicht gegeben sein; es sei erst zu gewinnen.Das alles ergab sich uns in einer unstrengen, naiven, vorwissenschaftlichen,>bittweisen< Betrachtung. Zugleich wurdevorgedeutet auf die Merkwürdigkeit, daß das eigentliche Gegenstandsgebietder wissenschaftlichen Philosophie als Phänomenologieim Leben an sich gar nicht anzutreffen sei. Washeißt das: das Gegenstandsgebiet der Philosophie ist nicht vorgegeben?Warum nicht? Woran liegt es? Welche Aufgaben entspringenhieraus? Zunächst muß vor jeder weiteren Überlegungüber die Frage, wie das Urspungsgebiet überhaupt vorgegebensein soll, und weiter, was »vorgeben« und »geben«überhaupt heißen (im Sinne des radikalen phänomenologischenIdealismus), erst einmal die Sphäre studiert werden, inder anscheinend die Notwendigkeit einer ausdrücklichen methodischenGebung des Gegenstandsgebietes der Philosophiebegründet liegt.§ 7. Vorläufige Umgrenzung des Begriffes des Lebens an sichWas ist denn nun dieses >Leben an sich


30 Leben als Problemsphärea) Selbstgenügsamkeit als Erfüllungsform des LebensDas Leben - mein Leben, Dein Leben, Ihr Leben, unser Lebenwollen wir in seiner allgemeinsten Typik kennenlernen undzwar so, daß wir in ihm verbleiben, in ihm selbst in seiner T1eiseuns umsehen, mit der Abzweckung zugleich, daß wir ihm, diesemLeben, immer deutlicher ansehen, daß es innerhalb seinerund in seinem lebendigen Zuge und seinen Richtungen undSchicksalen, in dem, was es immer und überall und da jeweilsverschieden bewegt und in Atem hält, nicht so etwas anzutreffengibt wie »Ursprung«, »Ursprungsgebiet«. Daß eseinen Grundaspekt hat, dieses Leben, den wir als seine»Selbstgeniigsamkeit« (charakterisiert in einer Hinsicht das »ansich«!) bezeichnen werden, ein Charakter, der verschiedeneTypen zuläßt, so verschiedenartige, daß man manche für dasgerade Gegenteil der Selbstgenügsamkeit des Lebens haltenmöchte. Wie denn überhaupt die Rede von der Selbstgenügsamkeitdes Lebens stutzig machen könnte, spricht man dochdavon (Schopenhauer): das Leben sei ein Geschäft, das seineKosten nicht deckt; das Leben sei unvollkommen. Simmel variiertdie Tatsache des Grenzcharakters unseres Lebens, der>FestgelegtheitLeben an sich< an und sehen zu, ob wir einen bestimmtenCharakter an ihm selbst antreffen, der sachlich eineeindeutige begriffliche, bedeutungsmäßige Umgrenzung verlangtund nur in dieser von den Sachen herkommenden undhergenommenen Bedeutungsbestimmtheit künftig im Zusammenhangder wissenschaftlichen Problematik gebraucht werdensoll.1 Vgl. später S. 11Of. und vorher.,\c: § 7. Umgrenzung des Begriffs des Lebens 31Selbst-genügsam - die Erfüllungsform - ihre intentionaleStruktur Grundgerichtetheit jeweils und immer in eine Welt(auch die Selbstwelt) - auf Transzendentes (das auch das faktischImmanente umfaßt); diese »Form« ist die Weise der eigenenRichtung des Lebens, die es gerade auch da nimmt, woes si~h e~üllen und ve:gnü.gen will. Es braucht strukturmäßigaus sIch m~ht heraus (szch mcht aus sich selbst herausdrehen), umseine genumen Tendenzen zur Erfüllung zu bringen. Es selbstspricht sich immer nur in seiner eigenen »Sprache« an. Esselbst stellt sich Aufgaben und an sich Anforderungen, die immernur in seinem eigenen Umkreis verbleiben, so daß es seineBegrenztheiten, seine Unvollkommenheiten zu überwinden diein ihm sich ergebenden Perspektiven auszufüllen sucht im~erwieder und nur »in« dem Grundcharakter, der durch seineeigenste Selbstgenügsamkeit und seine Formen und daraus abgeleitetenMittel . vorgezeichnet wird: daß man gar nicht sieht ,ln .ihm se lb st b leIbend, daß es selbst überhaupt noch anders angesprochenwerden kann. Selbstgenügsamkeit ist eine charakterisierteMotivationsrichtung des Lebens an sich und zwar diedaß es seine Motivation aus seinem faktischen Ablauf selbs~hat..~r wissen nichts von Philosophie und von Theorien der T1elterklärungoder ähnlichem. Die Betrachtung ist jetzt so, daß wirlauter S~lbstverständlichkeiten sagen (das ist heute einmal insofe~m:ht so ganz leicht, als man ängstlich vermeidet, Selbstverstandlichesdzu sage n, . man ge h'h tIm ge fl' Issenthch . sogar ausk em W~ge),. da.s er~ähl~n, was jedem begegnet oder begegnenann (die Emslcht m dIe Zufälligkeit gerade dieser folgenden~::nd so .geord~eten As~ektgebung erhöht gerade das Verste-' wSas SIe erzwmgen WIll); und zwar ist die Tendenz lebendigdi esed'elbstverständl'IChkelt.zu steIgern,'.SIe ganz nahezubringen'un zugleIch damit das Milieu, in dem so etwas wie das Phänomen. dder Selbstg"enugsamk'eItdes Lebens an sich antreffbarWlr .


132 Leben als Problemsphäreb) Mannigfaltigkeit der LebenstendenzenDu , er , sie , wir leben immer in einer Richtung (meist so, daß dieRichtung uns gar nicht ausdrücklich bewußt ist; ich kann michausdrücklich in sie hineinstellen; sie kann mich aber auch überfallenoder sich einschleichen oder schlicht da sein, aber so, daßab und zu eine Richtung ausdrücklich uns in Anspruch nimmt,uns anspricht) - momentan in der: die Vorlesung zu »hören«;ich selbst: sie zu halten. Ich gehe ins Kolleg z. B. morgens, nachmittagsarbeite ich zu Hause. Der eine beschäftigt sich mit dieser,der andere mit jener Wissenschaft. Der arbeitet intensiv,selbständig, jener anfängerhaft, rezeptiv mit ständigen Hemmungen.Ich setze mich zu Tisch; spüre Müdigkeit, braucheetwas, das mich aufkratzt; gehe ins Konzert, höre Bach; ein andermalsehe ich mir Bilder an, lese Gedichte; ich gehöre in einereligiöse Gemeinschaft - das »ich gehöre« (latente und doch wacheTendenz) -, an bestimmten Tagen und Stunden bin ich dannbesonders lebendig in ihr lebend; betätige mich in einer akademischenVereinigung; ich treibe Sport, gehe zum Wählen, binpolitisch tätig - »ich halte« mich immer »irgendwo« »auf«. Ichhabe einen bestimmten, wenn auch variablen, sich inhaltlichbald weitenden, bald sich verengenden Umkreis von »Sachen«,die mein Leben zu einer bestimmten Zeit so »in Anspruch nehmen«,zu anderen Zeiten anders, die »in« der Richtung meinesLebens liegen (wirklich »drin« sind). Ich wachse in einen Berufhinein, es kommt eine gewisse Stabilität ins Leben - auch nurein bestimmter Typus von Tendenz. Mein Verkehr mit anderenMenschen erfährt eine bestimmte Selektion, durch Brauch undandere Tendenzen bestimmt.Man hat bestimmte Überzeugungen und Ideen über und vondem, was mir im Leben begegnet, eine gewisse Anschauung desLebens. Es kommt durch besondere Erfahrungen Neues ins Leben.Man wird von Gegensätzen hin- und hergeworfen. Einmalist dieses Leben in den verschiedenen Richtungen und Wirkungsbereichenoder in allen besonders intensiv, impulsiv. ManI!§ 7. Umgrenzung des Begriffs des Lebens 33geht in etwas auf, ist gefangen in etwas (oder be-fangen). Dannwieder geht alles nur so vorbei, man ist dabei nicht eigentlichbeteiligt. Oder wieder: man freut sich am Leben, lebt in großenHoffnungen, gibt sich aus an andere. Es ist eine Lust zu leben.Dann ist's wieder eine Qual. Man leidet am Leben und seinenUnvollkommenheiten; man wird erdrückt von dem, was es täglich»bringt«. Es kommen Stunden der Verzweiflung; man istzurückgestoßen von allem, was sich aufdrängt. Auf jenes mußman verzichten, anderes fällt einem in den Schoß. Menschen,denen man nahe stand, mit denen man in einer gemeinsamenRichtung lebte, werden einem fremd; andere treten in den engerenBezirk des eigenen Lebens. Man spricht sich ihnen gegenüberaus, befreundet, liebt sich. Man wächst selbst in derGemeinschaft mit anderen. Und in all diesem Leben ist manselbst zuweilen für sich selbst da. Man überdenkt sein Tun undLassen, macht Pläne, »richtet (!) sich ein«; ist mit sich nicht zufriedenbezüglich einer Leistung; man beachtet sich selbst, korrigiertund leitet »sich«, sucht sich vorwärts zu bringen; siehtsich selbst in einer Gesellschaft; oder läßt sich einfach gehen,wie's gerade der Augenblick bringt.c) Der Weltcharakter des LebensDas Vielartige also, was im Umkreis und in dem im fortströmendenLeben stets mitgehenden Umkreis von jedem von unsliegt: unsere Umwelt - Landschaften, Gegenden, Städte undWüsten; unsere Mitwelt - Eltern, Geschwister, Bekannte, Vorgesetzte,Lehrer, Schüler, Beamte, Fremde, der Mann da mitder Krücke, die Dame drüben mit dem eleganten Hut, daskleine Mädchen hier mit der Puppe; unsere Selbstwelt - sofernd~s gerade mir so und so begegnet und meinem Leben geradediese meine personale Rhythmik verleiht. In dieser Um-, Mit-,Selbst- (allgemein Um-)Welt leben wir. Unser Leben ist unsereWelt - und selten so, daß wir zusehen sondern immer wennauch ganz unauffällig, versteckt, »dabei' sind«: »gefesselt:


34 Leben als Problemsphäregestoßen«, »genießend«, »entsagend«. »Wir begegnen immerirgendwie«. Unser Leben ist die Welt, in der wir leben, in diehinein und je innerhalb welcher die Lebenstendenzen laufen.Und unser Leben ist nur als Leben, insofern es in einer Weltlebt.Das Leben begegnet in jedem Moment seines Ablaufs einemanderen Weltstück oder »ist es«. Das Leben ist etwas, das nichterst noch etwas zu suchen brauchte - daß es zuvor leer wäre unddann erst eine Welt suchen müßte, sich mit ihr zu erfüllen -,sondern es lebt immer irgendwie in seiner Welt. So ist das Leben,wie wir es aus ihm selbst und in ihm selbst stehend erfahren,»erjagen«. Das ist für jeden verständlich - in verschiedenemAusmaß. Der wilde Indianer, der von einer erfolgreichenJagd heimkehrt und seinen Stammesgenossen erzählt, wird vonihnen verstanden. Jeder Mensch trägt in sich einen Fonds vonVerständlichkeiten und unmittelbaren Zugänglichkeiten. Es gibtfür bestimmte Gruppen von Menschen gewisse jedem in gleicherWeise zugängliche Weltstücke: die Gebrauchsgegenständedes täglichen Lebens, Verkehrsmittel, »öffentliche« Einrichtungen(die »Öffentlichkeit« - »der Markt« des Lebens), gewissejedem zugängliche Zweckzusammenhänge: Schule, Parlamentusf. So lebt jeder in seiner lebendigen Gegenwart. So lebten dieMenschen früher - das lassen wir uns erzählen von der Geschichte.Es gab früher vielleicht andere Berufe, die Menschendachten ganz anders. Dieses Leben ist nun einmal so. Das Leben- so unvollkommen es ist, so gewiß es nie voll befriedigt,fragmentarisch bleibt und nach Vollendung ausschaut; auchdieses Suchen und Letzte-Erfüllung-finden-wollen, das »Entwerfen«von Welt- und Lebensanschauungen (das Zusammenschauenin ein Ganzes und Einziges), die das Leben deutensollen, sind Schöpfungen des Lebens, des Lebens eines bedeutendenMenschen - Propheten -, der lebt in der besonderen Tendenz,eine Gesamtschau über das Leben zu bekommen und sieanderen zu verkünden - Anschauungen, die selbst vielgestaltigsind und als Überzeugungen in das Leben vieler anderer einge-§ 7. Umgrenzung des Begriffs des Lebens 35hen. Dasselbe gilt von der Kunst - die Werke zeitgenössischerKünstler und die von früheren sind uns zugänglich, wir könnenin ihnen leben, ebenso wie wir aufgehen können in einerhistorisch überlieferten Religion. Das Leben erfährt gewissebestimmte Ausprägungen und Charakterisierungen und Stellungenseiner zu ihm selbst. Kunstwerke, Wissenschaften, Maschinen,religiöse Gegenstände - sie alle sind im Leben.Es gibt auch Wissenschaften von diesem Leben. Menschen,die in der Tendenz leben, das vergangene Leben in all seinerVielgestaltigkeit seines Gewordenseins zu erforschen - die Geschichtswissenschaft.Es gibt Wissenschaften, die bestimmteSeiten unserer Umwelt, in der wir leben, spazieren gehen, diewir in unsere Dienste stellen, (Luft, Licht, Wärme, Wasserfälle,das Holz der Wälder, Kohlen, Pflanzen, Tiere, uns selbst usf.)systematisch erforschen als Naturwissenschaften, Wissenschaftenvom wirtschaftlichen Leben. In all diesen Wissenschaftenleben die Menschen und zwar systematisch erkennend: das, wasnaiv-praktisch erlebt wird, in einer bestimmten Hinsicht auf einehöhere Stufe heben. 2 Sogar vom Menschen selbst, der das Lebenlebt, gibt es und will es eine Wissenschaft geben: vom Psychischen.Das Leben wird gelebt, insofern die Lebenden in ihmaufgehen in irgendeiner Richtung.Das Leben genügt sich selbst auch dort, wo es in Unvollkommenheiten,in Ungenügendheiten leben muß. Es lebt in sichund seinen antreffbaren Möglichkeiten. Es dreht sich nie aussich selbst heraus und was es lebt und was ihm auf seinen verschiedenenWegen begegnet, hat Lebenscharakter, ist im Lebenselbst da: mein Schreibtisch, Sie als Hörer, die Bibliothek,Sätze der Physik, geschichtliche Urkunden, Texte, Preisverhältnisse,wirtschaftliche Konjunkturen, politische Konstellationen,Kunstwerke, Kirchen, religiöse Veranstaltungen, Gott. So istnun einmal das Leben, so gibt es sich. Es wirkt sich aus in seinerjeweiligen Welt- das >Leben an sich


36 Leben als Problemsphäred) Die Selbstverständlichkeit des Lebens als radikales Problemeiner Ursprungswissenschaft vom Leben 3Vielleicht ist das alles sehr verworren, verschwommen, unscharfgezeichnet; nur weniges berührt, worin sich das Leben auslebenkann. Aber was immer im ständigen jahrelangen Fortgang solchenErzählens in seinem immer mehr ins Einzelne, MomentaneGehen bekannt würde - immer wieder dieses ganz Selbstverständliche:Alles Leben lebt in einer Welt. Was überhaupt anWelten und Weltstücken begegnet, begegnet im lebendigen Stromund Zug des Lebens.Aber wozu das alles - eine Trivialität neben die andere stellenund dazu noch ganz trocken referierend? Wozu sich das sagenlassen? Zu dem Zweck, daß diese Trivialitäten immer trivialerwerden? Wir müssen uns, ohne je wissenschaftliche Aspirationen,ohne irgendwelche Theorie oder Erklärung oder Hypotheseim Hintergrund des Denkens zu halten, in diese Trivialitätenhineinhören, sie ganz auskosten, so intensiv, bis diesetrivialsten Trivialitäten absolut problematisch werden. Aber wiesollten sie das? Was kann an diesem aufgezeigten Charakter des>Lebens an sich< problematisch werden? Sehr vieles und allesund immer wieder in seiner - des Lebens - Weise. Fraglichkeitenüberall, die selbst wieder überwunden werden: Problem derGeschichte, Kunstgeschichte, technische, wirtschaftliche Fraglichkeiten,Fraglichkeiten der reinen Lebensführung und -haltungbis zu dem der Weltanschauung. Aber gewinnen wir mitall diesen Fraglichkeiten etwas Neues? Die liegen im Lebenselbst und werden von ihm in seiner Weise überwunden. - Problematisch,fraglich wofür und inwiefern? Was heißt problematischim Sinne einer phänomenologischen Ursprungsfrage?Problematisch im Sinne eines echten radikalen Problems derUrsprungswissenschaft vom Leben. Denn wir sehen: auch religiöseGlaubensinhalte, weltanschauliche, welt- und lebendeu-, V gl. Anhang AJII., Beilage 1, S. 169.§ 7. Umgrenzung des Begriffs des Lebens 37tende Überzeugungen, die sich auf das Leben und seine Fülleerstrecken, geben nur bestimmte und verwirrende Gesamtanschauungendes Lebens. Im Glauben an einen persönlichenGott, in pantheistischen, biologistischen, weltanschaulichenÜberzeugungen, in einer ästhetischen Weltanschauung sehe ichdas Leben in seiner Fülle, das Leben in einer bestimmtenRhythmik und Färbung. Ich lebe entsprechend in ihm als religiöserMensch, künstlerischer Mensch, als Men~ch mit der u~dder mir angeeigneten Weltanschauung - auch hler das Leben meiner Ttelt. Auch dann, wenn ich Ursprünge prüfe für diesesLeben, gerade dann wird mir ja die ganze Belanglosigkeit undUnmöglichkeit einer Ursprungswissenschaft klar.Im religiösen Glauben habe ich die religiöse Evidenz der Abhängigkeitvon Gott, von dem alles Leben ausgeht, zu d~~ eszurückkehrt. Oder in einer Weltanschauung habe ich die Uberzeugungvon der bestimmten Qualität des Weltgrundes unddes Lebens. Vielleicht läßt sich all das nicht strengwissenschaftlichbeweisen, aber annähernd. Und vielleicht ist wissenschaftlicheEinsicht gar nicht die höchste, und wenn ich wissenschaftlicheErkenntnis erstrebe, dann doch echte kritische, dieihre eigenen Grenzen immer hält und echt bleibt; und es bestehtüberhaupt keine einsichtige Notwendigkeit dafür, daß dieWissenschaft oder eine Urwissenschaft das letzte Wort habensoll.Ich kann mich doch auch mit naturwissenschaftlichen Hypothesenbegnügen bezüglich der Entstehung und des Ursprungsdes Lebens. Wozu eine gewagte Philosophie? Und gar nocheine solche, die ein Ursprungs gebiet für das Leben an sich undseine Welten behauptet, wo doch auch die Ursprünge für dasLeben Weltcharakter haben müssen, etwas sind, dem ich imLeben weltanschaulich oder religiös oder künstlerisch begegnenkann. Urgründe und Irrealitäten, aus denen ich in einer bestimmtenWeise das faktische Leben an sich ableite.Wozu also dieses hoffnungslose Aufzählen von Trivialitäten,Wo ich doch nie aus dem Leben herauskomme? Wie in dieser


38 Leben als Problemsphäreständig flutenden Fülle von Leben und Welten eine strenge Wissenschaftetablieren wollen? Was soll Ursprungsgebiet des Lebensda besagen und wie soll es in strengwissenschaftlicher Forschungaufgebrochen werden? Wie soll es etwas sein, das nur soüberhaupt zugänglich wird?§ 8. Erneuter Anlauf" der Reliefcharakter des Lebens an sichDie Betrachtung auf diesen Seiten (33-38) ist nicht sauber undin den einzelnen Motiven gesondert und geklärt. Es ist dahervom Folgenden aus zurückzusehen, das Vorstehende noch einmalneu darzustellen - naiv erzählend.Wir sehen das Leben an sich in den mannigfaltigsten Gestaltenseiner Tendenzen. Wir trafen eine Reihe von Überdekkungs-und Verschlingungs- und Durchdringungsvariationender aktuellen oder habituellen Lebensrichtungen und ihrer jeweiligenTypen des Vollzugs. Die Charakterisierung als >>UnübersehbareMannigfaltigkeit« ist ganz formal, schon gesehenvon der Tendenz einer ebenso konstruktiven Auffassung der»Begriffsbildung« und theoretischen Bearbeitung der ganzenWirklichkeit durch die Wissenschaft. Zudem wird durch die besagteformale Charakterisierung jede Ansatzmöglichkeit für einechtes Verstehen der Struktur des Umwelterlebens verbaut, jasogar die falsche Meinung begünstigt, als läge das Charakteristischeim viel artigen Wechsel der sich aufdrängenden Inhalteals solcher. Es ist also nicht so sehr die inhaltliche Fülle und diein ihr als solcher möglichen Wechselfälle neuer sachlicher,sachlich anders gruppierter Lebensgestalten als der Variationsreichtumdes Richtungsstils.In diesem allgemeinsten Aspekt beachten wir etwas, was ichden selbst auf- und ab schwankenden Reliefcharakter des vollenLebens an sich nenne. Gewisse Herausgehobenheiten, die innerhalbdes Lebens verbleiben, in seinem Verlauf funktionalmitgehen.§ 8. Der Reliefcharakter des Lebens 39Als solche reliefartigen Momente im Aspekt des Lebens ansich finden wir:1. Die Umgebungs-, Umkreis-, Umweltcharaktere, diesich, wenn auch meist nicht und gerade nicht ausdrücklich, ineiner gewissen Abgehobenheit geben, denen man im Leben begegnetals in einer - paradox zu reden - zurückgesetzten, nichtweiter in Acht genommenen Ausgezeichnetheit. Dahin gehörendie nächste Umwelt, die nächste Mitwelt, die nächste Selbstwelt.Sie machen aus ein gewisses, in seinem Ausmaß labilesBesitztum, einen Fonds von Verständlichkeiten und unmittelbarenZugänglichkeiten.2. Das Leben in dieser Umwelt, das in ihr sein, die umweltlicheExistenz, diese labile Zuständlichkeit bestimmt sichaus einem merkwürdigen Sichdurchdringen der Um-, Mit- undSelbstwelt, nicht aus ihrer bloßen Summe, so zwar, daß die Bezügedes Sichdurchdringens schlechthin nichttheoretischer,emotionaler Art sind. Ich bin nicht der Zuschauer und am allerwenigstengar der theoretisierend Wissende meiner selbst undmeines Lebens in der Welt.3. Ferner treffen wir an das Moment der Stabilisierung,nicht im Sinne der Stillstellung der Lebenstendenzen, sondernihres Festgespanntwerdens in mehr oder minder scharfer Weisein sich durchhaltende eindeutige Tendenzen.Die bisher beachteten reliefartigen Ausformungen des Lebensan sich haben das Eigentümliche, daß diese Ausformungenim Fließen des Ablaufs nie recht zu ausdrücklichen Abgehobenheitenwerden - eine neutrale Art des Mitgehens undMitgenommenwerdens -, sondern dem Leben seine neutrale,graue, unauffällige Färbung geben und gerade die »Alltäglichkeit«bestimmen.4. Diesen meist unauffällig mitschwimmenden Abgehobenheitengegenüber gibt es solche, die eine gewisse Zähigkeit,Vehemenz, ein Hintreiben zur Tyrannis und radikalen Ausformungzeigen: wissenschaftliches, künstlerisches, religiöses,politisch-wirtschaftliches Leben. Sie drängen nach Reinheit


40 Leben als Problemsphäreihrer Ausprägung und nach Abstoßung des ihnen Fremdweltlichen,aber zugleich zu einer Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichesüber das ganze Leben - das in aktuellea Erfahrungenaber zugleich in theoretisierend weltanschaulichen Betrachtungen.ZWEITES KAPITELDas faktische Leben als Mannigfaltigkeit sichineinanderschiebender Bekundungsschichten§ 9. Zum Phänomen der SelbstgenügsamkeitMan spricht von religiösen, künstlerischen, naturwissenschaftlichenZeitaltern. Die Ausformungstendenz des Lebens selbststeigert sich in besonderer Weise und zeigt besondere Typen desÜbergreifens über alle Lebensgebiete in dem, was wir heute>Weltanschauung< nennen.Diese Reliefcharaktere des Lebens sind dann, aus seinemTendenzcharakter her gesehen, bestimmte abgehobene Weisender Erfüllung der Tendenz, Formen der typischen Verläufe desSich-ins-Ziel-bringens der Lebenstendenzen.Die Erfüllung ist nie endgültig. Der Fraglichkeitscharakterallen Lebens, der mit seinem Tendenzcharakter im Innerstenverwachsen ist [phänomenologisches Grundproblem], löst immerneue Zielansetzungen, davon in Wirkung gebrachte MotivundMotivationsmannigfaltigkeiten aus.Das prinzipielle Wie der Motivierung neuer Tendenzen unddas prinzipielle Wie ihrer Verlaufs- und Erfüllungsformen istdas, was als »Selbstgenügsamkeit« des Lebens an sich terminologischumgrenzt werden soll. Das Phänomen der »Selbstgenügsamkeit«selbst kann innerhalb des Lebens an sich, imVerbleiben innerhalb seiner, nicht gesehen werden. Es mußaber jetzt schon auf es vorgedeutet werden.Die Motivierung der Tendenzen und neuer Tendenzen kommtimmer aus dem gelebten Leben selbst, und die Tendenzen erfüllensich wiederum innerhalb des Lebens in und durch seine typ i -sehen Verlaufsformen. Nicht, welche bestimmte Religiosität und


.Il42 Bekundungsschichten des LebensReligionsform, nicht, welche bestimmte Weltanschauung, nicht,welches bestimmte künstlerische Erleben gerade in dieser oderjener (zufällig) historisch motivierten Gestalt Erfüllung geradediesem historisch morphologisch motivierten Sinn gibt, sonderndaß die Erfüllung überhaupt eine solche, überhaupt etwas ist,das sich im Leben aus seinen eigenen Formen heraus vollzieht,daß das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich ansprichtund sich antwortet, daß strukturmäßig das Leben sich nicht aussich selbst herauszudrehen braucht, um sich selbst seinem Sinnenach zu erhalten, daß seine Struktur ihm selbst genügt, sogarseine Unvollkommenheiten, seine Ungenügendheiten immerwieder irgendwie zu überwinden, in allen möglichen Gestaltenund Zufälligkeiten und Bedingtheiten - das meint der Sinn von»Selbstgenügsamkeit«. Er trifft einen Strukturcharakter des Lebens,der es auf sich selbst stellt: daß es sich selbst ein »an sich« ist.Es trägt in sich selbst strukturhaft (das alles inhaltliche Wie undWas im Innersten durchherrscht) die von ihm selbst benötigtenVerfügbarkeiten als Möglichkeiten der Erfüllung der ihm selbstentwachsenden Tendenzen.Jede Fraglichkeit also (nicht nur theoretisch-wissenschaftliehe)erhält ihre Antwort in der Strukturform des Lebens an sich. 1Auch jedes Ursprungsgebiet wird sich im Leben selbst und vonseiner Grundstruktur durchherrscht geben müssen, sofern esüberhaupt so etwas gibt, was doch jetzt sehr fraglich gewordenist. Denn in der Religion, in der Weltanschauung sind doch dieletzten Fraglichkeiten lebendig und in irgendeiner Weise zur Beantwortunggebracht. Bessere Weltanschauungen, lebendigereReligion ändern prinzipiell nichts. Sie stellen das Leben als Ganzesin Frage und geben ihm einen letzten Sinn - und gerade weildas letzte Fragen sind eben nur in religiöser Antwort, in weltanschaulicherDeutung, nicht aber etwa streng wissenschaftlich.Was soll da die Rede vom Ursprungsgebiet des Lebens an sich,das in strenger Methode zugänglich werden und aufgehellt wer-I Vgl. S. 36f.§ 10. Selbstwelt, Mitwelt, Umwelt 43den soll? In welchem strengwissenschaftlichen Sinne soll dasLeben an sich überhaupt fraglich werden können?§ 10. Bekundungsgestalten von Selbstwelt, Mitwelt, UmweltBevor wir jedoch diesen Problemen wirksam nachgehen können,bedarf es einer erneuten Betrachtung des Lebens an sich. Washeißt das? Eine erneute Betrachtung, ein nochmaliges Erzählen,Konstatieren des bereits Beachteten oder eine speziellere, nochkonkretere Einzelheiten beibringende? Das würde uns, wo offenbardas Absehen auf Prinzipielles geht, nicht weiterbringen.Wenn wir also das Leben an sich, so, wie es sich unmittelbarin seiner Selbstverständlichkeit gibt, erneut durchlaufen, so geschiehtdas in einer neuen Absicht. Wir sehen es ab auf anderes- daß wir so etwas bezüglich des Lebens an sich überhauptdurchführen können, bezeugt nur erneut das, was wir im folgendenzu vorläufigem Verstehen bringen wollen -, an ihm aberSchlichtantreffbares, worüber wir uns nicht weiter Gedankenmachen, was aber, sobald das Absehen ausdrücklich daraufgelenkt wird, einleuchtet.Bei der vorstehenden Betrachtung bemerkten wir den Reichtuman Tendenzen, ihrer Modifikationen und Durchdringungsgest~l~e.~.Zugleich damit war die Rede von einer gewissenS~blhtat des Lebensstils, seiner Ausformungen, der HerausbIldungeines Umkreises von Verständlichkeiten.Es ist die Rede von Ihrem letzten Semester. Man unterhältsich lebhaft darüber. Dabei denken Sie nicht an jede einzelneS~kunde der drei Monate, an das, was in jeder geschah. Siee~lIlnern sich vielleicht nicht mehr an alles, haben aber bestunmteBegebnisse, Eindrücke, Vorlesungen, Diskussionsabende,Wanderfahrten, Menschen gegenwärtig. Aber kein einzelnesdieser Begebnisse ist das Münchner Semester z. B., aberes steht in Ihrem Leben in einer ganz bestimmten, wenn auchverschwommenen Charakterisierung. Wenn Sie sich erinnern


44 Bekundungsschichten des Lebensund mit anderen darüber sprechen, das drückt Ihnen das Semesteraus. Es selbst ist ja nicht mehr wirklich.Die Vorlesung bei Max Weber: es waren eine ganze Reihe;einmal kam er in diesem Anzug, dann in jenem; einmal spracher sehr lebhaft, dann weniger; einmal unverständlich, dannleichter einmal saßen Sie an diesem Platz, dann an jenem; einmalka~en Sie zu spät, das andere Mal mußten Sie früher weg;einmal war das Kolleg zum Brechen voll, dann wieder mäßigbesucht. »Die Vorlesung von Max Weber Sommersemester 1919in München« - die verschiedenartigsten Begebenheiten, indenen sich ausdrückt: »die Vorlesung«.Oder Sie wollen Kants »Kritik der reinen Vernunft« sich anschaffen,kommen zu einem, nehmen wir mal an, ganz vorzüglichenBuchhändler. Er legt Ihnen vor: den Band aus der Ausgabeder Berliner Akademie, den aus der von Cassirer, dann dieHartensteinsche Ausgabe, die von der grünen PhilosophischenBibliothek, die Erdmannsche, die Reclam-Ausgabe oder gareine Erstausgabe von 1781: jede verschieden nach Format, Umfang,Papier, Satzbild, Lettern; immer dasselbe, die »Kritik derreinen Vernunft«. Dasselbe ist eben dabei das, was drinnensteht. Das ist verständlich.Angenommen, Sie haben das Exemplar gekauft im 2. Semester.Sie setzen sich nun eifrig dahinter. Nach ein paar Wochenerlahmt das Interesse. Sie werden einmal gefragt, was da drinsteht, und sagen so, wie Sie's auffassen. Nach zehnsemestrigemStudium der Philosophie werden Sie wieder gefragt, was drinsteht. Was Sie sagen, wird ein anderes Bild geben; der Inhaltwird sich in neuen, vielleicht besseren Gestalten bekunden.Sie kommen mit einem bedeutenden Philosophen ins Gespräch,der sich über die »Kritik« äußert und merken: der faßt mancheswieder anders auf; was darin steht, stellt sich anders dar.Was in den verschiedensten Ausgaben drin steht oder wasin einer mit der Schreibmaschine hergestellten Abschrift drinsteht, ist einmal ein einheitliches, verständlich Gemeintes, dannwieder ist das Gemeinte wieder so aufgefaßt, dann so; es drückt§ 10. Selbstwelt, Mitwelt, Umwelt 45sich in verschiedener Weise aus, stellt sich dar. In einer Mannigfaltigkeitvon Begebenheiten bekundet sich die VorlesungMax Webers, »Kants Kritik der reinen Vernunft«, das MünchnerSemester. Alles, dem wir im lebendigen Leben begegneten, bekundetsich in einem Zusammenhang von Begebenheiten. DieTendenzen und Tendenzerfüllungen drücken sich immer irgendwieaus. Dabei interessiert uns nicht oder meist nicht, wiesich alles und jedes gerade darstellt [oder wenn, dann nur in derselbstgenügsamen Weise des Lebens an sich].Umspringen des Bekundungszentrum~, Schichtwechsel- eigenartigePhänomene. Auch wenn ich auf das eingestellt bin, worinsich mir in der betreffenden Situation etwas bekundet, zeigtsich, wie dieses Darstellende selbst nur wieder in Bekundungensich gibt. Auf den Einband selbst eingestellt, sehe ich ihn in verschiedenenBeleuchtungen, von verschiedenen Seiten, in verschiedenenStimmungen, und das gilt wieder von den einzelnenFärbungen, Verzierungen und Aufdrucken.Auch die Mitwelt gibt sich in der Weise, daß die betreffendenMenschen mit mir zusammenleben, insofern sie sich in einzelnenHandlungen, in ihrem Verhalten, Art des Redens, des Schweigens,Kleidung, Launen, Geschmack sich mir darstellen. Sie bekundenihr Selbst in solchen Erscheinungen - Bekundungsgestalten,die bei näherer Betrachtung selbst wieder sich in irgendeinerWeise ausdrücken. Das gilt nicht nur von den einzelnenMenschen, sondern von Gruppen solcher als Gruppen: eine Familiegibt sich durch bestimmte Bräuche, durch das gegenseitigeVerhalten der Glieder zueinander, vielleicht sogar gerade durchdie Gegensätzlichkeit der Grundanschauungen von Eltern undKindern, durch deren verschiedene Interessen innerhalb der Familiengemeinschaftselbst; dasselbe von Clubs, Vereinen, wissenschaftlichenGesellschaften bis zu den großen sozialen Verbänden(vgl. religiöse Gemeinschaften und Sekten).Die Umwelt, Mitwelt begegnet in solchen Bekundungen. Aberauch die Selbstwelt steht und lebt so in meinem Selbstleben.Das Gestern, Vorgestern, der letzte Sonntag, die letzten Ferien,


46 Bekundur-,gsschichten des Lebensdie Zeit am Gymnasium - meine damalige Selbstwelt und sogarmein eigentliches Selbst drücken sich in bestimmten, mirwiderfahrenen Begebnissen aus, und zwar sind diese Begebnissemeist in ganz bestimmter Weise mit meiner aktuellenSelbstwelt in Zusammenhang; nie so, daß sie lediglich meineErlebnisse waren, sondern nur so, daß ich selbst eine bestimmteZuständlichkeit hatte, in einer solchen Ich-selbst war. Dieserdamalige Zuständlichkeitscharakter hält in irgendeiner Ausdrucksformdie Vergangenheit mit der aktuellen Gegenwart imZusammenhang, so daß ich durch jene Zuständlichkeit in bestimmterWeise motiviert auch in bestimmter Weise zur Vergangenheitzurückgehen kann.!§ 11. Wissenschaft als Ausdruckszusammenhangdes faktischen Lebensa) Der Aufbau der historischen WissenschaftenDiese neue merkwürdige Struktur des lebendigen Lebens ansich, daß sich in ihm alles irgendwie ausdrückt, gilt auch für diebesonderen Ausformungen seiner Tendenzen, z. B. für die Wissenschaft.Diese nimmt ihren Ausgang in der Umwelt. Das ist ihrnächster Boden, auf den sie immer wieder in bestimmter Weisezurückgreift.Die Umwelt t , die sich immer neu darstellt und sich in neuenSeiten, aber immer als mehr oder minder die eine und selbigegibt, kann, muß nicht Ausgangsboden verschiedener Wissenschaftenwerden (»Eifahrungsboden«). Umweltliche Dinge werdenin eine neue Tendenz genommen; selbst sich so und so darstellendwerden sie zu einem Bekundenden: z. B. beim Grabenanläßlich eines Baues einer Wasserleitung stoßen die Arbeiterauf Steine - regelmäßige Anordnung; einer findet metalleneDinge, runde Plättchen mit Zeichnungen - »altes Geld«, wird! V gl. - auch zum Folgenden - Anhang AJIL, Beilage 2. S. 170.! Später, S. 54ff.§ 11. 'Wissenschaft als Ausdruckszusammenhang 47er sagen; der »Sachverständige« wird gerufen: es sind römischeMünzen, Reste eines römischen Kastells. Eine längst versunkeneWelt »erscheint« in dem Erdstollen - unmittelbare Vorfindlichkei~.enunserer Umwelt deuten auf ein Vergangenes. Wirreden von Uberresten, Quellen der Geschichte.(Merkwürdig beschriebene Pergamentfetzen auf der Innenseiteeines schweinsledernen Einbandes von irgendeinem altenKodex: die längst gesuchte Papsturkunde.2)Umweltliches, was wir in einer gewissen gleichgültigen Uninteressiertheitantreffen und >liegen< lassen, kann »Überrest«,»Quelle« sein, in der sich eine vergangene Welt bekundet.»Quellen sind Resultate menschlicher Betätigungen, welche zurErkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entwederursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz,Entstehung und sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignetsind.«3 Alles auf echte Motive zurückzuleiten. »Was imeinzelnen Falle als Quelle anzusehen ist [Quellencharakterselbst nicht mehr Problem!!], hängt von dem jeweiligen Forschungsobjekt,also von der Thema- oder Fragestellung ab.«4Quellenmaterial: A. Überreste; B. TraditionadA) a. Überreste im engeren Sinneb. Denkmäler (Inschriften, Monumente, Urkunden)adB) a. bildliche b. mündliche c. schriftliche TraditionI I IhistorischeGemäldehistorischeSkulpturenmündlicheErzählungSageAnekdoteSprichwörter2 Vgl. Anhang B/L, Ergänzung 2, S. 203f.AnnalenChronikenBiographienRomane3 E. Bemheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie,5. u. 6., neu bearb. u. vermehrte Aufl. Leipzig 1908, S.252 [Hervorhebungenvon Heidegger].4 A. a. 0., S. 253.


[I48 Bekundurzgsschichten des LebensGanz ungeklärte Klassifikationen, nicht etwa nur fließend, wieBernheim meint 5 .Ebenso kann sich aus mitweltlich Erfahrenem - Erzählungen,Berichten, Überlieferungen - Quellenartiges ausfürmen: Tradition.Wie sich aus diesen Umweltvorfindlichkeiten überhaupteine nicht anschaulich aktuell antreffbare und prinzipiell nichtantreffbare Welt aufbaut, das hat seine großen Rätsel, die entferntnoch nicht auch nur überhaupt als solche erfaßt sind.Aus Umweltvorfindlichkeiten, aus Mitweltvorfindlichkeitenschneiden sich typische Verläufe heraus, die irgendwie einenRückgang ermöglichen. Wozu? Zur Vergangenheit. Wie istdiese selbst da? Doch auch nur in Bekundungen. Umweltvorfindlichkeiten,Mitweltvorfindlichkeiten sind immer solche eineraktuellen Gegenwart, geben sich in dem spezifischen Kreisvon zugänglicher Verständlichkeit der betreffenden Gegenwart.Entsprechend vollzieht sich im Medium der jeweiligen Verständlichkeitsstufeder in die Vergangenheit zurücksehendenGegenwart die Ausdeutungen von Vorfindlichkeiten als Quellen»für« eine Vergangenheit und ihre historische Erkenntnis.Diese Vergangenheit schwebt selbst schon, wenn auch dunkel,fast mythisch, aber in irgendeiner von irgendwoher überliefertenBildgestalt vor und findet nun neuen Ausdruck durch dieQuellen. Dieser neue Deutungszusammenhang aber ist, soferner einer Gegenwart entwächst, selbst wieder ein solcher ineinem bestimmten, gegenwarts bestimmten Aspekt und kannzugleich mit der dargestellten Vergangenheit selbst in eine neueVergangenheitssituation rücken und selbst den neuen, von derspäter kommenden Gegenwart aus gesehenen Deutungen undAusformungen unterliegen.Die ganz selbständigen und eigenartigen funktionalen Ausdruckszusammenhängebedürfen einer systematischen Erforschung,für die noch nicht einmal die primitivsten Grundbegriffegeklärt sind.'>A. a. 0., S. 258 f. - Vgl. Zettel »Quelle« [im Nachlaß nicht auffindbarJ.§ 11. Wissenschaft als Ausdruckszusammenhang 49[Wer diese Zusammenhänge auch nur aus der fernsten Ferneroh gesehen hat, für den wirkt der historizistische Skeptizismus,der ständig sich selbst ins Gesicht schlagend nichtgeschichtlichgrundobsolet redet, einfach komisch. Diese weltgeschichtlicheKomik, die sich in dem »europäischen« Buch >>>Untergang< desAbendlandes« ausprägt, wird aber gleich zur Posse, wenn diegeistigen Wichtigtuer damit spielen und ganze Jugendbewegungendaran krank werden. Aber vielleicht ist diese radikaleDurchseuchung mit diesem Gift notwendig, damit wir oderkommende Geschlechter überhaupt wieder hören auf das, wassie im Innersten trifft.]Die bestimmten Ausformungstendenzen des Lebens bewegensich in eigenen Welten, die selbst wiederum wissenschaftlicherBetrachtung zugänglich werden. Im Gebiete der bildenden Kunstund der Kunst überhaupt begegnen wir wiederum anderen Ausdrucks-und Bekundungszusammenhängen und -schichten, diesich dann, sofern sie noch gar Gegenstand der kunstgeschichtlichenErforschung werden, im höchsten Maße komplizieren(Literatur- Literaturwissenschaft; Musik - Musikwissenschaft).Trotzdem begegnet man heute bei den beliebt gewordenen methodologischenErörterungen den ungeheuerlichsten Naivitäten.Dasselbe gilt vom Religiösen; man spricht in diesem Gebietganz ausdrücklich von Symbolik - eine bestimmte Weise der Bekundung:religiöse Kulte, Riten usf., Gebete, Kultstätten, Kultgemeinschaften.[Man kann heute das dickste Buch über das Gebetschreiben, ohne auch nur ein ernsthaftes Problem zu sehen'aber man hat die Chancen, ein »großer« Religionshistoriker z~werden, denn die Wissenschaft wird nur noch bemessen nachdem Quantum der aufgezählten Literatur.]Wir sahen bisher: Bekundungszusammenhänge in der Um-M' 11- un d Selbstwelt. Das, was das Leben angeht, worin es auf-geht,stellt sich immer dar, gibt sich »irgendwie«. Diese Bekundungszusammenhängewerden komplizierter, sobald sich aufden Vorfindlichkeiten des Lebens Wissenschaften aufbauen _bestimmte Weisen der Ausformung. Wir beachteten bisher hi-


150 Bekundungsschichten des Lebensstorische Disziplinen, die ihren Gegenstand als vergangenen gegenständlichhaben oder ihn sich gegenständlich machen. Dasist aber nur eine Komplizierung der Ausdruckszusa~m~nhänge,die wissenschaftliche Einstellung auf die Welt mIt sIchbringt. . .,Daß sich irgendetwas, etwas Erlebtes, immer ~rgenduJl~ gtbt(was mir begegnet - ich selbst, der ich mir verschIed~nartIg .. begegne),können wir auch so formulieren, daß es ersch~m~, Phanomenist. Mehr darf vorläufig nicht in den Ausdruck hmemgedeutetwerden und es dürfen sich darin auch nicht versteckterweisefestsetzen 'Bedeutungen, die aus irgendwelchen Philosophienoder philosophisch erkenntnistheoretischen St~n~punkten bekanntsind, sondern Phänomen meint jetzt ledIghch den nochganz vagen, aber aus der Anschauung geschöpften.Be:undungscharakter,den alles, dem wir lebend begegnen, zeIgt.b) Der Bekundungszusammenhang der NaturwissenschaftenDenken wir an die biologischen Disziplinen, die heute unterdem allgemeinen Namen beschreibende Naturwiss~nscha~tenbekannt sind und sehen nicht auf das Faktum und dIe faktIschjeweils ausgesprochenen Einstellungstendenz~n,. ~ondern ac~tenwir auf die Grundmotive, irgendwie den pnmitIven und fruhergebildeten Lebensgestalten nahezukommen, so ergebensich mit dieser Tendenz neue Gestalten von Bekundung undAusdruck, die aus sich selbst heraus verstanden werden müssendie man nicht erklären darf durch Beistellung von mehrod~r minder gewagten Analogien mit den mathematischen Naturwissenschaften.76 Nochmals beachten: Vorfindlichkeiten können treten in die Funktion von»Quellen für« - Indikatoren. Es sind noch andere möglich.I7 Schief! und unscharf! Zusammenhang mit dem Vorhergehenden und Fo -genden nicht klar. Organismus (Leben); Historische Bekundungsform - »Quellen«des Rückganges - der Einfühlung!' (Vgl. Kroner, Das Histori~che ~nd (heBiologie!) r = Hinweis auf Kroner, Das Problem der historischen BIOlogIe. Berlin1919.]§ 11. Wissenschaft als Ausdruckszusammenhang 51Aber auch da begegnen wir und zwar einem ganz besonderenBekundungszusammenhang, einem solchen, den man auchheute noch gern, trotz seiner beschränkten Eigentümlichkeit,zum Prototyp von Bekundung machen möchte. Man spricht geradein diesem engen Bezirk wissenschaftlicher Einstellung, derin einem bestimmen Sinne seinem Gegenstandsgebiet nachallerdings die ganze Welt umfaßt, was immer wieder und ganzversteckterweise zu verkehrten Verabsolutierungen und unechtenRangordnungen führt - gerade in der mathematischen Naturwissenschaftist die Rede von Phänomen, Erscheinung. DerAusdruck hat hier eine ganz bestimmte Nuanciemng erfahren,z. T. unter der Nachwirkung bestimmter erkenntnistheoretischerGesichtspunkte.Man bezeichnet die Naturwissenschaft (und denkt dabei vorallem an die mathematische Physik) als Wissenschaft nicht vonden Körpern, sondern von den physischen Phänomenen, in denensich die Natur bekundet, erscheint. Der Naturwissenschaftler,sagt man, geht aus von den gegebenen Dingen, ihren Eigenschaften,Zusammenhängen, den farbigen, tönenden, warmenusf. Dingen, so, wie sie in der »unmittelbaren äußeren Erfahrung«gegeben sind. Diese Welt, die sich in der sinnlichen Anschauunggibt, ist für den Physiker die phänomenale Welt, sofernsich in ihr die Natur als Gegenstand seiner Wissenschaftdarstellt. Zwar kehrt der Physiker immer wieder auf diese Weltder gegebenen Phänomene zurück, nimmt von ihnen den Ausgang,sie ist aber subjektiv, bloße Erscheinung, aber so, daß deranschauliche Gehalt als wirklich aufgefaßt wird. Es ruht aufihm gleichsam der Glaube, das anschaulich Gegebene und dassich in ihm Gebende ist real.»Die Phänomene des Lichtes, des Schalles, der Wärme, desOrtes und der örtlichen Bewegung, von welchen er handelt,sind nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen. Sie sindZeichen von etwas Wirklichem [ ... ] An und für sich tritt das,Was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was erscheint,ist nicht wahrhaft. Die Wahrheit der physischen Phäno-


52 Bekundurzgsschichten des Lebensmene ist, WIe man sich ausdrückt, eine bloss relative Wahrheit«ßDiese Realitätsthesis bezüglich der Dinge bleibt für den Physikererhalten, auch wenn das Beschaffensein der Dinge, so, wiees anschaulich sich darbietet, subjektiv wird, bloße Erscheinung.Das Beschaffensein wird und soll von der Physik geradeobjektiv bestimmt werden in bestimmten Begriffen und Urteilen.Realität ist hier Korrelat normaler, nicht in Widerstreit geratenderErfahrung. Was den Charakter des vermutlich odergar nichtigen Scheins trägt, so sehr es sinnlich anschaulich sichgeben mag, ist kein echter Erfahrungsboden der Naturwissenschaft.9Was kommt in dem Gesagten zum Ausdruck? Das Wort»Phänomen« hat hier seine ganz einzigartige, bestimmt beschränkte,in besonderer Richtung »indizierte« Bedeutung, diees jetzt noch schärfer zu fassen gilt.Phänomen besagt: sinnlich anschaulicher Gehalt, der echteNaturwirklichkeit bekundet. Phänomenbegriff hat hier seineStelle im Zusammenhang theoretischer Objekterkenntnis undnäherhin solcher, in der Objekt ist die physische Natur. Phänomenerhält seine spezifische Bedeutung aus der methodischwissenschaftlichen Tendenz der Physik, wie sie Galilei entdeckte.In dieser Tendenz, auf objektive Naturerkenntnis gehend,gibt sich die Umwelt als eine farbige, tönende, warme,kalte Dingwelt. Diese Dingwelt ist aber schon nicht mehr dieUmwelt, sondern diese in theoretisierende und zwar physikalischtheoretisierende Tendenz genommen.Dasselbe gilt bezüglich der Charakterisierung des Phänomensals >bloßen Phänomens


54 Bekundungsschichten des Lebens§ 12. Rückkehr zum Ausgangspunkt der Betrachtung:das faktische Leben in seinen BekundungsschichtenWir verfolgen diese Richtung zunächst nicht weiter und kehrenzum Ausgang unserer Betrachtung zurück: das faktische ~eb~n,in dem wir Bekundungszusammenhänge antreffen - slch zneinanderschiebendeBekundungsschichten, wobei >Bekundunglrgendwie< selbst als einerGestalt des Lebens begegnet, es selbst als Ziel einer Tendenz zuerreichen sucht, da geschieht es wiederum. Hier zeigt sich wiederder Grundcharakter der Selbstgenügsamkeit in den faktischenFormen und Gestalten des Lebens selbst. (So gibt es Menschen,die eine starke Empfänglichkeit für das Komische haben, die da,wo andere Alltäglichkeiten antreffen und sich langweilen, eminentkomische Situationen sehen. Sie sehen die Um- und Mitweltim lrgendwie des Komischen, so zwar, daß sie dieses Komischeselbst als gegebenen und sich irgendwie gebenden Um - undMitweltcharakter genießen, sich daran »amüsieren«.)Umweltvorfindlichkeiten also, irgendwie umgrenzte Bezirkesolcher geben den Boden für Wissenschaften 1, in denen sich dieselbst sich schon irgendwie bekundenden Umweltvorfindlichkeitenin neuen Ausdruckszusammenhängen darstellen. Diesesind als wissenschaftliche selbst wiederum verschieden, sofernbestimmt ausgeformte Tendenzen aktuellen Lebens und die damiteinigen Lebenswelten in ihrer spezifischen Ausgeformtheitden Gegenstand von Wissenschaften bestimmen. Den genuinenweltmäßigen Ausdruckszusammenhängen entsprechen die zugeordneten(d. h. von da verschieden motivierten) Explikationsformendes theoretischen Wissens, Erkennens.1 und das schon, nämlich das Wie des Boden Gebens und Bereitens, ist verschieden.§ 12. Rückkehr zum Ausgangspunkt 55Der Ausdruckszusammenhang, den der Titel »Wissenschaft«umspannt2, scheint sich also doch irgendwie aller Lebens- undWeltbezirke zu bemächtigen. Er schneidet gleichsam bestimmteBezirke heraus, die in der Wissenschaft wissenschaftlich sich ausdrücken.Das volle Leben in seinen Vergangenheiten bekundetsich als solches in der Geschichtswissenschaft: Geistesgeschichte(Literatur-, Kunst-, Religions-, Wirtschafts-, Staatengeschichte);Natur: Naturwissenschaft, Naturgeschichte (Paläontologie). Undtrotzdem ist »Wissenschaft« nur ein Bekundungszusammenhangunter anderen, und es wurde schon gewarnt, ihn zu verabsolutieren;und besonders in dem jetzigen Stadium unserer Betrachtungerscheint es wenig angebracht, gerade bezüglich dieses Bekundungszusammenhangssich in Einzelheiten einzulassen, wo esüberhaupt darauf ankommt, überhaupt den Aspekt des Lebens,daß sich in ihm alles und jedes immer irgendwie bekundet, ausdrückt,manifestiert, näherzubringen.Trotzdem muß sich schon roh ankündigen, warum wir, beialler klaren Einsicht in die Einzelheit des Bekundungszusammenhangs>Wissenschaft


56 Bekundungsschichten des LebensIn den Umkreis der verständlichen Vorfindlichkeiten gehörtnicht nur die Umwelt, sondern auch die Mitwelt - Mitmenschen,die »mit« mir, »mit denen ich« selbst lebe; »Mitwelt«als einen nächst vorfindlichen, erfahrbaren Ausschnitt, eineGestalt der Bekundung der menschlichen Gesellschaft. AlsoWissenschaft von den Mitweltgestalten und -bildungen, ihrergeschichtlichen Entwicklungen: Kirchen-, Sekten-, Staaten-,Stadt-, Dorfgeschichte, Geschichte der Universitäten, Zunft-,Sippen -, Familiengeschichte.Aber all das sind ja bereits wieder verfestigte, stabilisierteTendenzen und Ausformungen des mitmenschlichen Lebens,das noch viel »ursprünglichere« und mannigfaltigere schlichtereZusammenhänge zeigt: ich führe jemanden in der jetzigenDunkelheit nach Hause; esse mit ihm zu Mittag; ich leihe ihmein seltenes Buch; ich schreibe Briefe, telephoniere; ich tragedieses Kleid für den Anderen, für eine Abendgesellschaft, für»ins Theater«.Mitwelt, Umwelt leben in einem merkwürdigen Durchdringungszusammenhangmit meiner Selbstwelt, deren Zuständlichkeitgeradezu in diesem Zusammenhang als einem lebendigenund fließenden aufgeht, so, daß man schon gemeint hat, dieMitwelt und Gesellschaft überhaupt sei nichts Wirkliches, sondernbestehe nur in der Summe und Zusammennahmevon Einzelnem.So kann also auch die Selbstwelt eines Menschen alssolche ausgeformt und Gegenstand der Wissenschaft werden.§ 13. Ausdruckiformen der Selbstbesinnung 57den und fördernden, strafenden und beglückenden Mächte desLebens. Sie vollzieht sich immer in Formen von Weisheitslehren,Lehrsprüchen, »Sentenzen«. Die labile Zuständlichkeitverlegt ausdrücklich und nachdrücklich das Schwergewicht indas Selbst. Die inneren Erfahrungen stellen sich dar und gestaltensich und kommen auf einen Ausdruck. Die momentanenAntriebe dazu mögen verschiedenartig sein und zufällig: Eitelkeit,Ruhmsucht, Fabulierlust, Rechtfertigungstendenz, Bekenntnisdrang.1 Das sinnmäßige Motiv liegt allerdings nicht indiesen akzessorischen Antrieben, sondern in der Merkwürdigkeit,daß das faktische Leben in der Selbstwelt in besondersbetonter Weise zentrieren »kann«. Die Gestaltungs- und Ausdrucksformensolcher inneren Erfahrungen faßt man zusammenunter dem Titel »Selbstbiographie«. Ihrer Struktur nachkönnen sie ganz verschieden sein: Selbstgespräche, Tatenberichte,fingierte Gerichtsreden, rhetorische Deklamationen,literarische Portraits, Memoiren, Tagebücher.2Sie sind aber keine wissenschaftlichen Ausdrucksformen derSelbstwelt. Eine solche Objektivität zu beanspruchen, liegt garnicht in ihrem Sinn. Sie nehmen die Ausdrucksmittel oft undmeist aus dem eigenen Leben und seinen Erfahrungen selbst.Sie sind daher gerade ein weites geeignetes Feld für Selbsttäuschungen.Sie entwachsen der eigenen labilen Zuständlichkeitdes Selbst, das seine Geschichte in dem Aspekt, wie es sie selbstgerade sieht, wiedergibt und vollebendig ausdrückt.§ 13. Ausdrucksformen der Selbstbesinnunga) SelbstbiographieDie Selbstbesinnung in mehr oder minder rohen Formen, dasLeben in inneren Erfahrungen ist so alt wie die Menschheit - esist Selbstbesinnung in der besonderen Gestalt der religiösenN achdenklichkeit über Schicksal und die wirkenden, hemmen-b) Biographische ForschungSelbstbiographien können als solche selbst wieder vorfindlichund zugänglich werden und haben einen selbständigen U€rt(Augustin, Confessiones). Sie können auch in die Funktion derQuelle treten - Quelle für die biographische Forschung im betVgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd.l., Einleitung. LeipzigundBerlin 1907, S. 3-9.2 Vgl. a. a. 0., S. 3.jr


!r! ,58 Bekundungsschichten des Lebenssonderen oder für die Geschichte im weiteren Sinne. Sie unterstehendabei aber als Selbstbiographie gerade einer ganz eigentümlichen»Kritik«.In der biographischen Geschichtsforschung dagegen soll eineSelbstwelt zum wissenschaftlich objektivenAusdmck gebracht werden,allerdings in der spezifischen Ausdrucksform der histori -schen Wissenschaft: Heiligengeschichte (Hagiographie), Künstlergeschichte(Vasari). Die moderne biographische Forschung:Leben Jesu, Leben Luthers, Leben Goethes, Schleiermachers,Napoleons. Diese biographische Forschung hat selbst schon wiederihre Geschichte: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, derLuther-Forschung usf., woraus sich ersehen läßt, daß auch dieobjektiv wissenschaftliche Darstellung von Selbstwelten immerjeweils eine Bekundungsform unter anderen darstellt. 3Auf die Kunst als eine Ausdrucksform der Selbstwelt und alsOrgan des Lebensverständnisses sei nur hingewiesen, desgleichenauf den merkwürdigen Zusammenhang von Lebenserfahrungund Kunst des Verstehens und der Darstellung in der wissenschaftlichenGeschichtsschreibung, der entfernt (noch) nichtaufgehellt ist. 4Zunächst haben wir lediglich die im faktischen Leben antreffbareTatsache festgestellt: einmal, daß das faktische Lebenin einem Selbstleben und in einer Selbstwelt wie in der UmundMitwelt in einer ausgeprägten, abgehobenen Weise sichvollziehen und kundgeben kann und daß ein solches Selbstlebenund solche Selbstwelten einmal autobiographisch unddann auch eigentliches Objekt historisch wissenschaftlichenVerstehens und entsprechender Darstellung werden können.In den großen Konfessionen einer Selbstwelt ist die Ausformungund Gestaltung der inneren Selbsterfahrung des eigen-3 Vgl. Anhang BIl., Ergänzung 3, S. 205.4 Vgl. Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität. In: Sitzungsberichteder Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften Berlin Jg. 1896/1. Halbbd ..S.295-335.§ 14. Zugespitztheit auf die Selbstwelt 59sten Lebens selbstAusdruck dieses Lebens, nicht so, als stünde derAusdruck als fremdes Behältnis außerhalb dieses Lebens underwartete eine Erfüllung (die durch jedes andere gleicherweisemöglich wäre). In solchen Konfessionen kommt zum Ausdruckin eins mit der Geschichte des Selbst seine immer und lebendigdamit einige Stellung zu seiner jeweilig angestammten Lebenswelt,so zwar, daß der Charakter dieser Lebenswelt aus der besonderenVerfassung und Strömungsrichtung des betreffendenindividuellen Selbstlebens sich ergibt. Selbstwelt und Lebenswelt- in der Lebenswelt der Widerhall der Rhythmik jener. Inder Darstellung des Selbstlebens bekundet sich zugleich die Lebensweltund deren spezifische, aus dem Selbst herkommendeund von da vorgezeichnete Rhythmik und umgekehrt.Denselben lebendigen Zusammenhang, daß sich im Selbstlebeneine Lebenswelt und ein eigenstes Weltbild erbaut, einebestimmte, vielleicht einzigartige Typik des Daseins - Lebenstotalität-, diesen Zusammenhang sucht auch alle ernsthaftebiographische Forschung höherer Stufe verstehend heraus- unddarzustellen.§ 14. Die Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt 1a) Die funktionale Betontheit der SelbstweltDieser historisch verstehenden Darstellungsart eines Selbstle­~.ens in der biographischen Forschung liegt zum Grunde dieUberzeugung, daß das faktische Leben und seine Welt irgendwieim Selbstleben zentrieren kann, so sehr die Selbstwelt sichzunächst als labile Zuständlichkeit gibt. Es zeigt sich, daß dasfaktische Leben in einer merkwürdigen Zugespitztheit auf dieSelbstwelt gelebt, erfahren und dementsprechend auch historischverstanden werden kann.! Vgl. Anhang AIlI., Beilage 3, S. 171.


1160 Bekundungsschichten des LebensDas ist selbst eine Weise der Bekundung des faktischen Lebensauch in der Umwelt schon antreffbar, so daß eine labileZust~ndlichkeit sich besonders ausprägt und verfestigt, worausdann ein unmittelbar erfahrbarer , von der Selbstwelt her betonterCharakter der Um- und Mitwelt sich ergibt. (Und all das spieltsich ab meist in der für die Umwelt typischen Unabgehobenheit,aber es ist faktisch da und wirkt sich aus.) Diese Betontheit derSelbstwelt ist nicht etwa eine solche lediglich der Betrachtung,der besonderen Beachtung, sondern des aktuellen Lebens, derfaktischen Einstellung in besondere Tendenzen und des besondersbetonten aktuellen Vollzugs ihrer und Verlaufs.Diese Betontheit der Selbstwelt, die Indizierung der Tendenzenund Weltcharaktere von ihr aus, braucht aber nicht abgehobenzu sein, sondern sie ist und sogar meist unabgehoben lebendig,so sehr, daß sich das Leben so geben kann, als ob alleSelbstwelt von der Umwelt bestimmt und gelenkt sei. Die Zugespitztheitauf die Selbstwelt ist immer da im faktischen Leben,so zwar, daß gerade hieraus die Charaktere verständlicher werdendie wir bisher im faktischen Leben angetroffen haben:Selbstgenügsamkeit des Lebens an sich und sein Bekundungscharakter(desgleichen die besonderen Phänomengruppen, aufdie wir schon aufmerksam wurden).Es kommt nun darauf an, daß wir vor-läufig dem lebendigenZuge der Zusammenhänge zwischen diesen Charakteren un~zwar im besonderen der »Zugespitztheit auf die Selbstwelt« mItdem Charakter der Selbstgenügsamkeit und dem Charakter derBekundung verstehenderweise nachgehen. Zu diesem Endesetzten wir die Betrachtung wieder da ein, wo uns das Phänomender Zugespitztheit, der funktionalen Betontheit der Selbstwelt,gleichsam >in die Augen sprang


62 Bekundungsschichten des Lebensmentar umfassend wie ein Augustin, bald vereinzelt in der Stilleund der praktischen Lebensführung (mittelalterliche Mystik:Bernhard von Clairvaux, Bonaventura, Eckhard, Tauler,Luther). Nur diesen neu aufbrechenden Grundmotiven einerneuen Stellung der Selbstwelt wird es verständlich, warum unsbei Augustinus so etwas begegnet wie seine »Confessiones« und»De civitate Dei«. Crede, ut intelligas: lebe lebendig dein Selbst_ und erst auf diesem Erfahrungsgrunde, deiner letzten undvollsten Selbsterfahrung, baut sich Erkennen auf. Augustinussah im »inquietum cor nostrum« die große unaufhörliche Unruhedes Lebens. Er gewann einen ganz ursprünglichen Aspekt,nicht etwa nur theoretisch, sondern er lebte in ihm und brachteihn zum Ausdruck. 4c) Der Situations charakter der SelbstweltEine neue und eigentliche Stellung des Selbst zu seiner Welt -Was bedeutet die Zugespitztheit? Sie »gesehen«, gelebt und lebendauf einer Grundsituation. Das Selbst lebt in immer neuenund neu sich durchdringenden, für alle folgenden unverlierbarenSituationen. Und die Lebenswelt, die Umwelt, Mit- undSelbstwelt ist gelebt in einer Situation des Selbst. Die Begegnisseder Lebenswelt begegnen immer einer Situation desSelbst. Die Lebenswelt bekundet sich in den und den Weisen inund für eine jeweilige Situation der Selbstwelt. Diese labile,fließende Zuständlichkeit der Selbstwelt bestimmt als Situationscharakterimmer das »Irgendwie« der Lebenswelt.Ein rätselhafter lebendiger Wechselbezug zwischen den Bekundungsgestaltender Lebensbegegnisse und der lebendigenSelbstwelt und der Zusammenhang zwischen dem Bekundungscharakterdes faktischen Lebens und der Zugespitztheit seiner(der ausdrücklichen oder unbetonten) auf den Situationscharakterder Selbstwelt. Selbstwelt (vgl. S. 31) - daß das faktische4 Vgl. Anhang BIL Ergänzung 4, S. 205f.§ 14. Zugespitztheit auf die Selbstwelt 63Leben an sich immer in seiner eigenen Welt lebt; die Tendenzenkommen aus einer faktischen Lebenswelt und erfüllen sichin einer solchen und für eine solche. Sie ist für das faktischeLeben selbst ein »immer wieder antreffbares Faktum«. 5d) Selbstgenügsamkeit als Grundcharakter der SelbstweltIn demselben lebendigen Zusammenhang muß nun auch derandere Grundcharakter des faktischen Lebens gesehen werden:die Selbstgenügsamkeit. Sie erfährt dadurch eine neue Erhellung.Das Leben als faktisches zentriert in gewisser Weise jeweiligin einer Selbstwelt. Dieser entwachsen die Tendenzen.Aus der eigenen Geschichte der Selbstwelt selbst erwachen dieMotivierungen zu neuen Tendenzen, und die Erfüllungen dieserlaufen als solche immer zurück in die Selbstwelt und ihrejeweiligen erfüllungsbereiten Situationen, die faktische des faktischenLebens sind. Die Unruhe des Lebens selbst sucht undfindet Ruhe nur, insofern die Selbstwelt selbst sich stellt in einlebendiges Verhältnis der Ruhefindung. (Vordeutung auf dieabsolute Geschichte des Lebens an und für sich.) Das gilt füralle Weisen und Gestalten der Erfüllung und Erfüllungsmöglichkeitender faktischen Tendenzen des Lebens.Der lebendige Bezug von >Bekundung< und Selbstwelt undder lebendige Bezug von Selbstgenügsamkeit und Selbstweltdeutet nun auch schon vor auf einen lebendigen Bezug zwischen>Bekundung< und >Selbstgenügsamkeit


It64 Bekundungsschichten des Lebensbensbegegnisse und ihrer qualitativen Gestalten und Gehaltezur Selbstwelt.e) Rückbesinmmg auf die Grundrichtung der BetrachtungWir sind an eine exponierte Stelle in unseren Betrachtungengelangt, was notwendig macht, uns auf ihre methodischeGrundrichtung zorückzubesinnen (vgl. S. 25ff.). Wir setzten einmit der Aufgabe, Grundcharaktere des faktischen Lebens unsvordeutend näher zu bringen: Tendenzcharakter - das immerirgendwie (ob ausdrücklich oder unausdrücklich) Gerichtetsein;»Selbstgenügsamkeit«; Bekundungszusammenhänge; Reliefcharakterüberhaupt; labile Zuständlichkeit; besondere Ausformungsmöglichkeiten;Stabilisierung und zwar genuine, selegierendeund zur Herrschaft strebende Tendenzen; Fraglichkeitund Erfüllung und Erfüllungsmöglichkeiten. Unter den Bekundungszusammenhängenbeachten wir einen ganz besonders:den Ausdruckszusammenhang >Wissenschaft


If66 WlSsenschaft als BekundungszusammenhangFaktisches - in seiner eigenen Richtung und in seinem eigenenStil, in seiner eigenen Rhythmik - lebensweltwärts verlaufendesLeben ist in die Tendenz wissenschaftlichen Erkanntwerdensgenommen. Das besagt von den Wissenschaften hergesehen: Sie lassen sich für den Ansatz, Einsatz und den Vollzugund die Weise des Vollzugs ihres methodisch-erkennendenVerhaltens und Leistens einen gewissen Boden vorgeben; sie entwachseneiner faktischen Lebenswelt und der lebendigen Mannigfaltigkeitdes in ihr dem faktischen Leben Begegnenden.Ein konkreter Erfahrungsboden, der dem faktischen Lebenständig zuwächst, ist da. »Ist da«, d. h. das faktische Leben konstatiertnicht erst das Dasein, sondern es selbst ist und lebt erfahrendin einer Welt. Gewisse Weltausschnitte oder ganz vereinzelteMomente können Motiv werden dafür, die betreffendeLebenswelt in bestimmter Weise zu bearbeiten, in eine neueGestalt zu bringen [heißt zugleich: in eine neue Weise des Zugänglichwerdensfür das Leben] - bearbeiten mit bestimmtenwissenschaftlichen, begrifflich-methodischen Mitteln, so daßman sagen kann: Die Wissenschaft ist die konkrete Logik ihreseinem bestimmten Erfahrungsboden in bestimmter rteise undStufung entwachsenden Sachgebietes. Sachgebiet - das ihr selbstvorgegeben in Reinheit zunächst aus der bestimmten Formungeiner im faktischen Leben begegnenden und in ihren eigenenGestaltformen sich vielleicht abhebenden Lebenswelt.Es sind jetzt-in der Rede über Wissenschaften - neue Begriffeeingeflossen: »Erfahrungsboden«, »Sachgebiet«, »konkrete Logik«.Es gilt, ein Vorverständnis ihres Bedeutungsgehaltes zugewinnen. Indem wir solches zu erreichen suchen, machen wirzugleich klarer, was heißt: Wissenschaft ist ein Bekundungszusammenhangeines faktischen Lebensgebietes.Ein Bekundungszusammenhang bekundet »in« seinem eigenenGehalt etwas. In jeder Wissenschaft kommt etwas, ein bestimmtesGebiet, zur Bearbeitung und Darstellung. Das, wasdie Wissenschaft ausdrücken soll, dem muß sie als einem nochnicht wissenschaftlich Ausgedrückten in irgendeiner Weise be-, §15. Zur Genesis der Wissenschaft 67gegnen können. (Bedeutsam für die Ursprungswissenschaft.) Esmuß ihr gegenübertreten, muß für sie faßbar werden und zwarals etwas, das die Möglichkeit, in einen wissenschaftlichen Bekundungszusammenhangeinzugehen, selbst in sich trägt. Esmuß ihr in nicht wissenschaftlicher Weise im faktischen Lebenbegegnen.b) Erfahrung in ihren verschiedenen ModifikationenDie Tatsache nun, daß wir - jeder in seinem faktischen Lebendem und dem begegnet oder daß ihm das und das Begegnen»zustößt«, daß er das und das kennenlernt, das ihm Eindruckmacht, ihn umwirft, daß er »einem anderen Menschen verfällt«,bezeichnen wir als »er-fahren«, auf der Fahrt des Lebenserringen, antreffen, und das in verschiedenen Modifikationendesjenigen, in dessen faktischen Verlauf sich eine Welt, die Umweltund jede Lebenswelt aufbaut. Das Erfahren oder die Erfahrung- die substantivische Bezeichnung meint meist noch etwasanderes mit, nicht nur das faktische Begegnen als solches,sondern auch das ist mitgemeint, dem begegnet wird. ReligiöseErfahrung, praktische Erfahrung, politische Erfahrung -letzteresz. B. und auch die anderen Bezeichnungen besagen nichtnur: es ist mir Politik, politisches Leben irgendwo und -wannbegegnet, ich habe es zur Kenntnis genommen, sondern: dasund gerade das, was ich da bei jener Gelegenheit erfahren habe,das als so und so Erfahrene ist irgendwie in mein Selbstlebeneingegangen - diese Erfahrung (was meiner Selbstwelt eingeht,WOVon ich weiß, was mir verfügbar ist, worauf ich zurückgreifen,was ich verwenden kann).Wir wollen diesem Wort die Doppeltheit der Bedeutung absichtlichbelassen. Alle Auswirkung faktischen Lebens, d. h. derTendenzen, in denen dem Leben selbst etwas begegnet, undalle faktischen Weisen der Erfüllung solcher können wir bezeichnenals erfahrene. Man spricht geradezu von Lebenserfahrung.(Meist allerdings in einem bestimmt betonten Sinne, den


If68 Wissenschaft als Bekundungszusammenhangwir nicht mitverstehen wollen; wenn ja, dann sprechen wir vonspezifisch praktischer Lebenserfahrung.) Er-fahrung als Eingehen,Aneignen; Erfahrenes ist solches im Charakter derVerfügbarkeit, des ausdrücklichen, spontanen, nicht lediglichkonstatierend festgestellten, frei ins Werk gesetzten, oder despassiven, des mir wieder Begegnenkönnens, das passive sich zurVerfügung geben. (Merkwürdiger phänomenaler Zusammenhangvon Motivationen.) Man spricht dann auch von Erfahrungin einem gesteigerten Sinne - religiöse Erfahrung: BetroffenundGetroffensein im innersten Selbst. Das Erfahrene ist dannnicht nur verfügbar, das Selbst »ist« es geradezu selbst.Im faktischen Leben sind die Erfahrungen mannigfaltigdurcheinanderlaufend, bald aus jener Lebenswelt herkommend,bald allS dieser, sich verschlingend, umbildend, verwachsend- unter den Verfügbarkeiten hin und her und darüber hinwegzu anderem laufende Motivationen, in einen Zusammenhangtretend, der bestimmt wird durch den faktischen Ablaufjedes einzelnen faktischen Lebens oder, in der Z ugespitztheit gesehen,im Durchdringungs- und Motivationszusammenhangder Selbstwelt und ihres historischen Ablaufes.Das, was Sie erfahrend jetzt in dieser Vorlesung hören, denBericht von einem Raubmord in Berlin, den Sie nachher vielleichtin der Lesehalle zeitunglesend erfahren, das Abendbrot,das Sie, erfahrend, zu sich nehmen, worüber Sie vielleicht erfahrenderweisesehr befriedigt sind: all dies Erfahrene als solchesnach seinem jeweiligen Was-Charakter steht außer inhaltlichemZusammenhang und doch in einem Zusammenhang,insofern es Erfahrungen sind im einheitlichen Zuge Ihres faktischenLebens.Erfahrungszusammenhang - Verfügbarkeiten: jede für dieandere, und das wieder in verschiedenen Weisen; daraus besonderebetont, bevorzugt. Habitus - Weise des Re-agierens vonpassiv (nicht spontan) wirkenden Tendenzen, die aus den Verfügbarkeitenentwachsen, so oder so. Der Zusammenhang desso Erfahrenen ist, als bestimmt von besonderen Motivationsver-§ 15. Zur Genesis der Wissenschaft 69läufen eines Selbstlebens, ein Durcheinanderstreben und Wiederkehrenvon Tendenzen. Das Erfahrene hat einen merkwürdigenCharakter des Gemischten, des Vielerlei, des Gesprenkelten,doch nicht unter einem mehr oder minder scharfen Hervortreteneines Musters - [ich möchte diesen Aspekt bezeichnenmit der Aufschrift, die Stefan George, der so stark unmittelbarsehen kann, einem seiner Gedichtbände gegeben hat: Der»Teppich« des Lebens].c) Der Erfahrungsboden der WissenschaftDas ist aber noch nicht das, was wir Eifahrungsboden nennen(faktischer Erfahrungszusammenhang eines faktischen Lebens).Um diesen zu erreichen in seiner nackten Gleichartigkeit, mußgleichsam - um im Bilde zu bleiben - der Teppich weggezogenwerden, d. h. es muß sich bereiten ein Zusammenhang, der sichbestimmt aus einer inhaltlichen Zusammengehörigkeit des Erfahrenenals solchen, so daß sich aus diesem Erfahrungsbodenein einheitlicher Sachcharakter herausheben kann, durch densich ein Sachgebiet für eine Wissenschaft bestimmen läßt. DieserProzeß der Bereitung des sacheinheitlichen Erfahrungsbodensist sehr verwickelt und er ist bei jeder Wissenschaft undim Ausgang von jedem faktischen Lebensgebiet von andererStruktur und Stufenfolge der theoretischen Schritte.Diese Bereitung des Erfahrungsbodens, der Prozeß der Beistellungeines möglichen Sachgebietes, kann sich selbst nur vollziehenin der Tendenz der zu etablierenden Wissenschaft selbst,und diese Tendenz ist in ihrem Was und Wie selbst wieder nurmöglich als echt motiviert von der Lebenswelt her, aus der inihrer eigenen Perspektive das reine Sachgebiet sich abhebt.Verfügbarkeiten sind jetzt nicht mehr in der lebendigen innerstenTendenz des Habitus einer Selbstwelt. Es werden die persönlichenBeziehungen zu ihnen abgebrochen. Meine Selbstweltund ihre reichen Bezugsmöglichkeiten rücken von ihnen ab, d. h.der Sinn von verfügbar verarmt und erweitert sich zugleich in


11I!70 WlSsenschaft als Bekundungszusammenhangeiner anderen Richtung selbst; als in abgebrochener Beziehungstehend sind sie dadurch in der Möglichkeit einer neuen Verfügbarkeit.Der Charakter der Verfügbarkeit überhaupt bleibt erhalten.(Das Abrücken als phänomenaler Erlebnis-[intentionaler]Charakterist immer zugleich Sinngebung.) Es ist in diesemPhänomen ein ganz eigentümlicher und schwieriger Charakter.Worin gründet die Möglichkeit solcher? Daß die Verfügbarkeitnun hier allemal im Erleben verhaftet ist.Erfahrungsboden besagt: die Verfügbarkeiten in ihrer der Selbstweltbezügeentblößten Bereitschaft zur Betreffbarkeit von neuenTendenzen. Mit dem Einsatz dieser beginnt die Ausformungdes Erfahrenen als eigentlichem Sachgebiet - gilt im eminentenSinne für die Phänomenologie. Die unberührten Verfügbarkeitender faktischen Lebenserfahrung tragen also gleichsam potentiellbei sich diese Bereitschaft. Diese kann in abgehobenenStellen der Lebenserfahrung isoliert einmal durchbrechen undmotivieren die Auslösung einer umfassenden Formungstendenz!PDie Bereitung des Erfahrungsbodens für eine Wissenschaftmuß nun noch von einer anderen Seite gesehen werden. Stelltman sich in die Tendenz einer Wissenschaft und ihrer Methodik,ein bestimmtes Lebensgebiet in ihren eigenen Ausdruckszusammenhangeingehen zu lassen, es zu bearbeiten, so mußdiese Lebenswelt in irgendeiner Weise der Wissenschaft selbstvorgegeben sein. Wohl hebt sich allererst durch Ins-Werk -Tretendes wissenschaftlichen Ausdrückens und begrifflichen Gestaltensder Erfahrungsboden ab, und es bereitet sich allererst,faktisch in oft langen und schwierigen Perioden der Entwicklungder Wissenschaften, die Schaffung des einen und echtenSachgebietes durch die Wissenschaft selbst vor. Sie gibt sichselbst in diesem Sinne den Erfahrungsboden und das Sachgebiet,und doch wird ihr all das letztlich vorgegeben. Denn die§ 15. Zur Genesis der Wissenschaft 71Wissenschaft gibt sich 2 nur die Charakterisierung als Erfahrungsboden,als Sachgebiet, welche Charakterisierung eine faktischeLebenswelt betrifft. Diese selbst kann sich die Wissenschaftals solche nie geben. Heißt? Sie muß ihr vorgegeben werden.Es kündigen sich hier schon, von anderem wichtigen abgesehen,bereits zwei bedeutsame Bedeutungsunterschiede an, diedas Wort Gegebenheit betreffen kann: »Gegebenheit« - »Vorgabe«.Problem der Gegebenheit: 1) eine Gegebenheit, die inbestimmtem Sinne der Leistung der Wissenschaft erwächst;2) eine Gegebenheit, die dieser Leistung und ihrem möglichenEinsatz sinnotwendig vorgegeben ist. - (Rickerts Kategorie der»Gegebenheit«)Was das heißt, wie so etwas möglich ist, in welchen notwendigenProzessen welchen Verhaltens es sich vollzieht, welchenCharakter das Resultat solcher Prozesse hat, das sind große Problemeder phänomenologischen Forschung - und zugleich vonder größten Tragweite sowohl für die künftige echte Entwicklungder Wissenschaften ebenso wie für eine echte geisteswissenschaftlicheErforschung der Geschichte der Wissenschaften.Abgesehen von der in sich geschlossenen Bedeutung des Problemsder Gegebenheit hat es in dem Zusammenhang unsererBetrachtungen eine entscheidende Bedeutung. Denn was hierfür Wissenschaft überhaupt als ein besonderer, in sich und aufsich gestellter Bekundungszusammenhang gilt, gilt vielleichtauch ~ür die Phänomenologie als Ursprungswissenschaft, nur~aß hIer das Problem der Vorgabe in ganz eigentümlicher Weiseslch gestaltet, und es nicht angeht, die Problemlage der faktis~henEinzelwissenschaft einfach zu übertragen. Aber es zeigts~c~.scho.n an, daß hier Fragen berührt sind (Erfahrungsboden),die uber Jede faktische Zufälligkeit hinausgreifen. 31 Vgl. Anhang B/L, Ergänzung 5, S. 206-210.2 vollzieht sie an3 Nicht 0eud khon.-d'enn WIr stehen noch bel"faktischen Festsetzungenauc h wenn schon weiter:. DeduktlOnsrec. h't meht evident -, sondern Anweisung'1I


72 Wissenschaft als Bekundungszusammenhang§ 16. Wissenschaft als konkrete Logik eines SachgebietesBevor wir dieses in Angriff nehmen, soll die Betrachtung derWissenschaft als Bekundungszusammenhang zu Ende geführtwerden. Wir sagten: Wissenschaft ist jeweils die konkrete Logikeines aus einem Erfahrungsboden herausgehobenen Sachgebiets.Es bedarf noch der ersten Aufhellung des Ausdrucks»konkrete Logik«. Eine erste, rohe Aufhellung, dann eine strengphänomenologische Klärung und der strenge Verfolg aller hiersich aufdrängenden Strukturen sind noch Aufgaben der Forschung,wozu in dieser Vorlesung nur ein verschwindender Beitraggeleistet werden soll.»Logik« - zunächst eine kurze Anweisung darüber, was nichtgemeint ist mit dem Ausdruck. Logik - darunter wird gemeinhinverstanden: Lehre vom Denken; eine geordnete Zusammenstellungvon Sätzen und Regeln des richtigen geordnetenDenkverlaufs 1 ; Anleitungen, wie man definieren soll, wie sichSchlußfolgerungen zu vollziehen haben, wie man die Sätze derIdentität, des Widerspruchs, den Satz vom Grunde, vom ausgeschlossenenDritten als Normgesetze des Denkens zu beachtenhat -, also Logik eine praktische Disziplin, Disziplin von undüber praktisches Denkverhalten - Kunstlehre des Denkens.Diese Auffassung der Logik ist eine sehr äußerliche und imGrunde unwissenschaftliche.Warum soll denn so und so nach den und den Gesetzen gedachtwerden? Was heißt denn Denken? Was heißt Gesetz desDenkens? Denkgesetze: für die einen Tatsachengesetze, gewonnenin der inneren psychologischen Erfahrung (Lipps in der1. Periode), für die anderen Normgesetze (Windelband, Rickert).Was heißt Norm? Worin bestehen diese Normen? Mit welchemaus dem Faktischen her, zur echten sachlichen Prüfung selbst. Vielleicht ist esauch anders.1 Praktische Kunstlehre des Denkens - erhebt die Frage nach den Denkgesetzenund ihrer Begründung (abgesehen von der praktischen Befolgung).j,,§ 16. Wissenschaft als konkrete Logik 73Recht geben sie sich als solche? Worauf gründen diese >SollensgesetzeNorm< für mich ist, darnach ich mich zu richtenhabe, wenn ich zu haltbaren Erkenntnissen kommen soll.Und warum ist Wahrheit eine >Norm< und nicht die Falschheit?Weil Wahrheit ein Wert ist. Und warum ist Wahrheit ein Ttert?Die Philosophie von den Werten, die Wertphilosophie als Wissenschaftvon den allgemeingültigen Werten gibt darauf keineAntwort, noch weniger darüber, was das heißt: »Wert« - wie ichwerte eifahren und von ihnen wissen kann. (Wie wird Werterfahrenzu Wertwissen?) Trotzdem liegt ungesehen in der Tendenzder Wertphilosophie etwas Echtes.Inwiefern soll aus dem Ttertcharakter der Wahrheit folgen,daß der Satz vom Widerspruch befolgt werden muß? Das folgtnicht aus dem Ttertcharakter als solchem. Denn Schönheit sollja auch ein Ttert sein, und warum ist nicht unter dessen Normgesetzender Satz des Widerspruchs? Das liegt nicht am Wert,sondern an dem Wert Wahrheit. Also ist das Entscheidende zuerfahren, was Wahrheit bedeutet und ob mit ihrem Sinn 'dieForderung, wie sie im Satz des Widerspruchs formuliert werdenkann, notwendig mitgegeben ist. Daß ich von Tterten rede, istganz akzessorisch und hilft für die Aufklärung der eigentlichenProbleme nichts..Was heißt nun Wahrheit? Wahrheit, sagt man, ist eine Be­Stimmung, die »Urteilen«, »Erkenntnissen«, »Sätzen« zukommtoder nicht. Ein Urteil ist wahr oder falsch, und es ist~ahr, wenn es mit dem Gegenstand, nach dem es sich richtet,ubereinstimmt. Was heißt: sich richten nach einem Gegenstand?Und was heißt: Gegenstand? Etwas überhaupt. Etwas istGott tw . di,e as 1st eses Katheder, etwas ist eine BeethovenscheS~phonie, etwas ist ein Taschenmesser, etwas ist ein mathe­;:ti~che: Satz, en:as ist der Universitäts diener, etwas sindhriftzelchen auf emem Papyrusfetzen, etwas ist der Tiefstandd erValuta E' Etw . d ...l__ • m as, eIn an eres Etwas' das EIne das Andere'Ull8 E· , , ,me und das Andere - »und«; das Eine oder das Andere-


1tI'iI1'I.74 Wissenschaft als Bekundungszusammenhang»oder«' weder das Eine noch das Andere - »weder noch«; dasEine u~d das Andere und das und das - »einige«, »mehrere«,»alle«. Was sind das für merkwürdige leere und doch so absolutklare Bestimmtheiten und Bestimmungszusammenhänge, indenen das Etwas überhaupt als solches stehen kann und notwendigsteht? Logik - Wissenschaft von den Gegenstandsbestimmtheitenüberhaupt und als solchen, aufgrund deren erstalle Rede von Gegenstandsdenken und -gesetzen des richtigen,sich richtenden Denkens Sinn hat. Logik des Gegenstandesüberhaupt - die leere und doch so eminent reiche Logik - weiterProblem phänomenologisch-noetischer Betrachtung.Und »Konkrete Logik«? Logik, insofern es sich handelt umBestimmtheiten von Gegenständen, Gegenstands- und Sachverhalten_ Sachverhaltszusammenhänge, die nun, als solcheeiner »konkreten« Logik, bestimmt sind durch die sachhaltigekonkrete Fülle des durch den Erfahrungsboden vermitteltenSachgebietes.Zur konkreten Logik gehört all das, was und wie es sich konkretund faktisch ansetzt an die Sachbereitschaft der erfahrenenVerfügbarkeiten - Strukturformen, die selbst wieder nochdurchherrscht sind in eigener Weise von den formalen Strukturen.Die Gegenstandsformen und Strukturen selbst sind konkrete,nur aus dem Sachgebiet selbst entwachsende, von ihm her motivierte,so sehr, daß auch die eigentliche Grundtendenz der Wissenschaftenvon einem Grundmotiv des betreffenden Sachgebietssich herleitet. Die konkrete Logik eines Sachgebiets ist wissenschaftlich-theoretischerAusdruck eines Erfahrungsbodens,als solcher sachlich gebunden. Die Weise und Struktur der Begriffsbildungist vorgezeichnet durch den Sinn des Sachgebietes.Dieses selbst zeichnet auch vor die Weise des Begründens undBeweisens, die Gestalten, in denen überhaupt Sachverhalte desGebietes sich ausweisen, erfaßbar werden - vorgezeichnet derStil und Typus der konkreten Erfaßbarkeit als solcher.Konkrete Logik - nicht Wissenschaft von den Strukturfo r -I §17. Wissenschaft im Bezug zur Selbstwelt 75wen, sondern Wissenschaft, in der sich, durch die sich in bestiIIlilltenWeisen der Anmessung an Sachgebiete die Strukturformenerst konkretisieren, zu Gestalt kommen, ohne daß ihreGestalthaftigkeit selbst beachtet zu werden braucht. 2Wissenschaft, konkrete Logik, schafft die Konkretion einesSachgebietes in seiner theoretischen Struktur - eine merkwürdigeProduktivität; nicht nur im Sinne einer Erschließung neuerInhalte, sondern Strukturformen erwachsen:1. Strukturformen der Sachverhalte;2. Strukturformen der Begriffe;3. Strukturformen des Begründungszusammenhangs;4. Strukturformen der Ausweisung der Giltigkeit;5. Strukturformen der typischen und letzten Erfaßbarkeitdes so produktiv Herausgestellten. 3[»Quelle«, »Datum«, »historische Datierung«, »Echtheit«, »Erklärbarkeitdes Traditionszusammenhangs« sind Struktwformendes historischen Verstehens.]§ 17. WISsenschaft und ihr Bezug auf die Selbstweltsituationenals Tendenz der Entlebung der LebensweltenMit der Beachtung der drei Momente: Bereitung des Erfah­~s?~dens, Aus~ormung eines Sachgebietes, Ausbildung undS~bllislerung von echten Stücken konkreter Logik, gewinnenWU' bereits einen konkreten Aspekt des Prozesses und seiner(rohesten) Etappen, durch den eine Lebenswelt oder ein Ausschnitteiner solchen in den Ausdruckszusammenhang »Wissenschaft«eingeht.2 S härfi . ~ .er noch scheiden: 1. formale Struktur, 2. Strukturbetreffbarkeit der5 eltllChe, n Verfügbarbeiten.1. a) Gegenstandssphäre, b) noetisches Korrelat;2. Schicht des Ausdrucks und Sinn des Apophantischen;( 3. Problem des Rechts, der Auswelsung, der Zugänglichkeit. . überhaupt;dann ms Genume und von da originär geschöpft!!unklar!


76 Wissenschaft als BekundungszusammenhangEs gilt nun noch, diese Stufen und Momente der apriorischenGenesis des Ausdruckszusammenhangs »Wissenschaft« in bereitsbestimmte Perspektiven zu stellen, in die sie - selbst Tendenzenfaktischen, hier forschenden, wissen-schaffenden Lebens- vielleicht notwendig hineingehören. Wir beachten dasPhänomen der Zugespitztheit faktischen Lebens auf die Selbstweltzugleich mit der Möglichkeit, daß diese Zugespitztheitüberall, auch da, wo sie nicht ausdrücklich beachtet ist, amWerke ist. Mit jedem »Irgendwie« der Bekundung und des Bekundetseinsist mitgegeben eine Situation der oder einer Selbstwelt.Das ist für uns eine Anweisung, faktisch hinzusehen, ob diesermerkwürdige Wechselbezug zwischen dem lrgendwie der Bekundungund einer Selbstweltsituation auch bei den Bekundungsgestaltenund -stufen der »Wissenschaft« antreffbar ist.Vergegenwärtigen wir uns die drei konkreten Beispiele:1. die blumige Wiese am Maimorgen und botanisch-wissenschaftlicheAbhandlungen darüber;2. Rembrandtbilder, gegenwärtig im lebendigen aesthetisehenGenuß und kunstgeschichtliche Untersuchung darüber(z. B. über ihr chronologisches Verhältnis);3. eine Choralmesse, der wir beiwohnen, und ein theologisch-dogmatischerTraktat darüber.In dem jeweiligen »darüber« kündigt sich an, daß auch inden wissenschaftlichen Ausdruckszusammenhang etwas vonder nichtwissenschaftlieh sich kundgebenden Lebenswelt eingeht.Dieses identische Etwas steht aber beidemal in einemanderen Bezug zur Selbstwelt und ihrer Situation. Wir stellenlediglich faktisch fest: Es ist mir in der nichtwissenschaftlieh bekundetenLebenswelt »anders zumute« als in dem ebendieseibeneu ausdrückenden Bekundungszusammenhang »Wissenschaft«.Ein verschiedenes Zumute-sein (es ist mir anders zumute)- verschiedene Situationen; in der Verschiedenheit derSituationen doch zugleich eine Gemeinsamkeit, insofern dieTendenzen, die von beiden auslaufen, solche sind, die in diefaktische Welt hineintendieren. Die Zugrichtung des faktischen,§17. Wissenschaft im Bezug zur Selbstwelt 77Lebens bleibt in beiden Situationen identisch dieselbe. Also dazwischenoffenbar ein Prozeß der Situationsumbildung. Also imBezug zu den genannten Stufen: Bereitung des Erfahrungsbodens,Ausformung des Sachgebietes und damit Schaffungkonkreter Logik - ein Wandel der Situation der Selbstwelt. Wiediesen Prozessen streng methodisch nahezukommen ist wasüberhaupt in dem liegt, was wir »Situation« nennen, davo~ wissenwir noch nichts.Faktisch begegnet uns nur bei der rohen Ansicht einer Selbst­Situation, die im Bezug steht zu einem wissenschaftlichenAusdruckszusammenhang: daß da eigentlich von einem Zumuteseingar nicht mehr gesprochen werden kann, ja daß dieSelbstwelt überhaupt keine Rolle mehr spielt. Denn im faktischverstandenen Sinne eines wissenschaftlichen Ausdruckszusammenhangsliegt es, daß er »objektiv gilt«, d. h. situationsmäßiggesehen, daß jeder Bezug zu einer eigenen Selbstwelt nichtmehr besteht und bestehen darf. Wir sprechen davon, daß einwissenschaftlicher Mensch unbedingte Sachlichkeit pflegenmuß, die allerdings nicht ausschließt schärfste Kampfstellungund Kritik, wogegen alles Nivellieren und ironische Verwischenvon Gegensätzen die Wissenschaften jedesmal auf den Hundbringt. Schärfste wissenschaftliche Gegnerschaft und echtestepersönliche Hochschätzung können und müssen in einem wissenschaftlichenSelbstleben in eins lebendig sein. (Etwas, wasseine tiefen Rätsel hat.)All die reichen Bezüge zur Selbstwelt sind unterbrochen: im~ssenschaftlichen Ausdruckszusammenhang ist das lebendige,fließende Leben »irgendwie« erstarrt [oder steht in einer ganzanderen Form des Lebens].Faktische Lebenswelten und ihr Reichtum gehen in den wissenschaftlichenBekundungszusammenhang ein, verlieren aberdo~h . gerade das spezifisch Lebendige und treten aus denMoglichkeiten heraus, um- und selbstweltlich zugänglich zuwerden. Lebenswelten werden durch die Wissenschaft in eineTendenz der Entlebung genommen und damit das faktische Le-


If78 WlSsenschaft als Bekundungszusammenhangben gerade der eigentlichen lebendigen Möglichkeit seines faktischlebendigen Vollzugs beraubt. Was uns als das Drängende,Spannende, Fragwürdige und sich im~~r doch Erfüllende undvon einem Reichtum in den anderen Uberströmende und derSelbstwelt in unvergleichbarer Weise entspringend und aufsie einströmend ergab, all das ist ausgelöscht, nivelliert zueinem vielleicht noch vielgestaltigen Sachgebiet, aber ohne dieRhythmik und den Zusammenhangs charakter eines lebendigenLebens.Das Problem des wissenschaftlichen Zugangs zum Ursprungsgebiet des Lebens und überhaupt der Sinn von Wissenschaftals Ausdruckszusammenhang und der Aspekt des faktischenLebens sind näher gebracht. Wir haben in faktischerOrientierung erfahren, im ungefähr allerdings nur und im Vorläufigen,wie Wissenschaft aussieht, in welchen Prozessen siedas faktische Leben in ihren eigenen Ausdruck nimmt.§ 18. Schwierigkeiten mit der Idee der Phänomenologie alsUrsprungswissenschajt vom Leben an sichBei der immer schärferen Fassung des AusdruckszusammenhangsWissenschaft und vor allem bei der Beachtung seines Bezugsauf Selbstweltsituationen hat sich aber zugleich die Fraglichkeitunseres Vorhabens gesteigert: ob denn Wissenschaftüberhaupt Leben erfassen und ausdrücken kann, so daß Lebenin seiner Lebendigkeit unangetastet und adaequat zum Ausdruckkommt, so daß man jetzt schon fragen könnte, ob nichtdie Idee der Phänomenologie als Ursprungswissenschajt vomLeben - als radikalste und strengste Wissenschaft - in sichselbst widersinnig ist, insofern doch radikalste und strengsteWissenschaft vom Leben am radikalsten das Leben in die Tendenzobjektivierender wissenschaftlicher Entlebung nehmenmuß am radikalsten und rücksichtslosesten alle lebendigen Bezüge'unterbinden muß, so daß die Frage besteht, was es über-I§ 18. Schwierigkeiten mit der Phänomenologie 79haupt noch für einen möglichen Sinn hat, von einer Wissenschaftdes Lebens zu sprechen. Aber selbst wenn die Idee derPhänomenologie als urwissenschaftlicher Bekundungszusammenhangdes Lebens nicht von vornherein widersinnig wäre,so muß doch ihre Ausführung und Realisierung auf nicht zu beseitigendeund prinzipiell nicht zu beseitigende Widerständestoßen.Wissenschaft entwächst selbst dem faktischen Leben und bedarfschon für den ersten Ansatz ihrer Bekundungsaufgabeeiner Vorgabe faktischen Lebens. Wissenschaft tritt in notwendigenBezug zur nichtwissenschaftlich zugänglichen Lebenswelt.Phänomenologie soll sein Ursprungswissenschaft vom Lebenan sich, also nicht von diesem oder jenem faktischen Ausschnitteiner Lebenswelt, sondern vom Leben an sich. Wie soll dafürder Erfahrungsboden bereitet werden, wo doch immer nur bestimmteAusschnitte des faktischen Lebens, bestimmte Phasenseiner, und all das wiederum nur in bestimmten faktischenAspekten, erfahrbar wird?Also noch ganz abgesehen davon, in welcher Weise faktischesLeben für phänomenologische Problematik vorgegeben werdensoll, was vorgebbar ist, ist immer nur ein begrenzter Ausschnittdes Lebens in einem vereinzelten Aspekt, und auch die reichsteAnhäufung solcher Erfahrungen und die vollkommenste Beistellungvon Aspekten wäre prinzipiell überschreitbar. Das faktischeLeben ist in dem Moment, wo ich es in seinem ganzenAblauf und in seinem ganzen Reichtum von Tendenzen habeschon weiter, so daß sich das faktische Leben in seinen Erfah~rungen nie einholt, daß es selbst sich erfahrend immer hintersich herläuft. Für eine strenge Ursprungswissenschaft vomLeben, die doch einen echten Erfahrungsboden braucht, eine~o~un~slose Aussicht, abgesehen von der eigensten Wider­SUlnigkeIt ihrer Idee.Also die Idee einer Wissenschaft vom Leben ein Widersinn _und zugleich Wissenschaft vom Leben an sich? Das Leben ir-


80 Wissenschaft als BekundungszlLSammenhanggendwie als Ganzes faktisch nicht faßbar, einmal insofern esimmer und notwendig sich gibt in diesem einen und nicht injenem anderen, oder in jenem anderen, dann nicht in diesemeinen Aspekt; und auch alle Aspekte, annahmeweise erfaßt,bleiben hinter dem Reichtum des bereits inzwischen weiter gestürmtenLebens zurück.Zur Widersinnigkeit der Idee einer Wissenschaft vom Lebenund zur faktischen Unausführbarkeit gesellt sich als drittes dieÜberflüssigkeit einer solchen Wissenschaft, denn wir sehen jagerade aus den bisherigen Betrachtungen - was mit die Absichtwar zu zeigen, was aber bis jetzt nicht ausdrücklich betontwurde -, daß faktisch das ganze Leben und seine antreffbarenLebenswelten und Tendenzen wissenschaftlicher Betrachtungunterliegen und sogar so, daß sich gerade aus der denkbarechtesten und verständnisvollsten Anschmiegung an die verschiedenenLebenswelten ganz verschiedene Wissenschaftenergeben: konkrete Logiken - in den nicht zusammenbringbarentypischen Ausformungen wie mathematischer Physik etwa undKunstgeschichte, Chemie und Religionswissenschaft.Wozu also noch eine gleichsam indifferente, sich mehr undmehr entfernende Wissenschaft vom faktischen Leben an sich,behaftet mit allen prinzipiellen Fragwürdigkeiten und schließlichgezwungen, die Resultate der sachlichen Einzelwissenschaftenaufzunehmen?Idee der Ursprungswissenschaft vom Leben: 1. ihre vermeintlicheWidersinnigkeit; 2. ihre faktische Unausführbarkeit; 3. ihreÜberflüssigkeit - Argumentation aus dem Faktischen!!Wissenschaft vom Leben - dieses also irgendwie vorgegeben,sofern die Ursprungswissenschaft überhaupt etwas und wissenschaftlichausdrücken soll. Der nächste Gegenstand ist dasfaktische Leben selbst. Wie gewinnen wir aus ihm den Erfahrungsbodenfür die Ursprungswissenschaft? Erfahrungsbodenist solcher immer >>für« eine Wissenschaft. Die Weise seiner Bereitungbestimmt sich aus deren Idee und diese ihrerseits solldoch motiviert sein aus dem Grundsinn des zu bearbeitendenI1§ 19. Problem der Zugänglichkeit zum Leben 81Gebietes. Nochmal zurückgreifen auf das Problem der Ge e­benheit - die Möglichkeit der Bereitung des Erfahrungsbod:nsnur in der Tendenz einer Wissenschaft, ihrer Idee, die selbstwieder geschöpft sein muß aus dem nichtwissenschaftlich Erfahrbaren.!§ 19. Ein Gmndproblem der Phänomenologie:die Zugänglichkeit des Urspmngsgebietesvom faktischen Leben aus!a) Die leitende Tendenz: das Verstehen des Lebensaus seinem UrsprungDie Idee der Phänomenologie ist: Ursprungswissenschaft vomLeben. Das faktische Leben selbst und die unendliche Fülle d.. h I ermIm ge ebten Welten soll nicht erforscht werden, sondern dasLeben als entspringend, als aus einem Ursprung hervorgehend.Also leitend ist die Tendenz des Verstehens des Lebens aus seinemUrsprung, und diese Tendenz ist bestimmend für die Weisede~ Bereitun~ des Erfahrungsbodens und der Ausformung deseVIdenten ObJekt- und Sachgebietes. Sofern also nicht das Zielder Ursprungswissenschaft ist, lediglich das faktische Lebenund seine Welten und Weltgehalte nach deren Wasbestimmtheitenund Zusammenhängen zu erfassen, in der faktischenLebensrichtung stehend, in seinem Fluß mitgehend sich in seinenWelten wissenschaftlich erkennend zu bewegen, kommt dieUrsprungswissenschaft nicht in Konflikt mit den Einzclwissens~haften,sie redet ihnen nicht ins Handwerk. Sofern sie alsodie U rsprungsWIssensc . h aft, in einer anderen Tendenz dem Le-benund seinen Lebenswelten gegenüber lebt als die Einzelwissenschaften,1S . t· SIe nzc . h t u ··b er fl·· USSIg, . k eine bloße verbessernde: Vgl. Anhang BI!., Ergänzung 6, S. 210.Vgl. Anhang NI!., Beilage 6, S. 173-180.


t82 WlSsenschaft als Bekundungszusammenhangoder summierende und sammelnd verallgemeinernde Gesamtwissenschaft.Sofern sie als Ursprungswissenschaft nicht auf das faktischeLeben und seine Gehalte als solche eingestellt ist, sie also nichtwissenschaftlich ausdrücken will im Sinne einer genuinen theoretischenDarstellung, Objektivierung ihrer, kann der Erfahrungsbodenund das Gegenstandsgebiet auch nicht aus demfaktischen Leben gewonnen und in seinen Charakterisierungengenommen werden.Das faktische Leben braucht den Erfahrungsboden nicht zu bietenals aus ihm und seinen gelebten Weltgehalten bietbar, d. h. esentfällt damit die faktisch unausführbare Aufgabe, das faktischeLeben in der Totalität seiner Gehalte erfahrungsmäßigverfügbarzu machen als Ansatzmöglichkeit für eine Erfahrungsbodenbereitung.Damit entfällt auch schon die zweitgenannte Schwierigkeit.Stattdessen erhebt sich eine neue, und es steigert sich zugleich dieerste Schwierigkeit. Das Leben soll ursprungswissenschaftlich alsaus dem Ursprung entspringend verstanden werden.Um das Leben also überhaupt >als< entspringend aus demUrsprung sehen zu können und für diese wissenschaftliche Tendenzund in ihr das zu bearbeitende Gegenstandsfeld zu gewinnenund systematisch zu bereiten, muß der Ursprung selbstverfügbar sein, in irgendeiner Weise zugänglich sein - zugänglichund zwar vom faktischen Leben aus, das wir selbst sind undleben. Also wenn auch selbst nicht den Erfahrungsboden hergebend,spielt das faktische Leben doch eine Rolle beim Aufbauder Ursprungswissenschaft.Problem ist: Zugänglichkeit des Ursprungsgebietes vom faktischenLeben aus. In diesem selbst müssen also motivierendeHinweise faktisch antreffbar sein, die vordeuten in den Ursprung.[Gibt es solche im faktischen Leben, dann ist die Ideeder Phänomenologie, der Ursprungswissenschaft, und damitdie leitende Tendenz nicht erdacht, willkürlich erfunden, sondernes öffnet sich die Möglichkeit einer strengen Ausweisungihres eigenen Rechts und ihrer Notwendigkeit.]§ 19. Problem der Zugänglichkeit zum Leben 83b) Der spezifische Wiegehalt des faktischen LebensWir sollen Erfahrungen im faktischen Leben begegnen, derenGehalt einen hinweisenden Charakter auf etwas zeigt; nicht so,daß das, worauf hingewiesen wird, lediglich ein anderer Erfahrungsgehaltwäre, sondern eine Auszeichnung bekundet, eineVorzugsstellung (nicht im Sinne einer Wertung). (Vorform desUrsprungsgebietes. )Bei dieser Umschau im faktischen Leben müssen wir möglichstvoraussetzunglos vorgehen, d. h. wir dürfen nicht mit bestimmtenTheorien über das Leben an es herangehen. Wir müssenuns jeder wertenden Stellungnahme zu ihm enthalten. Ichhabe vielleicht persönlich eine ganz bestimmte Weltanschauung,. in der die verschiedensten Lebenswelten nach bestimmten Bewertungsgesichtspunktenin eine Rangordnung gebracht sind, sodaß ich das Leben auffasse als gedeutet letztlich vom Aesthetischenoder vom Ethischen oder Religiösen her oder daß ich alldas naturwissenschaftlich als Illusion betrachte. Ein anaerer hateine andere Weltanschauung und Überzeugungen vom Sinn derWelt und des Lebens, gewonnen aufgrund ganz persönlicher Erfahrungenund Schicksale. Kein Satz, der solche Überzeugungenexplikativ ausdrückt, kommt jetzt in Frage, etwa als Fundament,worauf wir die folgenden Erkenntnisse bezüglich ihrer Geltunggründeten. Ebensowenig werden erkenntnistheoretische Ansichtenvorausgesetzt - etwa, daß die Welt faktisch ganz andersist, als sie uns allen erscheint oder dergleichen. Alle derartigenMeinungen und Überzeugungen dürfen jetzt nicht ins Spiel treten.Wir sind lediglich Zuschauer des faktischen Lebens. Sofern~ an bestimmten Erfahrungen persönlich besonders beteiligt,m Anspruch genommen sind, bleiben diese Bezüge unterbunden,denn wir sollen ja doch ein Gegenständliches antreffen, dasaus sich selbst seinem Gehalt nach Motiv wird für reine theoretiseheBetrachtungen im Dienste der Konstituierung einer Wissenschaftoder gar der Ursprungswissenschaft.Da treffen wir an religiöse Lebenswelt, künstlerische, wirt-(


84 Wissenschaft aL~ Bekundungszusammenhang,§19. Problem der Zugänglichkeit zum Leben 85IIiIschaftliche, politische - bestimmt charakterisierbare Wasgehalte,die im Leben erfahrbar sind, die jener nicht erfährt, dieserbesonders intensiv; dann aus diesen Welten ausgeformteSachgebiete, Objekte verschiedener Wissenschaften, Objekte,nach ihrem Was grundverschieden: Pflanzen, Protozoen, Infusorien,Vögel, Mineralien, elektrische Vorgänge, Kunstwerke,Staatenbildungen, Religionsentwicklung. Jedes Objektgebiet istanders als das andere. Als Wasgehalte in reiner Sachbetrachtungist keines dem anderen vor- und übergeordnet. Keinerdieser Wasgehalte als solcher vermag sich also für uns sachlicheZuschauer vorzudrängen, eine besondere Rolle zu spielen. Erweist auf andere hin als verschieden von ihnen, sachlich verschieden,sachlich in den und den Zusammenhängen stehend.Also geben die Wasgehalte des faktischen Lebens kein Motivund können keines geben für den Hinweis auf etwas, das inVorzugsstellung steht, das gar den Charakter von so etwas hätte,woraus das Leben entspringt. Aber läßt sich das ohne weiteresvon den Was- und Sachgehalten dekretieren?Man wird einwenden: Auch wenn wir alle faktisch unserepersönlichen Bezüge ganz außer Spiel setzen, wird der eine dieSachen und Wasgehalte anders sehen als andere. Und vorallem: Wir leben doch faktisch in einer bestimmten Periode derGeistesgeschichte, wo wir auch in reiner Sachlichkeit die Weltgehalteanders sehen. So ist auch dieses vermeintliche Ausgehenvon den Was gehalten doch relativ, mit Voraussetzungen belastet.Ebenso wie wir faktisch die Gleichgeordnetheit der Wasgehalteund das Außerstande sein ihrer, in bestimmter Hinsichtzu motivieren, feststellten, ebenso läßt sich faktisch die Relativitätauch unserer Sachbetrachtung dartun.Aber dieser Einwand aus dem Faktischen gegen Faktischesist sowenig geeignet, unser Vorhaben zunichte zu machen, als ervielmehr gerade das in die Hand gibt, wessen wir bedürfen undzwar bedürfen als eines Faktischen: daß sowohl die Lebensgehaltenichttheoretischen Lebens wie die Wasgehalte der Sachbetrachtungimmer in gewisser Weise in einem >Wie< sich dar-stellen und faktisch eine Zugespitztheit auf faktisches Selbstlebeneinzelner, vieler, ganzer Generationen im Leben antreffbarist, ebenso faktisch wie die Wasverschiedenheit der Sa0hgebiete.Diese Zugespitztheit ist kein Wasgehalt, sondern ein Wiegehalt,in dem jeder noch so verschiedene Wasgehalt stehen kann. DieserWiegehalt ist nicht eine Erfindung oder theoretische Abstraktion,eine Erklärungsweise, sondern etwas, was als »Gehalt«nichttheoretisch erfahrbar wird, besonders ausgeprägt inder lebendigen Begegnung mit bedeutenden Menschen: Künstlern,Forschern, Heiligen, aber auch im Benehmen jedes einzelnenin der erfahrbaren Lebenswelt, in der Geschichte, in der literarischenkünstlerischen Darstellung (Shakespeares Dramen,Dostojewski). Das Leben zeigt und gibt erfahrbare Gehalte, diewir als spezifische Wiegehalte bezeichnen, weil sie, wie die Zugespitztheit,nicht an einen bestimmten Wasgehalt gebundensind, sondern dieser in jenem steht, in der Form des> Wie< sichgibt, eine faktische Weise, in der Erfahrungen faktisch ablaufen,eine funktionale Rhythmik, die das faktische Leben selbst ausprägt,aus sich herausdrängt. So ist dieser Wiegehalt, daß in ihmselbstgehaltsmäßig liegt ein »Hinweisen auf«. Wir sprechen von»Zu«-(Hin)gespitztheit auf die faktischen Selbstwelten und ihrefaktische Unfassung (Anlage, Begabung, Launenhaftigkeit usf.).c) Erste Anzeige der Selbstwelt als das gesuchteUrsprungsgebietHinweis auf Selbstwelt - diese spielt also eine besondere Rolle;~us ihr wird der jeweilige Aspekt der erfahrenen Wasgehalte,ihr Wie, irgendwie verständlich. Selbstwelt - in der das faktischeLeben besonders zentriert, worauf es überall und vonüberall her jederzeit hindrängt.Also folgen wir der Richtung dieses faktischen Drängens,nehmen wir die Selbstwelt, das »worauf die Spitze«, das »inVorzugs stellung« in die Betrachtung und fragen, ob nicht dieSelbstwelten als solche mögliches Gegenstandsgebiet einer('


iI86 Wissenschaft aL~ BekundungszusammenhangWissenschaft sein können, d. h. methodisch, ob sich aus ihnenals Selbstwelten nicht ein Erfahrungsboden gewinnen und entsprechendein Objektgebiet ausformen läßt unter und in derSchaffung einer konkreten Logik, so daß sich am Ende unversehensergibt, daß wir im gesuchten und vom faktischen Lebenherkommend gesuchten Ursprungsgebiet stehen. Wir habendoch schon kennengelernt vortheoretische Selbstwelterfahrungen,sogar Formen ihrer Bekundung, ja solche wissenschaftlicher,historisch-biographischer. Aber dabei handelt es sich dochimmer um bestimmte einzelne Selbstwelten, nicht um diese inihrem Selbst selbst. Also läßt sich aus den Selbsterfahrungenein Erfahrungsboden gewinnen, so daß das daraus ausgeformteSachgebiet Selbstweltbestimmtheiten und -charaktere umfaßtzugänglichfür wissenschaftliche Erkenntnis? Frage ist: Motivierungder Idee der absoluten Ursprungs wissenschaft vomLeben - und zwar aus dem faktischen Leben.Motivierung der Ursprungswissenschaft und zwar Motivierungder sinnmäßigen Notwendigkeit, denn faktisch könnte der Lebensablaufsein, ohne diese Wissenschaft je zu betreiben - alsoFrage nach: faktisch antreffbaren Charakteren des faktischenLebens, die in sich selbst tragen einen Hinweis auf Ursprungsgegebenheit,die die Fragestellung ermöglicht, und zwar so, daßin dem WOrauf das faktische Leben sich zusammendrängt, irgendwiezentriert, von dort her irgendwie abhängig ist, vielleichtentspringt. Motiv muß ein solches sein, daß es in das Ursprungsgebietselbst führt, wegweisend, so daß das Leben als aus ihmentspringend vertieft werden kann, was schließlich nur so möglichist, daß es selbst in seiner ganzen Faktizität in den Ursprungzurückgenommen wird. (Ausdruckscharakter ~ Z ugespitztheit)>Selbstwelten< - diese, jene: die ganze Mitwelt ist ein bestimmtgegliederter und in bestimmter Weise erfahrbarer Zusammenhangvon Selbstwelten. Ich erfahre sie, »weiß« um sie.Ich selbst eine Selbstwelt - Frage: Ist die Selbstwelt wissenschaftlicherfaßbar und zwar nicht als diese oder jene, sondernhinsichtlich ihrer allgemeinen Bestimmungen, hinsichtlich der§ 20. Bemächtigung der Selbstwelt 87Gesetzlichkeiten der Selbstwelt. Die Idee ist solche einer absolutenWissenschaft vom Leben, nicht von diesem oder jenemfaktischen Einzelleben.§ 20. Überlieferte Probleme in der erkenntnismäßigenBemächtigung der Selbstwelta) Die ungelöste Verwirrung in der Bestimmung,Bedeutung und Stellung der PsychologieDen theoretisch -wissenschaftlichen Ausdruckszusammenhang,in dem sich die Selbstwelt als solche bekundet, bezeichnen wir:Psychologie. Die Geschichte der Versuche, solche theoretischwissenschaftlichenAusdruckszusammenhänge zu gewinnen, istreich und verwickelt; Rein sinngenetisch ist die Stufenfolge derTheoretisierungsschritte aus der nichttheoretischen Lebenserfahrungkeine schwierige, vielleicht bei der Selbstwelt noch ineinem ausgezeichneten Sinne.Selbstwelt: Zentrum der Lebensbezüge - also die Möglichkeitberührt, daß verschiedenartige Sachmotive »als Gesichtspunkte«der wissenschaftlichen Bearbeitung der Selbstwelt eine Rollespielen, und zwar so, daß sie in den verschiedenen Stufen des Prozessesder Theoretisierung leitend und bestimmend einwirken.~ofern die Selbstwelt eine Betonung hat im Leben (Zugespltztheitseiner auf Selbstwelt), ist es verständlich, daß die Wissenschaftvon ihr, die Psychologie, selbst innerhalb des Bereichs~er Wissenschaften eine ausgezeichnete Bedeutung hat undlInmer wieder beansprucht. Dafür typisch zwei (zunächst) belangloseTatsachen der jüngsten Geistesgeschichte: 1. Streit umdie historische Methode; 2. Streit um die experimentelle Psychologie.Diese Tatsachen zeigen nicht nur die Bedeutung derPSY~holOgie, sondern die heute noch ungelöste Verwirrung, inderihr . B·e eIgene eshmmung und Bedeutung und Stellung zuden anderen Wissenschaften sich bewegt.


88 WLSsenschaft als Bekundungszusarnrnellhang1. Psychologie als Wissenschaft von Selbstwelt, d~m S~elischenoder den geistigen Vorgängen (Funktionen) pratendlCrt,die Grundwissenschaft des Geistes und damit Grundlegung derGeisteswissenschaften zu sein.2. Dieser Anspruch der modernen psychologie .. wird v~nden schaffenden Historikern instinktiv gleichsam zuruckgewlesen.Dabei werden sie unterstützt von der Philosophie und derWissenschaftstheorie, besonders der Windelbands und Rickerts(Rickert, »Grenzen«!: Fraglichkeiten: 1. sein Begriff der Psychologie,2. prinzipielle Theorie der Begriffsbil~ung, 3 .. auchprinzipiell nicht zentrale Problematik - dürften elI~er radIkalenKritik nicht standhalten, so sehr wertvolle Einzelheiten und Gesichtspunktein der Arbeit zu Tage treten).3. Psychologie beansprucht aber auch, Grundlage. al.lerWissenschaften zu sein, die doch selbst nur besondere geistIgeBetätigungen darstellen; besonders aus dem Gege~satz gegendie Konstruktionen der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie,die die Erkenntnisprobleme lösen will, ohnesich jemals Erkennen und Erkenntnis wissenschaftli.ch vo.rheranzusehen, sondern sich einen Begriff erdenkt und 1m StIllendoch Anleihen macht bei einer vulgären psychologie. Sie setztdas lebendige Erkennen voraus, studiert es aber nic~t - Tr~st:Psychologie hat ja nichts zu tun mit Transzenden:alphilosophie.4. Dieser Anspruch wird von den einen radIkal abgelehnt,und das wieder aus verschiedenen Gründen, von den anderendahin eingeschränkt, daß zwar Psychologie noch eine philosophischeDisziplin oder Vorwissenschaft der Philosophie .ist.Eine Krisis des Geistes die noch keineswegs radikal undreinlich überwunden ist, a~s deren prinzipieller Überwin~ungin handanlegender Arbeit die wissenschaftliche Philosophie msicheren Gang kommt, ebenso wie die Geisteswissenschafteneine radikale Erneuerung erfahren.1 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 2.neu bearb. Auf!. Tübingen 1913.§ 20. Bernächtigung der Selbstwelt 89Für unseren Zusammenhang ist wichtig, den Motiven dieserfast unüberwindlichen Problemverwirrung nachzugehen und sounS in den Stand zu setzen, das Problem rein herauszuarbeiten:die Frage der theoretisch wissenschaftlichen Erkenntnis derSelbstwelt als solcher. Aus dem Sinn dieser Problemstellungwird sich entscheiden lassen, ob wir mit unserem methodischenUnternehmen - Gewinnung des Ursprungsgebietes - am Zielsind. Also zunächst kurze historische Orientierung über typischeTendenzen.b) Historische Orientierung über Tendenzen derSelbstbemächtigungDie erkenntnismäßige Bemächtigung der Selbstwelt ist lange Zeitbeherrscht von fnetaphysischen und vor allem religiösen Motiven.Die Seele ist ein Ding-objekt unter anderen, aber ein solchesmit bestimmter Bedeutung - Schicksal. Da, wo bereits theoretischeBegriffe sich ausformen zu Zwecken der wissenschaftlichenErkenntnis der Umwelt, des Natur- und Weltgeschehens, werdensie auch benutzt zur erkenntnismäßigen Erfassung des Seelischen.Das Schicksal der Psychologie ist nicht nur ihremGegenstand nach und seiner metaphysischen Bedeutung entsprechendeng verknüpft mit dem der Philosophie, sondern auchhinsichtlich der Art und Weise, wie versucht wird, die Selbstweltzu erkennen: systematisch zu erkennen in einer Wissenschaft.Diese Verknüpftheit des jeweiligen theoretisch-wissenschaftlic~~nAusdruckszusammenhangs von der Selbstwelt mit den jeweIlIgengeistesgeschichtlichen Situationen und ihren leitendenTendenzen läßt sich durchverfolgen bis in die jüngste Zeit.Aus der griechischen Philosophie sei auf charakteristischeTypen hingewiesen:Demok't ' - so. , " "1 Tl: ETElJL U aTO!!a Xat XEVOV 2 Seelisches: rundeste,gatteste Feueratome in Bewegung; Vorform der mechanischen2 Demokrit, Fragment 125.


90Wissenschaft als BekundungszusammenhangNaturauffassung und ihrer unmittelbaren Übertragung auf dieTotalität des Seienden.Plato: WlJxi'\s; o~v ...; teleologische Leistungswirklichkeit;Quellgrund des Lebens; Hinordnung auf Ideen; unter diesemAspekt auch versucht, das Seelenleben zu klassifizieren; bezeichnend:die Zuordnung von verschiedenen Ständen und Betätigungsformenzu dem Seelenleben im Bezug von Selbstwelttendenzenund Lebens- und Schaffenswelten.Aristoteles: EV"tEA.EXELa Tj JtQOl"t'Y] OW!!UWS; CPlJOL%OU ÖlJVU!!ElsWllv EXOV"tOS;3. Bedeutsam der Zusammenhang des Seelischenmit dem Leben im Sinne des OlfSanischen.Stoa: ethische Einstellung; praktische, moralische Lebensführung;damit eine materialistische Metaphysik.Christentum: bereits früher erwähnt; im Mittelalter die psychologischenGrundbegriffe keine ursprünglich geschöpften,ebensowenig wie die theologischen (aristotelische, platonische,stoische Philosophie); aber neue Phänomene gesehen.In ein entscheidendes Stadium trat das Problem der wissenschaftlichenBearbeitung des Selbst mit dem Aufkommen dermodernen Naturwissenschaften und ihrer Grundlegung durchKepler, Galilei und Newton; leitend die Idee der Gesetzmäßigkeitder materiellen Natur; Lückenlosigkeit des Kausalzusammenhangesim Gesamtbereich vom Geschehen, das gedachtwird als Bewegung letzter Elemente.+c) Die strengwissenschaftliche Erkenntnis als echtes Motivder modernen Psychologie und seine Verkehrungins Unechte durch Übernahme naturwissenschaftlicherFragestellungen und MethodenIm Absehen auf die Motive der heutigen Problemverwirrung se-, Aristoteles, De anima 412 a 27 f. d4 Vgl zum Folgenden Zettel »Mechanistische Psychologie / Entwicklung erPsychologie 2 f. I Psychologie allgemein Sff.« [im Nachlaß nicht auffmdbar,dürfte vom Inhalt her entsprechen: Anhang BIl., Ergänzung 7, S. 211-216.].§ 20. Bemächtigung der Selbstwelt 91hen wir uns an die faktischen Tendenzen. Sauber herausstellenund fragen, welchem Motiv sie entwachsen, und weiter: welchessind die echten Motive und die aus ihnen entspringenden echtenTendenzen und die echt vorgezeichneten Mittel des Vollzugs? (Bereitungdes Edahrungsbodens, Ausformung des Sachgebiets,konkrete Logik)Faktische Tendenz geht 1. auf die Herausstellung einer spezifischzwar, aber möglichen einheitlichen Gesetzlichkeit despsychischen Geschehens; 2. darin liegt das Absehen auf funktionaleBedingungskonstanten des Geschehens (objektiv vorfindbare,edahrbare Mannigfaltigkeiten; elementare, komplexeVorgänge - Unterschied von »elementar« und »komplex« fließend!);3. damit gesetzt: die Tendenz auf Herausstellung vonElementen des Geschehens und bestimmten Formen der Gesetzlichkeit;4. Gesetzlichkeit des Geschehens nach dem Prinzip derKausalität (causa aequat effectum).Daher Methode [Ansetzen von Hypothesen, Zusammenfügender möglichen Erklärungsprinzipien (induktiver Schluß vonGegebenem auf Nichtgegebenes) und daher notwendig Einfügungdieses Geschehenszusammenhangs in andere, sofern sichsolche »Zuordnung« nahelegt (Physiologie, Physik)]5 gewonnendurch:a) Experiment: objektiv festgelegte und geleitete Ordnungder Selbstbeobachtung und objektiv festnormierte Variation derBedingungen und Gesichtspunkte der Beobachtung [>wenn -so


92 Wissenschaft als BekundungszusammenhangAlso: Idee der erklärenden, hypothetisch substruierenden, experimentellmessenden physiologischen Psychologie.Motiv dieser Tendenz: ein objektives Sachgebiet zu gewinnen,zugänglich in strengwissenschaftlicher Method~, um seineGesetzlichkeit herauszuarbeiten. Motiv also: strengwlssenschaftlieheErkenntnis der Selbstwelt - echt, insofern Ausschaltungaller metaphysischer, religiöser und sonstiger nichttheoretischerTendenz und zwar in solcher Strenge wie die Naturwissenschaft.Also: dieser es nachzutun?7Hier setzt die Unechtheit ein: Man nimmt sie in der Weisezum Vorbild, daß man zugleich ihre Grundeinstellung (Tendenz)und Methodik übernimmt - also nicht nur die wissenschaftlicheTendenz überhaupt, sondern die aus ihrem spezifischenSachgebiet besonders motivierte - und nimmt sie sichnicht radikal genug zum Vorbild, indem man die Frage stellt,worin denn gerade ihre Größe liegt: nämlich in dem echtenSichmotivierenlassen von ihrem spezifischen Erfahrungsbodenund der echt möglichen Weise seiner erkenntnismäßigen Zugänglichkeit.Also das echte Motiv wird gerade in Unechtheitverkehrt, woraus aB die Verwirrungen sich herleiten.Die echte Vorbildnahme liegt also nicht darin, daß Fragestellungund Methoden der Naturwissenschaften schlechthin od~rmit unbedeutenden Modifikationen übernommen und auf emneues, in der Tendenz der Naturwissenschaft ausgeformtesSachgebiet übertragen werden, sondern daß, wie bei den Naturwissenschaftendie vortheoretische Umwelt, so jetzt die hierin Frage kommende Erfahrungswelt selbst befragt wird. Dabeibesteht die Möglichkeit, daß diese Befragbarkeit eine mehrfachgerichtete ist. Dabei ist notwendig, daß wir wieder ganz ins Vortheoretischezurückgehen und die Abgehobenheit der Selbstweltvortheoretisch beachten.7 Noch schärfer formulieren!ZWEITES KAPITELPhäno~en~logische Bereitung des Erfahrungsbodensfur dIe Ursprungswissenschaft vom Leben§ 21. Exposition der Aufgaben des zu gewinnenden theoretischwissenschaftlichenAusdruckszusammenhangs der Selbstwelt.Die Frage nach der Grunderjahrung der SelbstweltUnabhängig von dieser Vergleichung mit den Naturwissenschaftenkann zur unbedingten Einsicht gebracht werden daßalle Bestimmungsstücke einer besonderen Wissenschaft' unddamit auch der jeweilige Charakter ihrer Strenge und Evidenzmotiviert sein muß aus der genuinen Erfahrungswelt, derentheoretisch wissenschaftlicher Ausdruckszusammenhang diebetreffende Wissenschaft darstellen soll.Es ist notwendig, daß man nicht, auch nicht versteckterweisenach den Fragestellungen und Methoden anderer, in sichere~Gang laufender Wissenschaften hinschielt und es ihnen abgucktsondern sich lediglich und frei leiten läßt von dem Prinzip de:notwendig genuinen Sinn- und Sachangemessenheit jeder Ausdrucksgestalt.Es führt zu Widersinn, wenn von einer bestimmtenStufe der Theoretisierung einer Wissenschaft oder Wissensc~aftsgruppeaus man die Theoretisierungsstufe einer anderenWIssenschaft als unecht kritisiert oder gar für zurückgeblieben,unvollkommen erklärt, ebenso, wenn man einen faktischen Besta~deiner Wissenschaft verabsolutiert zu ihrem Sinn (Kunstgeschichte,Philologie), eingezwängt in den Mechanismus der starrgewordenen Disziplinen und Fakultäten wo man alle Fragen»di~zu weit führen würden«, mit gew~hnter Promptheit ab~schIebt, zugleich aber mit vorsintflutlichen Begriffen arbeitet.Daß man zum Beispiel vom Standpunkt des Physikers ausdem Botaniker entgegenhält: Wenn ihr von roten, weißen, violettenm··ua ern, grunen.. BI··aUern sprecht, so ist das »eigentlich«


94 Bereitung des Eifahrungsbodensfalsch, denn diese Farben sind eigentlich so nicht objektiv wirklich,wie ihr sie nehmt; eigentliche Objektivität stellen dar dieÄtherschwingungen von bestimmten Wellenlängen. Der Widersinnliegt darin, daß es der Tendenz der Botanik als einer in sichgeschlossenen Sphäre eigener Evidenz und Ausweisung zuwiderläuft,in eine ihr fremde Objektivitätsstufe versetzt zu werdenin der Meinung, sie dadurch zu verbessern. Es gibt für dieObjektivität der Botanik nicht noch die eigentliche Objektivitätder Physik. Das Eigentliche ist für sie ihr eigener Sach- und Mcthodensinn,vorgezeichnet durch ihr Gebiet.Nun aber: eines ist es, das Prinzip der notwendigen Motivierungder leitenden Tendenzen eines theoretisch-wissenschaftlichenAusdruckszusammenhangs aus den genuinen Grundgestaltender zu bearbeitenden Erfahrungswelt evident zu verstehen,ein anderes, in einem konkreten Fall seine Forderungen faktischzu erfüllen. (Es ist keine »Zufälligkeit« der Geistesgeschichte,daß die Wissenschaften sich allmählich aus der Philosophieselbst heraus ausgeformt, abgelöst und verselbständigt habenl!)Hierin sind mannigfache Aufgaben beschlossen, die sich aussondernlassen:1. die motivierende Grunderfahrung, und zwar die vortheoretische,zu »gewinnen«. Das führt zugleich auf den Prozeßder sinngenetischen Heraushebung der vortheoretischen VerfassungWelt überhaupt;2. zu entscheiden, ob die daraus entwachsenden theoretisch-wissenschaftlichenAusdruckstendenzen die einzig möglichensind, oder ob nicht andere als theoretische gleiches Rechtbeanspruchen;3. das führt auf die Frage, ob eine Erfahrungswelt als solchemehrere typische Grunderfahrungen zuläßt oder nur eine,die sich dann in verschiedene Motivationsrichtungen gabelt,woraus dann erst die verschiedenen theoretischen Ausdruckszusammenhängeentspringen;4. ob die letzteren gleichursprünglich der Grunderfahrungentwachsen oder in einem notwendigen Fundierungszusarn-§ 21. Allfgaben einer Wissenschaft der Selbstwelt 95rnenhang stehen, so daß der eine theoretisch-wissenschaftlicheAusdruckszusammenhang durch den anderen gleichsamhindurchgegangen sein muß, um vollziehbaren Sinn zu haben;5. die Frage, ob das Gefragte für jede Erfahrungswelt zutrifftoder in verschiedenen verschiedene Problemgruppierungensich ergeben, und warum gerade bei diesen diese und jenenjenelDiese einzelnen Problemgruppen sind konkrete Bestandteiledes früher berührten Problems der theoretischen Ausdrückbarkeitvon Lebenswelten und sie gehören näherhin in den Umkreisdes Problems, das wir bezeichneten: »Bereitung des Erfahrungsbodens«.Diese Betrachtungen haben den Zweck, das Problem ganzradikal zu stellen und rein herauszuarbeiten: theoretisch-wissenschaftlicherAusdruck der Selbstwelt. Wir bezeichneten diesenAusdruckszusammenhang als »Psychologie«. Der Name istnicht entscheidend, sondern die Sache und die Sachbetrachtung,der die eigentliche, fixierende Namengebung folgt.Das Erste ist also: die Gewinnung der genuinen Grunderfahrungder Selbstwelt, aus der sich theoretische Ausdruckstendenzenmotivieren sollen. Was heißt »Gewinnung« der Grunderfahrung?Nicht etwa, sie vollziehen lediglich, sondern ihrselbst im Vollzug und Vollzogensein habhaft zu werden, um zusehen, wie in ihr die Selbstwelt begegnet. Und zwar stellen wirnicht eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung an in derRichtung, daß wir fragen, wie überhaupt im kindlichen SeelenlebenUmwelterfahrung und Selbstwelterfahrung entstehen,denn diese faktisch-genetische Betrachtung setzt schon voraus,daß wir von Umwelt- und Selbsterfahrung wissen, ihren Sinnverst~hen, also irgendwoher gewonnen haben, und wir gewinnenIhn aus faktischen Situationen, die wir selbst sind undlebe.n - ganz abgesehen davon, daß wir nur hypothetisch Er­~chheßbares und mit der entsprechenden Gewißheit Behaftetesm die Hand bekämen, was für den methodischen Sinn unserer1


1III IillI!II11,1,,1 i, I1 196 Bereitung des ErfahrungsbodensBetrachtungen und ihre Ausweisungsformen zugleich unangemessenware.Es ist daher notwendig, daß wir zu den früheren Betrachtungendes faktischen Lebens - wie es da ist und.erfahrbar wird.­zurückkehren. Dabei ergab sich: Unser faktlsches Leben 1stunsere Welt - wir begegnen immer irgendwie, sind dabei »gefesselt«,abgestoßen, entzückt, angewidert, und die Ke~ntn.~snahmensind irgendwie bedeutungsbetont: wertvoll, glelchgultig,überraschend, nichtssagend usf. In solcher Weise in die erfahrbareUmwelt gehörend wird die Sclbstwelt erfahren.Es gibt in diesem Umweltleben auch keine theoretische Existenzfrage.»Wirklichkeit« - ihr Sinn ist erfüllt durch die bedeutungsmäßigund werterfüllten Bezüge, in denen sie stehen.!Umwelt nicht nur gemeint als die aktuelle, in diesell1 Momentwahrgenommene, sondern auch erinnerte, erwartete, gemeinte,sofern mir darin Umweltliches begegnet, so und so beansprucht.[Keine Introjektion!] .. _Ich lebe in der lebendigen Zugrichtung in eme Welt hmemund lebe sie aus. In dieser Zugrichtung faktischen Lebens begegneich zuweilen auch mir selbst, aber meist nur flüchtig: lehbin auf der Wanderung durch den herbstlichen Wald und lebeganz selbstvergessen in seiner Fülle; ganz im Vorbeigehenkommt ein Frohsinn über mich, mehr über meine Freudeselbst, über mein mich freuen Können - ich bin froh, daß ichmich freuen kann: ich mache Halt und bin versunken in dieLandschaft; mich friert; ich gehe weiter durch Dickicht, verletzemir die Hände; ich komme an eine Steigung, der Sturmschlägt mir ins Gesicht, ich bekomme Herzklopfen. Oder: aufdem benachbarten Turm schlägt die Uhr verkehrt und wird nachgerichtet;es schlägt also eine Viertelstunde lang andauer~:d;ich ärgere mich, daß ich das nun gerade anhören muß; wahrendder Arbeit die Pfeife stopfend, überlege ich mir, wo ich denI Schon die Frage. ob die "Velt vor meinen Gedanken sein soll - odE'r? I~rstereist einem Sinnzusammenhang des Umwelterlebens sinnwidrig.§ 22. Theoretische Erkenntnis der Selbstwelt»Faden« habe fallen lassen. Von einer Gesellschaft kommendfallt mir heiß ein, daß ich das und das nicht hätte sagen sollen:In einer wissenschaftlichen Untersuchung lesend, die ich vorJahren schon durcharbeitete, erinnere ich mich bei einer Stelle.daß ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. 2 .Ich erfahre mich, begegne mir in allen möglichen VVeisen,aber so, wie ich anderes auch erfahre: die Uhr auf dem Schreibtisch,die Unterstreichungen, die Randbemerkungen in der wissenschaftlichenUntersuchung.In einem mitweltlichen Kreis: wir alle freuen uns oder wirüberl~ge~ uns etwas, wi~ rätseln an etwas und sind gespannt,was dIe emzelnen und WIr selbst herausbringen. Ich selbst verschwimmein der Mitwelt, brauche in der flüchtigen, so und sogetönten Erfahrung gar nicht anders da zu sein. Nachdenklichkeitund zwar als praktisch selbsterzieherische: ich gehe mit mirselbst ins Gericht, überschaue mein Tagwerk. 3§ 22. Erneute Verdeutlichung der Problemrichtung dertheoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis von der SelbstweltDas in den letzten Stunden über Psychologie Gesagte ist inmehrfacher Weise mißverstanden worden. Es soll aber nichtmehr wiederholt werden. Ich versuche nur, die Problemrichtungerneut zu verdeutlichen [unter der erneuten Betonung dieDarlegungen so zu nehmen, wie sie gemeint sind, also nichtmehr, um eigene Theorien gar hineinzulegen].im »daß«im »a]s«ObjektSubjektSatzund Sinnschonmir G h I Lesproc enes a s eistung Betrachtung schon angelegt'------~~--~---------------~/Keine eigentliche Grund-Erfahrung5 Möglich A f" G d f_ Z er usgang ur run er ahrung (Einheit des Lebens _ Urstrukturusammenh ) IM' .senh . ang a s otlvatlOnszusammenhang - philosophisch: GeschloseI!und GanzheIt des Selbst bei aller erlebten Weltfülle.97


! .98 Bereitung des EifahrurzgsbodemWir stehen in unserem faktischen Leben und sprechen undverstehen im Umkreis unserer Verständlichkeit. Es wurden imfaktischen Leben angetroffen - unter ständiger Betonung desVorläufigen, Rohen, also nicht im scharf präzisierten »Als« dercharakteristischen regionalen Zugehörigkeit und Regionsbestimmungund noch weniger unter Bestimmung der Weise derAbhebung und seiner theoretischen Fassung - Um-, Mit-,Selbst-Welt _ genuine Lebenswelten. Faktisch hingezeigt aufdie »Zugespitztheit« auf die Selbstwelt; ihre Betontheit als Anzeigeeines besonderen Gebiets genommen und die Frage gestelltnach seiner möglichen theoretisch wissenschaftlichen Ausdrückbarkeit.Ich sagte: ich bezeichne die Wissenschaft von der Selbstwelt»Psychologie«. Es war das lediglich eine bequeme Namengebungfür einen noch nicht scharf umgrenzten Problemkreis, indem nichts präjudiziert ist. Vorsichtiger wäre gewesen, das Wortzu vermeiden - weil man meist und leicht an eine bestimmteeinzelne Ausprägung der Idee der Psychologie denkt - undstattdessen immer das umständliche »theoretisch-wissenschaftlicherAusdruckszusammenhang der Selbstwelt« zu verwenden.Psychologie war der Name für, wie sich uns dann zeigte, mannigfaltigetheoretische Tendenzen und Aspirationen, derenDurcheinanderlaufen für die heutige Problemlage typisch ist.Die Verwirrung liegt ja nicht darin, daß die genannten Tendenzenüberhaupt lebendig sind, sondern sich mit Aspirationen beladen,deren Erfüllungsmöglichkeit ihrem eigenen Sinn zuwiderläuft,was alles sich herleitet aus einer noch verdecktenMotivierung.Um die Verwirrung zu entwirren, wurden die Tendenzen deranderen Psychologie herausgestellt und nach ihren Motiven gefragt.Wir fanden ein echtes Motiv: streng wissenschaftliche,sachmäßige Erforschung der psychischen Phänomene, umreine Gegenstandssphäre für methodisch strenge Bearbeitungzu gewinnen; aber in eins ~amit die Verkehrung dieses echtenMotivs ins Unechte durch Ubernahme und Erborgen und zum§ 22. Theoretische Erkenntnis der Selbstwelt 99festen Selbstbesitz Verdichtenlassen einer bestimmten Fragestellungund Methodik - ohne vorherige Vorgabe der notwendigengenuinen Grunderfahrung. Verstoß gegen ein Wesensprinzipdes Geistes überhaupt, der sich so oder so »rächt«!Es wurde also nicht gesagt, die Psychologie sei falsch, ihre Resultatenichtig, verkehrt, wertlos, sondern ihr Problem als Wissenschaftsei nicht radikal genug gestellt, d. h. die theoretischenMotivierungsmöglichkeiten nicht rein herausgearbeitet und damitalle faktische Problemstellung, Umgrenzung der Aufgabengebieteund Methoden ungeklärt, zufälliger Initiative und zumTeil geistreichen Einfällen überlassen und in ständiger Gefahr,neuen verfälschenden Infektionen zum Opfer zu fallen. Prinzipder genuinen Sinn- und Sachangemessenheit jeder Ausdrucksgestalt:Einsicht und jeweiliger Vollzug - geht man dem Sinndes letzteren nach für ein Erfahrungsgebiet, dann ergibt sichein weiter Komplex von Problemen. Als erste Frage begegneteuns (vgl. S.94f., 1-5): Gewinnung der motivierenden Grunderfahrungund zwar Grunderfahrung der Selbstwelt; deren theoretisch-wissenschaftlicheErkenntnis ist doch Problem.Bisher wurde nur in roher Form auf die Selbstwelten hingezeigt.In ganz unvollkommener Betonung wußte jeder, wasgemeint ist, oder in welcher Richtung das Gemeinte liegt. DieSelbstwelt wurde aber weder selbst bezüglich ihres eigenen Sinnesals Selbstwelt geklärt, noch war die Rede davon, daß sieüberhaupt in einer vielleicht besonderen VVeise erfahrbar sei undwie diese aussehe.Auch damit, daß gesagt wurde: faktisch antreffbar ist das faktischeZugespitztsein des faktischen Lebens auf die Selbstweltwar nichts präjudiziert. Diese Feststellung muß in der rohe~Gestalt genommen werden, in der sie gemeint war und muß~arin belassen werden, bis selbst im Zuge dieser BetrachtungenSICh neue Klärungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten geben.[Es geht also nicht an, übliche idealistische oder solipsistischeoder sonstige erkenntnistheoretische Meinungen hineinzudeuten.]


li100 Bereitung des EifahrurzgsbodensZwar trafen wir kaum bestimmte Gestalten von Ausdruckszusammenhängender Lebenserfahrungen, im besonderen denunter dem Titel »Wissenschaft«; vorgedeutet wurde sogar schonauf das Grundgerüst dieses Ausdruckszusammenhangs: Bereitungdes Erfahrungsbodens, Ausformung des Sachgebiets, konkreteLogik. Ganz allgemein wurde ein Hinweis gegeben(S.67f.) auf Lebenserfahrung - die Weise, in der ich im faktischenZuge des lebendigen Lebens mitgehend der Umwelt imweitesten Sinne begegne. Das irgendwie Erfahrene wurdecharakterisiert als das irgendwie im faktischen Leben Verfügbare:lebendiger faktischer Zusammenhang von Verfügbarkeiten.Diese faktische Lebenserfahrung ist gerade bestimmbardurch diese Unbestimmtheit und Unabgehobenheit einer besonderensich vordrängenden und lauten Einstellung, durchdas Fehlen und Nichtbedürfen eines ausdrücklichen Wechselsder Erfahrungsweisen, durch das strömende Hingleiten überund gar nicht zur Abhebung Kommenlassen von Umstellungender Weisen des Erfahrens. Alles und jedes wird erlebt in diesemvollen, in sich selbst unabgehobenen Zuge des lebendigen Mitgehens,Mitströmens oder sich Mitreißenlassens mit dem faktischenLeben.»Unabgehoben« - betrifft »erfahren« und »erfahrene Welt«.Zunächst: was im faktischen Leben begegnet, ist immer ein Anderesseinem Was und Wie nach. Das Erfahren selbst unterliegtmannigfaltigen Modifikationen, aber so, daß ein Grundstil sichdurchhält, in dem alles erfahren wird. Gerade zum Sinn der Erfahrungsweisegehörig, daß sie als solche ihrem Selbst nachnicht erfahren wird, sich nicht herausdrängt und abhebt gegenandere, es nicht kann, weil es keine anderen gibt. Auf das faktischeLeben hin gesehen ist dieses Erfahren absolut, sein Herrschaftsbereichfaktisch umgrenzt.§ 23. Das Problem der Gewinnung der Grunderfahrungder SelbstweltGewinnung der Grunderfahrung der Selbstwelt: es handelt sichalso um eine Erfahrung der Selbstwelt, in der diese selbst alssolche in ihrer Abgehobenheit erfahren wird, selbst also imeigenen Grundaspekt irgendwie eigentümlich erfahren wird.Aber nicht nur um den genuinen Vollzug einer Selbstweltgrunderfahrung,sondern zugleich um ein Verstehen ihrer Besonderheitals gerade dieser Grunderfahrung (nicht Vollzug nur derGrunderfahrung, sondern »Gewinnung«) handelt es sich. Wirwollen verstehen: die Weise des Erfahrens der Selbstwelt, ihreneigenen Sinn, die darin beschlossenen Tendenzen und Möglichkeiten.Nun stellen wir die Frage nach einer besonderen, nach einerGrunderfahrung einer Welt - der Selbstwelt -, nach einer abgehobenenErfahrung, nach einem besonderen Stil des Erfahrens.Das schließt ein die Frage: was hier überhaupt Abhebungheißt, wie sie möglich ist, wie es zu besonderen Erfahrungenkommt und zwar kommt durch und in Abhebung aus der faktischvollen Lebenserfahrung und wie damit in der Richtungdes erfahrenen Was besondere Verfügbarkeiten und besondereZusammenhangsgestalten solcher begegnen. [Und letztlich imHintergrunde das eigentliche Zielproblem: wie sich aus diesenbesonderen Verfügbarkeiten und besonderen Weisen des Erfahr.ens~esondere theoretisch-wissenschaftliche Ausdrucksmöglichkeüengewinnen.J1. Wie es zur Abhebung eines besonderen Erfahrungsstilskomme; Abhebung - Abhebung woraus?2. Wie der besondere Erfahrungsstil selbst aussieht... 3 .. Wie die Welt aussieht und ihre Zusammenhangsform,die lIllhr erfahrbar wird.Es wurde im Vorstehenden gefragt, wie es zur Abhebung einerbesonderen Erfahrungsweise komme, zur Selbstwelterfahrung.Der Sinn dieser Frage muß noch schärfer gefaßt werden. NichtI


102 Bereitung des Eifahrungsbodensgefragt ist, wie Selbstwelterfahrungen faktisch entstehen - etwaim kindlichen Seelenleben oder gar in der phylogenetischenStammesentwicklung, was überhaupt eine widersinnige Frageist -, welches die günstigen und hemmenden Faktoren sind, diesolche Erfahrungen faktisch auslösen. Diese faktisch-entwicklungsgeschichtlicheBetrachtung setzt ja schon voraus, daß wirum den Sinn von Selbstwelterfahrung wissen, wissen, was damitgemeint ist; sonst bewegte sich ja die Fragestellung imDunklen. Abgesehen davon ist diese Betrachtung methodischeine solche des hypothetischen Ansetzens eines vermutlichen sound so Gewesenseins, während wir verstehen wollen den Sinnvon Selbstwelterfahren, überhaupt abgehobenem Erfahren -Frage nach dem Sinn. So ist auch die Frage, wie es. zur Abhebungkommt, eine sinngenetische; welche Möglichkeiten desSinnes von Abhebungen und besonderen Erfahrungsweisen imSinne der faktisch vollen unabgehobenen Lebenserfahrung liegen,die uns unmittelbar zugänglich ist, die wir selbst sind und diewir selbst faktisch leben. Unsere Frage: Gewinnung der Grunderfahrungder Selbstwelt und die daran schließenden weiterenFragen (Punkte 1-5) führen zurück auf Gewinnung der faktischunabgehobenen Lebenserfahrung überhaupt.§ 24. Der Bedeutsamkeitscharakter des konkretenLebenserfahmngszusammenhangsa) Die faktisch unabgehobene LebenserfahrungUm also den Sinn von möglicher Abhebung einer Erfahrungsweiseüberhaupt und Abhebung einer besonderen Grunderfahrungzu verstehen, muß die unabgehobene faktische Lebenserfahrungzur vollen Anschauung gebracht werden. Denn insofernsich zeigen wird, daß die aufzuweisenden Grunderfahrungenletzte Phänomene sind, lassen sie sich auch nicht weiter erklärenund sie widerstreben einer Erklärung (jede theoretische Frage ist§ 24. Zur Bedeutsamkeit der Lebenseifahrung 103abgeschnitten, sogar widersinnig!!). Sie werden aber gerade vollsichtig in ihrer phänomenalen Fülle, wenn sie selbst gegen einenmöglichst hellen Hintergrund gehalten werden.Wir sehen uns die volle faktische Lebenserfahrung an undheben bestimmte Seiten an ihr heraus, oder besser, wir lassensie in ihr, lassen nur stärkeres Licht fallen auf sie - also einenganz konkreten Lebenserfahrungszusammenhang, den wir auffrischer Tat ertappen, den wir aber nicht einschüchtern oder anstarren,sondern verstehend ihm nachgehen. Und zwar sehenwir hin auf das, was wir gerade erfahren. Wir denken nichts undwissen nichts von Umwelt, Mitwelt, Selbstwelt. Wir leben faktischin einem Was. Keine besonders ausgefallene Lebenserfahrung- ad hoc zurechtgemacht - greifen wir unmittelbar auf!Ohne Scheu vor Trivialitäten!Ich komme nach der Vorlesung aus dem Universitätsgebäude;drüben sehe ich einen Bekannten mich grüßen; ich erwidereden Gruß; beim Colosseum 1 vorbeikommend höre ich Musikesfällt mir ein, daß ich heute abend ins Theater will daß ichdas und das noch erledigen will, daß ich nicht zu spät kommendarf; zwischendurch kommt mir, daß ich an einer Stelle derVorlesung die Formulierung nicht so herausbrachte, daß sie dasGesehene adäquat wiedergab; im Weitergehen lebe ich in dem,was ich zuvor noch erledigen will; dabei sehe ich Menschen undgehe an einer Straßenecke in einen Zigarrenladen, kaufe mirSchweizerstumpen, höre den Herrn hinterm Ladentisch sehrlebhaft vom letzten Fußballwettspiel erzählen' , was er erzählt ,interessiert mich, mich nicht, wie er erzählt; während ich einpacke,sehe ich nur, wie er immer lebhafter und begeisterterwird über die glänzenden Leistungen eines Läufers.Was erfahre ich? Trivialitäten, Alltäglichkeiten - aber daskümmert uns nicht, wir könnten auch Gewichtiges erfahren. Vorallem, was ich erfahre, existiert wirklich: der Bekannte grüßtwirklich; die Musik spielt wirklich; es fällt mir wirklich ein; die1 [Ein zu dieser Zeit in Freiburg bestehendes Variete und Kaffeehaus.]


104 Bereitung des EifahrungsbodensSchweizerstumpen, die ich in meine wirkliche Mappe stecke,existieren wirklich; der Herr hinterm Ladentisch ist wirklich begeistert:der Straßenjunge macht wirklich diesen Hund wütend,benimmt sich wirklich ungezogen; der zaghafte und verzweifelteAnfänger in der Phänomenologie, dem ich Mut mache, ist wirklichzaghaft und mit sich selbst unzufrieden.b) Bedeutsamkeit als Wirklichkeits charakter desfaktischen LebensWas ich da erfahre, ist faktisch wirklich - existiert. Welches istder Sinn dieser »Existenz«? Wenn wir Antwort auf diese Fragewollen, muß alles über Existenzbegriff und alle erkenntnistheoretischenBeweise und Erklärungen fortbleiben; sondern eskommt darauf an, den phänomenalen Sinn des »wirklich« herauszusehen,in dem ich lebe und von dem ich im faktischen Lebennicht etwas ausdrücklich theoretisch weiß· Sofern ich faktischin all dem Gesagten lebe, mit ihm je nach seinem Gehaltso und so beschäftigt, daran so und so beteiligt bin, hat allesErfahrene - es mag inhaltlich so heterogen sein wie immer -denselben Sinn von Existenz. Man muß dabei alle Theoretisierungenwegdenken, nicht das heranziehen, was ein Erkenntnistheoretikerdarüber sagt, sondern sehen den Sinn, in dem dasfaktische Erfahren sein Erfahrenes erneut und immer im Charakterder Bedeutsamkeit hat. Auch das Trivialste ist bedeutsam,nur eben trivial; auch das Wertloseste ist bedeutsam.Teetrinkend nehme ich meine Tasse in die Hand; im Gesprächhabe ich meine Tasse vor mir stehen. Es ist nicht so, daßich etwas Farbiges oder gar Empfindungsdaten in mir als Dingauffasse und dieses Ding als Tasse, die in Raum und Zeit bestimmtist, etwas, das in Wahrnehmungs sukzessionen sich gibt,eventuell auch nicht existieren könnte. »Meine Tasse aus derich trinke« - in der Bedeutsamkeit erfüllt sich ihre Wirklichkeit,sie ist sie selbst. Ich lebe faktisch immer bedeutsamkeitsgefangen,und jede Bedeutsamkeit hat ihren Umring von neuen Be-deu~samkeite~:§ 24. Zur Bedeutsamkeit der Lebenseifahrung 105Beschäftigungs-, Beteiligungs-, Verwertungs-,Schlcksalshonzonte. Ich lebe im Faktischen als einem ganz besonderenZusammenhang von Bedeutsamkeiten, die sich ständigdurchdringen, d. h. jede Bedeutsamkeit ist Bedeutsamkeitfür ~nd in eine~ Tendenz- und Erwartungszusammenhang,der Immer neu 1m faktischen Leben sich bildet [eigentlicheForm: Situation - geöffnete]. In diesem unabgehobenen Charakterder Bedeutsamkeit steht das faktisch in faktischen LebenszusammenhängenErfahrene.Das darf nicht so verstanden werden, als hätte alles faktischErfahrene für mich jeweils den ausdrücklichen Charakter derbesonderen Bedeutung für mich; im Gegenteil, diese Mich­Bezogenheit, in der Weise einer solchen ausdrücklichen fehltgerade. Das heißt, es gibt für dieses Erfahren keine Schr~nkenkeine Barrieren. Fragen wie: ob die Welt unabhängig von mei~nen Gedanken an sie existiert, sind sinnlos. Es gibt keine Gedanken,die lediglich irgendwo existieren und von denen eineexistierende Welt abhängig sein soll (Außenwelt - Innenweltu. ä.).Das faktische Leben stößt sich nicht an erkenntnistheoretischen~heori~n. Diese sind keine möglichen Hemmungen, sofernes In faktIschen Bedeutsamkeitsbezügen lebt.Wenn ich den Bekannten mich grüßend sehe und im faktis:henSehe~ den Gruß herzlich erwidere, sah ich ihn grüßen,mcht etwa eI~e ~ewegung eines materiellen Körpers im objektivenRaum, dIe Ich als Zeichen für Gruß auffasse und darausschließe: also muß ich auch eine Bewegung vollziehen, die dieUrsac~e dafür is~, daß der andere besondere Bewegungen~rnI~mt. und SIe ~ls m~in Grüßen auffaßt, son~ern ich sehegrußen, und dIe EXIstenz des Bekannten 1St seine be­~timmte Bedeutsamkeit für mich in dieser Situation. Wenn ichun Zweifel bin, frage ich nicht meinen Begleiter: »War da drübeneine Annbewegung wirklich?«, sondern ich frage: »Hat derHerr gegrüßt oder nicht?« Oder wenn ich scherzhaft einem Bekanntennachfrage: »Existiert der eigentlich noch?«, und es


106 Bereitung des Eifahrungsbodensantwortet mir jemand: »Ja, ich saß neulich mit ihm abends imCafe Schanz«, oder: »Er hat dieser Tage ein bedeutendes Bucherscheinen lassen.« Das Gesagte erfahrend, erfahre ich seineExistenz, nicht so, daß ich auffasse und daraus schließe: Also ister wirklich in Raum und Zeit wie der Mars oder der Feldberg,sondern die Existenzerjahmng endigt und genügt sich in der Bedeutsamkeitscharakteristik.2So existiert faktisch die Begeisterung des erzählenden Herrnhinterm Ladentisch; die Mutlosigkeit des anfangenden Phänomenologen ; die Unartigkeit des Straßenjungen; die Verliebtheiteiner Bekannten und ähnliches; mein Versagen im Ausdruck;mein momentaner Ärger darüber; meine Müdigkeit. Der Sinnvon »Existenz« liegt im faktischen Leben in den aktuell erfahrenen,erinnerten oder erwarteten Bedeutsamkeiten, so daß dasso und so bestimmte erinnerungs- oder erfahrungs- oder erwartungsmäßigeErfahren in einer vollen konkreten Einheit sichvollzieht (geöffnete Situation). Auch wo in bestimmt Erfahrenemtheoretische Momente stecken, sind diese einschlußweiseda, eingegangen in die jeweils lebendige Bedeutsamkeit. Siekommen ihrem Eigen-Sinn nach nicht zum Recht; entsprechendist auch phänomenal kein theoretisches Verhalten aufweisbar.Sie werden nicht im »Als« der theoretischen Gegenständlichkeitgemeint - so, wenn man sagt, man gebrauchtschon im täglichen Leben bestimmte Begriffe, aber nicht alsBegriffe.Alles Erfahren steht in dieser Charakterisierung und bedarfdaher nur dieser Weise des Erfahrens. Auch das >etwas


I108 Bereitung des Eifahrungsbodensschungen beim Hinsehen auf die in Betrachtung stehendenPhänomene ist wichtig, daß gerade die phänomenalen Charakterein ihrer Nichtabgehobenheit als im aktuellen Erfahrennicht noch akzessorisch Mitgemeinte gesehen werden; daß manalso die ausgedrückte, dargestellte phänomenologische Sichtigkeitnicht umdeutet in eine phänomenale Gewußtheit und beimNichtvorfindenkönnen dieser schließt auf eine phänomenologischeTäuschung und Konstruktion!Wenn also eine Reihe von lebendigen Erfahrungszusammenhängenbezüglich des immanenten Sinnes der erfahrenen Weltwirklichkeitphänomenologisch durchforscht werden und gesagtwird: »Ich halte aber doch nicht alles und jedes, was icherfahre, für bedeutsam, habe kein ausdrückliches Bedeutsamkeitsbewußtsein«,so ist das: 1) kein Einwand gegen dieausgesprochene These, denn so etwas dürfte gerade nicht gesagtwerden, sofern der ganz unreflektierte Charakter desim faktischen Lebenszuge Erfahrenen ergriffen werden sollte;2) nur ein Anzeichen dafür, daß das Phänomen, die Bedeutsamkeitselbst, nicht ursprünglich gesehen ist, vor allem nicht inseinem unangetasteten Leben, d. h. in seinem Lebenszusammenhang.4 Dieser gehört selbst zum faktischen Leben an sichoder ist es geradezu. Die ständig offenen, wenn auch nicht aktuellgewußten Erwartungshorizonte, die merkwürdig vorzeichnenden,aus der irgendwie vorgezeichneten Zukunft motivierendenTendenzen lassen das faktische Leben jeweils aufgehenin seinem Erfahrenen, das als solches den Sinn von Bedeutsamkeithat. Das Zu-fällige im Leben, das Überraschende, Neuesind charakterisiert als phänomenal in verschiedener Weiseherausfallend oder einfallend aus und in den jeweiligen Erwartungszusammenhang,der seinerseits vom faktischen Leben getragenist.§ 24. Zur Bedeutsamkeit der LebenseifahrungEs ist also nicht so, daß das faktische Welterfahren bezüglichdes Sinnes von Wirklichkeit, in dem es lebt, phänomenal charakterisiertwerden dürfte als Urteil über den Wert oder die besondereBedeutung des gerade Erfahrenen. Abgesehen davon,daß hieraus das zu Klärende geradezu als erklärende Voraussetzungseiner selbst genommen würde, und abgesehen davon,daß so etwas phänomenal nicht aufweisbar ist - daher in unsererThese, wie oben klargestellt, nicht gesagt wurde -, ist Bedeutsamkeithier fälschlicherweise genommen als konstitutivesKorrelat eines Wertnehmens oder Wertung oder gar ausdrücklichenWertbeurteilung 5 .G~wiß sp~elt das Wertnehmen, aber wieder als unabgehobenes,1m faktIschen Erfahren eine beherrschende Rolle und leitetdi~ Aufbau.gestalten und Erfahrungswelten und hat gerade beisemer faktIsc.hen Unabgehobenheit einen innigen Sinnbezugzum Grundsmn der faktischen Erfahrungswirklichkeit. DerSi~n >Bed:utsamkeit


110 Bereitung des Eifahrungsbodenssich hier wiederum, daß Phänomenologie »vorausgesetzt« wirdbei ihrer eigenen Grundlegung, aber nicht als Bedingungsbestandder Geltung der Sinnzusammenhänge, sondern als faktischesVertrautsein mit der Weise des Sehens, das überall einsetzenkann. Diese Steigerung des »Nicht« ist in der Phänomenologiekeine willkürliche, wahllose Summierung, sondern bewegtsich in streng methodischen Bahnen und ist in sich positivschöpferisch für die mögliche Darstellung und den Ausdruckszusammenhangder phänomenologischen Wissenschaft selbst,zwar nur möglich innerhalb eines positiven Habens des Phänomensselbst, zugleich aber methodisch in der Funktion der Bildungechter, phänomenologisch reiner Situationen. Die methodischjeweils aus dem Problemzusammenhang vorgezeichneteRichtung und das Ausmaß der phänomenologischen Situationsbildungfür das einschnappende unmittelbare Sehen derPhänomene, die - Eigenartigkeit des absoluten Sehens - geradedoch nur im Gegensehen voll phänomenologisch ausdrückbarwerden, macht die phänomenologische Forschungsehr schwierig, entbindet aber nicht von der einmal als prinzipiellnotwendig erfahrenen Aufgabe. 7§ 25. Die Kenntnisnahme als Grundphänomena) Natürliche Kenntnisnahme als im Stil des faktischenErfahrens sich haltende nicht theoretisch-wissenschaftlicheGegenständlichungDas Problem ist: Ausformung einer bestimmten Grunderfahrungaus der faktischen Lebenserfahrung. Der Sinn von Wirklichkeit,in dem diese lebt, ist angezeigt und zwar als alle Erfahrungenihrem Grundsinn nach so durchherrschend, daß es7 Von hier aus wird der früher berührte Charakter der Selbstgenügsamkeitum ein weiteres verständlich (Bedeutsamkeitszusammenhänge). Vgl. obenS. 29ff. - Zu diesem Komplex vgl. Anhang BI!., Ergänzung 9, S. 218-220.§ 25. Das Grundphänomen der Kenntnisnahme 111keiner inhaltlichen oder regionalen oder noch radikalerer Abhebungoder Erweise bedarf, um bestimmt ausformbare Lebensweltenfaktisch doch zu erfahren, aber nicht im >Als< derabhebenden theoretischen Isolierung oder gar wertmäßigenRangordnung. Wir fragen nun: Läßt die unabgehobene faktischeLebenserfahrung irgendeine Modifikation ihres Stils zu,so daß aus dieser Modifikation Möglichkeiten besonderer Erfahrungsformensich ergeben?Ich kann im faktischen Erfahren, im Erwartungszusammenhang,den vollen Motivationsgeweben, unreflektiert lebenddoch besinnlich erfahren, dabei nachdenklich sein. Das Erfahrenekann ich mir erinnerungsmäßig zurückrufen undzwar in der Tendenz, erinnernd es wieder faktisch durchzukosten.Erfahrenes kann auf mir lasten, mich beschäftigen,oder ich kann im Erfahren interessierend gleichsam zurKenntnis nehmen, mir besonders merken; ich kann Erfahrenes>erzählen< und zwar in faktischen Lebenszügen. 1 Mankommt im Gespräch auf gemeinsam Durchlebtes und erzähltsich gegenseitig alles wieder durch. Man hält sich nicht gegenseitigReferate, und es ist, ganz abgesehen von dem Wascharakterder Gegenständlichkeit, entfernt anders, als wennich in der Zoologie beschreiben soll, was ich im Mikroskopsehe.Es werden faktisch erlebte Bedeutsamkeitszusammenhängezwar expliziert, aber doch in ihrer lebendigen Faktizität dabeibelassen. Die Explikation ist die kenntnisnehmend erzählende,aber im Grundstil des faktischen Erfahrens, des vollen Mitgehensmit dem Leben. 21 Bericht des Boten in Sophokles' »Antigone« über Antigones Frevel!2 . Bedeutsamkeitszusammenhänge einmalig, unwiederholbar; Erwartungshonzontwächst, ist immer ein neuer; es begegnet im Erfahren nie ein Gleiches;wo das so aussieht, ist bereits verdinglichende Objektivierung im Spiel.Umwelt - das so Umgrenzte immer wieder lebendig erfahrbar. weil das Lebe.n,mächtiger< ist als das theoretische Erkennen und seine Begriffe! Keine Begriffe,sondern bedeutungsmäßig Sinn nach!


I:" I112 Bereitung des ErjahrungsbodensDie Kenntnisnahme, wie diese Weise der in dem Stil desfaktischen Erfahrens sich haltenden, nicht theoretisch-wissenschaftlichenGegenständlichung genannt sein soll, begegnet inverschiedenen Ausdrucksgestalten, Formen des täglichen, persönlichenoder öffentlichen Verkehrs. Sie kann sein gegenwärtigendeoder vergegenwärtigende Kenntnisnahme und ist imWechselverkehr zugleich Kenntnisgabe: Unterhalten, Erzählen,Berichten, Anordnen. Der sprachliche Ausdruck ist faktischsehr oft abgerissen, unvollständig, aber um so charakteristischer.Entscheidend ist jedoch das im Ausdrücken Gemeinteund das Wie des Gemeinten - und das sind immer Bedeutsamkeitsverhalte,deren Zusammenhang sich stiftet aus dem fließendenErwartungszusammenhang des faktischen Lebens. Inden Bedeutsamkeitsverhalten ist noch die Bedeutsamkeit da.Die Beziehung, der Verhalt ist nicht ein Sachverhalt und nichtsolches und als solcher gemeint, sondern ein Lebensverhalt_ die Tendenz des Vorwärtsdrängens mit ihren Horizontenschwingt darin. Im Bedeutsamkeitszusammenhang ist keineOrdnung im Sinne der besonderen Ordnung der Gesetzlichkeitder Sachgehalte gegenständlich erfahren. 3 Nicht die reinenSachverhalte sind Maßstäbe und Leitfäden der Einheiten vonKenntnisnahmen und ihres Ausdrucks, sondern die faktischerfahrenen Bedeutsamkeitsgehalte in ihrem durch ihren FaktlzItatssinnge stifteten historischen Zusammenhang. JedeExplikation untersteht einer Leitidee. Die Explikation derKenntnisnahme ist motiviert durch die jeweilige herrschendeErwartungstendenz und erhält von ihr her die Richtkraft· JedeExplikation ist kein bloßes »Aufrollen«, auf ein gemeinsameshomogenes Brett schlagen, sondern immer in der genuinenLeittendenz gewonnen aus Gestalten. 4) »Unordnung« = Abwesenheit von Ordnung (einer bestimmten Ordnung.Ungewißheit der theoretischen Ordnung (Bergson)) in der faktischen Lebens er 'fahrung bezüglich des Stils (einschlußweise woh!!!).4 Vgl. Manuskript »Über Explikation«, 1 [im Nachlaß nicht auffindbar]..§ 25. Das Grundphänomen der Kenntnisnahme 113Entsprechend gestaltet der Gültigkeitsanspruch das kundgegebene,Bedeutsamkeitsverhalte ausdrückende Kenntnisnehmen.Sofern die Gegenständlichkeit der Kenntnisnahme überhauptnicht aus dem faktischen Erfahrungszusammenhangheraustritt und eine dem faktischen Leben gegen-überstehendeselbständige Objektivität nicht ausformt, sondern das Gegenständlicheimmer aufgeht in dem Bedeutsamkeitszusammenhangder faktischen Lebenssituationen, darf von Gültigkeit undGeltungsanspruch der Kenntnisnahme strenggenommen garnicht gesprochen werden, obwohl andererseits der Erlebnischarakterder faktischen Erfahrungsgewißheit ein absoluter ist, unerschütterlichist und sich oft auch gegen jede herangebrachtetheoretische Beweisführung hartnäckig versteift und behauptetund z~ar als lebendige, in der faktischen Erfahrung erwachseneUberzeugung, die nicht lediglich und überhaupt als theoretischesGebilde dasteht, sondern wirklich ist in der Form derBedeutsamkeit. Die Überzeugung trägt mein Leben; ihre Tragweiteist keine solche theoretisch faßbar genereller Gültigkeitfür, Gesetzlichkeit für oder ähnliches. Es wäre aber ebenso wiedie Annahme einer theoretischen Ordnung verkehrt die Grenzansetzungdes faktischen Lebens als einer ungegliederten chaotischenDumpfheit und Dunkelheit, »Dösnis«, so daß jedeArtikulation fehlte; es hat vielmehr eine höchst reiche und lebendige,an die alle Mannigfaltigkeit theoretisch dinglicher Beziehungennicht heranreicht.Die Kenntnisnahme - ihre Ausdrucksform - ist als explizierendeModifikation des faktischen Erfahrens vom selbenschrankenlosen Herrschaftsbereich wie dieses' und vor allembraucht nicht das zur Kenntnis Genommene ~bheben, in derWeise, daß sie es in ein >Als< regionaler Charakterisierung setztoder gar der besonderen Ausformung eines besonderen Erfahrungsstilesbedürfte.Ich erfahre im faktischen Lebenszuge auch mich selbst, abergar nicht im »Als« meines Selbst. Solche Erfahrungen könnenzur Kenntnis genommen werden und zum Beispiel ungezwun-l


114 Bereitung des E1ahrungsbodensgen und unabgehoben eingehen in Erzählungen. Mein Selbststeht unabgehoben im durchgehenden Charakter 5 des faktischgelebten Bedeutsamkeitszusammenhanges. Kenntnisnehmendsolche Erfahrungen und erzählend werden nicht psychischeVorgänge oder so etwas als Geschehenszusammenhänge derobjektiven Zeit gegenständlich, sondern ich erfahre mein Selbstnur in und durch seine Leistungen und Schicksale, die selbstden einheitlich einzigen Charakter der Lebenswirklichkeit habenim faktischen Lebenszusammenhang und zwar so, daß dieLeistungen weder im Als meiner ausdrücklichen Leistung nochim Als des lediglich Vorgehens in mir - des irgendwoher Verursachtseins- zur Kenntnis genommen wurden. Allerdings gibt esauch hier im faktischen Erfahrungszusammenhang und demihn ausdrückenden Kenntnisnehmen ein ganz eigenes >Als< derCharakterisierung, aber es ist nicht das >Als< der generellenoder sonstwie begrifflich regionalen Charakterisierung, sonderndas »Als« der Bedeutsamkeit, das notwendig immer situationsentwachsenes,historisches ist.b) Phänomenologische Bestimmung derKenntnisnahme als Modifikation der Einstellungdes faktischen ErfahrensAuf die Frage: JiVie kommt es aus der faktischen, nach besonderenWeisen des Erfahrens nicht artikulierten Lebenserjahrungmit ihrer Ungehemmtheit des Erreichens und der Gleichsinnigkeitderselben zur Abhebung einer Grunderjahrung? Zwar lerntenwir jetzt ein merkwürdiges Phänomen kennen: die Kenntnisnahme;weiter, bestimmte Konstitution dieser. Wir bezeichnetensie geradezu als Modifikation der faktischen Erfahrung, undandererseits lernten wir sie kennen als im Grundstil der faktischenErfahrung sich haltend. Ein merkwürdiges Phänomenalso deshalb, weil die Kenntnisnahme gleichsam auf der Grenze5 Vgl. S. 94f.f § 25. Das Grundphänomen der Kenntnisnahme 115steht: eine Artikulation und doch keine, sofern sie im Grundstilbleibt. 6Ein noch schärferes Verfolgen dessen, was modifiziert wird,in der Richtung, in welche der Sinn der Modifikation weistwird uns Horizonte eröffnen, deren Verfolg am Ende zu etwa~Neuem führt. 7Wir suchen also die >Kenntnisnahme< als Modifikation näherzu verstehen. Wir durchlaufen das Phänomen in seinen Strukturmomentenund fragen: 1. Was wird modifiziert? 2. Wozuwird es modifiziert? 3. Wie vollzieht sich die Modifikation undihr Vollzugs sinn? Was letztlich Modifikation besagt, ihren Sinnüberhaupt und die möglichen Tendenzzusammenhänge, in denensie selbst irgendwie stehen muß, können allerdings nochnicht besprochen werden.Ad 1) Konkreter Fall - Besuch: gemeinsames Bücher ansehen,Bilder betrachten, Tee trinken, Zigarren rauchen; daraufgemeinsamer Spaziergang; Wetter hellt sich auf, Sonne kommtdurch, Sonnenuntergang, Frischwerden - ein Erfahrungszusammenhang,in dem ich voll aufgehe. Abends werde ich gefragt:Was hast du heute nachmittag getrieben? - und ich erzähleden Besuch und den Spaziergang; oder ich denke abends selbstfür mich darüber nach, lasse es an mir vorbeiziehen oderschreibe das, was mir passierte, in mein Tagebuch - allg~mein:nehme es erzählend, mündlich oder schriftlich, oder besinnlichzur Kenntnis. Was wird modifiziert? Im Grunde nichts. DieKenntnisnahme will ja gerade nur erzählen, das Erfahrene gegenwärtigen,wieder vergegenwärtigen in der Lebendigkeit seinesErfahrengewesenseins, und sie wird gerade als vollkom-6 A,:ikulation (formal) bes,,:gt: Auszeiclmung, Abhebung, Ausformung, AusschneIden(vgl. Manuskript »Uber Psychologie«, S. 12) [= ein im Nachlaß vorhandenerAufsatz, der in der III. Abteilung der Gesamtausgabe veröffentlichtwerden wird).S F~ktisches Erfahren des Erfahren-seins - Passiert-seins - Verfestigung vontationen und Momenten - Entspannung vorbereitet - »aus« ~ ruhen!!7 vgl. Anhang BIl., Ergänzung 10, S. 221 f.


116 Bereitung des Eifahrurzgsboderzsmene Kenntnisnahme den Bedeutsamkeitszusammenhang inseiner Fülle wieder zur Gegebenheit bringen und zwar so, daßich es gleichsam wieder durchlebe, und der, dem ich es erzähle,es mitzuleben meint. Daß ich es einmal faktisch durchlebe unddann zur Kenntnis nehme, darin liegt zwar irgendwie ein Unterschied,den man begreifen kann als aktuelle Erfahrungenund vergegenwärtigte oder gar vergegenwärtigendes Erfahren.Aber was erfahren wird, soll ja gerade dasselbe sein, im selbenWie seiner selbigen Lebendigkeit. Wenn wir es »letztlich« formulieren:es ändert sich faktisch die Weise des Erlebens. SolcheFeststellung grenzt aber hart ans Triviale - eine von den berühmtenphänomenologischen Einsichten. Und daß solchesauch bei inhaltlich anderen Erfahrungen und vielleicht allenfaktischen Erfahrungen des Lebens faktisch möglich ist, daßdie Menschen im Einzelfall mehr oder minder genau und treuerzählen, mehr oder minder lebendig und bezaubernd erzählenund beschreiben können, das weiß auch jeder. Wozu also sovielWesens über längst Bekanntes und warum nicht endlich einmalsagen: was Phänomenologie ist.Also, was modifiziert wird, ist die Einstellung. Damit erledigensich auch die anderen Fragen: wozu modifiziert wird? Nun,eben zu einer anderen! Und wie vollzieht sich das? Die Einstellungselbst wird eben geändert! Die ganze Weisheit ist also:Wenn ich wahrnehme, erinnere ich mich nicht, und wenn ichmich erinnere, nehme ich nicht wahr. [Aber wir wollen dochsolchem unverdorbenen Geniestreich mit so sicherem Gefühlfür erledigte Selbstverständlichkeiten mißtrauen!]Fassen wir bezüglich der ersten Frage: Was wird modifiziert?,schärfer zu. Was modifiziert wird, wird sichtbar in der Anschauungdessen, worauf die Kenntnisnahme sich richtet. Ja, abergerade doch ihrem eigensten Vorhaben und Sinn nach auf dasselbe.Aber dieses >dasselbe< ist faktisch. Erfahren und im Kenntnisnehmendieses ErfahrerLS dasselbe und nicht dasselbe. Es istdasselbe, sofern ich nicht etwas aus dem russisch-japanischenKrieg erzähle oder eine Räubergeschichte erfinde und sie zum§ 25. Das Grundphänomen der Kenntnisnahme 117besten gebe, sondern die erfahrenen Begebnisse so, wie sie erfahrenwurden, erzähle. Und doch nicht dasselbe, sofern derphänomenale Zusammenhangscharakter dessen, worin ich erfahrendund davon Kenntnis nehmend lebe, verschieden ist. Imfaktischen Erfahrungsvollzug, in der strömenden Zugrichtunglebend, gehe ich auf in dem jeweiligen Begegnis. Ich lebe, wennauch nicht ausdrücklich bewußt, in einem Erwartungszusammenhang.Ungebrochen, ohne Barrieren übersteigen zu müssen,gleite ich von einem Begegnis ins andere, und eines um dasandere versinkt und zwar so, daß ich mich darum nicht kümmere.Ich komme gar nicht auf den Gedanken, so etwas überhauptzu beachten. Ich schwimme im Strom mit und lasseschlagen die Wasser und Wellen hinter mir. Ich schaue nichtzurück, und im nächsten lebend lebe ich nicht im eben gelebtenBegegnis oder weiß um es als eben gelebtem. Ich gehe auf inder jeweiligen Situation und in der ungebrochenen Situationsfolgeund zwar in dem, was mir in den Situationen begegnet.Ich gehe auf darin, d. h. ich sehe mir nicht an oder bringe mirzum Bewußtsein: jetzt kommt das, jetzt das, sondern in dem,was kommt, bin ich, vollebendig es lebend, verhaftet. Ich lebeden Bedeutsamkeitszusammenhang. Er wird in meinem Erfahrenund durch es als solcher geschaffen, insofern ich gerade daund da in dieser Erwartungsrichtung schwimme.Je. ungebrochener, reflexionsunbekümmerter, je ausgegossenerJede Momentanphase des faktischen Lebens gelebt wird,um so lebendiger ist der ablaufende Erfahrungszusammenh.ang.I?ie Horizonte wechseln ständig, und jeweilig nur füremen bm ich geöffnet und gleite so in den kommenden unddas immer in der völligen Abwesenheit des »als so und s;«, imFehlen jeder Charakterisierung des sich je erst bildenden Bedeutsamkeitszusammenhangsund seiner Phasen.Phänomenal liegt im faktischen Erfahren eine von Momentanphasezu Momentanphase fortschreitende, rückschauunbetroffeneZusammenhangsbildung (die im Strom bleibt und mitschwimmtund mein Schwimmen selbst so und so beeinflußt ,


118Bereitung des E1ahrungsbodensein Schwimmen, das immer aufgeht in seiner momentanenSituationsumgebung) - nicht gegenwärtige, im Fortschreitenvon gegenwärtiger zu gegenwärtiger Momentan~hase rüc~schauunbetroffenabfließende Zusammenhangsbildung, dIeüber ihre Bildung selbst wieder die fortfließenden Phasen bestimmt.Diese phänomenalen Charaktere, in denen das faktisch erfahreneWas erlebnismäßig sich gibt, sind in der Kenntnisnahmernodifiziert. In der Kenntnisnahme ist der Erfahrungszusammenhangvon vornherein als relativ Ganzes in Tendenzgenommen, ohne daß explizit jede seiner Phasen zunächst pr.äsentwäre. Das Erfahrene ist umweltzeitlich (»gestern nachmittag«)oder sonst bedeutsamkeitsmäßig als ?"an~heit chara~ter~siert,abgegrenzt und als etwas, dem ich, mIch emstellend m dieunscharf und doch bestimmte und zeitlich fixierte Dauer, nachgehenkann und im Vollzug der Kenntnisnahme nachgehe.In der Kenntnisnahme ist ein Zusammenhang als solchernicht nur überhaupt intendiert, sondern in dieser Tendenz stehendwird er in ihr selbst vergegenwärtigt. Die Momentanphasensind jetzt auch vergangenheits- und zukunftsgeöffnet undsie werden als irgendwie zusammenhängend eine bestimmteLebensganzheit bildend durchlaufen. Das Erfahrene ist alsGanzes abgehoben und als solches im Kenntnis nehmendenDurchschreiten zusammenhangsmäßig ausgeformt.Es ist nicht mehr die verströmende Erwartungstendenz, sonderndie Tendenz auf strukturmäßig einen Zusammenhang alserfahrenen als solchen ausdrückende Verfestigung - eine Verfestigung,die ihre Stützen hat in der umweltzeitlichen Um?renzungund der innerhalb dieser vollzogenen, bedeutsa~k~ltsgeleiteten,ausdrücklichen Zusammenhangsvergegenwartigung.Damit leistet die Kenntnisnahme eine ausdrückliche Gestaltgebung.Sie expliziert einen Zusammenhang, den das faktische Erfahrenselbst nicht kennt, für den es gar kein Organ hat. .Während also im faktisch in der Zugrichtung des Lebens mltundaufgehenden Erfahren phänomenal vorliegt: eine nicht§ 25. Das Grundphänomen der Kenntnisnahme 119selbst gegenwärtige, im Fortschreiten von lediglich gegenwartsgeöffneterMomentanphase zu Momentanphase rückschauunbetroffenabfließende, aber doch im Strom bleibende, d. h.tiefer liegende Zusammenhangsbildung, gibt sich in der Kenntnisnahmeeine den Erfahrungszusammenhang als solche Ganzheitso und so einende von vornherein - als zur Kenntnis zunehmende - abgrenzende und die Momentanphasen allseitigaufschließende und in der Gesamtintention zusammenschließende,so verfestigende Gestaltgebung, in der die Momentanphasenin ihrer vollen bedeutsamkeitsmäßigen Geöffnetheiterfaßt sind.Mit der Bestimmung des >Was< und des >Wozu< der Modifikationist auch schon das >Wodurch< und >Worin< des Vollzugsberührt. Das Entscheidende ist, daß das Leben, statt in Erwartungstendenzenlebenbildend fortzuschreiten, den Sinn von Erwartungszusammenhangstabilisierend und ihn als ausdrücklicheTendenz nehmend, so aus sich selbst heraus dem gelebtenLeben Gestalt gibt. Es kommt damit eine Wesensgesetzlichkeitdes Lebens an und für sich zum Ausdruck; es manifestiert seineabsolute Strömung und Geschichte in Ideen.Diese Prozesse der gestaltgebenden Verfestigung zu Verfügbarkeiten(vgl. oben) stehen unter diesen Möglichkeiten undzwar deshalb, weil in der erfahrenen Wirklichkeit- deren Sinn jaist: Bedeutsamkeitszusammenhang- bestimmte (und alle anderen)Bedeutsamkeiten die Funktion der Stabilisierung von Erwartungszusammenhängenals leitende erhalten können; in einsdamit heben sich Wirklichkeitskreise: Waffen, Hausgeräte, Nahrungsmittel,Heiligtümer, Familien, Stammesoberhaupt, Priester,Medizinmann - diese Gestaltgebung nicht gebunden anprimitive Kulturstufen, sondern in jedem faktischen Lebenszusammenhangantreffbar und ihn geradezu charakterisierend(und hat nichts zu tun mit generalisierender Begriffsbildung undEinordnung von Fällen unter Klassenbegriffe).Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß wir jetzt sinngenetischdieser Modifikationsrichtung überhaupt nachgehen,


120 Bereitung des EifahrungsboderlSsie radikalisieren und dabei nicht nach Faktischem fragen, sondernn~ch idealen Möglichkeiten des Sinnes und nach einer letztendarin sich bekundenden Idee.§ 26. Radikalisierung der Kenntnisnahme zum theoretischenDingerkennen als Erlöschen des spezifisch faktischenErjahrungszusammenhangsa) Vergegenwärtigung der phänomenalen Charaktere vor undnach der Modifikation der KenntnisnahmeDie Hebung von Wirklichkeitskreisen durch das Leitendwerdeneines Erwartungszusammenhangs, der seinerseits sich ausder faktischen Erfahrung bildet, ist eine solche, daß die gehobenenWirklichkeitskreise immer noch in der faktischen Erfahrungsweltverhaftet bleiben.!Denken wir uns eine ganze Fülle faktischer Erfahrungen undsie alle auch als zur Kenntnis genommene: erzählte, berichtete,vergegenwärtigte, darin beschlossen bestimmt gehobene B:­deutsamkeitskreise, vielleicht sogar so, daß jedes Erfahrene meinem solchen erfahrungs mäßig deutbar und gedeutet ist, so istzu sagen, daß diese Fülle von Lebenszusammenhängen einemerkwürdige gefährliche Chance hat.Alle Erfahrungszusammenhänge bezüglich ihrer Zusammenhangsform,alle bestimmten Erwartungstendenzen seienausgelöscht, das in den Momentanphasen Angetroffene sei wederin der Ordnung seines faktisch lebendigen Erfahrenseinsnoch in der besonderen Ordnung durch Hebung besonders ausgeformterund stabilisierter Erwartungstendenzen, dann ist dieKenntnisnahme und das zur Kenntnis Genommene der Stützenseiner Verfestigung 2 und der Mittel seiner Gestaltgebung be-1 das »als« der Bedeutsamkeit (keine formal-generelle Klassifikation; Strukturprinzipwieder wesentlich anders!). ..2 Umweltzeit - Bedeutsamkeiten als bestimmte Leittendenzen - uberhauptein möglicher ganzer Bedeutsamkeitszusammenhang.§ 26. Kenntnisnahme und Dingerkennen 121raubt. Der Zusammenhang bricht auseinander. Die unabsehbareMannigfaltigkeit von Trümmern ist aber nicht nichts, lediglichein dunkles Chaos oder gar in ganz verkehrter Deutung einGewühl von Empfindungsdaten, sondern jedes Trümmerstückstammt aus dem Zusammenbruch, ist ein Gebrochenes, einTorso, ein Fragment. Es trägt noch seine Herkunft des Bedeutsamkeitszusammenhangs,aus dem es herkommt. Aber die Zugängedorthin, das Nachgehen diesen ist verwehrt. - Trümmeraus dem Zusammenbruch einer Welt und zugleich möglicheechte Bausteine für den Aufbau eines Neuen, für einen Aufbau.Es handelt sich um die Radikalisierung der Modifikation derKenntnisnahme (zum theoretischen Dingerkennen), und zwarwird sie in der Weise durchgeführt, daß das Neue und die Verdrängungdes mit der Antastung Gefährdeten in bestimmterWeise und in der Richtung dieser Antastung gesteigert wird.Das alles spielt sich gleichsam ab in der Sphäre der phänomenalenCharaktere.Dazu bedarf es einer nochmaligen präzisen Vergegenwärtigungder phänomenalen Charaktere vor und nach der Modifikation.Vor der Modifikation: im faktisch lebendigen Erfahrungszugeein selbst nicht rückschaubetroffenes Fortgehen von lediglicheigener gegenwartsgeöffneter Momentanphase zu Momentanphase,welches Fortgehen zugleich ist eine nicht ausdrücklicheZusammenhangsbildung der Erfahrungen, die in dieser nichtartikuliertenLebendigkeit im ständig fortfließenden Erfahrenweiterleben.Nach der Modifikation: eine die Erfahrungen unter eine bestimmtgeleitete Ganzheitstendenz nehmende, ihn in seinen Momentanphasenallseitig öffnende und so aus dem unartikuliertenFortfließen abhebende Verfestigung des Zusammenhangs.Das Neue:I. die ausdrückliche so oder so (bedeutsamkeitsmäßig) geleiteteGanzheitsbildung; H. Öffnung der Momentanphasen unddamit IH. Schaffung einer von da motivierten Übersehbarkeit.


122 Bereitung des EifahrungsbodensAngetastet wird also das lediglich gegenwartsgeöffnete, in derZugrichtung eines Erwartungszusammenhangs fortschreitendeErfahren. Es wird verdrängt: in der Richtung der ganzheitbildenden,Momentanphasen öffnenden, Übersehbarkeit gewinnendenEigenzusammenhangsbildung.Die Modifikation radikalisiert sich also durch Steigerung dervordrängenden Momente, so daß die Eigenzusammenhangsbildungeine möglichst reine ist, d. h. nicht mehr von Gnaden desim lebendigen Erfahrungszuge sich stiftenden, in der Kenntnisnahmenur abgehobenen - allerdings schon auf Kosten seinerLebendigkeit und Zugrichtung abgehobenen - Erfahrungszusammenhangslebt.b) Das Erlöschen der ganzheitsbildenden Leistung derfaktischen Erfahrung als methodische FiktionWir kommen also am schnellsten ans Ziel, wenn wir die Fiktionmachen, daß faktischer Erfahrung jede Mitleistung versagtbleibt. Was heißt das methodisch? Wir machen diese vorgenannteFiktion. Eine phänomenologische Aufklärung hierüberim strengen Sinn ist jetzt nicht zu geben, dazu bedürfte es derausführlichen Theorie der phänomenolog~schen Situationsbildung.Wir treffen daher nur an diesem methodischen Sonderfalldie Vorkehrungen, die ganz grobe Mißverständnisse unmöglichmachen. Hierfür gehen wir zunächst vom Inhalt derFiktion selbst aus: Es soll fingiert werden, daß faktischer Erfahrungjede Mitleistung versagt bleibt. Das besagt nicht: daß faktischeErfahrung als faktisch von uns nicht vollzogen gedachtwerde. Ob und wie oft und ob nie mehr von der jetzigen Sekundean faktisches Erfahren vorkommt, ist phänomenologischgleichgültig (besagt für uns nichts). Andererseits kann aber dieFiktion ebensowenig besagen wollen, der Sinn von faktischerLebenserfahrung solle nicht bestehen, es solle dem Sinn nachso etwas überhaupt unmöglich sein, der Idee des Lebens an undfür sich widerstreiten. Meinte die Fiktion so etwas, dann höbe§ 26. Kenntnisnahme und Dingerkennen 123sie ja selbst den ganzen Problemkreis, in dem sie selbst für seineLösung eine bestimmte methodische Funktion hat, auf.Es soll also nicht fingiert werden, so etwas gebe es seinemSinne nach überhaupt nicht, sondern: faktischer Erfahrung seidie Mitleistung versagt. Fingiert wird ihr Erlöschen innerhalbdes, wenn auch nicht notwendig faktisch, so doch dem Sinnenach bestehenden lebendigen Lebens, in dem »faktisches Erfahren«selbst Sinn hat. Fingiert wird das >Erlöschen faktischerErfahrung< und zwar das Erlöschen nicht als ein konkretes hicet nunc zufallendes Ereignis, sondern wiederum: sinnmäßig3und zwar nicht in einem momentanen zufälligen Sich-das-so­Denken (das gibt die bekannten phänomenologischen Mißgeburten!),sondern streng im Sinnzusammenhang der jetzigenProblematik.Also faktisch prakti.~ch methodische Anweisung: Wir versetzenuns in ein möglichst lebendiges faktisches Erfahren, in dem wiraufgehen, in dem wir einer reichen Fülle von Leben begegnen.In dieser Situation bleibend versetzen wir uns in eine möglichstlebendige (vielleicht erzählende) Kenntnisnahme davon - dieseSituationen nun gleichsam komprimieren, auf die höchste Lebendigkeitund Zentralität steigern - zugleich nun phänomenologischreduziert.Über das Sichversetzen ist noch andeutungsweise zu sagen(was uns noch später selbst methodisch beschäftigen wird):Sich-ver-setzen in den betreffenden Erlebniszusammenhang,also Erlebnisse nicht gleichsam vor dem Blick paradieren, vorbei-marschierenlassen, womöglich noch als psychische Vorgänge,sondern selbst mitgehen, so »gehen«, wie es der zunächstverständliche Sinn (zu verstehender Sinn: Problem!)selbst vorschreibt. Weder nur vorbeiziehen lassen noch auch lediglichhinterhersehen, reflektieren, zu deutsch: das Nachsehenhaben, auch nicht darüber hinsehen - Mitgehen! Gehen ist3 "Erlöschen«: Phänomen in der Sinngenesis.


124 Bereitung des Erfahrungsbodensmehr als >Bewegen


126 Bereitung des Eifahrungsbodenssammenhangsbildung der explizierend abhebenden Kenntnisnahme.Die Tendenz dieser auf Eigenzusammenhang ist daund zwar wirklichkeitsgerichtet, aber da in einer Katastrophe,ohne Möglichkeit, einen Schritt zu tun, gerichtet, aber ins Leeregreifend, sofern jeder Sinn charakter von Bedeutsamkeit fehlt.Das Dastehende im Charakter des »nicht mehr« ist dastehendals ein Korrelat einer noch wachen Erwartungs- und Zusammenhangstendenzder Kenntnisnahme, zugleich ein »nichtschon«, d. h. es bleibt als dastehend stehend in einem bestimmtenHorizont-Zusammenhang - ein Zusammenhang, der Aufgabeist und als Aufgabe auf sich selbst gestellt: ein Trümmerfeldwohl, gesehen von der Bedeutsamkeitsverdrängung her,ein reicher, mit noch nicht übersehbaren Explikationsmöglichkeitengeladener Fruchtboden in der Tendenz auf abgehobenen,übersehbaren, expliziten Eigenzusammenhang.c) Die Idee der Dinglichkeit als Leitidee der WissenschaftSo ist in der phänomenologisch-methodischen Radikalisierungder Kenntnisnahme eine Idee erwachsen, die Idee eines reinen,abgehobenen, in sich selbst verfestigten, expliziten gegenständlichenZusammenhangs, den wir zur Kennzeichnung gegen dasformal Gegenständliche als Dinggegenständlichkeit oder Dinglichkeitbenennen.Aus dem phänomenologischen Prozeß der Herausbildungdieser Idee wird ersichtlich das sinnmäßige Rückbezogenseinder Dinglichkeitssphäre auf faktisch volle Bedeutsamkeitserfahrung.Ganz durchschlagend wird die Evidenz dieses Sinnzusammenhangserst, wenn der Primat des Lebens selbst volleinsichtig geworden ist. Eine Evidenz, auf der allerdings dieganzen Betrachtungen ruhen, eine solche, die aber jederzeit gewinnbarist - was für die phänomenologische Aufklärung unddas sinngenetische Verstehen der objekterkennenden Begriffsbildung,der Struktur dieser Begriffe von prinzipieller Bedeutungist. (Nicht so, daß man vom letzten Gewühl von Empfin-.~' 26. Kenntnisnahme und Dingerkennen 127dungsdaten ausgeht und fragt: Wie werden daraus Dinge undDingbegriffe!)Das erlebnismäßige Korrelat, die Lebendigkeit des Vollzugsdieser Idee, bezeichnen wir als theoretisches Dingerkennen.Der Erwartungshorizont ist jetzt selbst nicht mehr Funktion derfreien Lebensbewegung der faktischen Bedeutsamkeitserfahrung,sondern ist streng vorgezeichneter nach Was und Wie inder selbständigen Dinglichkeitssphäre selbst. Er erwächst imHinsehen auf sie, Hinsehen in der Zusammenhangstendenz.Im Wechselbezug zwischen Dingsphäre und der Aufgabe dertheoretischen Zusammenhangsbildung erwachsen bestimmtebesondere Leitideen, deren Herausstellung einen besonderenphänomenologischen Problemkreis ausmacht, den man selbstnie isolieren und noch weniger verabsolutieren darf.Zu letzterem ist die Gefahr groß und fast unüberwindlich.Der Grund liegt darin, daß die Idee der Dinglichkeit nicht auseinem bestimmten Erfahrungsgebiet entwächst, zugeschnittenist, sondern phänomenologisch herausbildbar ist aus der unabgehobenenfaktischen Erfahrung. Alles und jedes, was in dieseeingeht, steht in der Möglichkeit, betreffbar zu werden von dertheoretischen Tendenz auf Dinglichkeitszusammenhang, hatdie Chance der Verdinglichung. Wird also die Idee der Dinglichkeitund der theoretischen Dinglichkeitserkenntnis als Leitideeder Wissenschaft überhaupt und jeder Wissenschaft angesetzt,dann ist 1. in dieser Tendenz selbst überhaupt eine spezifischeGrunderfahrung unmöglich, 2. zugleich aber, falls man siedurch Rückgang in faktische Bedeutsamkeitserfahrung doch irgendwierealisieren könnte - auch nur der Idee nach -, hierüberflüssig und bedeutungslos, sofern ihr ja in der Dingerkenntnisnotwendig der Bedeutsamkeitscharakter überhauptund der besondere erst recht genommen würde.Zuvor muß eine Betrachtung eingeschoben werden, die sowohldas Vorangegangene weiter klärt, als vor allem für diekommenden Schritte und deren echten Vollzug notwendig ist:das Problem der Gegebenheit. Und zwar lassen wir alles Bishe-


128 Bereitung des E1ahrungsbodensrige beiseite und suchen das Problem aus dem Faktischen heraussoweit zu stellen, als es für die methodischen Zwecke unsererBetrachtung gefordert ist.ANHANGA


I. REKONSTRUKTION DES SCHLUSSTEILES<strong>DER</strong> VORLESUNG AUS HEIDEGGERSEIGENEN AUFZEICHNUNGEN1. Problem der dinglichen Objektivität und das Problemfeldder spezifischen GrunderfahmngIhn Gesagten ist das Problem der Gegebenheit in seiner einzigmöglich nicht konstruktiven, nicht im schlechten Sinne theoretisierendenWeise gestellt und die Lösung angedeutet.Das Problem der Gegebenheit ist kein spezialistisches Sonderproblem.An ihm scheiden sich die Wege der modemenErkenntnistheorie unter sich und zugleich von der Phänomenologie,die das Problem vor allem aus einer verengenden erkenntnistheoretischenProblematik loslösen muß.Eng verbunden mit dem Gegebenheitsproblem steht dasForm-Inhalt-Problem überhaupt, das wieder erst die modemeTranszendentalphilosophie im innersten beschäftigt, für dessenradikale Inangriffnahme ihr aber alle Mittel fehlen.Beide Probleme vorgebildet in der Kantischen »Kritik derreinen Vernunft«, wo aber nichts zum klaren Ausdruck kommt- wesentliche Unstimmigkeiten, die der Neukantianismusübernommen hat, ohne in die Wurzel des Problems zurückzufragen.Diese Auseinandersetzung ist mehr als eine akzessorischeAngelegenheit für die weitere Entwicklung der Phänomenologie,für die nichts gefährlicher, und ihrem Wesen zuwiderlaufend,ist.wie das Sichfestfahren in bestimmten Geleisen.Es seien kurz charakterisiert die beiden typischen Auffassungendes Gegebenheitsproblems in der Marburger Schuleund bei Rickert und zwar nur so weit, daß der Fragepunkt heraustritt.


132 Anhang AMarburger:Es ist nirgends von einem fertigen und gegebenen Gegenstandzu reden. Vor allen Gegebenheiten steht das Denken undseine Gesetzlichkeit, für welche allein ein Gegenstand »gegeben«sein kann.Der gegebene Gegenstand ist nicht das erste; seine Setzungruht auf einer ursprünglichen Denkfunktion. Also ist Erkenntnisüberhaupt nicht Analyse und Zusammensetzung aus Gegebenem.Gegenstand X - Aufgabe der ins Unendliche fortschreitendenSetzung. Nur in ideeller Vorwegnahme des Vollendetseins desProzesses der Setzungen des Denkens ist überhaupt vom Gegenstandder Erkenntnis zu reden.Gewiß liegt im Denken die Bezugnahme auf eine materialeSinnlichkeit, aber diese materiale, die Empfindungen, sinddoch selbst nie anders vermittelt als durch Denkfunktionen -und sind überhaupt nur gegenständlich, sofern sie in das Relationssystemder Denkansetzungen durch das Denken selbst eingefügtwerden.Das Problem des Konkreten kein anderes als das des Unendlichen.Das Aposteriorische muß sich vielmehr aus dem Apriorischenim gleichen Sinne erzeugen, wie die Einzelglieder derReihe durch deren Gesetz einzig in Beziehung auf die ganzeReihe bestimmt, ja durch sie überhaupt nur sind, was sie sind.1. Die Verabsolutierung des mathematischen Reihen- undGesetzesdenkens zum theoretischen Verhalten, überhaupt dieOrientierung aller Probleme und Begriffsbildung an der Reihengesetzlichkeit(man sieht darin zugleich eine Überwindungdes Aristotelischen Systems von Gattungen und Art).2. Die theoretisch formale Ansetzung von Empfindung -als X (Erkenntnisgleichung), wobei die Frage nach der Weisedes Bewußtseins der Empfindungen, wie sie im Bewußtseinals zu bestimmende überhaupt präsent sind und mögliches X,welche Prozesse das bereits voraussetzt, so nicht gestellt wird.3. Ein starrer Begriff des Bewußtseins, der im Grunde be-Rekonstruktion des Schluß teiles 133sagt: logische Denkbestimmung des Gegenstandes, die selbstnur Setzung ist als Moment in einem unendlichen Prozeß desSetzens.4. Im weitesten Sinne liegt im Hintergrunde das Problemder Dialektik.Grundfehler aller Verabsolutierung der Dialektik liegt in einemÜbersehen dreier verschiedener Problembezirke: a) der Gegenstandserfassung,b) des Ausdrucks und der logischen Bestim -mung des Erfaßten; und dieses Übersehen und Verwechselngründet in einer unechten - Konstruktion - nicht ausweisbarenTheorie des Bewußtseins, wie sie typisch in der MarburgerSchule zum Ausdruck kommt.Erfahmng ist Denken!Erfahmng gibt es nicht ohne Denken. Ein reines aposterioriUrteilen gibt es nicht. Auch in der primitivsten Erfahmng stecktDenken. Rickert rückt noch eine Stufe tiefer in dem Aufweis vonaller Formbestimmtheit!Transzendentale Wertphilosophie (Rickert 1 , Lask):Bei Rickert von Anfang an ein anderer Aspekt; das Tatsächliche,»Wahrgenommene« ist gegeben - es ist das, was unmittelbarerfahren wird; diese Erfahrung hat jede Erfahrungwissenschaftlich vorauszusetzen, um solche zu bleiben. In derErfahrung steckt etwas Letztes, Unableitbares, >Irrationales


134 Anhang Akennen vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus.'Hier findet alles »Denken« eine Grenze. »Nur darauf reflektiereich, daß ich dies Blau und dies Rot >als Tatsache< anerkenne«,ihm die Form der Gegebenheit zuspreche.+ Wir suchendie gemeinsamen Formen der Urteile - und keine rationalistischeAbleitung der Gegebenheit aus einem darüberliegendenPrinzip.5»Gegebenheit als Kategorie zu verstehen«!GDann ist zu zeigen, daß auch die Wahrheit der reinen Tatsächlichkeitsurteile,»die nur Bewußtseinsinhalte als gegebenkonstatieren«7, auf einer Form beruhen, daß auch dort, woman lediglich Inhalt anzunehmen gewohnt ist, noch Formsteckt!»Farbe ist« = »Farbe ist Bewußtseinsinhalt, ist Tatsache, istgegeben, ist wahrgenommen.«8»Diese Farbe« - »diese gegebene Farbe« - im Bereich derbloßen Vorstellung nicht einem anderen zuschieben!Kategorie der Gegebenheit: Form des >Diesseinswahrgenommener Sinneseindruck


136 Anhang Aman eine Methode lernt und beherrscht. Das Eigentümliche derphilosophischen Methode selbst ist es, daß sie nicht technisierbarwird, und wo die Versuche dazu scheinbar gelingen und dieAbsicht sich durchsetzt, in dieser abgelösten Mittelhaftigkeit sieanzuwenden und in der faktischen Anwendung »Resultat« an»Resultat« zu reihen und eine Erkenntnismasse aufzuhäufen,ist philosophisches Problemfeld schon verlassen, und es ist hoffnungslos,mit der Methode und ihren feinsten Differenzierungenes je wieder zu gewinnen.Die bisherigen Betrachtungen wären gänzlich mißverstandenund hätten die philosophisch verstehende Haltung überhauptnoch nicht erreicht, wenn sie als Erkenntnissätze, sogenannteWahrheiten, hingenommen würden, aus denen etwas folge, sichmit logischer Notwendigkeit ergebe.Vielmehr sind sie eine Form, Gestalt der Vorbereitung der Situationphilosophischen Verstehens, eine Weckung der Disposition,um das philosophische Erfassen frei werden zu lassen;genauer: das Erfassen des Weges zur philosophischen Problematikselbst.Wir haben uns - einseitig - auf einen besonderen abgehobenenStandort hinbewegt, von dem aus sich bestimmte, ihm zugehörigeHorizonte darbieten. Es soll nun der Versuch gemachtwerden, von ihm aus die philosophische Haltung zu gewinnenund zugleich damit die Isolierung wieder aufzuheben, d. h. sieals Isolierung selbst philosophisch verstehen. Auch die Zugespitztheitwird zurückgenommen!![Diese eigentümliche Betrachtungsweise ist im Gang der Vorlesungdurchgehalten, hier jetzt aus praktischen Gründen Abbruch.Notwendig zur Folge, nicht ausführend konkret: derReichtum der Bezüge verdeckt.Einschieben: Erörterung des Phänomenbegriffs und Gewinnungeiner Idee von Phänomenologie, d. h. Subjektität - nurdie Ausformung des Lebens - allerdings die, die eine besondere,aber nicht transzendentalphilosophisch umbiegbare und verabsolutierbareRolle spielt. Nicht darauf zurück zur Methode: Pri-Rekonstruktion des Schluß teiles 137mat des Lebens schon in den gegebenen Betrachtungen vorgedeutet.Frage: ob die philosophische Gegenstandsbemächtigungstetig zu gewinnen ist oder durch einen Sprung; und nun:ob Sprung besagt: Springen ist eine neue Haltung, die irgendwieals Vermögen bereitliegt - oder: reine Gewinnung eines bereitslebendigen Verhaltens? Ist dann nicht eine Stetigkeit da?Wo ist da noch der Sprung? Also kein Sprung? Das besagt nicht,daß philosophische und nichtphilosophische Haltung nichtgrund-verschieden sind.]Rück- und VorverweisungIdee-ansetzung: Ursprungswissenschaft vom Leben an und fürsich; Weise der Darstellung - Ausdrucks: Vor- und Zurückspringen;das Nicht-von-der-Stelle-Kommen und doch das Sichdem-Ursprung-näher-bringendeutet auf eine eigentümlicheWissenschaft, so daß die Bezeichnung letztlich unangemessenwird, je näher wir dem Ursprung kommen. (»Strenge« der Methode)Die »Strenge« der Methode hat nichts zu tun mit rationalistischerExaktheit der Naturwissenschaft. »Strenge« betrifft nichtlogisches Beweisen und unwiderlegliches Argumentieren, restlosesAufgehen der Rechnung oder gar mathematische Klarheitder Begriffe; »streng«: »angestrengt« - rein hingegeben den echtenLebenssituationen; aber auch nach der anderen Seite gesehen:nicht Mystik und Mystizismus, keine willkürlichen Verstiegenheitenund schwächlichen Ahndungen!!Selbstgenügsamkeit, Ausdruckscharakter, Bedeutsamkeit -die jetzt nicht formalisiert und zum Überhaupt verblaßt werdensollen, sondern in der Weise phänomenologischen Ursprungsverstehensselbst als selbstgenügsame, bedeutsame Ausdrucksgestaltendes Lebens in seiner absoluten Konkretion interpretiertwerden sollen (Mitbringen von und Mitgewinnen von Situationsbedingungen).Entsprechend der besonderen Betonung des AusdruckszusammenhangsWissenschaft (Kenntnisnahme) sollen die dortangetroffenen Bestimmungscharaktere zurückgenommen wer-


138 Anhang Aden und das Problem des phänomenologisch-philosophischenAusdrucks des Lebens gestellt werden - zurückgenommen,d. h. die philosophische Einstellung geht nicht in die Richtungder Objektivierung.*3. Echte »Stufen« des reinen VerstehensAnschauung und zwar Erlebnisanschauung, d. h. originäre genuineErlebniserfassung; die Erlebnisse selbst - nicht Derivateihrer, sondern sie in ihrer phänomenalen, überhaupt in möglicheBetracht kommenden Fülle, und zwar immer in Situationen,genuin als Erlebnisse und nicht als irgendwie begegnendeObjekte - d. h. Erfassung hat hier eine eigene nirgends sonstantreffbare Gestalt des reinen Verstehens. »Rein« besagt nicht:logisch, widerspruchslos, noch weniger besagt es: das »generelleÜberhaupt«.Die Struktur des reinen Verstehens selbst als Erfassungsformder Erlebnisse in phänomenologischer Relevanz, seine genuineExplikationsgestalt: Interpretation von Sinnzusammenhängenund damit interpretative Konstruktion möglicher sinnmäßigerdominierender Tendenzsituationen als letzte Ausdrucksgestaltenvon möglichen reinen Dominanten ursprünglichen Lebens.Das Verhältnis des Verstehens - Interpretations- und Konstruktionsbezügein sich und zueinander; das Zu- und Durcheinanderund Nicht-ohne-einander als Dialektisches in seinemBezug zum reinen Verstehen; Ursprünglichkeit und Nichtursprünglichkeitdes Dialektischen; das Dialektische möglichenreinen Verstehens (Erfassungsform) oder lediglich Ausdrucksform,das Originäre und Letzte gerade dieses Ausdrucksbezugs.Notwendig in den vorbereitenden Partien bei der Umweltcharakteristikauch die notwendigen Handlichkeiten des Theoretischen- als Einschlüsse; dieser Aspekt bezüglich der Selbst-Rekonstruktion des Schlußteiles 139welt - eine kritische Destruktion dieser - Näherkommen demLeben des Geistes;Ausformung eines Gegenstandes der philosophisch methodischenErfassung!Methode (alles unter einer nicht expliziten, lebendigen Grundintuition):1. Destruktion und die möglichen Schritte, 2. reinesVerstehen, 3. Interpretation, 4. Rekonstruktion.*4. Der Weg zur phänomenologischen Methode undGrundcharaktere der PhänomenologieDie vordeutende Heraushebung der drei Charaktere »Selbstgenügsamkeit«,»Ausdruckszusammenhang«, »Bedeutsamkeit«als vorfindlieh im faktischen Leben geschah in der methodischenAbsicht, damit wegzeigende Motive verfügbar zu machenfür ein möglichst konkretes Erfassen des Lebens selbst. DiesesErfassen wurde angesetzt als Ursprungsverstehen des Lebens.Ursprungsweltliches Leben und Ursprungsverstehen treffensich darin lebendig, daß Ursprünglichkeit selbst Motiv undNorm der Grundhaltung ausmacht.Der Zusammenhang der expliziten Forschungsstadien undAusdrucksstufen dieses Verstehens ist methodisch bezeichnetals »Phänomenologie«. Aufgabe ist jetzt die Explikation dieserIdeen.Mit all dem müßte sich schon ankündigen, was jetzt auch nurflüchtig berührt sei, daß Phänomenologie, so gefaßt, mit Philosophiezusammenfällt; daß es nicht so ist, daß sich auf derPhänomenologie als der notwendigen Vorwissenschaft erst dieeigentliche Philosophie aufbaut.Dieser Schritt zu einer vermeintlich eigentlichen Philosophie~ wissenschaftlichen Weltanschauung - stellt sich bei echten,Ihrer philosophischen Ursprünglichkeit selbst nicht klar bewuß-


140 Anhang Aten Intuitionen immer dann ein, wenn die Lebendigkeit dieserursprünglichen Intuition auf halbem Wege erlahmt und nichtzum ursprünglichen Austrag gebracht, d. h. nicht ursprünglichergefaßt wird. Dieser Schritt vollzieht sich, wie die Geschichteder Philosophie an vielen ihrer Ausprägungen zeigt,meist so, daß von echten Intuitionen, die immer die Gestalt einerkonkreten historischen Situation des Lebens an und für sichhaben, als den vermeintlich ungenügenden Vereinzelungen,»isolierten« Aspekten und »anfänglichen Schritten« (wo sie dochschon ein noch Ganzes sind) zu einem Allgemeinen weitergegangenwird mit der Tendenz auf praktische Auswirkung.Hier wird Systematik und Methodik verdinglicht!! (RickertsWertsystem; Münsterberg) Es werden bestimmte Problembezirkeoder ganze Disziplinen auf diese Abzweckung zugeschnittenund als allgemeingültig und theoretisch verbindlich verabsolutiert.Man will bis heute nicht sehen, daß gerade solche dogmatischenVerabsolutierungen die allgemein beklagte und meistmißverstandene Zufälligkeit und Relativität der Philosophie(statt sie zu beseitigen) zufolge haben, daß sie gerade dazu verleiten,die Geschichte der Philosophie anzusehen als einenStreit um Meinungen - das Gegeneinanderschleudern von Sätzenund Wahrheiten.So kam es, daß sich gegen die Philosophie und ihre Geschichteals die Abfolge solcher mißleiteter Verabsolutierungen,mißleitet durch eine falsche Übersteigerung eines engen Wissensehaftsbegriffs,typische, immer wiederkehrende Einwänderichten, denen man in immer neuen Versuchen zu im falschenSinne absoluter Philosophie begegnen will, statt sie einmalüberhaupt als Fehleinwände zu verstehen und künftig zu ignorierenund die Kräfte für echte Aufgaben freizubekommen. DasVerstehen dieser Einwände leistet uns den methodischenDienst, daß wir uns verkehrter Aspirationen und Wertungen begebenund dadurch ungehemmter und freier die Grundhaltungmitzumachen imstande sind.Rekonstruktion des Schlußteiles 141[Es ist em an die Stelle der ursprünglich weit gespanntenDarstellungsmethode der Vorlesung tretender, verkürzter Wegzur Gewinnung der Grundhaltung, allerdings, wie alle Abkürzungen,ein Verzicht auf reichere Perspektiven.]1. Die Philosophie kommt nie zu endgültigen Resultaten,sond~rn nur zu historisch oder milieubedingten Meinungenund Uberzeugungen einzelner >Denker


142 Anhang Adann ein Rückfall in gewohnte Standpunkts- und Weltanschauungsphilosophien?Oder ist am Ende die Alternative - streng wissenschaftlichePhilosophie im bestimmten Sinne auf der einen, Weltanschauungsphilosophieauf der anderen Seite - überhaupt eine nichtursprüngliche,von der Strenge der Ursprünglichkeit so weit alsmöglich entfernte, auf einer phänomenologischen Abtrift befindliche,und die Motivbasis der scheinbar von der Phänomenologiegewährten Einwände bereits eine Deformation derGrunderfahrung aller Phänomenologie? Wir sollen uns nichtvorschnell bei bereitgestellten Alternativen beruhigen und siegleich ernst nehmen.ad 1: Endgültige Resultate, letzte Sätze also, die einen Gegenstandbestimmen, so daß diese Bestimmung nie mehr zurückgenommenzu werden braucht, setzt voraus, daß der zu bestimmendeGegenstand eine solche zuläßt, d. h. daß er Objektist, d. h. daß der Gegenstand einer Ordnung unterwerfbar ist,einer Einordnung in einen Rahmen, der durch einfache Gesichtspunkteder Betrachtung fest umgrenzt ist. Die Ordnungsmöglichkeit15dadurch eingeengt; die Ordnungsbeziehungen -sofern der Ordnungsrahmen weit genug gezogen ist - auf einebestimmte Anzahl reduzierbar gemacht.Auf seiten des erkennenden, methodisch geleiteten Verhaltensist mit der Forderung endgültiger Resultate vorausgesetzt: dasins Spiel treten von leitenden Tendenzen der Begriffsbildung der-1') Bestimmte Objekte endgültig herauszufinden, Ordnungsbestimmung;vgl. das Frühere über das theoretische Verhalten. Ordnungsprinzipien, die untersich selbst lediglich den Zusammenhang von Ordnung;der Prozeß dieses Ordnungsfindens;Ordnung - nicht auf die Urstruktur Wissenschaft beschränkt;Intentionale Tendenz: letzte Ordnung - und eindeutige funktionale Zuordnungder Ordnungs elemente innerhalb des Ordnungsganzen;Feste Begriffe - fixierbar und jederzeit zugänglich in Definitionen - vgl. Ordnungssetzungen;Praktikable Veifügbarkeiten - eindeutig zugänglich (daß Gegenteil der begrifflichenBildung auf eine Deformation der Anschauung herauskommt).Rekonstruktion des Schluß teiles 143art, daß diese Begriffe ein Ordnungsheziehen ausdrücken undnur das, daß Anschauungsfülle als Überschuß störend ausgeschaltetwird, daß der wissenschaftliche Begriff nicht die Funktiondes Ausdrucks, sondern lediglich der Ordnung hat.Ordnung~Objektconsensus omniumiiAusdruck~SinnAusdruck und Ausdruckszusammenhangkommen im Verstehennie zur Deckung!Sympathiegewisser VerstehenderOrdnungsbeziehungen zu keiner funktionalen Bewegung zulassen,sondern gegenseitig sich stützen und im Gesamtrahmenfestspannen.ad 2: Nur unter der Voraussetzung der vorgenannten Tendenzenhat der zweite Einwand einen Sinn. Es liegt darin die Tendenzder eindeutigen ordnungs-, nicht ausdrucksmäßigen Zugänglichkeitdes Ordnungs systems überhaupt, so daß das in solchemErkenntnisdenken von dem Erkennenden Vermeinte inallen Fällen zur Deckung kommt. Durch die eindeutige Stellungder Erkenntnis- und Objektsbestimmungstendenz unter selbstbegrenzte Ordnungsprinzipien mit einer begrenzten Anzahl vonOrdnungs elementen ist die Möglichkeit des Abweichens benommen,der consensus omnium ist von vornherein gegeben.(Ordnungsmäßige Einheit der Zustimmung (Deckung)).ad 3: Und aus 1. und 2. vorausgesetzt ist die Forderung nacheiner durch eindeutige Schritte in ihrem Gang vorgezeichneten,


144 Anhang Aauf jedes mögliche Objekt gleichsinnig und gleichhandlich anwendbarenMethode möglich (ordnungsmäßige Methode). Sofernder Objektbereich überhaupt seinen eindeutigen Rahmenhat, die Grundelemente der Objektbestimmung abzählbar zugänglich,die Möglichkeit der leitenden Gesichtspunkte derBestimmung durch den Objektrahmen selbst begrenzt oder zumindestensidealiter bestimmbar wird, hat alle Methode nachihrem Hauptzug selbst Eindeutigkeit.ad 4: So ist schließlich der sichere Gang der wissenschaftlichenErkenntnis in dieser Bedeutung gewährleistet. WennKönige das Fundament gelegt haben, können und dürfen TagelöhnerZiegelsteine schleppen, um das Haus auszubauen, undjeder wird dem Nachkommenden Maßstab, Richtscheid,Schippe und Kelle übergeben, damit er weiterbaue zum nächstenStockwerk.Atomismus des LogischeneinzigerErkenntnisgegenstand: Objekte - Versteckter Naturalismus,der um so verhängnisvoller ist, als er gerade in seinenhöchsten Ausgestaltungen und Ideen den groben Naturalismusbekämpft - den ideenblinden Naturalismus - und überdessen Überwindung so stolz ist.Transzendentalphilosophie - nicht deshalb verfehlt, weil siebisher aus dem Primat des theoretischen Erkennens kam undvon ihm alle philosophischen Probleme beherrscht sein läßt,sondern weil überhaupt alle Ideen von Bewußtseinswissenschaften- sei es als Vorwissenschaft der Philosophie, sei es als dieseselbst gefaßt - auf eine systematische Analytik und Deduktionhintendieren, deren ideelle Möglichkeit bereits das vordem genannteErkenntnisideal zum Motiv haben (daß diese Objekte insogenannt anderer Dimension kategorialer Formen sind, ändertprinzipiell nichts an der durchgehaltenen Einstellung).Es ist hoffnungslos, so das Leben zu gewinnen, weil man vonAnfang an durch das Richtungsziel selbst alle Brücken zu ihmabgeschlagen hat.Rekonstruktion des Schlußteiles 145Es ist die Grunderfahrung gewonnen worden, daß Lebenals solches nie Objekt werden kann, daß alle vom Objektgedankenmotivierten Wissenschaftsideale notwendig ein Irrtumsind.Bereits in den ersten Vorlesungstunden wurde betont, daß derRadikalismus der Phänomenologie am radikalsten sich gegensich selbst zu richten hat, genauer: zu richten gegen alle phänomenologischenAbtriften - das Herausfallen aus der Grundhaltung-, gegen das Außer-Spiel-setzen ihrer ständig neuen Verlebendigung,gegen das gerade hier meist unvermerkte Hineingleitenin nichtursprüngliche Haltung und Stabilisierung undGewinnung nichtursprünglicher Motive.Das Schöpferische der phänomenologisch verstandenen Ursprungskritik:Philosophische Kritik ist gerade deshalb von eigenartigerin den Wissenschaften sonst nicht antreffbarer, auchnicht technisch lernbarer Strenge, weil sie in jedem MomentEingang in die Lebendigkeit des Lebens selbst verlangt, wasweit größere Anforderungen an das geistige Leben stellt als diekomplizierteste logische begriffliche Methodik.Leben nicht Objekt, ist aber auch nicht philosophisch erfaßtdurch Verankerung im Subjekt, durch ichliehe Betrachtungsweisen.Objektivierung und Subjektivierung sind Theoretisierungsweisen.Auch immanente Reflexion geht auf objektivierteTranszendenzen.Die phänomenologische Erfassung des Lebens: auf dasLeben als Leben = Manifestation seiner aus seinem Ursprung- in den Manifestationen selbst seine Lebendigkeit ergreifen.16Wir bringen diese Frage durch Diskutierung der Einwändeund den Nachweis ihres Fehlgreifens zur Entscheidung. Undzwar so, daß wir die Motivbasis, d. i. die Voraussetzung, die unformuliertenTendenzen herausheben und zeigen, daß diese in16 Vgl. Zettel »Eigentliche Zugrichtung der Phänomenologie« [im Nachlaßnicht auffindbar].


146 Anhang Abestimmtem Sinne verabsolutiert werden, in der Art nämlich ,daß sie als Ausdruck und einziger und letzter Ausdruck der Tendenzund Norm des erkennenden Geistes genommen werden,wo sie doch nur sind Bedingungen von eindeutig zugänglichenlogischen Verfügbarkeiten zur klaren Ordnung eines begrenzten,homogenen Rahmenfeldes von Objekten. [Und zugleichden noch tieferliegenden Versuch der fundamentalen Bedeutungder Erfüllung gebenden Anschauung (nur um nicht in dieGefahr der Anmessung an Dingwahrnehmung zu verfallen!)wollen die in ein Anwenden zum Schluß kommenden Vorlesungenmotivieren.]Ein entscheidender Schritt der Phänomenologie: Betonung deroriginären Anschauung - Evidenz! - Idee der adäquaten Beschreibung.Aber beide Intuitionen - absolut konkret in ihrer ursprünglichenLebendigkeit - verfallen leicht der Degradierung einerunbemerkten Deformation, so daß sie um ihre eigentlichenLeistungsmöglichkeiten gebracht sind.Anschauung nicht als Verstehen - Problem der Beschreibungals phänomenologisches überhaupt nicht gestellt.Was und worin und wie anschauendes Verstehen sich ausdrücktund die Fülle nimmt - nicht nur Material.Ontologie - kennzeichnet schon im Wort, daß das entscheidendeProblem nicht gesehen ist: Geschichte und Leben.Vorblick in die Grundhaltung und die Idee des Ursprungsverstehens:die erste, vom Verstehen selbst geforderte Vorweg-gabe deszuvorstehenden Zusammenhangs; von da stufenweise in Ausdruckund Verstehen konkreter werden;sofern uns nicht ein bestimmtes philosophisches Problembeschäftigt, sondern die Philosophie, ihr Forschungs- und Ausdruckscharakterselbst, muß auch bei Rückgang in den Ursprungeingesetzt werden bei einer Gestalt prätendierter Wissenschafteines Gebietes und zwar eines solchen, das wesentlichRekonstruktion des Schluß teiles 147die Eignung hat, uns dem Ursprungsgebiet des Lebens selbstnahezubringen. 17Die frühere Betrachtung wurde bis zur Frage nach einer Wissenschaftvon der Selbstwelt geführt. Es wurde dieser Frageeine zeitgenössische Formulierung gegeben: das Problem derPsychologie. Ob das, was heute als Psychologie gilt, wirklichPsychologie ist, ob es Psychologie als Wissenschaft im objektivierendenSinne gibt, ob es überhaupt neben oder innerhalb derPhilosophie eine Psychologie gibt, oder diese ganze Problemstellung- was meine Überzeugung ist - im Grunde unecht undschief ist, bleibe jetzt unentschieden.Wir nehmen die heutige Psychologie und die Problemauffassungbezüglich ihrer Einstellungsrichtung und Methodik lediglichals eine faktische Ausprägung heutigen Lebens und nehmensie in eine Kritik in der Richtung auf Ursprungsverstehen -genauer: wir suchen nach den Elementen und Tendenzen, diein der Richtung einer objektivierenden bzw. subjektivierendenDeformation des Lebens sich bewegen, weiter nach den Motivenund Bruchstellen, an denen eine Deformation einsetzt.(Das Abbauen von welchen möglichen, im lebendigen Lebenmotivierenden Tendenzen und ihrer ursprungsmäßig reinenAktivierung!!)*5. Geschichte - Leben - Phänomenologie - (Ontologie)Phänomenologie geht auf konkrete Ausdrucksgestalten desGeistes (vor dem Konkreten gibt es keinen Ausweg - in einenRahmen - es besteht nur die Möglichkeit des Ausdrucks). Siesucht den echten lebendigen Ursprung nicht in einem letzten17 Ausdrucksbegriffe - rück- und vorgriffliehe Bezugsmomente (Motiv) (Tendenz).


t48AnhangARekonstruktion des Schlußteiles 149leeren Allgemeinen, sondern in diesen oder jenen konkretenGestaltwesen - >diesjenes< nicht wahllos aufgegriffen, sonderndurch die rein deformative Kritik gewonnen.Dabei kann ich nicht eine Ontologie eines Gegenstandsgebietesals Leitfaden nehmen, weil diese gerade ihrer Abzweckungnach nichts anderes ist als die >formale< Gesamtheit der Ordnungsprinzipienund -elemente eines Gebietes, seine rationalam radikalsten deformierte.In diesen Ausdrucksgestalten gewinne ich durch Ursprungsverstehen,Interpretation und >Konstruktion< die Urgeschichtedes Lebens selbst, nicht in einer linearen Abfolge von Stadien,sondern in einer ständig neu vom Ursprung vorbrechenden Produktion.Keine allgemeingültigen Gesetze, sondern geoffenbarteSinnbezüge, die als reine Ausdrucksgestalten des Lebenses selbst geben.[Echte Philosophie wird auf ihre Bedeutung gemessen an derNähe und Lebendigkeit zum Ursprung.pRLeben kein chaotisches Wirrsal von dunklen Flutungen,nicht ein dumpfes Kraftprinzip, nicht ein grenzenloses, allesverschlingendes Unwesen, sondern es ist, was es ist, nur als konkretesinnhaJte Gestalt.Weil das Leben in all seinen Gestalten irgendwie sich ausdrücktund damit einer Deformation unterliegt, welche als lebendigegerade seine Lebendigkeit erfährt, seine Fraglichkeit.Spannung u.s.f., ist der Grundsinn der phänomenologischenMethode und der philosophischen überhaupt das Neinsagen,die Produktivität des Nicht (Sinn der Hegeischen Dialektik).Ursprung nicht ein allgemeines Prinzip, eine Kraftquelle,sondern die Gestalt der Produktion des Lebens in allen seinenSituationen, die Gestalt, die ich immer nur verstehe und erreichein einer besonderen Gestaltqualität.Objektive und subjektive Wissenschaften sind echte Gestal-18 Vgl. Zettel »Norm und Geltungscharakter«!' rim Nachlaß nicht auffindbar).ten des Lebens, die aus ihm selbst herausführen; als echte Produktionenhaben sie ihren ursprünglichen Sinn und sind selbstaus dem Ursprung her zu verstehen.Phänomenologie und Philosophie nicht einfach eine, wennauch in [...]* neue Dimension gesetzte Wissenschaft; Objektivitätbzw. Subjektivität der Wissenschaften, von denen nur durcheine (sogenannte) Dimension verschieden Gesetze der Gesetzlichkeit.(Dimensionen - verschiedene halten sich im selbenMedium der Objektivität bzw. Subjektivität.)Durch die einzelwissenschaJtliche Objektivierung, verdinglichendeFest- und Gegeneinandersetzungvon Objektformen verbildet,sehen wir nicht, daß vermeintliche letzte Alternativen, dieuns leitet1, allein bei letzter Entscheidung meist abwegige Formalisierungensolcher Objekteinstellung sind:Rationalismus -IrrationalismusWissenschaft - MystikKlarheit (theoretisch objektiv) - UnklarheitObjektivierung - Subjektivierunginnen - außenoderabsolute rationale Geltung - relative Geltungabsolute Wahrheit - SkeptizismusDogmatismus - Skeptizismusrational echte Erkenntnis - unechte, vorhanden durch ErfahrungTranszendenz - ImmanenzPhilosophische Forschung ist:weder Gesinnung und Systematisierung von Erkenntnissätzenund allgemeinen Gesetzen des Seins, so daß Philosophieimmer m)T Antwort gäbe auf die Frage, was »ist«, welche Objektegibt es da und da; noch ein Lehren im Sinne der Beistellungvon praktischen Sätzen und Normen, deren Befolgung indieser Lehre nachweisbare Vorteile, faktisch-praktische Möglichkeite~der Lebensführung bei sich trägt; sondern: ein for-* [zwei upleserliche Worte]


150 AnkangAsehend-verstehendes Führen in die Lebensgestalten selbst,nicht mit Anweisungen und Regeln, nicht historizistisch als historischesVerstehen im Sinne des objektivierten bloß Vergangenen,sondern ein Führen, das das lebendige Verstehen in entscheidendenStellen und überhaupt sich selbst und der Echtheitseines Ursprungsverstehens überläßt, aus dem ihm für seine,seiner Generation und der Menschheit zufallenden (Aufgaben)Bestimmungen echte Motive erwachsen.Philosophieweder lediglich Sach- und Objektuntersuchung (gültig vonSätzen)noch predigthafte, prophetische Anleitung und Anweisung,sondern: verstehende Führung;noch praktische Verwertbarkeit von Normen,sondern echte Führungsmöglichkeit und Gestaltung selbst.Das Verstehen selbst ist Führung, sofern Verstehen immer istVerstehen von Leben und damit Bildung und Bewahrung undMotivierungsauflockerung und Echtheit des verstehenden Lebensselbst.Jede echte Philosophie ist aus der Not von der Fülle des Lebensgeboren, nicht aus einem erkenntnistheoretischen Scheinproblemoder einer ethischen Grundfrage.Destruktion der rationalen Ordnung, dann ergibt sich nichtein Chaos, Gewühl oder ähnliches, sondern es bleiben Fragmentevon Ausdrucksgestalten, denen nun im Ursprungsversteheninterpretativ gestaltend nachzugehen ist.(Primat des konkreten Lebens als eines in jedem seiner Stadiensinnerfüllten. Kein bloßes Geschehensgetriebe.)Es gibt in der Philosophie keine Definitionen, weil es in ihrkeine Objekte gibt, sondern nur Ausdruckszusammenhänge,denen man nachgehen muß (verstehen). Wenn ich in die unddie Situation echt mich begebe, begegnet mir mit der und derSinnzusammenhang.rI!Rekonstruktion des Scklußteiles 151Phänomenologische Reduktion: nach ihrem Vollzug, sofern manihn überhaupt für notwendig hält (was nur auf transzendentalerVorstandpunktnahme der Fall ist), entstünde erst das eigentlicheProblem: was nun?Ich habe mich erst der Fesseln entledigt - aber was soll nuneigentlich geschehen? Die Reduktion ist doch nicht selbst produktiv.Antwort: schauen! aber was und wie!! (transzendental,erkenntnistheoretisch - »Wie sieht Bewußtsein aus?« Es siehtüberhaupt nicht aus, weil es kein Objekt ist.)*6. Tendenz und Motiv psychologischer VergegenständlichungEs müßte jetzt konkret und eingehend in den verschiedenstenGebieten der psychologischen Forschung und nach den verschiedenenSchulen und Richtungen die wirkliche Arbeit derPsychologie in Augenschein genommen werden.So überraschend reich eine solche Untersuchung ausfällt, ichmuß hier von einer konkreten Behandlung absehen. Währendes früher darauf ankam, lediglich zum Verstehen zu bringen,daß seelisches Leben überhaupt vergegenständlicht wird, sollenjetzt verstanden werden Tendenz und Motiv dieser Vergegenständlichung,und zwar inwiefern damit eine definitive Tendenzdes Lebens sich ausformt.Ich dränge das Wichtige unter zwei Gesichtspunkte zusammen:1. die Frage nach der Einstellungsrichtung [Beobachtungsrichtung];2. die Frage nach der psychologischen Begriffsbildung[Objektbegriffe (Worte)]Da diese Probleme von den schaffenden Psychologen selbstnur selten und dann sehr roh zur expliziten Formulierung gebrachtwerden, andererseits vermieden werden muß, (jetztschon) phänomenologische Begriffe heranzutragen, gebe ichdie Charakterisierung in der Unvollkommenheit der Formulie-


152 Anhang Arung, die in der Linie der psychologischen Forschung liegt undfür ihre Zwecke zunächst scheinbar genügt. [Es zeigt sich dabeisehr bald, daß die üblichen philosophischen Theorien und logischenGrundlegungen bezüglich der Psychologie sehr weit entferntsind von einer konkreten Kenntnis der faktischen Forschungund sich in einer Schicht begrifflicher Leere bewegen,die notwendig unfruchtbar sein muß.]ad1)19Verfolg der Deformation von Rückwärts (methodisch: >sinninterpretationsfremdbeiläufig< einIch hinzudenke, bleibt der Objektcharakter.Methode gerade darauf angelegt und dann immer vollkommener,wenn sie die Mittel beistellt, eine möglichst radikaleObjektivierung zu vollziehen, alle Bezüge auszuschalten, umreine Objektbeziehungen zu gewinnen. Dem entspricht dieRahmenfestlegung - Klassifikation (»Substanzbegriff ausgeschaltet«- »reines Ich«).Beschreibungsbegriffe - enthalten (»Merkmale«) was in denErlebnissen »direkt« gegeben ist.Erklärungsbegriffe - Merkmale, »die in den Erlebnissen, ausdenen sie gewonnen werden, nicht enthalten sind«.Der »Weg« vom Objekt (Erlebnis) zum Begriff jedesmal verschieden!- und doch ein Sinn: objektivierend!!Beschreibungsbegriffe stammen aus der schlichten Wahrnehmungvon Erlebnissen; leitende Tendenz, die vorwärts eine Gegenstandsschichtobjektivierend ausformt.19 Vgl. Zettel »Über Selbslwahrnehmung« [im Nachlaß nicht auffindbarJ.*Rekonstruktion des Schluß teiles 153Beispiele von angeblichen Deskriptionsbegriffen (Klassifikation)- Beispiele von angeblichen Funktionsbegriffen (enthält nochdiese Merkmale, die nicht in den Erlebnissen selbst gegebensind): Gefühlsabstumpfung - Gedächtnistäuschung - »Schwelle«(soweit die Psychologie Deskriptionen gelten läßt, wird sie alsklassifikatorische Beschreibung verstanden); Gefühl und Gedächtnis- Erlebnischaraktere, verstehbar in einem weitenSinne. Es liegt nichts rein Erlebnishaftes vor, sondern Objektartigesbei Deskriptions- und Funktionsbegriffen.Funktionsbegriff - Gemisch von echten Rudimenten von Bezugsgestaltenund Objektdaten.1. Einstellungsrichtung und 2. Begriffsbildung lassen sichnicht trennen.Er motiviert die Ausdrucksformen, drängt in sich selbst zu solchenund ist eine ursprüngliche AlL~drucksgestalt. Einstellung istAusdruck - das keine Verunstaltung, sofern Leben überhauptund überall nur Ausdruck ist und im Ausdruck gelebt wird.Jede Einstellung eine Fügung des Lebens.Ist für die Psychologie diese Vermischung: Belastetsein desSinnmäßigen mit Objektartigem - das Betroffensein des Objektmäßigenmit Sinn artigem, notwendig oder gibt es wie reineObjekte reine Erlebnisse und weiter reinen Erlebnissinn? Wiekomme ich zum Psychischen? Ausgehend von Erlebnissen oderim Ausgang von Objekten durch Destruktion der Erlebnisweltoder Konstruktion von Objektbereichen?Ist die Alternative überhaupt eine echte und diskutierbare,solange ich nicht verstehe, was überhaupt Erlebnisse sind, wasmit dem Wort gemeint ist? Wie aber gewinne ich eine Grundanschauungvon Erlebnissen und Erlebniszusammenhängen?Wenn wir uns bisher durch ein festes, in seinen Grundlagennie radikal genug erforschtes Begriffssystem der Psychologiehätten bisher leiten lassen, statt aus dem Leben den »Begriff«von Erleben zu gewinnen. Welches ist, formal gesprochen,überhaupt die »Beziehung« von Leben und Erleben? Stehen sieüberhaupt in keiner Beziehung, weil sie dasselbe bedeuten,


154 AnhangAoder sind sie nicht dasselbe, so daß ihre Beziehung Problemund ein radikales Ursprungsproblem ist? Was heißt überhaupt,den Begriff des Lebens gewinnen - kein Ordnungs-, sondernAusdrucksbegriff! Und dann!? Aber als Norm des Ursprünglichenständig in Bewegung - verschiebt sich.Die Frage nach der Psychologie führt von selbst in Ursprungsprobleme,nicht nur als vorgebliche Wissenschaft undGestalt der Vergegenständlichung, sondern in der Tendenz aufein ganz eigentümliches Gegenstandsgebiet, in dem Erlebnishaftesirgendwie mitbeschlossen liegen soll.In dem lückenlosen Verfolg des methodischen Ganges derVorlesung nach ihrer Grundanlage bedeutet dies wissenschaftstheoretischeProblem der Psychologie eine Station, sofern nichtnur die transzendentale (als eine entäußerte), sondern die sinngenetischeUrsprungsfrage bezüglich einer Wissenschaft vonder Selbstwelt wiederum gestellt wird.Aber das ist ja nur ein möglicher Weg des Hinzeigens auf denZugang zum Ursprung, ein Weg, der besonders in seiner transzendentalenPrägung vorzeitig zu formalisierenden Objektivierungenverleitet, aber auch in seiner echten Durchschreitungnotwendig aufgehoben werden muß. Auch ist der Sinn mancherUrsprungs frage zu einseitig auf das theoretische Erfassen einesGegenstandsbereiches eingestellt; eine längst bekannte Tatsacheder engen Beziehung zwischen Philosophie und Psychologie, dieaber noch nicht ursprünglich geklärt ist, eine Aufgabe, die durchdie vorschnelle und z. T. recht billige Behandlung der Psychologieals Naturwissenschaft gehemmt hat.[Schon die Verknüpfung von Klassifikationsproblemen undFragen nach der Geistigkeit, Unsterblichkeit der Seele sinddoch kein purer Zufall.]Aber auch da, wo man echte philosophische Einsicht in dieseProbleme gewonnen hat - und es liegen in der Geistesgeschichteund Seelengeschichte der Menschheit genug vor -,konnte man nicht der Versuchung widerstehen, alsbald die formalisierendordnende Objektivierungstendenz einsetzen zu las-Rekonstruktion des Schluß teiles 155sen und damit Zielsetzungen einzuschmuggeln, die echte Ideender Ursprungs erforschung des Geistes mißbildeten und dieProblemstellung, Begriffsbildung, Beweisführung, EvidenzundAusdruckscharakter der sich leicht darbietenden Objektwissenschaftenangleichen ließen, wenn auch mit der Erweiterungin unbedingte, auf bestimmte Objekte nicht zugeschnitteneAllgemeinheit.Wie es einer Durchforschung der Geistes- und Wissenschaftsgeschichtebedarf unter der Idee der Sinngenesis derObjektivierungstendenzen aus den Grunderfahrungen faktischenLebens - nicht nur als für sich bestehende Spezialarbeit,sondern im lebendigen Problemzusammenhang mit dem phänomenologischenUrsprungsverstehen selbst -, so müssen phänomenologisch-historisch die philosophischen Versuche verstandenwerden zu einer Ursprungs erforschung des Lebens undihres Ausdrucks im Verfolg der Motive und Richtungen derunechten, von außen vorgegebenen und suggerierten Abtriftendes Geistes.Ein Phänomen, das erneut verstehen läßt, wie Leben immerwieder seiner Ausdrucksschicht selbst zum Opfer fällt und, stattsich selbst zu haben, an den objektivierten und herausgestelltenObjekten entlangläLift. [Dieses Problem untersucht Simmel!!]*7. T1Cge und Gestalten der Erfassung des LebensDas Leben soll zugänglich werden; die seinem Grundsinnselbst entwachsende Form der Erkenntnis seiner selbst soll insWerk gesetzt, die Wege, Ansprüche und Leistungen, Gebietedieses Erkennens der Philosophie ausgewertet werden. Undzwar gehen wir nicht von einem der Psychologie entlehnten Begriffvon >Erlebnis< aus und durch Erlebniszusammensetzungzum Leben weiter, sondern aus dem faktischen Leben mit sei-


156 Anhang Aner faktischen Artikulation seiner Sinne, Bedeutsamkeitstendenzund Situationsbezüge wollen wir gewinnen Vorzeichnungender Wege und Gestalten der Erfassung seiner selbst und dieTypik des Erfaßten (Ausdruckstypik). Wir versuchen zu verstehen:wie Leben sich selbst erfährt, wie lebendige Erfahrungvom Leben vollzugsmäßig charakterisiert ist und zwar in derGestalt, in der Leben sich nicht etwa als Objekt erkennt undterminiert in seiner Erkenntnishabe, sondern - um theoretischeObjektivierung unbekümmert - sich lebendig nimmt, hat undin diesem Haben sich erfüllt. Michselbsthaben: Richtung desLebens auf seine Lebendigkeit, Zurückweisen seiner Entgleisungenim Ursprungswege.Der Weg über die Selbstwelt (besagt nicht über Psychologie,weder insofern als sie Begriffe vorgibt und Gegenstandsgebiete,noch insofern sie selbst in der transzendentalen Betrachtungder Bewußtseinskonstitution auf ein »früheres« Ich zurückweist):zur Gewinnung des reinen verdinglichungsfreien Lebensaus Bedeutsamkeiten. Alles Bedeutsamkeitslose, nichtVerstehbare wird ausgeschaltet oder aufgesogen [phänomenologischeReduktion!!]. Es wird gesucht die reine Selbstgenügsamkeit,die des »nicht Mitmachen« - »Ausschaltung« von Verstehenszusammenhängen(methodische Vorkehrung, Maßregel).Das Sein des Lebens, der Erlebnisse besagt nicht Vorkommen,sondern Vollzug - Vollzug im Selbst, ohne daß das Selbst immernotwendig ausdrücklich dabei ist. [später!!]»Auf die Frage: >Was ist das Ich?Ich< ist ein sprachlicher Ersatzeiner hinzeigenden Geste - ein Wort.«20Dabei suchen wir den treibenden und tragenden Bezug derLebenserfahrung zu fassen (Tendenz, Motiv), ihn destruktiv kritischfreizulegen und den Wegweisungen des Freigewordenen,20 R. Avenarius, Anmerkung zu der Abhandlung von R. Willy: Das erkenntnistheoretischeIch und der natürliche Weltbegriff. In: Vierteljahresschrift fürwissenschaftliche Philosophie, 18. Jg. (1894), S. 30.Rekonstruktion des Schluß teiles 157Lebendigen verstehend nachzugehen. Mit diesem freiwerdendenBezug läßt sich zugleich gewinnen das grundeigentümlicheGegenstandsgebiet, dem er als mit seiner methodisch forschendenAusprägung zugehört - weil er mehr ist als formal theoretischesVerhalten zu Gegenständlichkeit.Es gilt zu finden die \Neise, wie Leben erfahren wird. In derfaktischen Lebenserfahrung gehen wir selbst mit, und dabei habenwir sich hereindrängende erkenntnistheoretische Meinungenund starre Fassung des Erlebnisbegriffes zu vergessen, dieleicht beim ersten Schritt vom Wege abdrängen. Man sagt, natürlicheEinstellung ist zunächst auf Dinge im weiten Sinne gerichtet,also nicht auf das Erleben selbst. Dazu bedarf es einerRückwendung; also finde ich, in der neuen Einstellung bleibend,nicht Erlebnisse als solche im reinen Verstande, abgesehendavon, daß man doch einmal nach dem sinngenetischen Motivin der Dingerfahrung zur Erlebnisreflexion fragen müßte.Diese Unterscheidung selbst ist schon von bestimmten Voraussetzungenbelastet. Wir gehen in den faktischen Lebenserfahrungenselbst mit und sehen zu, ob sich in ihr und gerade in ihreine ursprüngliche Artikulation des Lebens anzeigt. In der faktischenLebenserfahrung leben wir in eine Welt hinein. DasLeben ist im wörtlichen Verstande »weltlich gesäumt«. Ich lebein Bedeutsamkeitszusammenhängen selbstgenügsamen Ausmaßes;das Erfahrene spricht an, aber in einer Weise, die unsimmer irgendwie vertraut ist. Es selbst ist so, daß es auch immerirgendwie angeht, daß ich dabei bin. Ich habe mich dabei selbstirgendwie. Vorverständnis der gewöhnlichen Rede auf Nichtsfestgelegt und doch eine Richtung des Meinens da! In dieserRede ist »ich«, »mich«, »selbst« noch formal, präjudiziert nichts- formaler Ausdruck und Hinweis auf eine unabgehobene Abgehobenheit,auf einen Motivkreis, der abhebbar und ausformbarwird. Es gilt, diesen im Erfahren selbst liegenden Charakterdes Vertrautseins mit »mir« zu sehen. Das Fremdartige, Neue istnicht eine Instanz gegen das Gesagte, sondern im Gegenteil,gerade bei erfahrenden Begegnungen, die fremd, nie dagewe-


158 AnhangAsen anmuten, erfahre ich, wie ich immer dabei bin. Im Sinnedes Fremden liegt gerade das gehemmte, unmittelbar zurückgeworfeneVertrautsein.Es ergibt sich hier eine Konsequenz bestimmter Aufgaben,die Phänomene des Sichselbsthabens in den lebendigsten Gestaltenvon Lebenserfahrungen verstehend zu erforschen. ImNichtsehen und Nichterforschen dieses Phänomengebietes liegendie Wurzeln für die grundverkehrten Ansätze und Richtungender heutigen und früheren Begriffsbildung, z. B. in derAesthetik und vor allem in der Religionsphilosophie, von denScheinproblemen der Theologie und Apologetik ganz zuschweigen.In der üblichen epigonenhaften Philosophie selbst berauschtman sich an Surrogaten für diesen reichen Phänomenkomplex,der nur durch wirkliche Erforschung und Arbeit aufhellbar ist.Man sagt: Jedes Bewußtsein von etwas ist zugleich Bewußtseinseiner selbst. In diesem Satz habe ich zugleich dann das Prinzipdes Bewußtseins und des Lebens: die Identität- das Postulat allerBewußtseins- und Erlebnisphilosophie -, in Wahrheit: eineformale Objektivierung, ein leeres Begriffsschema, um das ichin allen möglichen Variationen herumreden kann, das aber geradeals formales Netzwerk mich verstrickt und am eigentlichenZufassen hindert, das mich nicht einmal frei gibt, um überhaupteinmal die Phänomene zu Gesicht zu bekommen, wasallein schon eine verwickelte Aufgabe ist.Diese ursprüngliche Artikulation des Lebens, das Vertrautseinseiner mit der gelebten Welt und das Ansprechen dieser imSinne der Lebensbewegung selbst wird deutlicher, wenn manim Leben mitgeht, sofern es im Erinnern sich hält. Die Artikulationerfährt eine lebensmäßige Dilatation, Ausweitung. DasErfahrene hat eine lebensmäßige Distanz zum aktuellen Erinnern.Der Bezug zum Erfahrenen hebt sich dadurch und zugleichdamit der im Erfahrungsgehalt selbst liegende Charakterder Vertrautheit. Ich finde mich im Erinnerten selbst irgendwievor, es als solches drückt mich aus, ich selbst dämmere mir aufRekonstrnktion des Schluß teiles 159in einer bestimmten Gestalt. Der erinnerte Zusammenhang istein wenn auchfragmentarischer der Verstehbarkeit.Die erinnerten Begegnisse geben sich selbst als angenehmoder unangenehm, bereichernd, hemmend, halten in sich beschlossendie Rhythmik, mit der ich durch sie hindurchging, inder sie und ich in ihnen existent waren.[Es hängt alles davon ab, daß diese Betrachtungen so verstandenund nachgelebt werden, wie es ihrer Tendenz und ihrem innerenAnspruch gemäß ist. Die Psychologie wird sagen: das istvorsintflutliche Psychologie, da ist ja die Rede von Gedächtnisdispositionen,Empfindungsresiduen, Reaktionszeiten, von derRolle der Vorstellungselemente, der Phantasie in der Erinnerung.]Andererseits darf man sich die Forschung nicht erleichternoder gar verlassen wollen dadurch, daß man argumentiert:Erinnerungen sind Erlebnisse, Erlebnisse sind die eines Ich,also muß ein Ich dabei sein und zwar dasselbe, identische. Esmuß gerade die abwegige Einstellung auf das Ich als Objektvermieden werden. Es ist hier nicht die Rede von Selbstwahrnehmungund Selbstbeobachtung im Sinne der Rückwendungauf eben abgeschlossene Erlebnisse. Gerade daß in den verstandenenPhänomenen keine Rückbeziehung des Ich auf sichselbst notwendig ist, um sich selbst irgendwie lebendig zuhaben, ist ihr Auszeichnendes.Diese Charaktere des mich selbst ausdrückenden Vertrautseins,Zugänglichseins in der ganzen Fülle ihrer inhaltlichenRhythmik bezeichnen zugleich die unabgehobene, im faktischenLeben selbst liegende Motivstelle dafür, wie alle Erfassungder Lebensbezüge des Lebens sich ansprechen lassen mußaus dem Leben selbst und seiner Fülle, seiner Geschichte.Die Geschichte nicht als Quellenkritik und Geschichtsschreibungund Materialsammlung, Antiquitätenladen oder als durchindividualisierte Begriffsbildung beherrschbar gewordene sonstunbeherrschbare empirische Wirklichkeit, sondern als mitlebendesLeben, als Vertrautsein des Lebens mit sich selbst in all


160 Anhang Aseinen Bezügen gibt die Leiterfahrungen an die Hand, und sofernsie lebendige sind, bleiben sie davor behütet, lediglich inder leicht verabsolutierenden Froschperspektive der Gegenwartgesehen zu werden, sofern die Geschichte selbst nur in derMehrdeutigkeit zur lebendigen Ursprünglichkeit kommt.[Es hilft nichts, daß man sich gegen die Geschichte anstemmtoder sie allenfalls als Fundgrube für allerlei Raritäten ansicht,wo man sich etwas holt, wenn man gerade nicht mehr von derHand in den Mund leben kann. Man darf nicht der aufklärerischenMeinung sein, der Geist lasse sich in Ontologien se­ZIeren.Es ist irrig, wenn das Ressentiment der Fachgelehrten glaubt,Spengler durch Nachweis von Falschheiten und Fehlern widerlegtzu haben. Es ist banausisch, durch Aufzeigen von Widersprüchendas Buch philosophisch aus den Angeln zu heben.Das Buch darf nicht von außen her, sondern muß von innen herals Halbheit verstanden werden. Seine Konzeptionen sind, wiedie von Bergson, Dilthey und Simmel, als nicht ursprünglichund notwendig ins Radikale weisend zu verstehen und damitaufzuheben.]Mit all dem kommt die entscheidende Grundhaltung zumAusdruck: auf die im lebendigen Leben ansprechenden Motiveaufzuhorchen und nicht von außen her am Leben herumzuhämmernund die abfallenden Splitter für einen geduldigen Systembauverwenden.Der Ausgang und Motiv suchende Rückgang zum faktischenUmweltleben bekundet zugleich selbst als Ausdruck die Verwachsenheitdes geistigen Lebens (Selbst und dessen genuineWelt) mit dem Leib - der Materie - und d. h. den faktischenManifestationen, Handlungen, Taten, Leistungen.Für das vorliegende Problem besagt das eine bestimmte Vorzeichnung:Es kommt jetzt darauf an, den treibenden und tragendenBezug der Lebenserfahrung abzuheben, kritisch, alsodestruierend freizulegen und in der Grundhaltung der Lebensforschungden Wegweisungen dieses Bezugs nachzugehen.Rekonstruktion des Schlußteiles 161Wir sahen: Das Erfahrene drückt mich selbst irgendwie aus.In faktischer Lebenserfahrung lebe ich in einem fragmentarischenUmkreis, in dem ich mich selbst finde, habe und mir verständlichwerde. Frage ist also nach dem Sinn:1. des mich dabei selbst Habens;2. des dabei gehabten Selbst;[das Michselbsthaben hier auch erst unterwegs aufgegriffen; esmuß nun positiv zum Ursprung zurück durch Steigerung derAnschauung gewonnen werden - verschiedene Tendenzen];darauf:3. die Steigerung dieses vollen Phänomens des Selbstweltlebens- Ausformung seines Bezugsreichtums (Sphäre der Selbstgenügsamkeit);Phänomen der »Selbstgenügsamkeit« und desLebens als Übergang zum Methodenproblem: keine Objektivierung,keine Objektanschauung, sondern Mitgehen des Lebensin sich selbst. Erleben, Erlebniszusammenhang, Sinn der Existenzund Wirklichkeit der Erlebnisakte - Person [vgl. Ausgezeichnetesbei Scheler!];4. Zurücknahme der Ausformung in das Leben (wederAußen- noch Innenbetrachtung: Grundrichtung der phänomenologischenMethode).5. Genealogisch urgeschichtliche Ausdruckszusammenhänge.21 *21 Zunächst nur behandeln 1., 2., 3. - dabei das Problem der Steigerung desVerstehens selbst - als methodologisches - beiseite lassen;1. und 2. nicht getrennt abzuhandeln;als 4. und 5.:methodisch ausdrücklich Vorrang des Bezugs vor Gehalt (Sinnzusammenhang);Bezugssinn - Gehaltssinn: ein in jeder Lebenswelt und Situationsganzheitimmer gleicher Bezugs- und Gehaltssinn (Problem)Faktum (-+ Ursprung) und Sinn;dann: Verstehen der Grundhaltung der philosophischen Ausformung;Ausdruck der Anscbauung-Dialektik.


162 AnhangA8. FaktumAusgangspunkt der Philosophie: das faktische Leben als Faktum.22 Sind wir damit mit der Zufälligkeit ausgeliefert?Ferner: methodisch-sinnmäßige Hineinnahme der Geschichtein die Philosophie - damit die unübersehbare Mannigfaltigkeiteinzelner Gestalten. Induktion möglich, aber einesolche mit Schwierigkeiten (des jeweiligen Verstehens von derGegenwart her) und schlechte Induktion, da die uns bekannteGeschichte - an der Idee des unendlichen Fortgangs gemessen -sehr kurz ist und so keine festen Instanzen für Induktion gewonnenwerden können. 23In all dem verkehrte Einstellung zum Faktum. Man sieht esals Vereinzelung eines Allgemeinen, als Fall eines Gesetzes, alseines neben gleichgestellten anderen. Man sieht immer in einübergreifendes oder umgreifendes Schema zurück oder hinein,statt diese Blickrichtung als eine dem lebendigen Leben unddamit jedem echten Faktum fremde und unangemesse zu verstehen(Fakten des Lebens sind nicht Nebeneinanderliegendeswie Pflanzen und Steine). Man kommt dann gar nicht in dieGefahr, ein in seiner Wurzel unechtes, ein Scheinproblem mitdem großen Aufwand von Scharfsinn lösen zu wollen. Man darfnicht am Leben bzw. an dem seiner Tendenz entleerten, an denans Ufer geschwemmten Objekten begrifflich argumentierendherumhämmern - Splitter zu einem Systembau; daß man dannnur noch babylonische Sprachverwirrung (Motive, Horizonte)sieht von außen, darf nicht verwundern.Das erste Hinzeigen, Fußfassen, Mitgehen des Verstehens (vgl.1.-3.) - dabei schon Destruktion; die Problemrichtungen ha-22 die Gliederung 1-5; und die früher genannten Charaktere.23 Phänomenologische Reduktion ein Mitmachen - als ein solches, in demich nicht aufgehe. Näher ist auszumachen, was Bezugs-, Vollzugs- und Gehalts­SInn.Geschichte - in einem von dem jeweiligen Gegenwartsleben gesehenen Ausdrnckszusammenhangdes Lebens.Rekonstruktion des Schluß teiles 163bende Vorschau - das sehend-verstehende Voraus springen unddarauf: Artikulierung, Interpretation, Gestaltgebung.*9. Vorverstehen (Grunderfahrung) - Verstehen.Seine Ausformung zur phänomenologisch-philosophischenGrundhaltungWas in den 5 Punkten zu Zwecken ausdrücklicher Hinführungzu den in Frage kommenden Phänomenstrukturen gefordertist, hat im lebendigen Leben, sofern es starke und stärkereAusschläge, Hebungen und Senkungen des Beim-Lebenselbst-Seinszeigt, einen lebendigen Struktur- und Entwicklungszusammenhang,eine Führungsweise. Das Phänomenführt im Verwachsensein mit, Herkommen von und Hingehenzu anderen.Der adäquate 24 Erfassungs- und Auffassungssinn ist dadurchmotiviert als alternierender Ausdruckszusammenhang. Alternierenist dabei nur ein formaler Ausdruck und besagt imErnstfalle mehr als ein Permutations- und Variationsmöglichkeitenvon Dingen durchlaufendes Umgruppieren. Die alternativenBeziehungen sind Bezüge und zeigen damit den ganzenReichtum dieser Komplikation.Dieses Vermeiden isolierender Zerstückelung und Entäußerungdes Gefaßten in einem Objektbegriff ist noch viel dringlicherim jetzigen Phänomenzusammenhang. Die Unmöglichkeit,ein Abgehobenes isoliert zur adäquaten Erfassung zu bringen,ist nicht so sehr ein Mangel als - sofern sie echt verstanden24 =f Abklatsch, Nachzeichnung, sondern die durch die Phänomene und ihreErfaßbarkeit selbst vorgezeichnete Genuinität, die sehr weit von einer Adäquationim Sinne des Nachbildens weg sein und trotzdem dem Phänomen in seinerLebendigkeit am nächsten sein kann. Was heißt da überhaupt >>nah«, »fern«,»weg"?


164 AnhangAist - eine entscheidende reiche Möglichkeit phänomenologischmethodischenVerfahrens.ad 1. 25Beginnen wir mit der ersten Abhebung, dem Phänomen desMich-selbst-habens und zwar in der Weise des ersten Schrittesphänomenologischer Methode, der kritischen Destruktion derObjektivierungseinschlüsse. Unter diesen werden verstandennicht nur die gerade momentan, bei der ersten Vernahme desPhänomens vorfindlichen, sondern auch die möglichen, derabgleitenden Objektivierung des faktischen Lebens sich nahelegenden.Das Michselbsthaben, das unabgehobene in lebendigen Lebenserfahrungen,ist nicht: ein über die Erfahrung und das Erfahrenereflektierendes, aus ihr heraustretendes zum Objektmachendes Ich, so daß dabei das Ich als Ich, als seiner Gegenstandsregionzugehörig, als von ihrer Art seiend erkannt würde.Es ist nicht eine Einstellung in Ordnungsbeziehungen, in welchemBeziehungssystem das Ich durch Einordnung endgültigwürde so daß im Sinne des Ordnens nichts mehr darüber aussagba;wäre. Das gilt sowohl vom Ich als leerem Beziehungspunktals auch vom Ich als konkreter Mannigfaltigkeit von Objektbestimmungen.Denn im letzteren Falle könnte es sich nurum ein Gefüge von mannigfaltigen Regionen und deren Beziehungs-und Ordnungsmöglichkeiten handeln. Das Michselbsthabenist kein Ansetzen zu Ordnungsbestimmungen; es liegtnicht in dieser Tendenzrichtung.Das Michselbsthaben in lebendiger Lebenserfahrung ist noch25 Vertrautheitscharakter -:Einfügbarkeit in die jeweilig auch erinnerte Lebensbewegung - Mitgehenkönnen- Loslassen der Aktivität; das Selbst seinerseits in diesem Aspekt.Vgl. Manuskript "Zum Grundaspekt des Selbstlebens


166 AnhangAzusammenhängen eigener Artikulation; »Vertrautsein« - wasliegt darin? - Tendenz - Motiv -lebendiger Bezug - nichtstatischeRückbeziehungen - keine Objektrelationen.Das Haben - nicht ein punktuelles, Objektsinn festlegendes,sondern ein Vorneigen in bestimmter Situationsweise in Tendenz-Horizonte;ein Festlegen - weder in der Weise der logischhypothetisch erschließenden Substruktion noch in der Weisedes induktiven Ablesen aus gemeinsamen Eigenschaften ausEinzelerfahrungen nehmen.ad2:Aber was ist nun dieses Selbst, das dabei gehabt wird? Undwenn wir so fragen, ist dann diese Fragehaltung im geringstenverschieden von den oben abgewiesenen Objektivierungstendenzen?Es bleibt zu beachten: in faktischer Erfahrung frageich nicht, was das Selbst ist; ich habe es in der Weise des Lebensim Verständlichen. Was wir mit unserer Frage suchen, ist das»Als«, in welchem unabgehoben das Michselbsthaben meinSelbst hat. Welches ist die Ausdrucksgestalt des Selbst im Michselbsthabenselbst? - nicht: Was setzt es voraus, wodurch ist esbedingt, verursacht?26Die Ausdrucksgestalt des Selbst 27 ist seine Situation. Ich habemich selbst, heißt: die lebendige Situation wird verständlich.Abwehr der falschen Tendenzen bei der Charakteristik des Situationsphänomens.Zuvor ein Überschlag darüber, was überhaupt in unseremZusammenhang zunächst bezüglich des Situationsphänomensgesagt werden kann. Was zeigt uns eine Situation (»ausdrück-26 Phänomenale Darstellungs- und Hinführungsschicht des Ausdrucks; phänomenaleimmanente Ausdruckszusammenhänge.27 Ausdrucksstufen des Phänomens selbst - Selbstwerden. Intransitäten derVerselbstung - vorläufig noch außer Acht lassen - ich muß zwar einen Voraspektverstanden haben, um mich verstehend darin bewegen zu können (Phänomenaleund methodische Ausdrucksstufen).Rekonstruktion des Schlußteiles 167lich«)? Wodurch gibt sie sich ihre Einheit? Welches ist (ausdrücklich)ihre Ur gliederung? Ferner die Frage nach der Artikulationdes Selbst in seinen Ausdrucksstufen. Das führt weiterauf die eigentliche Phänomenologie des Selbst und seiner Positionen- ursprünglicher Vertrautheitskreis [Gnade, Berufung,Schicksal], Ursprungs sinn von Existenz, woraus sinngenetischaller Sinn von Objektwirklichkeit verstehbar wird - sinngenetisch,nicht transzendentallogisch, durch logisch geforderteRückbeziehung auf ein Bewußtsein überhaupt.In der methodischen Anlage unserer Betrachtung steht dasProblem der Situation ersichtlich im Zusammenhang mit demPhänomen des Michselbsthabens. Man kann auch versuchen,von dem Umgebungsgehalt der jeweiligen Situation auszugehen,wie ich das im Sommersemester versucht habe. 28 Es bestehtdabei die Gefahr, daß zu leicht die Objektivierungen übersehenund nicht kritisch ausgesondert werden und daß man inden Irrtum verfällt, die Situation zu bestimmen aus einer bestimmten,so und so gruppierten Mannigfaltigkeit von Gehaltengelebten Lebens. Dann ist der Schritt nicht mehr weit zu einerraumzeitlichen Ordnung und Typik der Situationen. Was danngeordnet wird, bleibt bezüglich seiner selbst gerade unverstandenund rückt in die bedenkliche Nähe eines Objekts. Die Situationlöst sich auf in einem summativen Beieinander von beteiligtenVorgängen und zwar Empfindungsdaten. Man gerätganz in das >Außen< der Verdinglichung und endet bei Komplexenletzter Daten - raumzeitlich als Schnittpunkt von Reiheneindeutig fixiert. [Von ihr ausgehend nimmt das Problem desIndividuellen eine grundverkehrte Richtung.]*28 Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums. In: GesamtausgabeBd. 56/57. a. a. O.


168 AnhangA10. Für SchlußvorlesungEs ist widersinnig, bei phänomenologischen Ausdrucksgestalten,welcher Stufe auch immer, und ihren Formulierungen festzuhakenund sie statisch zu verabsolutieren; sie werden damitgerade ihres Ausdruckssinnes und ihrer lebendigen Funktionberaubt. Aber daraus darf ich nicht, mit formaler Logik argumentierend,folgern: also gibt es nur relative Erkenntnis, also istder Skeptizismus die letzte Konsequenz!1. folgt nicht aus jedem Relativismus Skeptizismus;2. vor allem (was inhaltlich das Entscheidende ist), geradeweil jede Ausdrucksgestalt vor der logischen Relativierung, dieimmer ihre stillstellende Objektivierung mit einschließt, ihremSinn nach zu bewahren ist, d. h. ständig neu zu gewinnen ist,muß unausgesetzt auf strenge Ursprünglichkeit das AbsehenseIn.Ich komme überhaupt nicht in den Gesichtskreis, wo vonRelativität zu reden Sinn hat. Nicht skeptische Resignation,sondern phänomenologisches Ursprungsverstehen erneuerndeAktivität. Aktivität ein anderes als »Betrieb«, »Betriebsamkeit«,die nur ein Element des »Außen« und der »Objekte« ist, abernicht in dem des Geistes.In der Liebe ist Verstehen;in der Hingabe - nicht an Tatsachen, sondern an Sinn, als lebendigeBezüge des Lebens, gewinnen;nicht im Reden über Welt und im rhetorischen Machen vonWelt und Religionen,im Fortgang zuerst in ein neues transzendentes oder transzendentalesGebiet - um dann zu leben;sondern die Nähe lieben und alle [ ... ]* Nähe aus aller Ferneabstreifen und so in die echte Ferne des Ursprungs zu kommen.17. X.II. BEILAGENA. Zum ausgearbeiteten VorlesungsmanuskriptBeilage 1UrsprungswissenschaftUrsprungs gebiet bearbeiten - nicht also vorgegeben sein;Problem der Vorgabe ein besonderes, weil das Ursprungs gebietim Leben an sich nicht gegeben ist;das zunächst zu verstehen;dazu allgemeine Überschau; zugleich absehen auf einenGrundcharakter, der die Unmöglichkeit des Gegebenseins desUrsprungsgebietes später verständlich machen soll; jetzt abernur der Index, der überhaupt die Gegebenheit des Ursprungsgebietesals Gegenstand einer strengen Wissenschaft in Fragestellen soll. Das Fehlen der Richtung (vgl. S.29f);Methode der phänomenologischen Begriffsbildung, die beisich in der Zufälligkeit dieser Aspektgebung erfährt das Verstehender Grundcharaktere des Lebens.** [unleserliches Wort]


170 AnhangABeilage 2Beilagen 171Beilage 324. X. (S. 46 ff.)Bekundungscharakterin Um-, Mit-, Selbstwelt..---~I der momentane Aspekt selbst in historischer Umweltvorfindlichkeit,Mitweltvorfindlichkeit: »als« Quelle »für«neue Ausdrucksform - das historischeProblem des Rückgangs - der Deutung.Quellenmaterial I Einteilung­Auffassungsgesichtspunkte.Was kann solches werden-!Tendenzen aus besonders ausgeformtenKunst - Religion ihre eigenen Ausdrucksgestalten(wirtschaftliche, politische, technische)können historisch gesehen werden,welches Sehen selbst in seiner historischen Gestalt historischwerden kann.*31. Okt. 19Einleitung zu S. 59ff.Die Frage geht dahin: Was ist Phänomenologie? Als ihre Ideeist angesetzt: absolute Ursprungswissenschajt vom Leben an undfür sich. Die Frage geht nach dem Gegenstandsgebiet, d. h. derProblematik und der Methodik. Die Frage soll selbst ursprungswissenschaftlichzur Erledigung kommen. Also es soll zur Einsichtgebracht werden, daß Phänomenologie nicht ist eine beliebigephilosophische Erfindung, ein neues System, wiedereinmal ein neuer Standpunkt, sondern daß ihre Existenz einenotwendige ist, d. h. daß echte, radikale Motive des Geistes bestehen,die zu ihr drängen, so daß sich in ihr die Idee der Wissenschaftallererst radikal erfüllt.Es soll nichts erdacht und erfunden werden. Wir haben nachzusehen,ob und wo sich Motive zum Rückgang in ein Ursprungsgebietgewahr werden lassen. Die ungekünstelte Orientierungist die des faktischen Lebens, das wir selbst sind und leben.SelbstweltLebenswelt Bekundung - »Wissenschaft«; besondere Bedeutung:Wissenschaft vom Leben;zubestimmte Ausformungen: Um-, Mit-, Selbstwelt.Selbstwelt: Autobiographie, historisch biographischeS.59ff.Forschung;- welche Möglichkeit bekundet sich in diesen faktischenAusformungen?Sie ist faktisch und vollzogen lebendig.- was bedeutet sie?- wie ist sie zu verstehen?*


172 AnhangABeilage 4Zu: Grundprobleme der Phänomenologie, S. 63.Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt faktischfeststellbar in ganz einfachen Zusammenhängen, z. B.1. Wechsel der Stellung im umweltlichen Raum;2. Umwelt und Mitwelt je nach Stimmung - »Aufgelegtsein«(Konzert in müder, leerer, farbloser Stimmung);Faktische Erfahrbarkeitenaber faktisches Beteiligtsein der Art und T#?ise der Kundgabe andem jeweiligen Wie der Selbstwelt - des Sichgebens - des Erscheinenseiner Lebenswelt.*Beilage 5Zu S. 64 Grundprobleme der PhänomenologieWir orientieren uns faktisch über faktische Wissenschaften,über das, was faktisch als Wissenschaft gilt, und wir suchensie faktisch als eigenen Ausdruckszusammenhang zu verstehen.Dieses Aufweisen von faktischen »Es ist so ... « hat seine eigeneVerständlichkeit, sofern wir im faktischen Leben selbstbleiben. Für das faktische Leben haben die Wissenschaften inihrer Faktizität kein Rätsel. Sie sind vielleicht schwierig; ichweiß, daß sie faktisch mit Hemmungen zu kämpfen haben, oftan einen toten Punkt geraten. Aber das ist etwas, was jede Lebensgestaltzeigt - eine durchgehende Fragwürdigkeit, die manaus der faktischen Unvollkommenheit der Menschen unschwer»erklärt«.Beilagen 173Primat des faktischen LebensDas faktische Leben in seiner Faktizität, sein Reichtum der Bezüge,ist uns das Nächste: wir sind es selbst.Es als voraussetzungsreich bezeichnen geht wider seinen lebendigenSinn und ist nur möglich auf einem eingenommenenStandpunkt. Die Einnahme dieses Standpunktes erwächst aberdoch selbst aus dem Leben, seiner Faktizität; mit Recht oderUnrecht, das kann ich nur prüfen, wenn ich überhaupt das Faktischeganz faktisch bin und mögliche Wege aus ihm heraus inihm selbst vorgezeichnet finde.Erste Fassung des § 19*Beilage 6Gehen wir ins Einzelne:1) WLe soll für die Ursprungswissenschaft vom Leben der Erfahrungsbodenbeigestellt werden? und2) was heißt: das so BeigesteIlte soll ursprungswissenschaftlichbearbeitet werden, in seinem ursprünglichen Hervorgangaus dem Ursprung erkannt werden;3) wie gewinne ich überhaupt den Ursprung, den ich dochirgendwie schon haben muß, um echt aus ihm entspringend dasLeben, das faktische, in all seinen Dimensionen und Vielgestaltigkeiten,die wir uns nur im Rohesten nahegebracht haben, zuerfassen.Fassen wir die erste Frage schärfer ins Auge: Für die Ursprungswissenschaftsoll der Erfahrungsboden beigesteIlt werden.Ist dieser im faktischen Leben zu gewinnen? Aber alle Erfahrbarkeitenund die daraus ausschneidbaren Sachgebietesind aufgeteilt unter die Wissenschaften - der Wasgehalt der


174 AnhangAkünstlerischen Welt, der Wasgehalt der religiösen, der wirtschaftlichen,der organischen Lebenswelt, der physischen, materiellenWelt. Aber sind denn diese Wasgehalte das Einzige,dem wir in der faktischen Orientierung begegneten? Und vorallem: wenn wir im faktischen Leben einen Erfahrungsbodenfänden, wäre damit irgendetwas für das Ursprungsgebiet undseine Umgrenzung geleistet? Das faktische Leben soll doch geradeals entspringend erkannt werden. Mit dieser ersten Frageist notwendig verknüpft die dritte: Wie gewinne ich überhauptden Ursprung?Im faktischen Leben leben wir - wir sind es selbst, es ist unsabsolut das Nächste. Wie komme ich aus ihm heraus? Vor allem:wo liegen in ihm selbst faktische Charaktere und welchesind es, die gleichsam Voranzeigen und Hinweise sind, in welcherRichtung das faktische Leben aus sich selbst herausdrängt?Solange solche Motive in ihrer faktischen Gestalt nichtsystematisch herausgestellt sind, bleibt die Idee der Phänomenologiereine Willkür, die Problematik als solche in ihrem Ansatzeine pure Konstruktion.Das faktische Leben soll motivierende Hinweise und Richtungsvordeutungengeben für eine Bereitung des Erfahrungsbodensund die Gewinnung des Ursprungsgebietes. Dann löstsich schon eine Schwierigkeit, nämlich dann bedarf es gar nichtder Beistellung des faktischen Lebens in seiner Totalität, undwir sind von diesem hoffnungslosen Unternehmen von vornhereindispensiert. Aus ihm, dem faktischen Leben selbst, soll derErfahrungsboden der Phänomenologie gar nicht herausgelöstwerden, aber es muß selbst einer Wissenschaft, die aus ihm herauswill, Motive geben.Wir sahen: die verschiedenen Sachgebiete, die sich aus denfaktischen Lebenswelten herauslösen lassen, sind alle unter dieWissenschaften aufgeteilt. Also wird es vermutlich kein Wasgehalteines Objektgebietes sein, was in der fraglichen Weise dasHerausdrehen aus dem faktischen Leben motiviert. Es ist auchBeilagen 175nicht einzusehen, welcher bestimmte Wasgehalt welcher bestimmtenLebenswelt oder gar welchen Objektgebietes einenVorzug vor anderen haben soll: Naturobjekte, Objekte der Geisteswissenschaft,Weltausschnitte künstlerischen oder religiösenLebens. Alle sind für das Niveau unserer Betrachtunggleichgeordnet, denn wir haben keine Theorien über das Leben,keine vorausgesetzten metaphysischen Standpunkte, vondenen aus wir etwa alles Physische auf das Psychische zurückführenkönnten, keine Wertgesichtspunkte und Systeme, in deneneines vielleicht, das Religiöse oder das Künstlerische, eineVorzugsstellung zu eigen hätte. Und Sachgehalte, Wasgehalteführen immer nur wieder zu anderen.Aber erschöpfte sich denn das, was wir im faktischen Lebenantrafen, in bloßen Sachgehalten? Zeigte sich uns nicht da unddort ein merkwürdiges Wie des faktischen Lebens, ein Wiegehalt- so, wenn wir sprachen von der Zugespitztheit des faktischenLebens auf ein jeweiliges Selbstleben? Das faktische Lebenzeigt da ein Wie der Betontheit, das wir faktisch erfahren,das uns als Wiege halt verfügbar wird, z. B. in und an einem bedeutendenMenschen, in dessen Selbstleben die Welt eine ganzneue Charakterisierung erfährt. Wir erfahren solche Menschenals Bereicherungen unseres Lebens, vielleicht auch als Gefahren;sie können ein Schicksal für uns werden. Wir erfahrendiese Zugespitztheit an verschiedenen Menschen, am Künstler,Helden, an Heiligen, am genialen Forscher, ja, wenn wir näherzusehen: an jedem Menschen mehr oder minder ausgeprägt,und zwar so, daß sich zeigt: diese Betontheit und Zugespitztheitauf die Selbstwelt ist nicht von bestimmten Lebenswelten undihrem Sachgehalt als solchem her bestimmt, sondern ist erfahrenderweiseinnerhalb verschiedener Lebenswelten antreffbar.Also das faktische Leben drängt hier gleichsam aus sich herauseine gewisse funktionale Rhythmik, die nicht gebunden ist anbestimmte Lebenswelten, ein VViegehalt, in dem sich das faktischeLeben ausdrückt und zwar bezüglich seiner Dynamik, seinerdynamischen Struktur.


176 AnhangAEin Strukturgehalt, in dessen Sinn als solchem die Selbstwelteine besondere Rolle spielt; nehmen wir diese Hinweise fest indie Hand: Strukturmoment »Selbst«.Die faktische Lebenserfahrung, wie immer sie weltmäßignach ihrem Wasgehalt charakterisiert sein mag, hat eine strukturmäßigeGebundenheit an die Selbstwelt. Wie wäre es, wenndie Selbstwelt, und zwar in ihrer strukturmäßigen Funktion,zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht würde?Kann es so etwas geben? Wir sahen bereits, wie Selbstweltenerfahrbar und ausdrückbar werden in der Tatsache von Selbstbiographien,und weiter, wissenschaftlich erforschbar in derbiographischen Geschichtsschreibung. Aber hier handelt es sichdoch immer um diese oder jene bestimmte, besonders bedeutsameSelbstwelt in ihren bestimmten konkreten Lebensbezügenzu ihrer Lebenswelt.Läßt sich nicht die Selbstwelt als Selbstwelt, nicht diese oderjene bestimmte, in ihren konkreten, einmaligen Bezügen zuihrer Lebenswelt wissenschaftlich eiforschen und aufgrund dieserForschung etwas über den genannten Strukturcharakterausmachen? Also aus den nicht- und vorwissenschaftlichenSelbsterfahrungen kann doch ein Erfahrungs1:wden herausgelöstund ein Sach - und Objektgebiet bereitet werden.Der Versuch, historisch den verschiedenartigen Motiven, denWegen und Formen nachzugehen, aus denen und in denendann versucht wurde und wird, aus dem Umkreis der spezifischennichtwissenschaftlichen Selbstwelterfahrungen einen Erfahrungsbodenzu gewinnen mit dem Absehen auf eine objektiveWissenschaft von der Selbstwelt, diese Aufgabe fällt ausdem Rahmen dieser systematischen Betrachtungen. Aber nichtnur das - die Aufgabe wäre gleichbedeutend mit einer Geschichteder Psychologie in allen ihren philosophischen undnichtphilosophischen, literarischen, künstlerischen, religiösenAusprägungen. Und zu einer solchen, die unter dem berührtenGrundaspekt des Verfolgs des Prozesses wissenschaftlich theo-Beilagen 177retischer Objektivierung der Selbstwelt die Geistesgeschichteerforschte, fehlt heute noch alles - und in erster Linie dieHauptsache: ein prinzipielles Herausarbeiten des systematischenProblems und seine radikale Erledigung, was selbst zunächsteine Aufgabe für eine ganze Generation darstellt.Statt einer solchen geschichtlichen Betrachtung, die notwendignicht nur fragmentarisch, sondern auch in vielem Prinzipiellennoch unklar ausfallen müßte, sei auf zwei konkrete, aufden ersten Blick belanglose Tatsachen der allerjüngsten geistesgeschichtlichenVergangenheit hingewiesen, so daß sich dasProblem in einer uns leicht zugänglichen Gestalt darstellt, allerdingszugleich in einer verwickelten, die typisch ist und die Verwirrungauf die Spitze treibt, daher um so instruktiver, vor allemfür die Herausstellung der letzten einfachen Motive der Verwirrung.Einmal: der Streit um die historische Methode - Lamprecht(Geschichte - »angewandte Psychologie«) - Ende derneunziger Jahre: Frage ist dabei, ob die experimentelle Psychologiedie wissenschaftliche Grundlage der Geisteswissenschaftendarstellen könne. Und dann: 1913 die Stellungnahme derPhilosophen gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühlemit Experimentalpsychologen und die Forderung der Errichtungeigener Lehrstühle und Institute für Psychologie. Diezweitgenannte Tatsache: für viele lediglich eine Angelegenheitdes Brotneides; die erste: eine interne Krisis der Geschichtswissenschaft.In Wirklichkeit sind beide Tatsachen typische Äußerungeneiner tiefwurzelnden prinzipiellen Verirrung des Geistesüberhaupt - mit der er während des ganzen Verlaufs seiner eigenenGeschichte behaftet ist und die auch heute noch nicht zurradikalen Überwindung gebracht ist.Es muß doch irgendein berechtiger Kern liegen in den immerneu durchbrechenden und heute besonders lebhaften Aspirationender empirischen Psychologie, sich als Grundwissenschaftder Philosophie überhaupt und der Geisteswissenschaften imbesonderen zu etablieren und zu behaupten. Der historischeVerlauf dieses in seiner geistesgeschichtlichen Tragweite nicht


178 AnhangAhoch genug einzuschätzenden Konflikts ist erst vom Boden einesVerstehens der sachlichen Probleme betrachtbar.Sowohl die erstgenannte Tatsache und die Äußerungen derPhilosophen dazu, ebenso wie die zweite, zeigen, daß die Zusammenhängeweit entfernt sind von einer radikalen Erfassung.Typisch: der Unbegriff von Psychologie, den Rickert sichzurechtgemacht hat und der die ganze Unzulänglichkeit seinerTheorie der naturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichenBegriffsbildung einsehen läßt, was letztlich seineWurzel hat in der ganz unvollkommenen Bearbeitung der prinzipiellenFragen: Begriff, Begriffsbildung, Bedeutung, Ausdruck.Dazu: die einseitige mechanisch-atomistische Auffassung derPsychologie, die überhaupt ein Grundgebrechen des modernenKantianismus ist, allerdings zugleich nahegelegt durch Verirrungenund verirrte Aspirationen und prinzipielle Unklarheitder experimentellen Psychologie.Wir bleiben also im inhaltlichen systematischen Zusammenhangder Untersuchung und es soll lediglich zu Zwecken konkreterExemplifizierung auf historische Erscheinungen derProblem entwicklung, d. i. im Grunde Problemverwirrungen,verwiesen werden.Wir lassen uns von der Merkwürdigkeit des faktischen Lebens- Zugespitztheit seiner auf eine jeweilige Selbstwelt-Ieiten, nehmensie als Motiv für ein schärferes Hinsehen auf diese Betontheitder Selbstwelt und zunächst auf diese selbst. Es soll gefragtwerden (unser Absehen geht doch auf ein mögliches Gegen~standsgebiet für eine Wissenschaft vom Ursprung des Lebens,also von etwas, in dem das Leben irgendwie zentriert): Wie ist imAusgang von den nichtwissenschaftlichen Erfahrungen innerhalbder Selbstwelt, auf dem bereiteten Boden solcher Erfahrungen,eine objektive Wissenschaft von der Selbstwelt möglich?Genauer: Welches sind die notwendigen Schritte in der Genesiseiner solchen Wissenschaft aus Selbstwelterfahrungen?Nicht im Absehen auf historische Darstellung, sondern lediglichzu Zwecken konkreter Exemplifizierung und Näherbrin-Beilagen 179gung des Problems sei Geschichtliches berührt. Rein sinngenetischbetrachtet ist der Prozeß der Ausformung theoretisch-wissenschaftlicherGegenstandsgebiete aus nichtwissenschaftlichenWelterfahrungen ein stufenreicher und je nach den Sachsphärenbesonders verwickelter Prozeß, der für die faktisch geschichtlicheRealisierung vielerlei Möglichkeiten von Hemmungen,Rückfällen, Irrungen und prinzipiellen Verkehrtheiten bietet,die alle dann für Jahrhunderte sich festsetzen und das Lebenbestimmen können. Kein Gebiet der Wissenschaftsgeschichte,sofern sie unter diesem Aspekt systematisch erforscht würde,wäre instruktiver als die Geschichte der Psychologie, weil geradehier (aus jetzt schon einsichtigen Gründen: Zusammenlaufender Lebensgehalte in der Selbstwelt) die Möglichkeiten desHereinspielens der verschiedenartigsten Motive besonders großist. Für unsere historische Situation ist das Problem besondersbedeutsam, weil wir gerade jetzt im entscheidenden Suchen stehenund weil nach unserer Überzeugung die Phänomenologieberufen ist, hier radikale Arbeit zu leisten und den Augiasstallzu säubern.Näherhin haben die folgenden historischen Verweisungen imZusammenhang des sachlich leitenden Problems den Zweck,die Einsicht zu erwecken, daß nur radikale Problemstellung ausder gegenwärtigen Problemverwirrung herausführt.In den beiden namhaft gemachten Tatsachen kommt zumAusdruck:1. die Psychologie prätendiert die Funktion der Grundlegungder Geisteswissenschaften;2. sie wird von den schaffenden Historikern zurückgewiesen;3. sie prätendiert ebenso prinzipielle Bedeutung für die Philosophieund wird vielfach so aufgefaßt und betrieben [vor ~llernist der Gedanke leitend und zum Teil nicht unberechtigt(richtig verstanden), daß alle streng logische Methode notwendigleer und ohne Voraussetzung abstrakt, letztlich Konstruktbleibt, wenn Erkenntnistheorie (als Theorie) wirklich strapaziertwird];


180 Anhang A4. von anderen zurückgewiesen, und zwar nicht als besondereGeisteswissenschaft, sondern als Naturwissenschaft.Die Betontheit der Selbstwelt im faktischen Leben spiegeltsich wider in den scharfen Kämpfen und Bemühungen um eineWissenschaft von ihr und die fundamentale RangsteIlung, dieihr zum Teil zugesprochen, zum Teil bestritten wird. Problemist: Selbstwelt als mögliches Gegenstandsgebiet einer Wissenschaftund bei ihrer Betontheit und funktionalen Bedeutung alsGegenstandsgebiet vielleicht der gesuchten Ursprungswissenschaft.Jedenfalls geht es um eine Wissenschaft, die auch heutenoch problematisch ist.ZuS.l06:*Beilage 7Die Schilderungen haben das Ziel, hinzuführen, sehen zu lernendas faktisch Erfahrene in seiner vollen Konkretion unterFernhaltung aller Theorie und theoretischen Erklärungsversuche(keine Zuteilung des Primats an die Theorie). (Es mögenrichtige Momente in ihnen liegen, aber sie haben in unsererradikalen Betrachtung keine Stelle.)Das Gesehene festhalten, immer neu lebendig sich vergegenwärtigenund im Sinnzusammenhang verstehen und verstehendie Weise, in der das Erleben in ihnen aufgeht, ohne geradeausdrücklich davon zu wissen - das besagt ja das Atifgehen!![VertrautseinBeilagenBeilage 8Fragment von VerständlichkeitUrsache aber das Erfahren selbst. Rätsel bietetdas Herkommen von und Hinkommen zu»nicht objektive-----Ursachen«Motivverfügbarkeit - Tendenzhorizont - Gehaltssinn (Idee)Bezugssinnwie ich im Bezugssinn lebe~ VollzugssinnPeripetie der Rolle der (Sinnführungen)die DominanteI181das Leben gravitiertin diesen Bezügenbeim Vollzugssinn: Selbstformen und Selbstgenügsamkeit desLebensSpontaneitätStufengenealogischeAusdrucksbezüge zweifach -faktischerLebenserfahrung -Selbstleben echter Situationen -Leben als konkrete Geschichte(Gegenwart)und diese Bezüge selbst Ausdruckdes Lebens an und für sich des Ursprungs*


Lose Blätter 183B. Lose Blätter aus dem Umkreis der VorlesungBlatt 1Problemgruppen:Sinn - Sinnzusammenhang;Idee und Einheit eines Sinnes - Sinngegebenheit - fragmentarisch;Sinnverstehen: Nachgehen den fragmentarisch verweisendenZügen; dazu Problem der Beschreibung.Begriff des »phänomenal« (~nur in der radikalen Innenbetrachtung,d. h. im Sinnverstehen der Erlebniszusammenhänge):im Sinnverstehen anschaulich gegebene Fragmentarischeselbst, aber auch das, worauf es phänomenal, das heißt: indieser Anschauungsgegebenheit selbst hinweist.Gibt es auch Nichtphänomenales in der phänomenologischenSphäre und ist es das eigentlich Psychologische, Psychische?Was besagt in diesem Zusammenhang die Lehre Husserls vonder reellen gegenüber der intentionalen Analyse?!Problem der hyletischen Daten gar kein phänomenologisches,sofern sie aus jedem Sinnbezug herausgenommen, nurals Daten - Dinge - genommen werden.Phänomenologisch, was in dieser Methode überhaupt zugänglichwird und werden kann.Erleben und Sinn- Leben.Wesen und Sinn.(>Ttesen< zu gebrauchen für das Ausdrückende selbst - oderüberhaupt zu vermeiden)Sinn und >Sinneinheit< (wichtig für das Problem des Zufalls!)ganz eigene; die Idee der generellen Klassifikation der Erlebnisseist keine genuin phänomenologische, sondern ein unphänomenologischesMaterial; Phänomene zum >Material< für dierechnende Technisierung - aus lediglich formalen oder sonstwienicht ursprungsmäßigen Motiven entsprungen.Ich falle aus der echten Tendenz, die im Verfolg des »Intentionalen«liegt und ursprungsmäßig des Sinnzusammenhanges,heraus in schlechte Verdinglichungen der Erlebnisse, weil ichmit dem Sinnmäßigen vor allem den notwendigen Bezug, derzu Erlebnissen gehört, »Welt« verloren habe.(Idee der ursprungsmäßigen Morphologie und Genealogieder Phänomene)Phänomenologische Begriffsbildung:Kann ich fragen, welche Rolle die Erlebnisse spielen bei derphänomenologischen Begriffsbildung, ohne die Erlebnisse selbstnach ihrem Grundsinn bestimmt zu haben?*Stellen wir ganz allgemein die Wissenschaft unter die Idee derOrdnung, so ergibt sich für eine Ursprungswissenschaft eine


184 Anhang ABlatt 2Was besagt die vermittelte Unmittelbarkeitbzw. unmittelbare Vermitteltheit?Die notwendige Anschauungsbestimmungin Dialektik, die es selbst geeignetmacht als Ausdrucksform(sinnmäßig) der reinen Anschauung.Vorgebende Anschauung - reine phänomenologischeAnschauung undbeides noematischformallogische Bestimmbarkeitbeider!dialektische Ausdrückbarkeitbeider!~ PhänomenologischeAnschauung undDialektikWelches sind die Strukturmomenteeines phänomenologischenBegriffs?Notwendig inihm die Perspektive aufLeben an und für sich(was heißt das?) undseine organischen Bezüglichkeitenfunktionalen(noch besseres ihm geistigentlehntes Wort zufinden!)Lose Blätter 185Blatt 3Phänomenologische AnschauungVerstehen - als Anschauung - Mitgehen mit und in der Fülleeiner Situation und Veifolgbarkeiten des Tendenzhorizontes; Bezugseinheitenimmer in ihrer fragmentarischen Vor- und Rückweisung.Im phänomenologischen Verstehen hat sich das Leben selbstim sinngenetischen Ausdruck seines Ursprungs;Anschauend: weil das Verstehen selbst dabei ist in den Sinnzusammenhängender Aktvollzüge - Situations einheiten, Tendenzenund Motive;anschauendes Vor- und Rückgreifen - im Sinne des prozeßartigenMitgehens.Mitgehenkönnen - Vertrautsein - >Liebe>unbestimmt«?Was heißt >>unbestimmt«?Was heißt »Anschauung der unmittelbaren Sinneswelt« (Hegel)?Ist Umwelt gemeint oder ein Empfindungsfeld (StumpfsErscheinungen?)Wenn Umwelt, dann sehe ich Bücher, Häuser u.s.f. - ist das»sinnlich«?*Vortheoretische Selbstwelterfahrung - ihr Charakter: Verstehen.(Kritische Besinnung deshalb)Faktische Lebenserfahrung: lebe in Bedeutsamkeitsverflechtungenselbstgenügsamer Ausmessung; inhaltlich undartikuliert das Leben an sich; das Leben ist »weltlich gesinnt«,ohne dabei ein unabgehobenes Michselbsthaben im aktuellenErfahren; das Mich und das Haben nicht ausgeformt,sondern nur in dem Motiv - Leistungen erfahrbar und erfahren.


186 AnhangADer Satz, daß jedes Bewußtsein von etwas zugleich Bewußtseinseiner selbst sei, worin man die letzte Identität des Bewußtseins,sein Prinzip, sehen will, ist eine formale Objektivierungund damit nichtssagend, ein leicht handliches Surrogat füreinen reichen Phänomenkomplex, den es nun endlich einmal inder Philosophie zu fassen gilt, statt nur immer in neuen Variantenum ihn herumzureden. Um ihn aber zu fassen, muß manihn überhaupt erst einmal zu Gesicht bekommen und das alleinist schon eine verwickelte Aufgabe.Im Erinnern lebt das Leben in einer Artikulation seiner, diein es selbst eine Distanzierung bringt dergestalt, daß das weltmäßigErfahrene - in sich auffangend die Bezüge des Erfahrenhabens;(ich erfahre, wie es war, d. h. wie ich war, lebendwar- etwas habe, wie es mich anging.) (vgl. 11. u.l.)Im Erinnerten erfahre ich ein Fragment der Verständlichkeitmeiner selbst (daß darin sich das Selbst »ausdrückt«), aberohne ausdrückliche, gar objektive Zuordnung,. Ich brauchenicht auf mich zu reflektieren; ich brauche sie nicht zurückbeziehenauf-1. der Bezugssinn des Mich-dabei-Habens (Verstehen);2. der Sinn des Selbst - Bedeutsamkeitszusammenhang mitHinweisung auf Situationsstruktur;[ad 1) Verstehen weiter klären; seine Ausformung als Grundhaltung;ad 2) Situationsbegriff näher klären - Ausformung seinerals Gegenstandsart]3. Leben und Selbstwelt. Bedeutsamkeitsbezüge in einerbezughaften Sammlung (Komplex);4. Steigerung des Verstehens - Motiv - Tendenz (vgl. Zettel»Verstehen«!); Ausdruck von Erlebniszusammenhängen -Selbstbezüge auf Verständlichkeiten: Leben im Thema. Wohindie Weise des Betroffenseins (dieses Sinn-Erleben) von Bedeutsamkeitenfür ein Selbst in Situationen; Sphäre der Verständlich-1 [Im Nachlaß nicht auffindbar.]Lose Blätter 187keit (Aufnahme der Urform der »Selbstgenügsamkeit«): Lebenführen, Leben gewinnen - erraffen - verlieren;5. Nichtübersteigerung und Zurücknahme der lchbetonung- ausdrucksgenetisch - in der Zurücknahme näher dem Ursprung;6. Ausdruckszusammenhang genetisch überhaupt zwischenaktuell faktischen Situationen; geschichtliches Leben; Urgeschichte,Leben an und für sich;7. »analog« für die Situation und alle konstitutiven Bezugseinheiten.*Blatt 5Objektivität - VerdinglichungObjektivität: aus dem Ursprung und Lebensbedeutsamkeiten -Eigenzusammenhang;Objektivität: dingverhaltgeleitete Ausdrucksgestalten einesSeienden; Dingverhalte entinnerlicht - ich kann von einem zumanderen, an ihm entlanggehen. Die Dingverhalte als Verhaltesind für die Dingerfassung selbst ein Letztes. Es genügt sich imEntlanggehen und zwar immer in einem Rahmen, d. h. die dingverhaltsbestimmendeObjektivierung genügt ihrer eigenen Tendenzimmer radikaler, je umfassender, aufnahmefähiger derRahmen ist, je länger der mögliche Weg ist von einer Dingvereinzelungim Rahmen zum umlaufenden Rahmen selbst.Die verdinglichende Objektivierung erreicht ihre reine Ausprägung,wenn sie entdeckt den am weitesten umlaufendenRaum letzter formal-genereller Allgemeinheiten.Verdinglichung - keine Bewertung - in sich keine dingvereinendeTendenz. Sie ist aber eine Tendenz, die vermöge ihresHinausgehens in das Allgemeinste mit dem Allgemeinsten dasPrinzipielle und Ursprüngliche vortäuscht und so immer wiederdie Philosophie hinters Lichtführt.


188 AnhangAVerdinglichung das Leben überhaupt betreffend (Gegebenheit);das Psychische als verdinglichende Objektivität; die Selbstweltin der verdinglichenden Psychologie - in ihrem Verlust von»Selbst-« und »Welt«-charakter.*Blatt 6Die »Gegebenheit« des Ich und die Überschätzungseiner Rolle in der Phänomenologie»In unserem Erleben selbst - und indem wir unseres faktischenErlebens inne werden - vermögen wir das eine alle Erlebnisse>habende< und ihnen identisch [?] zugeordnete Ich zu erfassen.Nicht um eine Supposition handelt es sich hier - zu der unsnichts in der Welt berechtigen könnte -, sondern um einen unmittelbarenund unbezweifelbaren phänomenologischen Befund.In jedem Erleben steckt [?] das reine Ich und kann uns inihm jederzeit zur Selbstgegebenheit kommen.«!Alles fraglich! Lediglich Theoretisierung und Substruktion.Es gibt Erlebnisse - ich denke da nicht an hyletische Daten,sondern konkrete Situationen des Lebens -, in denen das reineIch mit dem besten Willen nicht steckt, so daß es zur Selbstgegebenheitkomme.Zur Selbstgegebenheit kommt nur die eigene konstruktiveSubstruierung auf Grund der Definition - jedes Erlebnis ist Erlebniseines Ich.Abgesehen davon, daß damit überhaupt nichts gewonnen ist, eszeigt sich darin, daß aus der formal zurechtgelegten Beziehungkonkrete Ich-, genauer: Situationsprobleme überhaupt nichtgestellt sind.1 A. Reinach, Paul Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer MethodeBd. I. In: Göuingische gelehrte Anzeigen. 176. Jg. (1914). Nr.IV, S. 198.Lose Blätter 189Verbaut diese starre Ichsubstruktion - analog wie der alteSubstanzbegriff, den man z. T. oft noch fruchtbarer findenmöchte, z. B. bei Aristoteles - jedes lebendige Verstehen. Stattdessenimmer Rahmenbetrachtung.Auch ist nichts gewonnen, wenn man schon auf falschemWege ist, in einer äußerlich objektiven Ergänzung- Kennzeichnungdes Lebens - das Ich zu einer Person zu objektivieren.*Blatt 7Phänomenologie und Leben - interpretativesVerstehen - »Idealtypus«Apriorisch notwendige Sinnmöglichkeiten des Lebens - dabeiimmer als Ausformungen einer Idee und nur in diesem möglichenAusformungsbezug als lebendiger Prozeß verstehend zubetrachten.Was das Leben überhaupt sinnmäßig kann - was normiertund umgrenzt dieses »kann« durch »Fakta« (woher diese bestimmt- Rückbezüglichkeit des Lebens zeigt sich hier) bezüglichder Widerspruchslosigkeit oder Widersinnigkeit! -, hier istauch ein Weg zur Eidetik des Einmaligen - besondere Ausdrucksgestalten,in denen ein typischer Reichtum von Sinnbezügensich ausformt, überempirische Möglichkeiten sichtbarmachend.Deskriptiv verstehende Grundhaltung: Brücke von der reinformallogischen Anschauung zum Ausdruck - selbst ein Sinnbezug,nichts Unmittelbares, ein Aneinanderkleben von heterogenenStücken.Interpretation der Sinnzusammenhänge:z. B. Umwelterlebell - aber noch engere und sinnliche Anschauung(Wahrnehmung) in seiner absoluten Lebensbedeu-


190 Anhang Atung, z. B. für das Religiöse, für das Wirtschaftliche oder fürtheoretische Naturerkenntnis.Interpretation: Verstehen als notwendig den Sinn durchforschendesVerstehen der Rollenbezüge, ihrer apriorisch sinnhaftenRelevanz für: Idee von Erlebnissen. Auf das verstehendeFragen spricht eine Sinnzugehörigkeit an. Wie muß phänomenologischgefragt werden?Noch zu allgemein: noch schärfer in die Erlebnisstruktureneindringen! Als vertraute sind sie Determinanten des Sinnzusammenhangs.Unter den Determinanten eine Dominante (dieBezüge aber sinnhaft lebensstrukturmäßig! !).Für die Phänomenologie notwendig eine eigene Richtungder Anschauung - eigene Richtung, Richtungsänderung, Herausdrehen,Sichhineinstellen in die Erlebnisse selbst (vgl. Vorweisung).Zunächst Vorform (erster Anhub): in das Leben selbst,in seiner Zugrichtung bleibend, sich dazu in sie selbst stellendund gestellt in ihr miterfahrend den »Zug« und die Richtungund das, was an ihrem Wege liegt.Bedeutsamkeiten sind Ausdrucksgestalten von Sinnzusammenhängen,die einer Idee entfließen, in ihr ihre spezifischeEinheit erhalten.»Nicht die >sachlichen< Zusammenhänge der >DingeWissenschaft«Objektivität< haben keinerlei innere Verwandtschaft«2.Die Trennung von wissenschaftlicher Objektivität und persönlicherWertung (aus letzten Positionen) ist in der Philosophiebesonders schwierig und stellt die höchsten Anforderungen(weil die» Tatsachen« und ihre Erfassung ganz radikal andersgeartet sind).Bedeutsamkeitszusammenhänge können in »Vereinzelung«verstanden und auf ihre Zurechnung in »bedeutsame« hin untersuchtwerden (historisch).Sinn anschauendes Verstehen nimmt mit die sinnmäßigeRhythmik aus diesen Zusammenhängen - Rhythmik (nichtgenus!) [verläßt nur die Wege und Stationen ansetzender Verdinglichung].Konstruktion idealtypischer Sinnzusammenhänge - ihremehrfachen sinnmäßigen echten Möglichkeiten, die den Reichtumder Idee ausdrücken und damit ihre merkwürdige Strukturandeuten! Diese »Konstruktion« ist nach Seiten des faktischenLebens und besonders der ObjekteinsteIlung Lockerung, Freimachender Bezüge, in die sie sich losläßt. Konstruktion hat hiernichts vom Nebensinn des Erkünstelten, sondern des echtenSichbauenlassens selbst.Idealtypus:klingt mit die Zuordnung zu dem, wofür »Ideal«; inhaltlich eine»Utopie«, »die durch gedankliche Steigerung bestimmter Ele-2 A. a. 0., S. 33.


192 AnhangAmente der Wirklichkeit gewonnen ist«3. Was heißt »Steigerung«,gedankliche Steigerung?»der idealtypische Begriff [ ... ] ist keine >HypotheseErfolg< hier: Verwertbarkeit für das Verstehen desLebens?] Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin dieBildung abstrakter Idealtypen in Betracht.«6 Gilt das auch fürdie reine Phänomenologie!»idealer Grenzbegriff« [>Grenze


194 AnhangAmöglichend - selbst seinem Grundwesen nach in der Möglichkeitsteht der typisierenden Funktion und Betrachtbarkeit.»J e mehr es sich um einfache Klassifikation von Vorgängenhandelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten,desto mehr handelt es sich um Gattungsbegriffe, je mehrdagegen komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigenihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeutungruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird derBegriff - oder das Begriffssystem - den Charakter des Idealtypusan sich tragen. Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildungist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrtdie Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zubringen.«Y»Gattungsbegriffe - Idealtypen - idealtypische Gattungsbegriffe- Ideen im Sinne von empirisch in historischen Menschenwirksamen Gedankenverbindungen - Idealtypen solcher Ideen- Ideale, welche historische Menschen beherrschen - Idealtypensolcher Ideale - Ideale, auf welche der Historiker die Geschichtebezieht; - theoretische Konstruktionen unter illustrativerBenutzung des Empirischen - geschichtliche Untersuchungunter Benutzung der theoretischen Begriffe als idealer Grenzfälle- dazu dann die verschiedenen möglichen Komplikationen[ ... ]: lauter gedankliche Bildungen, deren Verhältnis zur empirischenWirklichkeit des unmittelbar Gegebenen [?] in jedemeinzelnen Fall problematisch ist: -« 10Hieraus erhellt die Verschlungenheit der begrifflich methodischenProblematik der Kulturwissenschaft.»Das Verhältnis von Begriff und Begriffenen in den Kulturwissenschaftenbringt die Vergänglichkeit jeder solchen Synthesemit sich. Große begriffliche Konstruktionsversuche habenauf dem Gebiet unserer Wissenschaft ihren Wert regelmäßiggerade darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung9 A. a. 0., S. 76.10 A. a. 0., S. 78.Lose Blätter 195desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten.«l1Was heißt hier das »historische Verstehen« überhaupt? »Synthese«(formal und objektivierend zu verstehen) in der Phänomenologiesinnlos!!»[ ... ] da wirklich definitive historische Begriffe bei dem unvermeidlichenWechsel der leitenden Wertideen als generellesEndziel nicht in Betracht kommen [wird man glauben müssen],daß eben dadurch, daß für den einzelnen, jeweils leitenden Gesichtspunktscharfe und eindeutige Begriffe gebildet werden,die Möglichkeit gegeben sei, die Schranken ihrer Geltung jeweilsklar im Bewußtsein zu halten.«12*Menschliches Verhalten - eigene Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten,»deren Ablauf verständlich deutbar ist« .13»Ein durch Deutung gewonnenes >Verständnis< menschlichenVerhaltens enthält zunächst eine spezifische, sehr verschiedengroße, qualitative >EvidenzVerstehen< des Zusammenhangs noch mit den sonst gewöhnlichenMethoden kausaler Zurechnung, so weit möglich,kontrolliert werden, ehe eine noch so evidente Deutung zurgültigen >verständlichen Erklärung< wird. Das Höchstmaß an>Evidenz< besitzt nun die zweckrationale Deutung. [ ... ] Das11 A.a.O., S.81.12 A. a. 0., S. 82.13 Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: Logos.Intern. Zeitsehr. f. Philosophie der Kultur. Bd. IV (1913), S. 254.


196 AnhangA>Verständliche< hat für die empirischen Disziplinen flüssigeGrenzen.« 1 I»Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handelnnun ist im speziellen ein Verhalten, welches 1. dem subjektivgemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten Andererbezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit inseinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv)gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbarist.«15Die Nachbarschaft des Sinnhaften (rein Verstehbaren)!»Es sind für die Soziologie 1. der mehr oder minder annähernderreichte Richtigkeitstypus, 2. der (subjektiv) zweckrationalorientierte Typus, 3. das nur mehr oder minder bewußt oderbemerkt, und mehr oder minder eindeutig zweckrational orientierte,4. das nicht zweckrational aber in sinnhaft verständlichemZusammenhang, 5. das in mehr oder minder sinnhaftverständlichem, durch unverständliche Elemente mehr oderminder stark unterbrochenem oder mitbestimmtem Zusammenhangmotivierte Sichverhalten, und endlich 6. die ganz unverständlichenpsychischen oder physischen Tatbestände >inan< einem Menschen durch völlig gleitende Uebergängeverbunden.«16»die Beziehungen zur >Psychologie< sind für die verstehendeSoziologie in jedem Einzelfall verschieden gelagert. Die objektiveRichtigkeitsrationalität dient ihr gegenüber dem empirischenHandeln [...] als Idealtypus, durch Vergleichung mit welchemdie kausal relevanten Irrationalitäten [im jeweils verschiedenenSinn des Worts] zum Zweck der kausalen Zurechnungfestgestellt werden.« 17Lose Blätter 197Blatt 8Merkpunkte für die Umarbeitung»Zugespitztheit« ihrerseits ursprünglich rückverstehen als eineGestalt der Weltausbreitung der personalen Existenz.Personale Existenz nicht isolieren im Sinne irgendwelcherIchphilosophie .Verfolg der Zugespitztheit; ihre methodische Bedeutung alsLeitfaden so zu verstehen, daß phänomenologisch die Dissoziationdes Lebens immer mehr rückgängig gemacht wird - ausgehendvon der faktischen Lebenserfahrung, aus der selbstzunächst phänomenale Grundgegebenheiten im Sinne derAnschauung ausscheidbar werden.Das Ausdrucksproblem, das im Vorliegenden berührt ist, bedarfeiner weitgehenden Durcharbeitung, um die Zugespitztheitphänomenologisch klar und fruchtbar als Leitfaden benutzen zukönnen, nicht aber umgekehrt; insofern ist die vorliegende Formder Vorlesung (W.S. 1919/20) prinzipiell verfehlt und notwendigunklar; desgleichen auch die Ursprungsidee.Bei der phänomenologischen Anschauung der faktischen Lebenserfahrungihre Totalität (im Ganzen einer Ungegliedertheit)auch bezüglich der Selbstwelt zu studieren - auch fürBedeutsamkeit (compositum mixtum) [Scheler)1; ferner das Eigentümlicheder» Lebensgemeinschaft«2.Mitvollzug der in der Bedeutsamkeit spezifisch lebenden Akte- »Mit«-Charakter der Bedeutsamkeit; nicht aber auf Mitteilungberuhend, in dem das >Mit< zur phänomenalen Gegebenheitkäme (Scheler, Sympathiegefühle»11 Ebd.15 A. a. 0., S. 255.16 A.a.O., S.260.17 A.a.0.,S.261.*1 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Mitbesonderer Berücksichtigung der Ethik I. Kants. Teil H. In: Jahrbuch für Philosophieund phänomenologische Forschung. Bd. II (1916), S. 305ff. u. 309ff.2 A.a.O., S.404ff.3 M. Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Symphathiegefühle undvon Liebe und Hass. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenzdes fremden Ich. Halle 1913. S. 128.


198 AnhangADas dadurch gegebene Verborgensein des eigenen, individuellenSeelenlebens.Zugespitztheit in der vorliegenden isolierten Betonung nochzu sehr Nachklang einer anfänglichen ichlich-transzendentalenOrientierungsiewird phänomenologisch erst wirksam, wenn sie genommenwird im Prozeß der Ausschneidung des Anderen (Fremden)und des Selbst.»Gesamtstrom des individuellen Seelenlebens«, aus dem»gleichzeitig« Eigenes und Fremdes auftaucht (Scheler); derseelenhafte Hintergrund in meiner Umwelt (was sie denkt, ihreAnschauungen u. s.O.Prinzipielles:Lose Blätterfür die schärfere Fassung der Grundbegriffe ihre existenzielleExplikation, z. B. Um-, Mit-, Sclbst»welt«;kein »Monismus« der Existenz, weil Monismus etwas objekthaftEinstellungsmäßiges besagt und man mit solcher Charakterisierungdas Ganze von Grund aus nicht versteht.199Gliederung:Vordeutung auf das prinzipiell Letzte - Ursprungsproblemmit absoluter Anschauung;Umwelterfahren - Bedeutsamkeit - Situation;Ausschneiden aus Bedeutsamkeit: reines Werterfahren (vgl.Zettel »Bedeutsamkeit«, 10)4Reine Wert- und GutwirklichkeitenStellungnahmeHandlung u. s. f. Korrelative Wissens- und Lebenserfahrungsschichten.Ausschneiden aus Bedeutsamkeits- und Werterfahren: theoretischesErfahren: Kenntnisnahme, Erkenntnis, Explikation; damitVermischung zeigen und zwar solcher des Lebens selbst, alsoRückkehr ins Volle und Reine.Gebrauch des Wortes »Leben« zu verdeutlichen als zunächstnur formal anzeigend, mit der Spitze gegen eine verdinglichendePhilosophie (vgl. Zettel »Leben«)54 [Im Nachlaß nicht auffindbar.]o [Im Nachlaß nicht auffindbar.]


ANHANGB


I. ERGÄNZUNGEN ZUR AUSGEARBEITETEN VORLESUNGAUS <strong>DER</strong> NACHSCHRIFT VON OSKAR BECKERErgänzung 1Das phänomenologische UrsprungsgebietDas Ursprungs gebiet der Philosophie ist kein letzter Satz, keinAxiom. Es ist auch nicht die Idee des reinen Denkens (wieH. Cohen und Natorp meinen). Auch nichts Mythisches oderMystisches (d. h. nur religiös Erfaßbares). Es kann nur durchdie urwissenschaftliche Einstellung zugänglich gemacht werden.- Das Ursprungs gebiet ist uns nicht gegeben. Wir wissennichts von ihm aus dem »praktischen Leben«. Es ist uns fern,wir müssen es uns methodisch näher bringen.Also: 1) Das Ursprungsgebiet, das Gegenstandsgebiet derPhänomenologie ist im »Leben an sich« nicht gegeben.2) Es ist nur durch wissenschaftliche Methode zu erreichen.Welche methodischen Ansätze sind zu machen, um aus »demLeben an sich« das Urgebiet, das »Leben an und für sich« zuentdecken? - Wir sehen uns zunächst das »praktische Leben«an. Es ist »selbstgenügsam«. - Das Ursprungsgebiet ist wesensmäßignie gegeben im Leben an sich. Es muß immer vonNeuem erfaßt werden. Daher die immer neuen »radikalen«Tendenzen in der Philosophie im Laufe ihrer Geschichte. -*Ergänzung 2Ein Bibliothekar findet in dem Einband eines zerlesenen Bandeseinige Blätter mit alten Schriftzeichen - es stellt sich heraus,


Anhang B204d D rch diesen Fund wird ein uns, , 1 P .'rkull e, ues 1st eIne a te apst..., Z h g aufgehellt, -, k h' storlscher usammen anbIsher unbe annter 1 "b ' f 1 1 llge unbeachtetlar des Romer ne s ag aLuthers Handexemp I' E' 'T' de man auf die'11 Ber m lnes tags wurin der kgl. Bibliothek 1 'k f ksam und man, " llalldbemer ungen au merdarm befmdhchen P h f" ' y, riesungen hanh, d a ß es SIC um 1" , _'h l\oTotizen Lut ers ur seIne 0sa, h rekonstrUIeren konnte,-delte, dIe man dadure P bl d h' t rischen »Quel-, ' 'ch das ro em er IS 0Allgemem ergIbt SIdeQue11enk'ntI'ketc,),Eine bestimmtelen« (die Quellenku ll , k' ' Q lle« Von da aus, , , "die Fun tlOn eIner» ue 'Vorfmdhchkelt erhalt f f ß d Dazu muß ich, eit selbst au ge a t wer en,kann dIe Vergangenh h ' h b 11 sie bekundetd r Vergangen elt a e ,ein gewisses Bild Voll e , G 1, ' 'er gewIssen esta t,-sIch schon vorher m m h d G hichte hat selbst, ' e des Sc auens er escDIe Art und WelS h' ) D' k wieder eine Ge-, G h' h (H' toriograp le, lese anneIne esc IC te ISE Sln, d h'ler versch'ledelle Verhältnisseschichte haben usw, smöglich, "1 ' des historischen Ver-All es d les' f"hu rt auf die phanomeno ogIestehens, -- d G 'ß k mmen neue Be-I k" I 'h Schaffen un eme en 0m unst erzsc en d' h b 'h Geschichte, Prokundungenzustande, Auch lese a en 1 re 1blem der Kunstgeschichte, "d' andere Art vonIm religiösen Erleben h~ben wGlrbwle e) r elpne blem der Relifhtene eten - roBekundung (in Kulten, 'gionsgeschichte, -- f k' h kllnn sich wieder, d B kundungs un tlOn ste t,Das, was In er e 'U h' b der Verlagerungrribt eIne versc le ung 0selbst be k unden, E S t>- 'U' gen des Bekunder B e k un d ungssc h 1' chten; ferner em msprm 'dungszentrums,*Ergänzungen 205Ergänzung 3Der Anfang der Biographie liegt in der Renaissance (Vasari,Künstlergeschichten; wie Hagiographie etc, - vgl. 1. Burckhardt,Die Kultur der Renaissance), Ein originaler Ausdruckszusammenhangder Selbstwelt besteht in der Kunst, In der wissenschaftlichenBiographie spielt das künstlerische Moment in eigenartigerund notwendiger Weise mit hinein, (Vgl. z, B, dieDarstellungen Goethes von Gundolfund Simmel.)*Ergänzung 4Diese altchristliche Errungenschaft wurde durch das Eindrin -gen der antiken Wissenschaft in das Christentum verbildet undverschüttet, Von Zeit zu Zeit setzt sie sich in gewaltigen Eruptionenwieder durch (wie in Augustinus, in Luther, in Kierkegaard),Die mittelalterliche Mystik ist allein von hier aus zu verstehen,Augustinus hat in den »Confessiones«, den »Soliloquia«,in »De civitate Dei« die zentrale Bedeutung der Selbstwelt fürdas christliche Urerlebnis zur Geltung gebracht. Er ist dannaber im Kampf mit der Dogmatik erlegen, Man sagt, Augustinsei ein Vorläufer Descartes', Aber Augustin sah die Selbstweltviel tiefer als Descartes, weil dieser schon von der modernen Naturwissenschaftbeeinflußt ist, Sein Wort »crede ut intelligas«soll heißen: das Selbst soll sich erst im vollen Leben verwirklichen,ehe es erkennen kann, In den Worten »inquietum cornostrum« ist ein ganz neuer Aspekt des Lebens gegeben, - DerKampf zwischen Aristoteles und dem neuen »Lebensgefühl«setzt sich in der mittelalterlichen Mystik fort und schließlich inLuther,-Welche Möglichkeiten kommen nun in den Erscheinungender Selbstbiographie jeder Art und der biographischen Forschungzum Ausdruck?


206 Anhang BWir fanden, daß mit der Darstellung des Selbst zugleich das,was das Selbst erlebt, seine Welt, in der es lebt, gegeben ist. Dasgelebte Leben und sein Aspekt ist der Widerschein des Rhythmusdes Selbstlebens. Dieser Wechselbezug ist echt und lebendig,nicht theoretisch. In der Selbstbiographie zeigte sich, daßsich das faktische Leben verlegen kann mit seinem Schwerpunktin die Selbstwelt; daß es sich auf die Selbstwelt zuspitzenkann, in ihr zentriert sein kann. Doch geschieht dies nicht absichtlich,das Selbst beobachtet sich nicht in bewußter Weise,sondern es liegt implicite im faktischen Ablauf des Lebens selbst.Nicht nur bei bedeutenden Persönlichkeiten hat die Selbstweltdiese besondere funktionale Tendenz, sondern jedes seelischeLeben lebt in irgendeiner Art zentriert in einem Selbst - wennauch in unabgehobener Weise. Dieses Phänomen wird leichtverdeckt, so daß man glauben kann, das ganze Leben sei bestimmtdurch die Umwelt. Aber die nähere Betrachtung zeigt dieZugespitztheit des faktischen Lebens auf ein Selbstleben. Vonda aus erscheint die Selbstgenügsamkeit und der Bekundungscharakterdes Lebens in neuer Beleuchtung.Was bedeutet das: »Das faktische Leben ist zugespitzt auf dasSelbstleben«? Das Selbstleben tritt immer in einem bestimmtenAspekt der »Welt« gegenüber. Im Selbst haben wir immer sichdurchdringende Situationen, in denen der Charakter der Weltsich bekundet. Der Ausdruckszusammenhang, in dem sich dieWelt gibt, ist eine Funktion des bestimmten Situationszusammenhangsder Selbstwelt.*Ergänzung 5Wir haben die Zugespitztheit auf die Selbstwelt im praktischenLeben als faktisch aufgewiesen. Eine Anweisung, das zu sehen,liegt schon darin, daß die räumlichen Ansichten eines Raum-Ergänzungen 207dings verschieden sind. Ferner: Ein Konzert wirkt verschiedenauf mich, wenn ich in anderer Stimmung bin. - Es bestehtein Zusammenhang zwischen dem Bekundungscharakter derSelbstwelt und dem Bekundungscharakter der gelebten Welt.Alles, was dem Leben »erscheint«, hat einen Bekundungscharakter.- Es besteht also ein Zusammenhang zwischen derZugespitztheit des Lebens auf die Selbstwelt und dem Bekundungscharakter der erlebten Welt.Auch die »Selbstgenügsamkeit« des Lebens steht in Beziehungzur Selbstwelt. Aus der Selbstwelt laufen also Lebenstendenzenheraus, und ihre Erfüllungen erstrecken sich wieder bisauf die Selbstwelt.Vielleicht stehen daher auch Selbstgenügsamkeit und Bekundungszusammenhangin Zusammenhang; denn sie hängenbeide mit der Zugespitztheit des Lebens auf die Selbstwelt zusammen.Doch ist hier vor einem Schlusse zu warnen; der Bestanddieses Zusammenhangs muß aus der Anschauung selbstgeschöpft werden. -Wie Wissenschaft ein Bekundungszusammenhang ist, in deneine Lebenswelt eingeht, wollen wir nun an faktischen Beispielenaus dem Leben zeigen: - (Man kann einwenden: das faktischeLeben ist »voraussetzungsvoll«. Das kann ich aber nur sagen,wenn ich von außen her dem faktischen Leben gegenüberstehe.In ihm selbst stehend, kann ich nicht aus ihm heraus, es ist einvöllig geschlossener Zusammenhang.)Beispiele: Wir sehen auf einem Spaziergang eine blumigeWiese. Diese kann Objekt der Botanik sein. - Bilder von Rembrandt,mit ästhetischem Genuß angeschaut, können kunstwissenschaftlichbehandelt werden. - Ein religiöses Erlebnis kannObjekt eines theologischen Traktats werden.--Wenn das faktische Leben Wissenschaft treibt, so geht es inseinem Bogen weiter: Ich kann gleich auf dem Spaziergang botanischeBeobachtungen anstellen. - Die Wissenschaft läßt sicheinen bestimmten Ausschnitt aus der Lebenswelt geben. Dasfaktische Leben ist sich nicht ständig bewußt, daß etwas da ist;


208 Anhang Bes lebt gerade ohne solche »Feststellung« in der Welt. - Die faktischeLebenswelt soll eingehen in den Zusammenhang derWissenschaft - Wissenschaft ist die konkrete Logik eines auseinem Erfahrungsboden ausgeformten Sachgebiets. -Das faktische Leben lebt unreflektiert, untheoretisch. Wiehebt sich hieraus ein Erfahrungsboden heraus? (Wir weisenverschiedene Phänomene auf und benennen sie dann - wirmüssen jeden Satz nachprüfen in der Anschauung.)In dem Bekundungszusammenhang der Wissenschaft drücktsich etwas aus, das vorher nicht ausgedrückt war. Was ausgedrücktwerden soll, muß irgendwie vorher zugänglich sein -»erfahrbar«. - (Das Wort »Erfahrung« ist sehr belastet in derphilosophischen Terminologie, bes. des 19. Jahrhunderts. - Wirdeuten hier nur vorläufig auf das Phänomen hin.) - Das faktischeLeben ist ein lebendiger Zusammenhang von Tendenzen.Erfahrung ist ein bestimmtes Verhalten, in dem mir etwas in derLebenswelt zugänglich wird; in der Weise, daß ich das, was ichsehe, mir irgendwie »zueigne«, so daß das Erfahrene in der Gestalt,wie es mir erscheint, »verfügbar« wird; verfügbar im doppeltenSinn: aktiv (daß ich darüber verfügen kann) und passiv(daß das faktisch in meinen Besitz Eingegangene für die weiterenErfahrungen im Laufe des Lebens irgendwie bestimmendwird [nicht im Sinne einer psychologischen Disposition]).Diese Verfügbarkeit ist ein (wenn auch schwer) zu erblickendesPhänomen; von ihr können bestimmte Tendenzen auslaufen,ohne daß ich in den Tendenzen lebe. - - In diesem Sinnespricht man von politischer, religiöser usw. Lebenserfahrung.(Religiöse Lebenserfahrung erfaßt mich in meinem innerstenSelbst, die Erfahrung tritt in die unmittelbare Nähe meinesSelbst, ich bin sozusagen diese Erfahrung.)Das faktische Leben lebt in beständigen Erfahrungen. Verfügbarkeitenerwachsen, diese reagieren aufeinander, es bildetsich ein Rhythmus aus, ein Habitus des Erfahrens der Selbstwelt.Dadurch treten die Erfahrungen selbst in einen bestimmtenErfahrungszusammenhang. Die Verfügbarkeiten stehen inErgänzungen 209einer unverrückbaren Stelle in meiner Selbstwelt, dadurch gewinnensie bestimmte Möglichkeiten des Motivierens. DieSelbstwelt hat eine bestimmte Weise des Reagierens auf die Erfahrung.- Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang (in derZeit) in meinem Selbstleben auch zwischen den disparatestenErfahrungen. Wie hebt sich hieraus ein Erfahrungsboden heraus?Wissenschaft will einen allgemeingültigen Zusammenhang.Wie kann aus dem Durcheinander der Lebenserfahrungein einheitlicher, gleichmäßiger Erfahrungsboden herauswachsen?Wie kommt die Gleichartigkeit der Erfahrung zustande? -In der Botanik zum Beispiel muß ein einheitlicher Erfahrungsbodenda sein. Ich habe mich vielleicht also über Blumengefreut, von fremden Gewächsen gehört etc. Aber alle dieseverschiedenen Situationen sollen jetzt aus dem neuen »sachlichen«Zusammenhang herausfallen. Ich kann die genanntenErfahrungen (als persönliche) gewissermaßen von mir abstoßen,meine persönlichen Beziehungen zu ihnen abbrechen, diebetreffenden Verfügbarkeiten gehen mich nichts mehr an -(z. B. ich habe vorhin den Lastwagen durch das Fenster auf derStraße fahren sehen. - Jetzt sehe ich nur noch einen Körper, dersich bewegt). Meine Beziehungen zum Erfahrenen sind abgeschnitten.Die Verfügbarkeit verschwindet nicht als Ganzes,aber der Bezugscharakter zu meiner Selbstwelt ist gestört. AllenErfahrungen kann das geschehen, daß sie kein Verhältnis mehrzur Selbstwelt haben. Diese Antastung ist der erste Schritt zurZerstörung des Umwelt-Lebens. Die Durchstreichung der Bezügeder Erfahrung zur Selbstwelt ist zugleich eine positiveCharakterisierung für sie: und zwar eine Charakterisierung alsbloße Sache. Jetzt besteht die Möglichkeit für sie, in ihremSachcharakter und ihrem Sachzusammenhang betrachtet zuwerden. Die Erfahrungen sind ja jetzt frei geworden von »mir«und können in »ihren« Zusammenhang treten.So kann aus dem »Eifahrungsboden«, der noch ein wirresDurcheinander ist, ein »Sachgebiet« herausgearbeitet werden.Die Wissenschaft setzt schon in Regionen ein, wo man sie noch


210 Anhang Bgar nicht vermutet. Nur unter der Tendenz der Wissenschaftkann ich aus dem Durcheinander des Erfahrungsbodens ZusamrIlengehörigesherausnehmen. Das ist schon eine Leistungder Wissenschaft. Andererseits ist der Charakter einer bestimmtenWissenschaft, z. B. der Botanik, nicht eine willkürliche Erfindung,sondern er ist seinerseits vom Charakter des ErfahrungsbodellSbestimmt. Schon in der umweltlichen vorwissenschaftlichenErfahrung treiben uns besondere Motive zur Wissenschaft;ohne daß wir durch Erfahrungsboden und Sachgebiet hindurchgeheIl,in irgend ein er »absoluten Weise«. Aus diesen Motivenstanllut in bestimmtem Ausmaß die Tendenz der Wissenschaft.*Ergänzung 6Wir haben also das Problem: Für eine bestimmte Wissenschaftsoll ein bestimmter Erfahrungsboden gegeben werden. Die Bereitungdes Erfahrungsbodens geschieht schon von der Tendenzder betreffenden Wissenschaft aus. Andererseits soll diese Tendenzgerade aus dem betreffenden Sachgebiet motiviert sein. Esbesteht also eine Rückbezüglichkeit bei jeder Wissenschaft, unddas ihrem Grundsinn nach.(Man denke an die Entdeckung der Gesetze des freien Fallsdurch Galilei, wodurch plötzlich die gesamte Problematik dermathematischen Naturwissenschaft entsprang. - Oder bei denGeschichtswissenschaften: Herder, Winkelmann, Niebuhr, "WoljJ,Schleiermacher. Vor ihnen tauchte die Idee der Geschichte auf,aus der sich dann ihre konkrete Logik ergab.)Also: die Idee einer Wissenschaft stammt aus ihrem Sachgebietund trotzdem wird das Sachgebiet erst ausgeformt unterder Tendenz dieser Idee. -*Ergänzungen 211Ergänzung 7Zwei Tatsachen aus der jüngsten Vergangenheit beleuchtengrell die gegenwärtig herrschende Verworrenheit in der Problematikder Selbstwelt.1) Der Streit um die historische Methode, der im Anschluß~n Lamprechts »Deutsche Geschichte« (Band I) entbrannte.Lamprecht vertrat die These: Geschichte ist angewandte Psychologie,muß sich auf Psychologie stützen, und zwar auf die>>-exakte«, experimentelle Psychologie (die UiLndt begründete);


212 Anhang Bemer universellen Welterklärung, ähnlich andere Vorsokratiker.Demokrit bildet zuerst den Begriff der Psyche und ordnet ihnin seine Atomtheorie ein. Die rundesten und glattesten Atomebilden nach ihm die Seele.PLato sagt: die Seele flicht das Böse und spürt dem Gutennach; er spannt sie also in einen Wertgegensatz ein. - Fernervergleicht er die Seelenvermögen (-funktionen) mit den Ständen,den Betätigungsformen im Staat.Aristoteles: die Seele ist die erste Entelechie des Körpers, derseiner Potenz nach lebt. Die Seele ist also das Prinzip des Lebens.Die Stoa bildet die Lehre von den Mfekten aus.Im Christentum gelangt die Selbstwelt zu einer ganz neuenBedeutsamkeit. Das zeigt sich philosophisch bei Augustin (Confessionesu. a.) und weiterhin im Mittelalter, besonders in dermittelalterlichen Mystik.In der neueren Zeit werden noch lange dieselben Begriffeund theoretischen Mittel auf das Seelische angewandt wie imAltertum und Mittelalter. So auch noch in der AnthropoLogie des15. und 16. Jahrhunderts. Dann bringt doch die Entstehung dermodernen Naturwissenschaft seit der Renaissance eine neueTendenz auch in die Psychologie. Es wird eine genaue Abgrenzungdes Seelenlebens vom Naturgeschehen notwendig. In derenglischen PsychoLogie (Locke) wird das Seelische durch die Art,wie es erfahrbar wird, charakterisiert in der Lehre vom »innerenSinn«. Man denkt sich ferner die psychischen PhänomeneGesetzen unterworfen, analog den physikalischen Gesetzen. Esentsteht die Assoziationspsychologie, die ihren Höhepunkt inHume erreicht. - Kant steht wesentlich unter ihrem Einfluß,wenn sich bei ihm auch in der »Kritik der Urteilskraft« eine Verbindungmit der Teleologie anbahnt, die aber noch nicht ausdrücklichauf seine Psychologie wirkt.Die Psychologie des deutschen IdeaLismus ist implizite in seinerGesamtphilosophie enthalten, sie enthält wichtige, aber zumeistnoch ganz übersehene Einsichten.Ergänzungen 213Die Idee des gesetzlichen Zusammenhangs der psychischenErscheinungen ist der leitende Gedanke der wissenschaftlichenPsychoLogie des 19. Jahrhunderts. Die transzendentale ÄsthetikKants, aufgefaßt als Subjektivität von Raum und Zeit, wirkt aufJohannes Müller, der sie physiologisch interpretierte. Von ihmdatiert überhaupt die enge Verbindung von Physiologie und Psychologie(»nemo psychologus nisi physiologus«). - E. H. Tfeberentdeckt das sogenannte Weber'sche Gesetz über den Zusammenhangvon Reiz- und »Empfindungsgröße«. - Fechner entwickeltvon hier aus die »Psychophysik«, die Lehre von der Messungder psychischen Phänomene und ihrer funktionalen (immathematischen Sinn) Abhängigkeit von den physikalischenReizgrößen. - Vor ihm hatte schon Herbart diese Idee auf dieSpitze getrieben, indem er alles psychische Geschehen zurückführtauf eine Bewegung einfacher Vorstellungen im leeren Raumdes Bewußtseins unter antreibenden und hemmenden Einflüssen.- Helmholtz begründet die physiologische Optik und Akkustik,doch immer im Zusammenhang mit vermeintlichen »erkenntnistheoretischen«Problemen: ob die Sinnwahrnehmungen »Abbilder«oder »Zeichen« der wirklichen Objekte seien. - WiLhelmUUndt gründet das erste Institut für experimentelle Psychologiein Leipzig. Er beschäftigt sich auch mit den »höheren psychischenTätigkeiten«. Er sieht ein, daß sie nicht aus den Empfindungenerklärt werden können und führt deshalb die »schöpferischeSynthese« ein. - Sein Schüler KüLpe beschäftigt sich besondersmit der Psychologie der Denk- und Willensvorgänge. - DieGrundtendenz dieser modernen »experimentellen« Psychologiebesteht in der Erklärung des psychischen Geschehens durch eineneinheitlichen gesetzlichen Zusammenhang und durch dessenRegulation durch letzte fundamentale Bedingungen, die inletzten Zusammenhängen letzter psychischer Elemente ihreWurzel haben. Man kommt so zu einer psychischen Kausalität,nach der »causa aequat effectum«. Das führt dann zu einer Einordnungder psychischen in die physiologische und physikalischeGesamtkausalität der Natur.-


214 Anhang BDer Anspruch der modernen Psychologie geht nicht nur, wiewir sahen, auf die Begründung der Geschichtsforschung, sondernauf die des Erkennens und damit jeder Wissenschaft überhaupt.Denn es sei ja jedes Erkennen psychisches Geschehen.Die einen Gegner lehnten diesen Anspruch radikal ab, andereließen die Psychologie als Propädeutik der Philosophie zu. DerKampf gegen den »Psychologismus« wurde überspannt. Dieneukantische Philosophie bewegt sich in Konstruktionen, ohneüber das wirkliche Erkennen etwas festzustellen, indem sie esals bekannt voraussetzt und ihre Kenntnis davon einfach derVulgärpsychologie entnimmt. So herrscht auf beiden SeitenVerwirrung.Um die Gründe dieser Verwirrung zu finden und sie zu überwinden,müssen wir den faktischen Tendenzen der heutigenPsychologie näher nachgehen. Dann haben wir zu untersuchen,ob diese Tendenzen und Motive echt sind, wenn sie es nichtsind, welche dann die wahrhaft echten Motive und Tendenzensind, und durch welche methodischen Mittel sie zu einer Wissenschaftgestaltet werden können. So können wir dann dasProblem der theoretisch-wissenschaftlichen Behandlung derSelbstwelt zu lösen versuchen.-Wir müssen noch einiges aus der Geschichte der neuestenPsychologie nachtragen.William James und der jüngere 1. St. MiLZ verließen die Assoziationspsychologieund erkannten, daß es im Psychischen höhereKomplexe gebe mit eigener Qualität, die nicht aus einer Summierungder Qualitäten der Elemente abgeleitet werden kann.So kam Mill in seiner »Logik« zu einer »psychischen Chemie«.­Spencer baute -Aristotelische Tendenzen in moderner Form wiederbelebend- die Psychologie in die Biologie ein (Milieubestimmungusw.). - Taine zog die psychopathischen Erscheinungenzur Erklärung des normalen Seelenlebens heran.-In der modernen Psychologie zeigt sich das Bestreben, sichdie Elemente des Psychischen selbst zu geben und sie nicht ausder Metaphysik u. ä. zu übernehmen. Von hier aus kam man aufErgänzungen 215eine beschreibende Psychologie als Grundlage der erklärenden(F. Brentano in den 70-er, Dilthey in den 90~er Jahren, klassischeDurchführung bei Th. Lipps). Maßgebend war das Bestreben,jede Konstruktion fernzuhalten, doch ka.m man zu keinerprinzipiellen Klarheit über das Verhältnis der beschreibendenzur erklärenden Psychologie. Man unterschied die Analyse derBestandteile (Beschreibung) und die der Bedingungen (Erklärung)des Seelenlebens. Nach Ebbinghaus ist das Psychischeein gesetzlicher Zusammenhang, dessen Gesetze wir erkennenwollen zur Befriedigung unseres Kausalitätsbedürfnisses. Allerdingstrennt besonders Wundt physische und psychische Kausalität.Im Hintergrund wirkt bei allen dann doch noch die so sehrbekämpfte Assoziationspsychologie fort. (Di e Assoziationsgesetzewie: »das faktische Zusammentreffen zweier Empfindungenbewirkt, daß beim Wiederauftreten der ersten die zweiteregelmäßig ihr folgt«, ist ein typisches Kausalgesetz.)-Welche Tendenzen liegen also der neusten Psychologie faktischzu Grunde?1) Die bewußte Tendenz auf Fernhaltung der Metaphysik,die berüchtigt ist. Die Psychologie will ein in sich gegründetesSachgebiet.2) Daneben aber eine zweite Tendenz: die psychischen Gesetzesind nicht unmittelbar gegeben, sondern zu erschließen.Bedingungen müssen hypothetisch angesetzt werden und darausdann das faktische Geschehen erklärt werden.Man braucht auch Elemente des Geschehens, in denen sichdas Gesetzliche festsetzt, zwischen denen die gesetzlich bestimmtenVorgänge sich abspielen. - Diese Elemente werdenverschieden angesetzt. Früher waren es einfac he Vorstellungen,dann Empfindungen, jetzt unauflösliche, komplexere Einheiten.Prinzipiell richtig sind die Ideen des E,lements und derKausalität (mit dem Prinzip: causa aequat effectum).Hieraus ergibt sich nun die psychologische Methodik: Es sinddie Bedingungen herauszustellen, unter denen gewisse Regelmäßigkeitendes Geschehens zu konstatieren sind. Zu diesem


216 Anhang BZwecke muß man die Bedingungen isolieren und variieren, umdie Tragweite jeder einzelnen zu erfahren. Daher kommt man:1) zum Experiment; d. h. zur objektiv normierten Variation derBeobachtungsbedingungen. Das Experiment ist nicht notwendigmessend. 2) zur Idee der Messung »psychischer Größen«(»Psychophysik« von Fechner begründet). Die Ideen »psychischesMaß«, »Intensität« usw. bleiben aber noch ungeklärt. -3) zur Statistik; d. h. zu einer Klassifizierung und Zählung zahlreicherbeobachteter Fälle und zur Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnungauf dieses MateriaL--Es fragt sich nun: sind diese angegebenen faktischen Tendenzender heutigen Psychologie echt motiviert?Die moderne Naturwissenschaft hat die Psychologie stark beeinflußt,von ihr hat die Psychologie ihre Methode übernommen.Das Bestreben der Psychologie, sich ein objektives Gegenstandsgebietherauszuheben, ist berechtigt. Aber dieses Motivwird unecht, wird veifälscht dadurch, daß die naturwissenschaftlicheMethode auf das psychische Gebiet übertragen wird.Damit wird gerade das Grundmotiv der modernen Naturwissenschaftübersehen, dem diese ihre Größe verdankt, nämlichsich den Sinn ihres Gegenstandsgebietes und ihrer Methodeaus dem Sinn der Erfahrungswelt vorgeben zu lassen. Das hatgerade die Psychologie für sich, für ihr eigenes Sachgebiet nichtgetan. Sie hat nicht gefragt, welche Motive ihr aus ihrer eigenengenuinen Erfahrungswelt erwachsen. Sie hat die radikale Fragenach dem Grundsinn ihrer Erfahrungswelt nicht erhoben.-*Ergänzungen 217für die allgemeinste Gattung; als ob der Prozeß der Formalisierungbestimmte Stufen der Theoretisierung voraussetze. Husserlhat den fundamentalen Unterschied zwischen Generalisierungund Formalisierung aufgewiesen (»Logische Untersuchungen«,1. Band, Schlußkapitel, »Ideen«, § 13)1. - Dagegen ist das Etwasals Unbestimmtes in einem Bedeutungszusammenhang denkbarerfüllt, geladen mit Leben, so daß es einen drohenden, beängstigendenCharakter annehmen kann. - Die faktische Lebenserfahrunggeht also auf in Bedeutsarnkeitszusammenhängen.Existenz ohne Bedeutsamkeit hat gar nicht die Möglichkeitder Motivierung. Existenz als das, was »voll bestimmt« ist, andem »nichts unbestimmt ist« (d. h. Existenz im Sinne des Existentialurteils,so, wie es die Marburger Schule versteht), kannniemals im faktischen Leben auftreten. - Doch können theoretischeZusammenhänge in einer gewissen Umbildung ins Umweltlichedoch wieder in das faktische Leben eintreten. - Dieelektrodynamischen Gesetze können z. B. einen bestimmtenPhysiker enorm interessieren, in Anspruch nehmen, in seinemfaktischen Leben eine bedeutsame Rolle spielen. Damit gehensie aber eben in einen Bedeutsamkeitszusammenhang ein.Darin zeigt sich wieder die Schrankenlosigkeit der Herrschaftdes faktischen Erlebens, dem deshalb, weil es auf nichts »zugeschnitten«ist, alles und jedes zugänglich werden kann. Um die»Bedeutsamkeit« näher zu charakterisieren, können wir nichtanders verfahren, als Alles von ihr abscheiden, was sie nicht ist.*Ergänzung 8Das formale Etwas ist Korrelat des Prozesses der Formalisierung.Dieser Prozeß ist absolut frei, nicht gebunden an eine bestimmteStufe der Theoretisierung. Die Logik hielt ihn zumeist1 Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Theil: Prolegomena zur reinenLogik. Halle 1900, 11. Kap.: Die Idee der reinen Logik.Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischenPhilosophie. Erstes Buch. Halle 1913, § 13.


218 Anhang BErgänzung 9Die abgewehrten Tendenzen sind nicht zufällig. Das Abscheidensteht im Zusammenhang mit der Sicht des Phänomensselbst. Ich muß das Phänomen schon haben, ehe ich »gegensehen«kann. Trotzdem hat das »nicht« der Abscheidungeine produktive Bedeutung, denn dadurch realisiert man erstdie spezifisch phänomenologische Situation. Die Langsamkeitund Schwierigkeit dieser Methode können keinen Einwandgegen den Sinn der Phänomenologie bilden. So evident dieerfaßten Phänomene sind, so schwer ist die Stufenfolge desWeges aufzufinden, der zu ihrer Sicht führt und so schwer ist erzu beschreiben und auszudrücken. - Das phänomenologischSichtige darf nicht umgedeutet werden in das phänomenologischeGegebene. Z. B. erfasse ich als Phänomenologe dasUnabgehobene und hebe es eben dadurch ab, obwohl es imPhänomen unabgehoben liegt. Ich darf mich nicht wundern,daß ich die unabgehobene Bedeutsamkeit nicht »sehe«. Dassinnmäßig Notwendige, aber Unabgehobene, daher nichtSichtige ist zu unterscheiden von dem phänomenologisch Sichtigen.(Das sind schon phänomenologische Betrachtungen, sie dienenuns aber hier nicht als Begründungsgrundlage; wir stoßenauf sie in unseren Deskriptionen, aber wir setzen sie nicht alsgültig voraus für und vor unserer Beschreibung.)Auf welche Weise kommen wir nun zum Sinn des Wirklichkeitsbewußtseins?Dadurch, daß wir fragen, ob in der faktischenErfahrung mögliche Modifikationen liegen, die auf ihnhinweisen.Ich kann in der faktischen Erfahrung besinnlich nachdenken,das Erfahrene mir zu Bewußtsein bringen. Ich kann darüber berichten,mit einem anderen mich darüber unterhalten. - DieKenntnisnahme und Kenntnisgabe sind bestimmte Modifikationender faktischen Erfahrung -, die aber nicht aus der faktischenErfahrung herausfallen; sie bleiben im Stil des Erfah-Ergänzungen 219rens. Das zur Kenntnis Genommene sind nicht Sachverhalte,sondern Bedeutsamkeitsverhalte.--[Es sei hier ein Hinweis auf die Grundmaximen der phänomenologischenMethode eingeschaltet, ehe wir das schwierige Problemder Bedeutsamkeit weiter behandeln:1) Das phänomenologisch Herausgestellte, Dargestellte,Niedergeschriebene etc. ist abgehoben formuliert, - dagegen istdas, was ausgedrückt wird, phänomenal in seinem Zusammenhangnicht (immer) gewußt, nicht Korrelat eines Wissens.2) Phänomenologische Gegebenheiten, die wir herausheben,dürfen nicht umgedeutet werden in Ausdrücke, als entstündensie erst dadurch, daß man sie ausdrückt. PhänomenologischVorgefundenes ist nicht Produkt, Resultat, phänomenologischerEinstellung, sondern nur die »Gesehenheit« ist die Schuld derphänomenologischen Einstellung.3) Alles muß in seinem lebendigen Zusammenhang betrachtetwerden, d. h. man muß die ganzen Situationen vor sichhaben (nicht »Schreibtischphänomene«) - (Selbst bei der »logischen«Frage des »impersonalen Urteils« - »es regnet« - istdurch den Wasgehalt des Urteils eine ganz bestimmte Situationvorgeschrieben).4) Eine ständige Erneuerung und Verlebendigung des Sehensist notwendig. Im Fortgang der Betrachtung muß das Phänomenimmer lebendig gehalten werden. - Diese Forderungscheint trivial, wird aber von der gegenwärtigen Philosophie oftverletzt. Man kann nicht durch »Erdachtes« »Grundlegungen«schaffen. Die Gegenstände der Philosophie müssen in ihrerSelbstgegebenheit gesehen werden. Es gibt keine Beweise inder Phänomenologie, da sie doch stets beschreibt. _Hier erhebt sich das Schwierige (noch nie behandelte) Problemder phänomenologischen Begriffsbildung.5) Bei dem ständig sich neu zur Gegebenheit Bringen ist esdann auch notwendig, immer von neuem zu sehen und »gegenzusehen«.Aus dem positiven Haben des Phänomens müssen wirAbscheidungen vollziehen, das Gesehene immer schärfer abhe-


220 Anhang Bben. Daraus gewinnen wir neue Motive des Ausdrucks und derSituation, in der das richtige Sehen sich vollzieht. --]-Wir kehren zum Problem des Sinnes der Wirklichkeit im faktischenLeben zurück.Diese sind, fanden wir, in der Bedeutsamkeit. Darunter warnicht eine besondere Wichtigkeit gemeint, denn diese beziehtsich nicht auf den Wascharakter des Erfahrenen. Auch war Bedeutsamkeitnicht Korrelat eines Wertnehmens oder gar einesWerturteils. Man könnte zwar sagen, das faktische Leben seiemotional, nicht theoretisch. Doch so sehr auch das Wertnehmenim faktischen Leben eine Rolle spielt, so ist doch das alswirklich Erfahrene nicht phänomenal wertgenommen.Bedeutsamkeit darf endlich nicht mit Zweckmäßigkeit undZwecksetzung zusammengebracht werden. Denn das faktischErfahrene ist viel reicher als alle Zwecksetzungen, die ich mirvornehmen kann. Außerdem soll Bedeutsamkeit jede Erfahrungcharakterisieren.-Die Bedeutsamkeit steht in Beziehung zur Selbstgenügsamkeitdes faktischen Lebens, worauf aber hier nicht näher eingegangenwerden kann. -Alle theoretischen Fassungen oder Begriffe können überströmtwerden vom faktischen Leben. Sie werden dann nicht im»Als der Theorie« erlebt.-Endlich gibt es das unbestimmte Etwas mit dem Horizont derBedeutsamkeit.Dieser in allen diesen Phänomenen und Abscheidungen sichbekundende Sinn von Bedeutsamkeiten wird erst später durcheinen schroffen Gegenpol klar werden.--*Ergänzungen 221Ergänzung 10Wir sahen, daß unsere Selbstwelt und Mitwelt erfahren ist, nichtim »als« der Abgehobenheit, noch weniger »als« psychisches Geschehen.Ich erfahre mich selbst immer nur in und durch meineLeistung, - genauer durch das von mir Geleistete, was in dieBedeutsamkeit des Lebens eingeht. Ich lebe in meinen Leistungen,nie in denen der anderen. »Ich« bin weder in der Weise einerRegion noch in der der Zugänglichkeit des Erfahrens abgehoben.- Wie könnte uns eine solche Kenntnisnahme weiterführen?Sie ist merkwürdig als Phänomen auf der Grenze. Sie stehtnoch ganz im Bedeutsamkeitszusammenhang. Trotzdem ist sieeine Form, die das faktische Leben be [un]ruhigt, seinen Zug verlangsamt,entspannt. Der Erwartungszusammenhang verselbständigtsich, ohne daß er aus der Erfahrungswirklichkeit heraustritt.- Können wir diesem ersten Schritte nachgehen? Waswird sich daraus, aus dieser »Entspannung«, wenn sie radikal bisans Ende mitgemacht wird, ergeben? Eine radikale Verselbständigung,die nur noch mit einem Faden am Leben hängt? Entfernenwir uns aber damit nicht schon wieder vom Erlebnis derGrunderfahrung? Bedarf es vielleicht keiner Entspannung, sonderneiner äußersten Anspannung des Lebenszugs?? __Der Umkreis der Geltung der Kenntnisnahme ist unbeschränkt;sie ist absolut für das faktische Leben. Nur von denIdealwelten aus scheint sie fragmentarisch und relativ. Daherist auch die Kenntnisnahme unerschütterlich durch theoretiseheÜberlegungen. Auch in ihr liegt ein »als« der Charakterisierung.Alles, was mir begegnet, wird als »als« zur Kenntnisgenommen. Das ist aber keine Generalisierung. - Ebenso sinddie Selbstwelterfahrungen nicht als ein bestimmter Erfahrungszusammenhangoder gar als ein Sachgebiet gegeben. Ich erfahremich lediglich in meinen Leistungen.-Wir wollen methodisch und schrittweise aus dem faktischenLeben heraus (um zur Grunderfahrung der Selbstwelt zu gelangen).Wir fragen daher: Inwiefern ist die Kenntnisnahme eine


222 AnhangBModifikation des faktischen Lebens? Inwiefern tastet sie es an?Wir müssen dem Sinn der Kenntnisnahme als Modifikation desfaktischen Lebens nachgehen und ihn radikal zu Ende führen.Wir fragen also im Einzelnen:1) Was wird durch die Kenntnisnahme modifiziert?2) TtOzu wird »es« modifiziert?3) Wodurch und wie vollzieht sich diese Modifikation?Die Kenntnisnahme steht noch ganz im faktischen Lebenund in seinen Bedeutsamkeitszusammenhängen. Es wird alsonichts modifiziert? Das faktische Leben soll ja selbst unveränderterfaßt, mitgeteilt usw. werden. Die Kenntnisnahme isthöchstens anders eingestellt als das aktuelle Erfahren. Wenn dasaktuelle Erfahren vorüber ist, nehme ich das, was ich erfahrenhabe zur Kenntnis. Eine Einstellung des faktischen Lebens modifiziertsich also zu einer anderen Einstellung (so wie dieWahrnehmung zur Erinnerung wird). Es ist »selbstverständlich«,daß ich Alles zur Kenntnis nehmen kann, allerdings mehroder minder gut.--*II. <strong>DER</strong> SCHLUSSTEIL <strong>DER</strong> VORLESUNG IN <strong>DER</strong>NACHSCHRIFT VON OSKAR BECKER1. Die Dingerkenntnis. Ihre Ungeeignetheitzum Eifassen der SelbstweltDurch die Idee der Dingerfahmng werden wir also nie zur Gmnderfahrungder Selbstwelt kommen, da in ihr Bedeutsamkeitenthalten sein muß. - Wir müssen also nochmals zum faktischenLeben zurückkehren und aus ihm heraus die Grunderfahrungder Selbstwelt entwickeln. - Aber der Umweg über das Dingerfassenwar nicht überflüssig. Denn die Dingerkenntnis wird unszur Folie dienen, von der sich die Gmnderfahmng abhebt.-Das Problem von der spezifischen Gmnderfahmng derSelbstwelt ist als neues von der Phänomenologie gestellt worden.Daß hier in der zeitgenössischen Philosophie (es kommenfür uns nur die Marburger und Rickert~che Schule in Betracht)keine Klarheit herrscht, zeigt sich an dem Problem der Gegebenheit.Dieses Problem ist kein spezielles, es hängt mit derGrundfrage einer möglichen Philosophie als Wissenschaft zusammen.In der Modifikation des faktischen Lebens, die wir als Kenntnisnahmebezeichneten, waren wir, in radikaler Fortführung,gerichtet auf die Bestimmung eines Zusammenhangs, der ganzlosgelöst ist vom Zusammenhang der faktischen Erfahrung.Die Tendenz des Lebens und die Tendenz auf Kenntnisnahmebesteht fort, es wird noch immer Wirklichkeit erfaßt, aber derspezifische Sinn der Erfahrungswirklichkeit ist verloren. Die Bedeutsamkeitsstückesind ihres Bedeutsamkeitskreises beraubt· ,sie sind »sozialisiert« oder »kommunisiert«, d. h. alle auf eineEbene gestellt. Diese ganze Modifikation ist insofern speziell, alssie sich auf das Dingerkennen, das theoretische Verhalten be-


224 Anhang Bzieht; aber es gibt das Problem einer derartigen Modifikationganz im Allgemeinen, für jede Art des (genuinen) Erlebens.2. Das Problem der Gegebenheit - Kritik Natorps und RickertsDas Problem der Gegebenheit gliedert sich folgendermaßen:1) Ich kann im Leben auf etwas gerichtet sein, olme daßich das, worauf ich gerichtet bin, im Charakter der Gegebenheit,des Präsentseins mir gegenüber stehend habe. (Das Problemwird spezialisiert auf die »Dinge« in der gegenwärtigen Philosophie.Die »Dingwelt« erscheint als Welt der Gegebenheitüberhaupt. - Aber »Dinge« sind garnicht faktisch unmittelbargegeben.)2) Man muß unterscheiden: a) Etwas, das in seinem Selbstuns leibhaftig gegeben ist. b) Etwas, das zwar selbst, aber nichtleibhaJt gegeben ist. c) Etwas, das weder selbst noch leibhaJt,d. h. also bloß symbolisch gegeben ist.3) Es ist zu scheiden: a) »Gegebensein« im Sinne des vonmir Gesetzten, d. h. der Fall, wo ich mir etwas »gebe«. b) »Gegeben«im Sinn des mir (von außen) Vorgegebenen.Wir besprechen nun die Behandlung des Problems der Gegebenheitin der gegenwärtigen Philosophie:A) »Gegebenheit« in der Marburger Schule (Natorp)Für die Marburger Schule ist das theoretische Denken, besondersdas der Mathematik, der eigentliche Sinn des Bewußtseins.Bewußtsein ist Denken, Bestimmen, Setzen eines Gegenstands.Jedes Gegebene ist nur als im Denken bestimmt gegeben. Ausder Bestimmung entspringt erst die Gegebenheit. Die Denksetzunghat einen absoluten Vorrang. Das Erkennen ist Gegenstandsbestimmung,Setzen im Denken. Es gibt nichts Vorgegebenes.Es gibt Gegenstände erst im Denken und weil das Erkennenein prinzipiell endloser Prozeß ist, ist der Gegenstand nie gegeben,sondern nur seine Idee (erst die Fiktion des ans Ende gelang-Nachschrift des Schlußteiles 225ten Erkenntnisprozesses gibt den Gegenstand). - Diese Auffassungensind aus dem mathematischen Denken entstanden undvon da aus verallgemeinert. - Allerdings geben auch die Marburgerzu, daß das Denken immer »etwas« bestimmt, daß ihm alsoein letzter ~est vorg:geben ist, - nämlich: die Empfindungen.Indessen: dIe Empfmdungen als Empfindungen sind nur imDenken gegeben, gewonnen und bestimmt. Alles geht also in derReihengesetz~ichk~it des Denkens vor sich. Die Auflösung allesGegebenen m reme Denkbestimmungen ist die Aufgabe desDenkens. Das Aposteriorische, Inhaltliche muß letztlich aus demApriorischen abgeleitet werden wie das Glied der Reihe aus derReihengesetzlichkeit (vgl. Na to rp , Besprechung von Bauchs»I. Kant«!).Wir haben also vier für die Marburger Auffassung charakteristischeMomente:. 1) Denken als gesetzlicher Fortgang. Begriffsbildung bes~Immtd~rch die Reihengesetzlichkeit des Denkens. BegriffsbIldung.mcht bes.timmt aus einer genuinen Abstraktion. Kampfgegen dIe pyramIdale Ordnung der Gegenstände in Gattungenund Arten (Polemik gegen Aristoteles. Ausspielen Platos gegenAristoteles). -. 2). D~s .Gegebene selbst ist ein Aufgegebenes, ein prinzipIellme volhg zu bestimmendes X.3) Der Begriff des Bewußtseins ist von der Objektivierungaus gesehen, als Setzung eines Gegenstandes, als Denkbestimmung.4) Neigung zur Dialektik. Das Denken ist Organ der Gegenstandsbestimmung.Absolute Macht des Denkens daß insich selbst ruht und alle Gegenständlichkeiten bestimm~ (Beziehungzu Hegel).-Die Dialektik ist blind gegen die Gegebenheit. Die Idee derDialektik ist grundverkehrt; sie beruht auf einer Verwechslung1 P. Natorp,. Bruno Ba~chs »Immanuel Kant« und die Fortbildung des Systemsdes Kntlschen Idealismus. In: Kantstudien Bd. XXII, S. 426-459.


226 Anhang Bzwischen Gegenstandserfassen und Ausdruck, zwischen Anschauungund Ausdruck. Wird das Problem des Verhältnissesvon Anschauung und Ausdruck gesehen und die Evidenz derAnschauung gesehen, so ist die Dialektik im Kern getroffen.(Das ist ein Hinweis auf die notwendige Auseinandersetzungder Phänomenologie mit dem Neuhegelianismus.)-B) »Gegebenheit« in der »transzendentalen Wertphilosophie«Rickert steht der Phänomenologie näher als die Marburger. Erbetont den unaufhebbaren Gegensatz zwischen Form und Inhalt,Denken und Erfahrung, Verstand und Sinnlichkeit (vgl.Kant). - Es gibt bestimmte Gegebenheiten, die man nur anerkennenkann. Blau und Rot (als gesehene Farbflecken) kannich nicht mehr rationalistisch verflüchtigen. Aber in dem »dasist blau« und »das ist rot« liegt etwas Gemeinsames, die Formdes Wahrgenommenseins, d. i. eine spezielle Form der Bejahung;es ist die notwendige Form des Inhaltlichen, die Kategorieder Gegebenheit. - Rickert (in seinem: »Grenzen der naturwissenschaftlichenBegriffsbildung«) geht von der theoretischenDingwelt aus. Das Problem der Gegebenheit erwächst aus demUrteil über Wahrgenommenes, Tatsächliches; das sind Urteile,in denen ich einen Bewußtseinsinhalt als wirklich konstatiere.Hier liegt eine Verwechslung: Rickert meint den Sinn des Urteils,daß man bestimmte Tatsächlichkeiten in der faktischen Weltkonstatiert; aber er verkehrt diesen Sinn in den eines Urteilsüber einen Bewußtseinsinhalt. Er verwechselt die Farbe an derWand (transzendent) mit der Farbempfindung (immanent).Rickert erkennt ein Letztes, Irrationales unter dem Einfluß vonLask an; er stellt aber das Problem nur für die Gegebenheiteines Immanenten, eines Bewußtseinsinhaltes. Der Sinn desfaktischen Erfahrens ist nicht festgehalten, sondern er behandeltdie Empfindungsdaten.Natorp und Rickert gehen also beide nicht vom faktischen Erfahrenaus.-Nachschrift des Schlußteiles 227[C) Avenarius' Problem der reinen Erfahrung wäre noch zu erwähnen.]---3. Primat des Lebens an sich. - Neue Frage nach derGrunderfahrung von der SelbstweltDas Problem der Gegebenheit darf nicht auf Dingerkennen odergar auf »Objektbestimmen« eingeschränkt werden. Es muß dasPrimat des Lebens (an und für sich) überhaupt anerkannt werden.Von hier aus wird erst der Prozeß der Situationsumbildungverständlich.Es erhebt sich nun die Frage: Innerhalb des Dingerkennens~om~e~ wir zu keiner spezifischen Erfahrung mehr, denn inIhm 1st Ja Alles nivelliert. Wir müssen also auf das faktischeErfahren neuerdings zurückgehen. Wir müssen erforschen wiesich Umwelt, Mitwelt, Selbstwelt abheben und ausformen' undob sie sich vielleicht zugleich ausformen. Wie sieht die Grunderfahrungder Selbstwelt aus? Was ist durch sie für die theoretischeWissenschaft von der Selbstwelt vorgezeichnet? Ist mit dertheoretisc~en Bestimmung der Selbstwelt das Ursprungsgebietselbst bestImmt? Oder kehrt hier nicht dasselbe Problem auf einemhöheren Niveau wieder? Werden wir nicht ein zweites Malzu~ückgew~rfen? - In der Tat, das Phänomen der Zugespitztheü(auf dIe Selbstwelt) zeigt sich wiederum in der Grunderfahrungund der Theorie der Selbstwelt selbst. Wir erhaltenein neues Problem in unserer alten Richtung. Wir stehen vord.er Frage ~ac~ der .neuen Grundeifahrung des Lebens an undfürslch und WIe sIch hIeraus eine mögliche Theorie des Lebens anund für sich vorzeichnet. -


228 Anhang B4. Bemerkung über den Fortgang der VorlesungPhilosophie ist ein Ringen um die Methode. Diejenigen Methoden,die dem Leben am leichtesten fallen, werden für sie problematischund müssen überwunden werden in der Konstruktionihrer eigenen Methode. Die philosophische Methode istnur scheinbar der technischen Erlernung zugänglich. Versuche,die philosophische Methode zu technisieren und auf gewisseProblemzusammenhänge mechanisch anzuwenden sind ver­fehlt.-Die bisherigen Betrachtungen dieser Vorlesung sind keineKonglomerate von wahren Sätzen, aus denen Schlüsse gezogenwerden sollen. Sie sollten eine Reihe von Situationen darstellen,die dazu führt, das philosophische Denken frei zu machen.Die philosophische Methode ist nicht etwas ganz Außergewöhnliches,nicht ein Sprung in eine dem Leben an sich ganzfremde Einstellung; sie ist auch nicht etwa so etwas wie einsechster Sinn, - sondern sie hat ihre Wurzeln im Leben selbst,sie muß nur in ihrer Echtheit und Ursprünglichkeit in ihm gesuchtwerden.Unsere Analyse und Beschreibung des faktischen Lebensstellte gewisse Charaktere heraus, aber nicht um sie zu generalisierenund zu verflüchtigen, sondern um sie als Ausdrucksformendes Lebens selbst zu verstehen.5. Rückblick auf das Gesamtproblem:den Weg zum Ursprung zu findenWir suchten den Weg aus dem natürlichen Leben heraus zudem Ursprungs gebiet. Wir übten eine gewisse Gewaltsamkeitin der Führung auf diesem Wege und kamen so auf die Zugespitztheitauf die Selbstwelt. Das Tendieren auf die Zugespitztheitauf die Selbstwelt ist eine Einseitigkeit, die zurückgenommenwerden muß. Auch bei anderen Gelegenheiten mußten wirNachschrift des Schlußteiles 229solche Einseitigkeiten rückgängig machen. Unsere Methodebestand in einem Zickzackkurs, in einem Vor- und Zurückspringen.Scheinbar kamen wir nicht von der Stelle, aber trotzdemnäherten wir uns Schritt für Schritt dem Ursprungsgebiet.Diese Methode ist aber sehr langsam.Im Interesse der Kürze sind wir gezwungen, sie von jetzt aba~~zugebe~ .. Um zu einem gewissen Abschluß zu gelangen,mussen WIr Jetzt sprungweise fortschreiten und einzelne besonderswichtige Kapitel herausgreifen, um den Weg zu mar­kieren.-6. Kritik der »transzendentalen Problematik«Es gibt mannigfaltige Zugänge zum Ursprungsgebiet, gewissermaßeneine nicht abzählbare Mannigfaltigkeit. Sie liegen nichtam Tage. - Wir wollen vermeiden, die Problematik der Phänomenologieeinseitig auf das Subjekt zuzuspitzen. Diese »transzendentale«Problematik führt nur bis zu einer gewissen Stufeund nicht weiter.Wir wollen diese transzendentale Problematik kurz skizzieren:Wir hatten früher das Phänomen des Ausdruckszusammenhangsbetrachtet. Die Wissenschaft war ein spezieller solcherAusdruckszusammenhang. Bei der Naturwissenschaft endlichstießen wir auf einen ganz bestimmten Ausdruckszusammenhangund damit auf eine ganz besondere Bedeutung von »Phänomen«.Mit dem Ausdruck »Phänomen« wird in der mechanischenNaturauffassung keine unmittelbare Gegebenheit bezeichnetauch nicht das in den sogenannten »Sinnesempfindungen


230 Anhang Boder Auffassungsgehalte, alle darstellenden Gehalte betrachten;diese sind von bestimmten Auffassungsformen durchherrscht(angezeigt durch Prädikate wie »wahr«, »möglich«, »vermutlich«etc). Korrelativ zu den Gehalten ergeben sich die spezifischnoetischen Modifikationen des Bewußtseins. Sie liegennicht im Vorstellen, sondern im prädikativen Denken.- - Überträgtman nun die Idee der Konstitution von Objektivitätendurch Gehalte auf alle Wissenschaften, - so geht ein noetischnoematischerGehalt mit, den man reflexiv betrachten kann;gewissermaßen in der Richtung der »Subjektivierung« im Gegensatzzu der der »Objektivierung«. Diese Betrachtungsweiseliefert die »transzendentale Phänomenologie«. [Die Verwandtschaftmit gewissen erkenntnistheoretischen Fragestellungen(bes. Kants und der Neukantianer) ist offenbar.] Mit ihr kommtman bis zu einem gewissen Bezirk. Aber man kommt nicht biszum Zentrum der Ursprungswissenschaft. -Sehen wir von dieser »transzendentalen« Auffassung ab, lassenwir alle »erkenntnistheoretischen« Probleme auf sich beruhen,so ergibt sich die Problematik des Ursprungsgebietsradikal von Neuern.7. Rückblick auf die Analyse des faktischen Lebens unter demAspekt der UrsprungswissenschajtZu Beginn der Vorlesung hatten wir die Idee der Ursprungswissenschaftaufgestellt, die sich aus sich selbst heraus begründensoll; die Idee der Ursprungswissenschajt vom Leben. Aus dieserIdee ergibt sich ihr unvergleichlicher Charakter. Alle Stufenfolgender Objektivierung, alle methodischen Veranstaltungen derobjektivierenden Wissenschaften fallen aus, wie die ~ereitu~gdes Erfahrungsbodens, die Ausformung des SachgebIetes, dIeAufstellung seiner konkreten Logik. Hat dies alles hier nocheinen Sinn? »Ursprungs-Wissenschaft« ist gar keine Wissenschaftim eigentlichen Sinn, sie ist eben - Philosophie.Nachschrift des Schlußteiles 231Es kommt ihr nicht auf ein System von Sachverhaltszusammenhängenan, kein Netz von allgemeinsten Begriffen, die überAlles gespannt werden können, will sie flechten. Sondern siesucht nach der Gegebenheit konkreter Situationen des Lebens,Grundsituationen, in denen sich die Totalität des Lebens ausdrückt.Das Leben ist in jeder Situation ganz da. Wir sucheneine Situation, in der diese totale Gegebenheit klar heraustritt.Die Strenge der philosophischen Wissenschaft ist nicht dieselbewie die der mathematischen Naturwissenschaft, sie istnicht die Strenge einer zwingenden Argumentation. Aber Philosophieist deswegen nicht weniger streng als Mathematik;mathematische Strenge ist eben nicht Strenge schlechthin. -Strenge des philosophischen Ausdrucks besagt Konzentriertheitauf die Echtheit der Lebensbezüge im konkreten Leben selbst.Es handelt sich nicht um Mystik oder Schwärmerei, um einSich-los-lassen und »Schauen«. - Sondern die echte Konzentrationhat ihren eigenen Maßstab, den man nicht messen kannan anderen Gebieten wie Kunst oder Religion. Der Gegensatzabsolut - relativ verliert hier seine Bedeutung.-Wir müssen nun den Zusammenhang dieser Erörterungenmit unseren früheren Betrachtungen herstellen.Wir hatten bei unserer Beschreibung des faktischen Lebensdrei Charaktere herausgestellt: Selbstgenügsamkeit, Ausdruck,Bedeutsamkeit. Diese drei Charaktere sind Indizes nicht imSinne der Verallgemeinerung, sondern für das Verstehen ihrerselbst als Ausdrucksformen des Lebens. Das Leben spricht zusich selbst in seiner eigenen Sprache. Das reicht bis in seineGrundstrukturen. Sofern sich die Phänomenologie mit Sinnzusammenhängenbeschäftigt, ist das Phänomen des Ausdrucksnur eine Manifestation dafür, daß ein Sinn sich durch den anderengestaltet und ausformt. - Der Charakter der Bedeutsamkeitzeigt an, daß das Leben nicht wie ein Strom dumpf dahinfließt(wie Bergson infolge des Hineinspielens von biologischenBegriffen es darstellt), sondern verständlich ist. Es ist ein in dergegenwärtigen Philosophie viel vertretener Standpunkt, daß


232Anhang Bdas faktische Leben dem Begriff gänzlich unzugänglich sei.Aber das ist nur die Kehrseite des Rationalismus dieser Philos~phie(bes. des Kantianismus infolge seiner Form-Inhalt.-Theonedes Erkennens). - Die drei Charaktere des Lebens zeIgen alsounser Vordringen auf den Ursprung hin an.-Wir erwogen ferner die Idee einer Wissenschaft von der Selbstwelt.Wir betrachteten die Dingerkenntnis, die an den Sachve~haltendahin gleitet, Sachverhalten, die entsinnlicht sind, dIevom Leben nichts mehr an sich tragen. Es ist keine Unvollkommenheitder Verdinglichung, daß sie lediglich an den entlebtenSachverhalten entlanggleitet. Die Verdinglichung ist keine Degradierung,aber sie ist nicht auf alle Gegenstand~gebiete anwendbar.Weil die Verdinglichung des Lebens mcht bedarf,scheint es, als ob sie sich über Alles im Leben a~sbrei~.enkönnte. Diese Tendenz der universellen Ausbreitung 1st moglich,_ die Verdinglichung kann sich auch bis auf die Selbstwelterstrecken. Die Selbstwelt kann als ein Dingzusammenhangbetrachtet werden. Aber das Selbst als Selbst und der »Welt«­charakter der Selbstwelt geht dabei verloren. Die spezifischenElemente der Selbstwelt werden ausgeschaltet und die Verdinglichungs-Tendenzführt zu etwas Anderem, als. sie beabsic~tigt~.Hier liegt das Problem der naturwissenschaftlIchen (~hys.lOlogIschenund experimentellen) Psychologie. - Die VerdmglIchun.gist als Prozeß der »Entlebung« keine Methode zur Erkenntmsdes Lebens. Wir werden also zurückgeworfen auf die Betrachtungdes faktischen Lebens, wo die Selbstwelt unabgehobeneine Rolle spielt, im Charakter der Bedeutsamkeit (die abernicht als Bedeutsamkeit für ein Subjekt angesehen werdendarf). Die Selbstwelt im faktischen Leben ist weder ein ?ing,noch ein Ich im erkenntnistheoretischen Sinn. Sondern SIe hatden Charakter als Bedeutsamkeit, aber den einer bestimmtenBedeutsamkeit, der Möglichkeit nach. Sie kann eine besondereRolle spielen.--Nachschrift des Schlußteiles 2338. Vorblick auf das reine» Verstehen«Es werde nun kurz der weitere Gang unserer Betrachtung vordeutendskizziert:Die Selbstwelt gibt sich in Situationen. Das Leben ist immerkonkret in Situationen. Lockern wir sie konkret auf, so weisen sieeine Struktur auf, die durch die Tendenz der Situation bestimmtist. Erlebnisse sind nicht Dinge, nichts Vereinzeltes, sondern Ausdrucksgestaltenvon Tendenzen von konkreten Lebenssituationen.Wissenschaft von Erlebnissen ist die originär gebendeAnschauung des Erlebniszusammenhangs, der Situationen, ausdenen Erleb~iss~ entspringen. - Wie kann sich die Anschauungvon LebenssItuatlOnen explizieren? Im reinen Verstehen, das sichausf~rmt i~ de~ Interpretation von Sinnzusammenhängen. -EndlIch ergIbt sIch ein Zusammenhang zwischen dem Verstehenund der Konstruktion der letzten Dominanten der Lebenssituationen.- - Außerdem spielt ständig herein das Problem derDialektik: Ist sie eine Form des Erfassens oder des Ausdrucksoder- ?9. Einwände gegen die Phänomenologie als»wissenschaftliche Philosophie«Die Phänomenologie ist die Ursprungswissenschaft vom Lebens:l~st. P~änomenologie ist gleichbedeutend mit Philosophie,SIe. 1St kerne Vorwissenschaft. Es bedeutet eine Erlahmung derphIlos~phisch~n Intuition, wenn man das PhänomenologischebeurteIlt als Emzelheiten, die zusammengefaßt werden müssendurch Formensysteme. Es besteht dann keine Beziehung mehrdes Formensystems zur Grundintuition. Die Systematik tritt unverbundenund unvermittelt auf (z. B. bei Rickert das System derWerte, bei MÜllsterberg die Werttheorie unvermittelt neben seinerPsychologie). Dieses Fortschreiten zur »eigentlichen Philosophie«,zu einer »wissenschaftlichen Philosophie« oder einer


234Anhang B»Weltanschauung« über das Phänomenologische hinaus, begünstigtjene Auffassung der Geschichte der Philosophie alseines Nacheinander und Nebeneinander von Systemen undSätzen. Es hemmt die eigentlich philosophische Tendenz, zumUrsprung, zum Absoluten vorzudringen. Damit hängen gewisse(unechte) Einwände gegen die Aspirationen der Philosophiezusammen. Wir müssen sie als Fehleinwände verstehen lernen.Das hat für uns einen methodischen Sinn. So, wie unsere frühereBetrachtung des faktischen Lebens Motive bringen solltefür das Verstehen des Lebens aus dem Ursprung, so soll jetzt dieBesprechung der genannten Einwände dazu führen, dieGrundhaltung der Phänomenologie zu gewinnen. Die Basis derEinwände werden wir verstehen lernen als eine unechte Verabsolutierungeiner gewissen Einstellung.Die Einwände gegen die Philosophie sind folgende:1) Die Philosophie ist bisher noch nie zu eindeutigen Resultatengekommen, sondern nur zu historisch und milieu-bedingtenAnsichten einzelner Denker.2) Die Philosophie gewinnt zu ihr selbst keine allgemeineZu- und Übereinstimmung. Es gibt nur ein Nebeneinander verschiedenerStandpunkte.3) Es gibt keine zwingende philosophische Methode, keinedurchschlagenden Beweise in der Philosophie, sondern nurwillkürliche Predigten und Behauptungen.4) Die Philosophie fängt immer wieder von vorn an. Jederversucht immer wieder eine neue Grundlegung. Die ausbauendeArbeit beginnt nie.Aus allen diesen Einwänden soll hervorgehen, daß die Philosophieihr Zentrum noch nicht gefunden hat; sie sei ebennoch weit entfernt davon, eine Philosophie für Jedermann zuseln.-Sind dies nun Fehleinwände? Sind dies nicht dieselben Argumente,die die Phänomenologie gegen alle bisherige Philosophieangewandt hat? Wenn wir sie für unecht halten, - fallenwir dann nicht in die alte Standpunktsphilosophie zurück?Nachschrift des Schlußteiles 235Ist die Alt~rnative »wissenschaftliche Philosophie - WeltanschauungsphIlosophie«überhaupt berechtigt? Die Einwändesind, obwo~l urprünglich vom phänomenologischen Bedürfnisaus form~hert, doch schon Abbiegungen von der echten phänomenologIschenTendenz. Die Idee der wissenschaftlichen Philosophie(Urwissenschaft) muß noch radikaler und tiefer gefaßtwerden.-10. Die Phänomenologie keine ObjektswissenschaftDie Philosophie hat keine eindeutigen Resultate aufzuweisen -Si~ hat k~ine allgemein anerkannten Wahrheiten. Denn sie hatkeme Objekte vor sich, keine in begrenzter Anzahl nach gewissenfesten Ordnungsprinzipien geordneten Gegenstände.Dieser Einwand setzt voraus, daß es Tendenzen für das Erkenn:ngibt,. die durch Ordnungsprinzipien determiniert sind. EsgIbt. BestI~mungsprinzipien eines Gegenstandes, infolge dererer m:ht wIeder zurückzunehmende - wenn einmal festgestellte­BestIm~ungen erfährt. Erst wenn man ein abgegrenztes Objektfeld,mIt Ordnungsprinzipien von bloß ordnungsmäßigem Zusammenhangvoraussetzt, dann erst kann man sagen, daß es einMangel der. Philosophie ist, daß sie nicht zu eindeutigen Sätzenko~mt. Es 1st zu betonen, daß damit nicht insgeheim die AlternatIve»Objekts~esti~mung - Mystizismus« ausgespielt werdensoll. Auf dergleIchen 1st es hier nicht abgesehen. Nur von dieserV~raussetzung aus ist auch eine allgemein gegenseitige Übereinst~mmungd:r ~hilosophen zu fordern und eine allgemeine ZustImmungfur Ihre Lehren in Anspruch zu nehmen. Denn beider Einstellung auf Objekte ist das Korrelat der Einstellung sogeartet, daß es von jedem so Eingestellten mit seinem eigenenKorrelat zur Deckung gebracht werden kann, so daß also alleK~.rrelate der so Eingestellten untereinander übereinstimmenmussen: Sofern ein eindeutig geordnetes Ganzes von Begriffen,d. h. Objekts-Begriffen, besteht, kann dafür von jedem Anerken-


238Anhang Bnomenologischen Forschung ist aber das Verstehen. (Das Ganzeder phänomenologischen Erkenntnis ist ein Zusammenhangvon Stadien der Auffassung und des Ausdrucks.) - Dagegenwerden die Korrelate der »immanenten Anschauung«, der »Reflexion«usw., die sogenannten »Erlebnisse«, im Grunde alsDinge aufgefaßt. . .' .Gefährlich ist auch die Tendenz auf allgememe Mütellbarkeüund völlige Klarheit, d. h. auf die sogenannte »phänome~o~ogischeEvidenz«. _ Zur Einführung in die Phänomenologie 1st esallerdings notwendig, an leicht faßlichen Beispielen die Evidenzfür den anderen klar zu machen. Aber das sind nur vorbereitendeBetrachtungen. Eine phänomenologische Anschauungwird nicht dadurch evidenter, daß der andere ihr beistimmt.Philosophie ist keine Sache der Abstimmung.12. Charakter des phänomenologischen Verstehens. -Seine beschränkte AllgemeingültigkeitDas phänomenologische Verstehen selbst und das .Leben wirdnicht in seiner Lebendigkeit gesehen, wenn man dIe Problemeder Geschichte aus dem Gesichtskreis der Phänomenologie hinausdrängt.Darin liegt die Bedeutung ~er Hegelsc~en .Phil~sophiefür die Phänomenologie. Allerdmgs darf SIe n~cht moberflächlicher Weise aufgefaßt werden (als »Panlogismus»etc.), sondern die letzten Motive Hegels muß man zu ergründensuchen.-Augustinus hat in seinen dogmatischen Schriften gesagt:»Wunder sehen nur diejenigen, für die Wunder etwas bedeuten«.Dieser Gedanke, genügend radikal genommen, gilt füralles Verstehen. Für das Verstehen gibt es notwendige Bedingungen,die nicht in Axiomen oder Sätzen liegen, sondern imErleben von lebendigen, konkreten Situationen durch das Subjekt.Deshalb ist die Hinführung zur philosophische~ Method:besonders schwierig. Sie muß mit Suggestionen arbeIten, damItNachschrift des Schlußteiles 239Fehlwege aufgegeben und die richtigen betreten werden. Damitist die. Voraussetzung einer gewissen Intuition gegeben. Einederartige Voraussetzung findet sich in jeder Lebensform vor. Sieläßt sic~ in gewi~se Ausdrucksgestaltungen fassen. Abrupte Frag~n,WIe: »Was 1St das?«, »Wohin gehört jener Gegenstand?«,WIdersprechen dem philosophischen Geist. Man muß natürlichauch in der Phänomenologie mit abgegrenzten Gebieten anfangen.Aber man hat damit noch nicht den Sinn der Methode erfaßt.Gegen das Vorurteil der Isolierung in der phänomenologischenForschung muß angekämpft werden.-Um die Art des Ausdrucks der phänomenologischen Intuitionzu verstehen, diente uns die Besprechung der Idee der Philosophieals Wissenschaft. Man darf sich hierbei nicht von landläufigenAlternativen blenden lassen, wie: »Objektive Wissenschaft- Mystik« oder »absolute - relative Erkenntnis«. Wenn eine Erkenntnisnicht absolut ist im Sinne eines mathematischen Satzeso~er nicht jedem leicht zugänglich, so ist sie - nach jenerlandlaufigen Meinung - eine »persönliche Ansicht«. Aber dasist ein willkürliches Urteil. - Dasselbe gilt von der Alternative:»Rationalismus - Irrationalismus«. - Wenn man nicht bestimmteSätze als Beurteilungsprinzipien von vornherein annimmt,kann man solche Alternativen nicht aufstellen.--Wir .beschäftigten uns mit der Entgegensetzung von »Philosophteals strenge Wissenschaft« und »Philosophie als Weltanschauung«.Philosophie ist weder eine »objektive« Wissenschaftnoch eine praktische Anweisung zum Leben. Philosophieals Ursprungsforschung des Lebens bestimmt den Sinn ihrer~rkenntnis aus sich selbst. Sie verzichtet auf ein »System«, aufeme letzte Auf teilung des Alls in Gebiete etc. Das Leben ist ihraber auch nichts Dumpfes, Chaotisches; sondern es wird als etwasBedeutsames, konkret sich Ausdrückendes verstanden. -Die Philosophie kann von jedem Punkt des Lebens ausgehenu~d dort mit der Methode des Ursprung-Verstehens ansetzen.SIe bedarf keiner »transzendentalen Leitfäden«, keiner »Ontologie«.(Die »Ontologie« ist ja nur die höchste Zuspitzung der


240 Anhang BErgebnisse der objektivierenden Einzelwissenschaften. Die Ontologieund die ihr »korrelative« Bewußtseinsforschung bildenkeine wahre Einheit.)Der entscheidende Schritt, den die gegenwärtige Phänomenologiegetan hat, ist die Erkenntnis, daß, sofern Philosophie Erkenntnisist, ihr Ausdruckszusammenhang, ihre Begriffe eineranschaulichen Ausweisung bedürfen. Damit ist ein konkreterHinweis auf das Problem der Erfüllung einer Begriffsbildung gegeben.- Das phänomenologisch-philosophische Verstehen istein Ursprungsverstehen, das seinen Ausgang nimmt von denkonkreten Gestalten des Lebens. Deshalb arbeitet es auch ineigenartiger Weise mit Negationen.-13. Kritische Destruktion - Ausdmcks- und OrdnungsbegriffeIn der Betrachtung des faktischen Lebens zeigte sich, wie sich,zugleich mit den unabgehobenen Bestimmtheiten, Abgrenzungenobjektartiger Ausformungen ergeben. Das heißt: ~as fa~tiseheLeben gibt sich in einer bestimmten Deformatwn. DIeseAusformung in Objektsgebilde muß rückgängig gemacht werden.Deshalb sagt man dauernd »nicht« bei phänomenologischenBeschreibungen. - Das ist der Grundsinn der HegelschenMethode der Dialektik (Thesis, Antithesis, Synthesis). - Damitgewinnt die Negation eine schöpferische Kraft, die die treibendeKraft der Ausdmcksbegriffe ist, im Gegensatz zu den Ordnungsbegriffen.- Alles Verstehen vollzieht sich in der Anschauung.Daher rührt der deskriptive Charakter des phänomenologischenArbeitens. - Aber was soll beschrieben werden? Faßt manBeschreibung nun als Objektsbeschreibung, d. h. als Merkmalszusammenfügungbzw. Merkmalsabhebung oder Momenteheraushebung,und wendet sie auf »Erlebnisse« an, so objektiviertman diese, macht sie zu Objekten. Die Beschreibung muß stetsdurch die Absicht des Verstehens geleitet sein.-Die ausgezeichnete Art der phänomenologischen ErkenntnisNachschrift des Schlußteiles 241wird in der bisherigen Phänomenologie mit »Wesens-Erkenntnis«oder »eidetische Erkenntnis« bezeichnet. Aber der Sinndes Eidetischen ist zu stark abgetrennt und mit der Idee der generalisierendenVerallgemeinerung verknüpft worden. »Wesen«wird mit »Gattung« gleichgesetzt. Vom Verstehen her bekommtder Wesensbegriff einen anderen Sinn.Auch die phänomenologische Evidenz ist eine andere als diemathematische Evidenz, mit der man sie gleichgesetzt hat. Diemathematische Evidenz ist eine Ordnungsevidenz. In der Philosophiegibt es keine Definitionen, die Objekte ein für alle Malbestimmen. -14. Kritik der Psychologie - ihrer Einstellungsrichturzg _ihrer BegriffsbildungDie genannten Eigentümlichkeiten der Phänomenologie wollenwir nun näher besprechen. Wir beziehen unsere Betrachtungenzurück - im Sinne der »dialektischen« Methode derNegation, bei der der erste Schritt destmktiv ist - auf eine faktischbestehende Wissenschaft, die Psychologie.Wir hatten früher unbestimmt gelassen, ob die PsychologiePhilosophie ist oder eine Einzelwissenschaft. Wir wollen unsauch jetzt lediglich auf die heutige faktisch bestehende Psychologiebeziehen und untersuchen:1) Welche Einstellungsrichtung sie hat.2) Wo die Bruchstellen liegen, wo sie ins »objektivierende«Fahrwasser gerät und also von ihrer ursprünglichen Richtungabbiegt.3) Welche Motive diese Abbiegung veranlaßt haben.Die moderne Psychologie ist in viele Richtungen gespalten,das erschwert die Kritik. Wir beschränken uns auf zwei Hauptpunkte:1) Beobachtungsrichtung der Psychologie,2) Begriffsbildung der Psychologie.


242Anhang BDabei bleiben wir zunächst in derjenigen Unklarheit, in dersich die Psychologie selbst befindet. ..[Man muß sich die folgenden, sehr gedrängten Au~.fuhrungenan konkreten Beispielen, etwa Müller, Stumpf, Kulpe undseine Schüler, Th. Lipps u. a. m., klar machen.]-1) Einstellungs- oder Beobachtungsrichtung -Die Psychologen unterscheiden eine »objektive« und ~ine .»subjektive«Beobachtungsart. »Objektive« Beobachtung 1st dIe B~obachtung der Versuchsperson durch den Forscher (VersuchsleIter);sie bezieht sich auf das Benehmen, äußer~ Ver~a~ten etc. derVersuchsperson. - »Subjektive« Beobachtung 1st dl.e Selbstbeobachtung,die die Versuchsperson anstellt (auf ~~els~ng des Versuchsleiters)und worüber sie berichtet. »ObJektIv« 1st z. B. ~ahlder Fehler und Treffer, Zeit der Einprägung (von Worten bel Gedächtnisexperimenten),Reaktionszeit. - Trotz aller objektivenBeobachtung kann man die Selbstbeobachtung nicht entbehren.Man muß versuchen, alle »störende Wirkungen« auszuschalten.D. h. man unterscheidet zwischen dem »natürlichen« ungehemmtenZustand bzw. Verhalten der Versuchsperson und dem»gekünstelten« Zustand, welcher durch den Einfluß der Selbstbeobachtungsabsichtbei der Versuchsperson zustande kommt.Es gibt eine »hemmende Wirkung der Selbst~eobachtung« (z. B.bei Assoziationsexperimenten: Beobachtet dIe Versuchsperson,ob und wie bei ihr die Antwortreaktion auftritt, so tritt eine gewisseSpannung und Unentschiedenheit bei ihr ein. Sie k~nnz. B. das Auftreten inneren Sprechens bei der AntwortreaktlOnhervorrufen oder hindern durch ihren Willen.) - Es gibt ferner»suggestive Einflüsse«. Man glaubt unter diesem Ei.nfluß ~.u sehen,was psychisch nicht vorhanden ist. - Oder es gIbt »Storu~gender Verteilung der Aufmerksamkeit«: Die Aufmerk~amkeItder Versuchsperson ist nicht auf ihre Aufgabe konzentnert. - -Was ist nun z. B. der Sinn der »hemmenden Wirkung der Selbstbeobachtung«.Zugrunde liegt die Idee, den »psychischen Vor-Nachschrift des Schluß teiles 243gang« zu objektivieren, ihn in seiner »Reinheit« darzustellen,d. h. ihn aller Bedeutsamkeit für das Subjekt, d. h. alles lebendigenSubjektbezugs zu entkleiden.--2) Begriffsbildung -Die Psychologen unterscheiden Beschreibungsbegriffe und Erklärungs-oder Funktionsbegriffe. - Ein Begriff ist für sie (wie fürjede Objektswissenschaft) ein Zusammenhang von Merkmalen.- Die Merkmale der Beschreibungsbegriffe sind nur in unmittelbarerAnschauung gewonnen; dahin gehören alle Begriffe derKlassifikation. (Einteilung der Erlebnisse in intellektuelle undemotionale Akte). Die Sphäre der psychischen Phänomene wirdhierbei als klassijizierbar vorausgesetzt. - Funktionsbegriffe dagegenenthalten Merkmale, die nicht unmittelbar anschaulichgegeben sind, z. B. Begriffe wie: »Schwelle«, »Gedächtnistäuschung«,»Gefühlsabstumpfung« etc. - Es handelt sich hier um(theoretische) Substruktionen, wie in der Physik (»Brechungsindex«,»Wellenlänge« etc.).Von der Erlebnissphäre im eigentlichen Sinn, von den Gestaltendes Lebens selbst ist keine Rede mehr, das lebendige Lebenist zerstört. Durch die Methode der »inneren Beobachtung«(»immanenten Wahrnehmung« etc.) wird ebenso das Beobachteteobjektiviert wie in den Naturwissenschaften. Daran ändertauch nichts, daß die Erlebnisse auf ein »Ich« bezogen werden;denn das geschieht doch auch nur innerhalb der Klassifikationder »faktischen« Zusammenhänge, d. h. ihrer Objektivierung.­Manche »phänomenologischen« Beschreibungen sind von diesemFehler nicht frei, z. B. Busserls Deskriptionen über das»reine Ich«. - Das Ursprungs erkennen muß den Weg der Objektivierungvermeiden. Es kann die Erlebnisse direkt dem faktischenLeben entnehmen, ohne den Umweg über die Psychologiezu machen. ---Das Leben läuft sich in seinem eigenen Ausdruckszusammenhangtot; d. h. die Ausdruckszusammenhänge, isoliert be-


244 Anhang Btrachtet, verlieren ihren eigentlichen Charakter und werden zuObjekten. - Daher muß die Objektivierung, die theoretische Ausformunggewisser Lebensgestaltungen, von der Phänomenologierückgängig gemacht werden. Die Objektivierung hat, echtvollzogen, ihren eigenen Wert. Es besteht aber die Gefahr dervorschnellen Obj ektivierung. Es ist nicht so, daß diese Objektivierungfalsch oder unrichtig wäre, das Ursprungsverstehen dagegenrichtig. Hier gibt es keine solche Alternativen. Die Norm desphänomenologischen Verstehens ist nicht Wahrheit im Sinne von»Richtigkeit« oder Falschheit, sondern Ursprünglichkeit. Objektivierungist eine Abtrift, eine Abbiegung in einem bestimmtenStadium, auf einer bestimmten Stufe der phänomenologischenForschung, daher unfruchtbar für die Phänomenologie.-Wir hatten die Psychologie als eine Ausprägung heutigen Geisteslebensgenommen, als einen Versuch, sich theoretisch derSelbstwelt zu bemächtigen. Wir fragen: Welche Momente sindan ihr unecht, von der Ursprungsforschung aus gesehen? Wirschränkten unsere Betrachtung ein auf die Erfahrungsrichtungund die BegrijJsbildung der Psychologie. Die Begriffsbildung istbestimmt durch die Erfahrungsrichtung selbst. Mit Eifahrungsrichtungmeinen wir nicht die Probleme der immanenten Reflexion.Die sind nicht fundamental. - Aber der Psychologe siehtselbst gewisse Gefahren vor sich, er fürchtet, daß ihm sein Gegenstandunter seinen methodischen Veranstaltungen, ihn zuerfassen, zerfließt. Er spricht von der störenden, verdrängendenund suggerierenden Wirkung der psychologischen Beobachtung.Die psychologische Beobachtung erscheint hierbei als ein zweiterpsychischer Vorgang, der auf den ersten, zu beobachtenden,einwirkt. Hier liegt nun eine Unklarheit des Sinnes vor. Es liegtdas Bestreben zu Grunde, einen objektiven Geschehenszusammenhangzu gewinnen, d. h. eine reine Objektivität, ein Korrelattheoretischen Verhaltens. Damit aber ist abgewichen vondem Problem der Erfassung der Selbstwelt. - - Was die psychologischeBegriffsbildung betrifft, so ist man sich jetzt allgemeinüber die Notwendigkeit der Beschreibung psychischer Phäno-Nachschrift des Schlußteilesmene einig; ~bwohl sie ~ur a~s eine Vorstufe der »Erklärung«angesehen wIrd. Der Smn dIeser Beschreibung geht auf einOrdnungschaffen, auf eine Klassifikation der psychischen Phänom~neaus. Man beabsichtigt nicht die Zurückführung der Ersc~eI~unge~auf eine Seelensubstanz und dergleichen, sondernrem die Phanomene als solche will man beschreiben ordnenklassifizieren; etwa so: ' ,Vorstellungen____ E rsc h emungen · / Funktionen,Farbe, Töhe ...Gefühleetc.So sehr man bei dieser Beschreibung auf konkrete Phänomenezurückgeht, so sehr ist durch diese Klassifikation schondie Ordnungstendenz leitend geworden. Es besteht kein wesentlicherUnt~rschied. zwischen den Beschreibungsbegriffen undden FunktlOnsbegnffen (Erklärungsbegriffen). Denn alle dieseBe~riff~ sind nicht durch Vergegenwärtigung aus der MannigfaltIgkeItvon Erlebnissen gewonnen, sondern durch In-Beziehung-Setzenvon Erlebnissen und Erlebnissen oder von Reizu~d Er~ebni~. -~. B.:. Ein und dieselbe Melodie, wiederholt gehort,wIrd m.Ir WIderlich, obwohl sie mir die ersten Male gefiel.Das nenne Ich »GefÜhlsabstumpfung«. - Oder: Ich erinneremich an ein kürzlich gehabtes Erlebnis (und notiere die Erinne­~ng): Nac~ ein~m Jahr an das Erlebnis zurückdenkend, glaubeIC~ mIch ~emer m de~ und der Weise zu erinnern. Ein VergleichmIt der medergeschnebenen frischen Erinnerung ergibt weitgehendeUnterschiede. Ich sage, hier liegt »Gedächtnistäuschung«vor. ---Man geht also, ohne sich über den Grundcharakter der zu betrachtendenSphäre klar zu werden, von der theoretischen Hal­~ung aus. Di.e »Erlebnisse« findet man am Wege, man greift siem roh.er Welse auf. (»Erlebnisse sind Empfindungen des Ich«,Th. ~~pps) - Aber man versäumt, zuerst den Begriff des Erlebensuberhaupt zu gewinnen. Ich muß das unklar Gemeinte ineinen Zusammenhang bringen, in dem es Sinn hat, von einemErleben zu sprechen. __ _245


246 Anhang BDer Plan der Vorlesung war, in Stichworten angedeutet, so:Die Wissenschaft von der Selbstwelt ist eine Form der Objektivierung;sie kommt daher aus dem Leben und weist auf ein Ursprungsgebiet zurück. (Hiermit ist aber nur ein Problem desUrsprungsgebietes angedeutet. Das Theoretische weist nichtzurück auf das Ursprungsgebiet überhaupt.)-Wir faßten die Psychologie als die heute bestehende Wissenschaftdieses Namens. Aber es fragt sich, ob diese Psychologietypisch ist für die Psychologie überhaupt. Das Problem der Verbindungvon Philosophie und Psychologie spinnt sich immerwieder an. So hat z. B. der Vermögensbegriff in der Psychologieeine eigentümliche Verschlungenheit mit der Frage nach derUnsterblichkeit der Seele. Das Problem der Psychologie mußradikal gefaßt werden. Von da aus muß sich erst entscheiden,ob es eine selbständige Psychologie gibt.-15. Radikale Fassung des psychologischen Problems:das Problem des »Sich-seLbst-Habens«Man muß in der Geistesgeschichte der Menschheit die Geschichteder menschlichen Seele und ihrer Erkenntnis aufsuchen.Wir stoßen immer wieder in der Geschichte auf bedeutendeVersuche, die Selbstwelt zu erfassen. Immer wiederfolgt ihnen ein Abgleiten in die Richtung der Objektivierung. -Die Geschichte der Philosophie ist umzugestalten, sie ist nichtbloß aufzufassen als Sinngenese der (objektivierenden) Wissenschaft,sondern man muß auch phänomenologisch-kritischnachforschen, wo es gelingt, Ursprüngliches auszudrückenund wo von da aus wieder Abbiegungen ins Objektivierendestattfinden. Eine derartige Geistesgeschichte ist das wahreOrganon des Verstehens des menschlichen Lebens. Darin liegtder tiefere Sinn der Hegelsehen Philosophie. Es besteht einprinzipieller Zusammenhang zwischen der Geschichte unddem Ursprungsproblem des Lebens. In der Geschichte liegtNachschrift des Schlußteiles 247der wahre »Leitfaden« für phänomenologische Untersuchun­gen.-Es ist eine Notwendigkeit den Begriff des Erlebens ursprünglichzu bestimmen. Wir können uns nicht beruhigen bei der Alternative:Objekte - Erlebnisse; oder bei jenem Gemisch vonAusdrucks- und Objektbegriffen, die in der Psychologie infolgedes »psy~hophysischen Zusammenhangs« üblich sind. Auchdas genügt nicht, alle Erlebnisse als »ichbezogen« anzusehenund das »Ich« in ihnen unmittelbar für vorfindbar zu halten. Jenes»reine Ich«, jener »Ichpunkt« läuft nur leer mit, leistetnichts zur Erfassung der Erlebnisse, ist ungeeignet zur Rolledes Selbst. Muß überhaupt das »Ich« in jedem Erlebnis vorfindbarsein? Gibt es nicht auch »exzentrische« Erlebnisse? (Mankönnte ja daran denken, Erlebnisse als ichbezogen zu »definieren«.Aber in der Phänomenologie gibt es keine Definitionen.)Das »reine Ich« leistet nichts für die Erkenntnis des lebendigenZusammenhangs der Erlebnisse. Wie aber soll man den Zusammenhangzwischen den Erlebnissen auffinden? Wie die Beziehungzwischen Erleben und Leben? Fallen Leben und Erlebenzusammen? Besagen sie Verschiedenes?-Unser Ausgangspunkt ist auch hier wieder das faktische Leben.Wenn ich mein Leben »betrachte«, mich an ein Erlebniserinnere, dann lebe ich in dem, was ich erlebt habe, und in demErlebnischarakter, den ich erlebt habe, habe ich mich seLbst _und zwar viel konkreter, als ich »mich« habe, wenn ich aufmein leeres »Ich« (künstlich) eingestellt bin. - (Es ist möglich,daß Natorp in seiner »Allgemeinen Psychologie« dies meint,wenn er sagt, die Psychologie beschäftige sich nur mit dem Inhaltdes Erlebens, nicht aber mit dem »Ich« oder der Beziehungvon »Ich« zum »Inhalt«; vgl. Natorp, Allgemeine Psychologie I,Kap. HF - Die Genesis des Ursprungsverstehens geht nun so vor2 P. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch:Objekt und Methode der Psychologie. Tübingen 1912,2. Kap.: Das Bewußtsein,die Bewußtheit und das Ich.


248 Anhang Bsich daß ich mich in dem Erinnerten selbst habe. Damitkorr:me ich zu dem Problem des Mich-selbst-Habens. »Ichselbst« bin ein Bedeutsamkeitszusammenhang, in dem ichselbst lebe.-Unser Problem ist, die ursprüngliche Form des Erfassens desLebens selbst aufzufinden. Der Weg unserer Untersuchungführte über die Selbstwelt deshalb, weil so am klarsten die Ideeder Lebenserfassung selbst zu erfassen ist, weil nämlich die sichansetzenden, die Idee verfälschenden Objektivierungen amleichtesten gerade hier zu erkennen und auszuschalten sind.16. Kritik der »transzendentalen Problematik« -das Begriffspaar: »Form - Inhalt«Wir suchen nach dem Grundsinn der Methode, in dem das Lebensich als Leben lebendig erfaßt. Es besteht die Notwendigkeitder Zurückleitung auf die Grunderfahrung des faktischenLebens von sich selbst. Dieser Weg über die Selbstwelt hatnichts zu tun mit der Psychologie. Das Problem der Psychologiefällt aus unserer Betrachtung heraus; wir werden nicht von derPsychologie bestimmt in unseren Begriffsbildungen und unseremGegenstandsbegriff. Man kann von der Wissenschaft vonder Selbstwelt aus durch transzendentale Betrachtungen zeigen,daß das psychologische Subjekt auf ein nichtpsychologischeszurückweist. (Das ist der heute übliche Weg der Transzendentalphilosophie,die von Kant ausging.) Wir aber schließenuns keiner Wissenschaft an. Daraus entspringt uns die Gefahr,daß wir mit Begriffen aus dem täglichen Leben arbeiten müssen,wie »Leben, Erleben, Ich, mich, Selbst«. Bei unserer Arbeitder kritischen Destruktion (der Objektivierungen) sind dieseBegriffe nicht eindeutig festgelegt, sondern sie deuten nur hinauf gewisse Phänomene, sie zeigen in ein konkretes Gebiet hinein,sie haben daher einen bloß formalen Charakter (Sinn der»formalen Anzeige«). Die Untersuchung des formal-ontolo-Nachschrift des Schluß teiles 249gischen Gerüstes dieser Begriffe ist wichtig; doch präjudiziertdas Formale nichts über die Dinge. Es besteht eine ersteGefahr darin, daß bei der klaren Fassung der formalen Ideendiese für die Sachen selbst genommen werden. Eine zweite Gefahrdes reinen Formbegriffes ist, daß er auf seinen Gegensatz,den reinen Materialbegriff führt. Damit gerät das mit demMaterialbegriff Gemeinte (unvermerkt) in eine theoretischeFunktion.Seit Kant spielt das Begriffspaar »Form - Inhalt« in der Philosophieeine große Rolle. Die Formbegriffe sind lediglichanzeigend, sie haben noch nicht die Funktion der Ausdrucksbegriffe.In der Psychologie, auch sofern sie nicht kantisch ist,bestimmt der Gegensatz »Form - Inhalt« die gesamte Begriffsbildung.Bei Stumpf tritt er auf als der zwischen »Erscheinungenund Funktionen«.3 Die »Funktionen« sind dabei eine bestimmteMannigfaltigkeit von Variablen und stehen prinzipiellauf derselben Stufe mit den »Erscheinungen«. Als Aufgabe derPsychologie wird angesehen, die Beziehungen zwischen denVariablen und zum Psychischen zu finden. Gerade bei Stumpfs»Psychologie« und »Einteilung der Wissenschaften« zeigt sichdie Gefahr des Begriffspaares »Form - Inhalt«. - Wir verzichtenauf formale und transzendentale Betrachtungen und gehen vomfaktischen Leben aus. -1 7. Phänomenologische ReduktionAuf die »phänomenologische Reduktion« Busserls wollen wirnur hindeuten. Ihr Grundsinn ist die bwXtl gegenüber allentranszendenten Objektivierungen. Sie lehnt kritisch falscheEinstellungen ab. Aber auch ihre positive Seite muß man her-3. C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. (= IV. Abhdlg. d.Phil.-Hlst. Classe) In: Abhandlungen der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften.Berlin 1906.


250 Anhang BNachschrift des Schlllßteiles2S1ausstellen. Ihre positive Funktion ist: die Sphäre des Verständlichen,der reinen Selbstgenügsamkeit, abzugrenzen. (Die zeitgenössischeKritik an der phänomenologischen Reduktion wendetsich mit Unrecht gegen ihren angeblich »lediglich negativen«Charakter.)-Aus dem faktischen Leben wollen wir die Form des Erfassensdes Lebens seiner selbst verstehen: Wie erfährt Leben sichselbst? Die im faktischen Leben unabgehobenen Bezüge wollenwir freilegen und in allen ihren Modifikationen verfolgen. Darauswollen wir dann den Grundsinn des so erfahrenen Gegenstandsgebieteserfassen. Dieser ist deswegen durch jene Bezügebestimmt, weil das phänomenologische Verhalten (zu sichselbst) mehr ist als ein bloß formales Verhalten, weil es überhauptkeine Objekterkenntnis ist.18. Die »weltliche« Richtung des faktischen LebensIm faktischen Leben leben wir immer in Bedeutsamkeitszusammenhängen,die ein selbstgenügsames Ausmaß haben, d. h.die zu sich selbst in ihrer eigenen Sprache sprechen. Versetzenwir uns, lebendig mitgehend, in solche Erlebnisse, dann merkenwir, daß wir in dem Bedeutsamkeitszusammenhang, indem wir leben, uns irgendwie selbst haben. In der Art undWeise, wie sich das Erleben gibt, drückt sich die Rhythmik unserereigenen Existenz aus. Die faktische Lebenserfahrung istim wörtlichen Sinn »weltlich gestimmt«, sie lebt immer in eine»Welt« hinein, sie befindet sich in einer »Lebenswelt«. -Ich muß mich bei dieser Betrachtung aller Erlebnisbegriffeentschlagen, aus der jetzigen oder einer besseren zukünftigenPsychologie; ebenso aller »erkenntnistheoretischen« Grundanschauungenüber »\lVirklichkeit« etc. Ich frage nun, wie ich inder konkreten Erfahrung selb~t lebe, wie ich dabei beteiligt bin(Weise des »Vollzugs«).Es besteht auch für mich kein Gegensatz zwischen dem fakti-schen inneren Erleben und einer »immanenten Heflexion«.Man sagt )d. i. Husserl): in der »natürlichen Einstellung«kommt' ich nie zu Erlebnissen. Erst in dem Akte der Heflexionauf mein Erleben richte ich mich auf meine Erlebnisse. DieseBetrachtungsweise ist zwar in einern bestimmten Zusammenhangrichtig. - aber uns braucht sie hier nicht zu belasten.-19. Das Vertrautsein mit sich selbstDas »weltliche« Erfahren zcigt ein gewisses Vertrautseil/ von mirselbst zu ihm. - Die Begriffe »ich, mich, selbst« sind hier nochganz formal. - Man kann gegen diesen Chara1ücr am Leben,des »Mir-Vertraut-Seins«, nicht einwenden, daß doch gerademeine wertvollsten und entscheidendsten Erlebnisse oft denCharakter des »Neuen«, »Fremdartigen«, »Überraschenden«hätten. Denn gerade darin kommt zum Ausdruck daß ich mirimmer irgendwie vertraut bin, daß hier eine bestimmte Hemmung,ein Zurückgeworfenwerden aus dem Stadium der Vertrautheitmit mir selbst vorliegt.-In dem Übersehen dieses Umkreises von Grundphänomenenliegt ein Grundmangel der heutigen Ästhetik, Religionsphilosophieund besonders Theologie. - Das Grundphiinomen desAusdrucksbezllgs ist nicht formal. Es müssen die konkreten historischenBezüge hineingenommen werden. Das Phänomendes in die Welt IIineinlebens und Sich-selbst-Iebens tritt in derPhilosophie in der Formulierung zutage: »Jedes Bewußtseinvon etwas ist zugleich Bewußtsein seiner selbst«. Es bestehtIdentität des »Bewußtseins von etwas« oder des »BewuBtseinsseiner selbst


252 Anhang BDer Grundcharakter des faktischen Lebens, daß ich mich imErfahren selbst ausgedrückt finde, wird deutlicher sichtbar,wenn sich das faktische Leben seiner selbst erinnert. In derErinnerung hebt sich die Artikulation des Lebens und seinerBezüge auf mich selbst, und dadurch wird der Charakter desErfahrens sichtig. In der Erinnerung an das Erlebte läßt sich,viel unmittelbarer als im damaligen Erleben selbst, verfolgen,was in der Weise des Erlebthabens beschlossen ist, wie dasErinnerte seinen ganz spezifischen Charakter hat, in dem esmir vertraut ist. -20. Die Rolle der Erinnerung - Die Geschichte als Leiterfahrungder phänomenoLogischen ForschungDer Psychologe wird sagen, daß seien alles vage Begriffe; esgäbe nicht Präzises wie »Erinnerungsrückstände, EinprägungsundReproduktionsziele« etc. Aber wir lassen uns nichts vonihm hereinreden. Wir haben andere Maßstäbe von Strenge alser. Man darf sich aber auch nicht die Aufgabe der phänomenologischenLebenserforschung erleichtern, indem man sagt: JedesErlebnis ist Erlebnis eines Ich. Also bin ich bei jedem Erlebniseo ipso dabei. Denn wir haben ja noch gar keinen Begriffvon einem »Erlebnis«. Diesen wollen wir gerade erst radikal bestimmen.Hier ist die Motivstelle dafür, daß alles phänomenologischeVerstehen sich sein Material aus dem vollen historischen Lebenvorgeben lassen muß. Das wirkliche Leben und die Geschichteist der Leitfaden oder besser die Leiteifahrung für die phänomenologischeForschung. Geschichte ist hier nicht verstandenals historische Wissenschaft, sondern als lebendiges Miterleben,als Vertrautsein des Lebens mit sich selbst und seinerFülle. - Hier liegen die Wurzeln der tiefen Probleme der Geschichtswissenschaftund -philosophie. (Von hier hätte aucheine tiefgreifende Kritik von SpengLers »Untergang des Abend-Nachschrift des Schlußteiles 253landes« auszugehen. Es genügt nicht, sich fachmäßig mit ihmauseinanderzusetzen, ihm einzelne Fehler nachzuweisen etc.;auch nicht, daß man von philosophischer Seite ihm seinen»Skeptizismus« als widersinnig nachweist. Sondern es ist zu zeigen:SpengLer ist, ebenso wie Bergson, DiLthey, SimmeL, in Halbheitensteckengeblieben; er hat das Leben nicht bis zum Letztenzurück erfaßt.) - Es zeigt sich auch hier, daß unsere Problemegrundlegende und keine bloßen Spezialitäten sind.--21. Gliederung der ProbLematik des Sich-seLbst-HabensUnser Problemkreis des Sich-seLbst-habens imfaktischen Erlebengliedert sich folgendermaßen:1) Herausstellung des Sinns des Bezugs des Sich-selbsthabens.2) Herausstellung des Sinns des dabei gehabten Selbst _Phänomen der Situation.3) Der ganze Problemkomplex (1), (2) erfährt eine Steigerung:das phänomenologische Verstehen selbst sondert sich indie einzelnen Strukturformen: Motiv, Tendenz, Erlebnis, Erlebniszusammenhang.'4) Die Problemgruppe wird in das faktische Leben unddas Leben »an und für sich« zurückgenommen. Die Betrachtungder ganzen Sphäre des reinen Lebens ist weder AußennochInnenbetrachtung, weder transzendent noch immanent.5) Untersuchung des Phänomens, daß ich mich im Erfahrenselbst ausgedrückt finde, ergibt folgende Gliederung desPhänomens:a) Erfahrung meiner personalen Situation,b) Erfahrung der faktischen Geschichte,c) Erfahrung des Lebens an und für sich.Hieraus ergibt sich der Gegensatz: Faktum - Sinn.Die philosophische Erfahrung des Lebens selbst ist für diePhilosophie aus dem Leben selbst motiviert. Es ist Ernst zu ma-


254 Anhang Behen mit der Motivierung der philosophischen Methode desVerstehens überhaupt aus dem Leben selbst. Dadurch kommtman auf die Frage, wie Leben sich selbst erfährt, wie man sinngenetischdie philosophische Methode selbst durch sich selbstgewinnt. Wir bedürfen für das konkrete Verstehen des philosophischenVerstehens selbst keines Exempels, sondern schon imRückgang auf das Verstehen müssen sich die einzelnen Schritteder Methode abheben.22. Die Stufen des phänomenologischen VerstehensSo finden wir die folgenden Schritte der phänomenologischenMethode:1) Zunächst, wenn man vorurteilslos mit der Betrachtunganfängt, ist sie ein Hinweisen auf eine bestimmte Sphäre desfaktischen Lebens.2) Damit verknüpft sich ein erstes Fußfassen in der Lebenserfahrung,gleichgültig welche im einzelnen betrachtet wird.Dies Fußfassen ist kein Stehenbleiben, sondern ein Mitgehen,ich werde dabei von der Strömung des Lebens mitgerissen. Esist das unmittelbare Mitmachen des Erlebens.(Damit scheint Husserls »phänomenologische Reduktion« inihr Gegenteil verkehrt. Dort mache ich gerade nicht mit, nehmekeine Stellung, übe EJtOXtl. Doch ist dies nur die negative Seiteder Sache. Man kann die phänomenologische Reduktion nurdann so charakterisieren, wenn man von vornherein die Erlebnissesämtlich als intentionale ansieht und außerdem noch vondingerfassenden Erlebnissen (z. B. Wahrnehmungen) ausgeht._ Geht man vom Verstehen selbst aus, so kommt man geradezur Forderung des »Mitmachens« der persönlichen Lebenserfahrungmit größter Lebendigkeit und Innerlichkeit).-3) Es folgt das Vorschauen, Vorausspringen der phänomenologischenIntuition in die Horizonte, die in der Lebenserfahrungselbst gegeben sind, in die Tendenzen und Motive, die inNachschrift des Schlllßteiles 255der Lebenserfahrung liegen. Das ist nicht erLernbar. Es ist entscheidendfür das produktive Sehen der Phänomene selbst. _4) Dann kommt die ArtikuLation des Gesehenen, das Heraushebender einzelnen Momente des Phänomens.5) (Es ist noch einzuschalten:) die Interpretation der Phänomene.6) Endlich folgt die eigentliche Gestaltgebung des phänomenologischGeschauten, die die Zerrissenheit der articuliwieder zusammenfügt. - Hier tritt die Phänomenologie in engeBeziehung zur Kunst.1m Verlauf (des »Mitgehens« oder) der »Artikulation« arbeitetdie phänomenologische Methode schon mit Hilfe einer kritischenDestruktion der Objektivierungen, die immer bereit sind,sich den Phänomenen anzusetzen. Damit scheint das anschaulicheVerhalten verlassen und ein diskursives Denken an seineStelle zu treten. Ich sage ja vor allem, daß das Phänomen dasund das nickt ist. Dies kann nur in der Art und Weise einer Argwnentation,gewissermaßen dialektisch vollzogen werden. Wirstoßen hier auf das Problem des Verhältnisses der Anschauung,des reinen Verstehens und des dialektischen Ausdrucks in Be­griffen.-Wir wollen nun versuchen, den Prozeß des phänomenologischenVerstehens selbst durchzuführen. Wir wollen sehen, wiewir in unserer faktischen Lebenserfahrung uns selbst habf'n.­Die Abgrenzung gegen die »wissenschaftliche« Erkenntnisder Selbstwelt, die Psychologie, hatten wir vollzogen. -Wir fragen also: Wenn ich mit einer faktischen Lebenserfahrungselbst mitgehe, die ursprünglich »weltlich« gerichtet ist, _wie habe ich da mich selbst, obwohl mein Selbst ganz in dieserErfahrung aufgeht, sich in ihr spiegelt, mit ihr mitgeht?Am besten sieht man das, wenn eine gewisse Distanz zwischender betrachteten Erfahrung und der jetzigen besteht. (Ambesten nehme man ein für mich besonders bedeutsames Erlebnis.)Was habe ich damals erlebt ohne irgendeine Reflexion aufmich selbst?


256 Anhang BHier muß sich zeigen, wie es anzustellen ist, daß ich einStoffgebiet habe, aus dem ich einen gewissen Reichtum anPhänomenen schöpfen kann. Dies ist ein ernstes Problem. Daseigentliche Organon des Lebensverstehens ist die Geschichte,nicht als Geschichtswissenschaft oder als eine Sammlung vonKuriositäten, sondern als gelebtes Leben, wie es im lebendigenLeben mitgeht.23. Das Problem des Verhältnisses von »Faktum« und »Sinn«Wie kann man aber von dieser »empirischen«, relativen Basisdes faktischen Lebens loskommen, um zum »Allgemeinen«, zur»Regel«, zur »Wesenserkenntnis« zu gelangen? Denn die Mannigfaltigkeitder Fakta ist unübersehbar. Außerdem ist die G.eschichteimmer nur von meiner Gegenwart aus verstanden, 1stselbst Ausdruck meines eigenen Lebens. Und wie soll die Geschichte,das Geschehene, gemessen an dem der Idee nachunendlichen Fortgang des Lebens, eine genügende Induktionbilden, um über das Leben überhaupt einen Satz zu begründen?Wie soll ich jemals über mein Faktisches hinauskommen? Eserhebt sich das fundamentale Problem des Verhältnisses vonFaktum und Sinn. Wie soll ich aus der Vereinzelung der faktischenLebenserfahrung einen Sinn gewinnen, der allgemeingilt? .Dieses Problem ist bisher in der Philosophie nur schematIschbehandelt worden, von gewissen logischen Voraussetzungenaus. Man faßt das Faktum auf als Einzelnes gegenüber der Artund der Gattung oder als Einzelfall eines allgemeinen Gesetzes.Ein Faktum liegt dann neben dem anderen. Die Fakta werdenin ein ihnen übergeordnetes Schema hineingesehen, in eineOrdnungs beziehung hineingestellt. In dieser objektivierendenAuffassung des Faktischen wird sein Verhältnis zum Sinn zueinem Scheinproblem; das eigentlich hier vorliegende philosophischeProblem wird nicht gesehen und verstanden.Nachschrift des Schlußteiles 25724. Das Faktische als AusdruckMan muß das Faktische selbst verstehen als Ausdruck. Sofernman das faktische Leben einmal so angesehen hat, kommt mangar nicht mehr auf jene alten Scheinprobleme, wozu auch dasder Individuation gehört. Die Fakta des Lebens selbst liegennicht wie Steine nebeneinander, sondern sie haben jedes ihreeigene Stelle, die mit der Stellung innerhalb einer Gesetzlichkeitnichts zu tun hat.Was heißt: eine faktische Lebenserfahrung ist Ausdruck?Ausdruck wovon? Wenn wir das Verstehen gelernt haben, könnenwir aus dem Leben selbst gewisse Problemrichtungen heben.Diese Hebung ist notwendig eine Auseinanderreißung desim Leben selbst Zusammenbefindlichen. - Man kann so ausdem Phänomen des Sich-Selbst-Habens zwei Momente abheben:das »Haben« und das »Selbst«. Dann zeigen sich weitereStrukturen und Schichtungen innerhalb dieser Momente undschließlich wird das Sich-Selbst-Haben verstanden als Ausdruckdes ursprünglichen Lebens. Methodisch ist das nun derWeg, um das reine Verstehen selbst zu gewinnen. Durch kritischeDestruktion wird das Verstehen als Vollzugs sinn herausgehoben.- Die Intuition der Phänomene muß man dabei immervor Augen haben. - Es gibt »Führungen« in jedes Lebensphänomen,die von bestimmten Motiven herkommen und in bestimmteHorizonte hineinlaufen. - Artikulation des »Habens«:Vertrautsein des Lebens mit der Welt, in der ich selbst lebe.Frage nach der Art und Weise, wie sich das Ich dabei seinerselbst bewußt wird.Kritische Destruktion: Was ist das »Haben« nicht?1. Es ist nicht ein ausdrückliches Eingestelltsein auf michselbst als ein »Ich«, das in die Ordnung der »Iehe« überhauptgehört. Es ist keine Tendenz auf endgültige Erkenntnis überdas Ich als Ich in der faktischen Lebenserfahrung. Das giltauch, wenn das Ich nicht als Ichpunkt, sondern als konkretesIch gedacht ist. Auch ein konkretes Ich ist gesehen in der Ord-


258 Anhang Bnungstendenz der Objektivierung, ist eingeordnet in die Regionender Momente, aus denen die »Ich -Objekte« bestehen.-2. Es ist auch nicht so, daß die Erfahrung etwas fordert,was die Erfahrung hat, was sie sich aneignet, von dem die Erfahrungeine Eigenschaft ist. Denn durch diesen Rückschh~ßwürde der Grundsinn unseres Phänomens verschoben.-3. Nach einer dritten irrigen Meinung stellt sich das »Ichbewußtsein«,ohne ausdrücklichen Rückfluß, als beiläufige Resultante,als Nebenprodukt eines bestimmten Lebenszusammenhangsheraus. Es liegt gar nicht phänomenal vor, es ist bloßein dumpfes »Selbstbewußtsein« in der faktischen Erfahrungdes Lebens. - Bei alle dem ist das Selbstbewußtsein aufgefaßtals etwas Neues, was sich ansetzt an die Lebenserfahrung.-Mich-Selbst-Haben ist kein Anstarren des Ich als eines Objektes,sondern es ist der Prozeß des Gewinnens und Verlierenseiner gewissen Vertrautheit des Lebens mit sich selbst. Es ist etwas,was schwingungsmäßig gleichsam da ist und wiederschwindet (»Rhythmus«).25. Die Situation als Ausdruck des SelbstWas ist nun das »Selbst«? Kommen wir hier nicht doch zu einemObjekt, dem Selbst und seinem Sinn? Wenn wir uns aberden ganzen Prozeß des phänomenologischen Verstehens gegenwärtighalten, können wir nur sagen, das Selbst hat eine gewisseAusdrucksgestalt. Man darf nicht enttäuscht sein, in der Helligkeitdes Bewußtseins kein »Ich« zu finden, sondern nur denRhythmus des Erfahrens selbst. - Das Selbst ist uns im Ausdr~ckder Situation gegenwärtig. Ich bin mir selbst konkret ineiner bestimmten Lebenserfahrung, ich bin in einer Situation. -Liegt hier phänomenal wirklich etwas Neues vor? Das Problemder Situation ohne Objektivierung ist bisher in der philosophischenLiteratur nicht gestellt worden.Das Grundproblem ist: Wie grenzt sich eine Situation inner-Nachschr!ft des Schlllßteiles 259halb des faktischen Lebens aus? Wie vollzieht sich die au,~drucksmäßigeAusprägung einer Situation? Was ist die charakteristischeEinheit der Situation, was ihr eigentlich dominierenderCharakter? Welche Bezüge stehen in der Funktion, zuDominanten der Situation zu werden? Endlich als letzte Frage:Welches ist die Urstruktur der Situation?-Diese Aufgaben sind nicht durch Definitionen und Argumentelösbar. Das würde nur ein Mißverständnis unsererGrundhaltung sein. - Wir müssen zurückgehen auf die spezifischePhänomenologie des Selbst. Es ist hier die Frage nach denletzten Möglichkeiten der Vertrautheit mit sich selbst. (»Berufung«,»Schicksal«, »Gnade«.) In welchen Schichten und Ausdrucksformenlebt das Selbst in seiner Situation?-Hier besteht wieder eine Gefahr, in Objektivierung zu verfallen.Man ist versucht, aufzuzählen, was von mir in diesem Momentgerade erfahren und erlebt wird. Die inhaltliche Mannigfaltigkeitwürde dann den Charakter der Situation ausmachen.Weiter käme man zu »letzten Daten« und schließlich zurraumzeitlichen Bestimmung der Situation (bestimmte Stelle desobj~ktiven Raums in einem bestimmten objektiven Zeitpunkt).- Aber die Gehaltsform hat ihren letzten Sinn in der Lebenserfahrungselbst. Raum und Zeit haben in ihrer ursprünglichenForm in der Sphäre des Lebens, als Bedeutsamkeiten, ihreFunktion in der Situation. (Von der »objektiven« Raum-Zeit­Form aus gesehen ist das die ins volle Leben (zurück-)transponierteForm.) Das Problem der Zeit ist mit dem der Situationverbunden.Man verdankt Bergson 4 die entscheidende Leistung der Abscheidungder »durce concrete« von der objektiven »kosmischen«Zeit. - VVir können darauf nicht näher eingehen.-Es gibt Situationen, in denen ich Erfahrungen erlebe, die mirf Vgl. H. Bprgson, Essai sur les donneps immediates de la conscience. Paris1889. p. 57-105 (= Chap. 2: De Ja muJtipJicte des etats de conscience: J'iclee dl'dUft'c).


260 Anhang Bverborgen sind (»Schicksal«, »Fügung«). Sie können mir absolutunverständlich sein. Trotzdem kann ich mich selbst in dieserSituation auf das klarste verstehen. - Situation ist eben dereigentümliche Charakter, in dem ich mich selbst habe, nichtden Inhalt des Erlebten. Der Umkreis des Verständlichen [...]*das Sich-Selbst-Haben, das ein Prozeß des Gewinnens und Verlierensder Vertrautheit mit dem Leben ist.-26. Die Spontaneität des SelbstEs gibt im Leben ein bestimmtes Herkommen von bestimmtenMotiven und ein Fortgehen und Hinneigen nach bestimmtenTendenzen. Es gibt einen Bezugssinn des Lebens, in dem esselbst lebt, ohne sich selbst zu haben; das ist der Bezug von Motivzur Tendenz. Dieser Bezugssinn kann bestimmte Umgestaltungenerfahren. Tendenzen und Motive können ihre Funktionenwechseln. - (Das ist von allen Objekts beziehungen getrenntzu halten!) - In derselben Situation kann das, was Motiv ist, zugleichals Tendenz lebendig sein. Der Bezugssinn ist keine Beziehungzwischen zwei Objekten, sondern ist selbst schon Sinneines Vollzugs, eines Dabeiseins des Selbst. Das Selbst ist keinletzter Ichpunkt, es ist offen gelassen, wie das Selbst dem Bezugssinn nah oder fern ist, ob der Bezugssinn an der Oberflächeoder in der Tiefe des Selbst gelebt wird. - Man kann leben,ohne sich selbst zu haben. Von hier aus gibt es einen möglichenRückgang in verschiedenen Stufen zur immer gesteigertenKonzentration des Vollzugs (des Bezugssinns ) bis schließlich zurvollen Spontaneität des Selbst.Der Vollzugssinn entspringt aus der Spontaneität des Selbst.Sofern er so gesteigert lebendig ist, ist ursprüngliches Lebenexistent.Die Tendenz, über die ich hingeneigt bin, läßt eine letzteNachschrift des Schlußteiles 261Ausformung ihres Sinnes zu, die Idee. Sie ist inhaltlicher Art ,umspannt eine bestimmte Lebenswelt. Sie wird dann selbst zumMotiv und bestimmt einen bestimmten Gehaltssinn des faktischenLebens.27. Bezugssinn, Vollzugssinn, Gehaltssinn (Idee) als dieUrstruktur der SituationBezugssinn, Vollzugssinn, Gehaltssinn ergeben die Urstruktur derSituation. - Es ist nicht ausdrücklich vom »Ich« die Rede.-Durch diese 3 »Sinnelemente«, besser »Sinnjührungen« (d. i.Führungen des Lebensstromes selbst) wird die Selbstgenügsamkeitdes Lebens ausgedeutet. Sie umschreiben, was die Selbstgenügsamkeitdes Lebens meint. Das Phänomen der Selbstgenüg­~.amkeit ist damit in die reine Sphäre des Lebens aufgehoben.Ahnlich wären die anderen »Reliefcharaktere« des faktischenLebens auszudeuten, was Zeitmangel verbietet.Bezugssinn und Gehaltssinn der Situation können eine solchePeripetie erfahren, daß ein Sinnelement dominiert. _1) Spontaneität ist Domination des Vollzugssinns. Die Situationerfährt damit eine Modifikation ihres Gehaltssinns: eskommt zu einer schöpferischen Gestaltung der Lebenswelt. _2) Der Vollzugs sinn ist verdrängt, die Situation verläuft imBezugssinn. Das findet sich in ästhetischen und religiösen Wel­ten.-3) Das letzte Phänomen ist die Spontaneität des lebendigenSelbst, aus der der Grundsinn von »Existenz« geschöpft werdenkann. Dieser Grundsinn des Vollzugs des Selbst in seinem Lebengibt dem Sinn von »Existenz« seine ursprüngliche Bedeutung.Von hier aus hat jedes Sinngefüge des theoretischen Verhaltensseinen letzten Ursprung zu nehmen. Von hier wird der Sinn derWirklichkeit in allen Schichten des Lebens verständlich.-* [Hier ist in der Nachschrift eine Lücke angezeigt.]


262 Anhang B28. Das Leben-an-und~für-sich oder der UrsprungDiese Struktur der Situation als eine variable Mannigfaltigkeitder drei Sinneselemente muß zurückgeworfen werden in das lebendigeLeben selbst. Diese Sinneselemente erlauben damit einenZugang zu dem Leben-an-und-jür-sich.-Die Situationen lassen sich in der Umwelt verfolgen mit Beziehungauf die Gegenwart und die Geschichte des Lebens. Ausdiesem Ausdruckszusammenhang zwischen dem faktischen Erfahrenin der Umwelt, der Spontaneität der Selbstwelt und dergegenwärtigen Geschichte läßt sich in der Methode der Rekonstruktionder Ursprung gewinnen.Der Ursprung ist ausgedrückt durch diesen letzten Ausdruckszusammenhangselbst. Das phänomenologische Verstehenist nichts anderes als ein anschauliches Mitgehen, Hinlaufenan dem Sinn entlang. Es muß stets die Gesamtsituation desPhänomens gegenwärtig sein. Kein Ausdruckszusammenhangkann iIn Sinn der methodischen Darstellung isoliert werden. Erist auch nicht nur »relativ«. Jeder philosophische Ausdruckszusammenhangist nur soweit Philosophie, als wir ihn aus demUrsprung verstehen.29. Die Begriffe der Philosophie. Ihre Dialektik istDiahermeneutikMan kann nicht »objektiv« untersuchen, was an den Aufstellungeneines Philosophen »richtig« oder »falsch« ist. Es kommtdarauf an, welche Ferne oder Nähe seine Ausdrucksgestaltenzum Ursprung haben. - Die Begriffe der Philosophie habeneine andere Struktur als die Objekts- und Ordnungsbegriffe.Alle Begriffe haben die formale Funktion des BestimmerL~. AberBestimmen durch Ausdruck ist nicht Bestimmen durch Ordnwzgsschemata.Die Dialektik in der Philosophie, als Form desAusdrucks, ist nicht Dialektik im Sinne der synthetischen An-Nachschrift des Schlz~ßteiles 263einandersetzung von Begriffen, sondern die philosophischeDialektik ist »Diahermeneutik«.Durch die Umkippungen des Verstehens und Anschauens(Verwendung der Negation?) kommen die Phänomene zumAusdruck. - Philosophische Intuition ist nicht dann am adäquatesten,wenn sie das Geschehen nachbildet. (Diese Idee vonAdäquation ist aus der Objektssphäre übertragen.) - Adäquationdes Ausdrucks kann der Nachbildung ganz fern stehen;d. h. dem, was zunächst gesehen wird, fernstehen. Man findetdurch das Verstehen der ausdrückenden Rede nie das Phänomen.- Die Adäquation des Ausdrucks bestimmt sich durch dieUrsprünglichkeit der Motive, die in der Darstellung lebendigsind.30. Der platonische E(!(JJ~ als philosophische GrundhaltwzgDie wahre philosophische Haltung ist nie die eines logischen~yrannen, der durch sein Anstarren das Leben verängstigt.Sondern es ist PLatons EQW~. Aber der hat noch eine viel lebendigereFunktion als bei Platon. Der EQW~ ist nicht nur ein Motivgrundder Philosophie, sondern die philosophische Betätigungselbst verlangt ein sich Loslassen in die letzten Tendenzen desLebens und ein Zurückgehen in seine letzten Motive. Die derphänomenologischen Philosophie entgegengesetzteste Haltungist ein Sich-Einspannen in etwas. Jene Philosophie verlangtvielmehr ein Sich-Loslassen in das Leben, allerdings nicht inseine Oberfläche, sondern gefordert wird eine Vertiefung desSelbst in seine Ursprünglichke~t.


NACHWORT DES HERAUSGEBERSDer vorliegende Band 58 der Martin-Heidegger-Gesamtausgabeenthält den hier erstmals veröffentlichten Text der Vorlesung,die Heidegger als Privatdozent im Wintersemester1919/20 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gehaltenhat. Im Vorlesungsverzeichnis hatte Heidegger sie als »AusgewählteProbleme der reinen Phänomenologie« einstündig angekündigt,dann aber, wie der Titel des Manuskripts und auchdie von Hörern der Vorlesung angefertigten Nachschriften belegen,unter dem endgültigen Titel »Grundprobleme der Phänomenologie«zweistündig gehalten.Zur Edition lagen vor das in deutscher Handschrift verfaßteund bis zur Seite 70 durchgezählte Manuskript der Vorlesungund ein mit teils lateinischen Klein-, teils lateinischen Großbuchstaben,teils arabischen Ziffern versehenes oder auch garnicht paginiertes und ohne erkennbare Ordnung gebündeltesKonvolut von 47 handschriftlich verfaßten Seiten. Zudem lagvor eine von Hartmut Tietjen verfertigte, der beschriebenenForm entsprechende Abschrift des Heideggerschen Textes.Weiterhin wurden zur Verfügung gestellt drei handschriftlicheVorlesungsnachschriften, erstellt von Karl Löwith, Franz JosefBrecht und Oskar Becker.Das Manuskript besteht aus halbseitig links beschriebenenBlättern in Oktavformat. Der Text, von Heidegger in einer auchvon ihm selbst späterhin als »Augenpulver« charakterisiertenwinzigen Handschrift verfaßt, ist fortlaufend und ohne Gliederungniedergeschrieben. Für die Edition mußte daher eineGliederung erarbeitet werden. Da Heidegger seinen Text bis aufwenige Ausnahmen auch nicht interpunktiert hat bzw. anstelleeiner differenzierten Interpunktion eine Art Gedankenstrichverwendet, mußte für die Edition der Text mit Satzzeichenversehen werden, wobei Heideggersche Eigentümlichkeiten,


266 Nachwort des Herausgebersz. B. daß er für gewöhnlich vor >und zwar< kein Komma setzt,berücksichtigt wurden.Handschrift und Abschrift, Handschrift, Abschrift und Nachschriftenund auch die Nachschriften untereinander wurdenmehrfach miteinander kollationiert. Dabei zeigte sich, daß dieim Nachlaß vorliegende Zweiteilung der Handschrift in Vorlesungsmanuskriptund Beilagen so nicht zutreffend ist. Vielmehrergab sich durch die mit Datumsangaben versehene Nachschriftvon Brecht, daß die ausgearbeitete Vorlesungshandschriftmit dem 12. Dezember 1919 und d. h. der Seite 66 desManuskriptes abbricht. Warum Heidegger seine Ausarbeitungabgebrochen hat, läßt sich heute nicht mehr ermitteln. Ermittelnließ sich aber anhand der Nachschriften, daß der Großteildes zweiten Handschriftenkonvoluts Skizzen und Notizen desweiteren Vorlesungsganges enthält, und zwar für den Zeitraumvom 16.12. 1919 bis zum 27.1. 1920, dem Tag, an dem allenNachschriften gemäß Heidegger seine Vorlesung offiziell beendethat. Anhand der Nachschriften konnte somit der weitereGang der Vorlesung rekonstruiert werden. Im Rahmen dieserArbeit zeigte sich z. B., daß der fehlende inhaltliche Anschlußder von Heidegger als 67 bis 70 gezählten Seiten zu den vorausgehendensich dadurch erklärt, daß die vermeintlich das Manuskriptabschließenden Seiten in Wahrheit Teil der erst im Januargehaltenen Vorlesung sind.Da im ganzen aber der so rekonstruierte Text im Unterschiedzur ausgearbeiteten Vorlesung von doch eher fragmentarischerGestalt ist, wurde entschieden, ihn nicht nahtlos dem von Heideggerausgearbeiteten Teil anzufügen, sondern ihn als erstenTeil des Anhanges A zu edieren. Die abgedruckte Gliederungder rekonstruierten Fassung orientiert sich an den Überschriften,unter denen Heidegger die betreffenden Aufzeichnungenzusammengefaßt hat. Im direkten Vergleich mit den Nachschriftenwurde deutlich, daß Wesentliches der nicht mehr vollständigausgearbeiteten Vorlesung sich nicht in Heideggers eigenenNotizen, sondern nur in den Nachschriften findet. DaherNachwort des Herausgebers 267wurde entschieden, im Anhang B den Schlußteil der Vorlesungin der Fassung der Nachschrift von Oskar Becker abzudrucken.Die Entscheidung zugunsten der Beckerschen Nachschriftergab sich durch den Vergleich der Nachschriften untereinander.Die in lateinischer Schrift abgefaßte und mit stenographischenEinschüben versehene 78 Schreibheftseiten umfassendeVorlesungsnachschrift Löwiths enthält vieles von dem nicht,was sich bei Brecht und Becker findet. Ihrerseits ist aber auchdie Brechtsche 81 Schreibheftseiten umfängliche Nachschrift,von deren deutscher Handschrift mir von Friedrich Hogemanneine maschinenschriftliche Transkription zur Verfügung gestelltwurde, weniger ausführlich als die von Becker angefertigteNachschrift.Bei Beckers Nachschrift handelt es sich dem Charakter derHandschrift nach vermutlich um eine eigens angefertigte, indeutscher Schrift verfaßte Reinschrift, die mit einer wohl erstnach Abschluß der Vorlesung erstellten und daher auch amEnde der Nachschrift stehenden Gliederung versehen wurde.Die Nachschrift umfaßt 211 Seiten im Klein-Oktav-Format.Beckers Handschrift wurde transkribiert, dabei einige wenigeVerschreibungen stillschweigend korrigiert und Abkürzungenaufgelöst. Beckers Manuskript zeigt als Spuren späterer BearbeitungUnterstreichungen, kommentarähnliche Fragezeichenund einige wenige Anmerkungen. Es konnte nicht ausgeschlossenwerden, daß es sich dabei um Zusätze von fremder Handhandelt. Von daher wurde nur der ursprüngliche und zweifelsfreieBeckersche Text für die Edition berücksichtigt. Die Überschriftender Gliederung wurden für den Abdruck des Schlußteilsder Vorlesung aus der Nachschrift im Anhang B 11 in denfortlaufenden Text an den von Becker vorgesehenen Stellen eingefügt.Im Grunde geben alle Nachschriften und insbesondere dieBeckers den Gang und auch die Begrifflichkeit der Vorlesungangemessen und d. h. ohne Verfälschungen wieder. Sofern essich aber hier nicht um stenographische Mitschriften handelt,


268 Nachwort des Herausgebersbietet das Niedergeschriebene letztlich doch gegenüber der umNuancen ringenden Gedankenführung Heideggers eine sieverkürzende Erfassung. Gleichwohl finden sich in den NachschriftenStellen, die belegen, daß Heidegger sich im mündlichenVortrag vom vorgefertigten Text löste und frei den Gedankengangabwandelte oder auch weiterführte. Solche Teilewurden als Ergänzungen aus der Nachschrift Beckers in denAnhang B I aufgenommen.Mit der anhand der Nachschriften erfolgten Zuteilung einesTeils der Heideggerschen Aufzeichnungen zur Rekonstruktiondes Schlußteiles der Vorlesung ergab sich zugleich die Möglichkeiteiner weiteren Bestimmung der restlichen Beilagen. Zumeinen handelt es sich um solche, die Heidegger selbst dem ausgearbeitetenVorlesungsmanuskript zuordnet. Sie sind zusammenmit der nicht vorgetragenen Erstfassung des § 19 im AnhangNIIA abgedruckt. Ferner gibt es Beilagen, die im Zusammenhangder Vorlesung entstanden sind. Sie geben Zeugnisvon der Suche und der Spannung, in der sich das HeideggerscheDenken zu dieser Zeit hielt, und wurden als »Lose Blätter«unter den von Heidegger gewählten Überschriften in den AnhangNIlB aufgenommen. Für die Edition auszuscheiden warenhingegen sechs Blätter. Vier von ihnen gehören nicht zu dervorliegenden Vorlesung, für die beiden anderen war durch eineVielzahl nicht übertragbarer Stenogramme bzw. Abkürzungenund nicht gegebener Zuordnungen ein textlich abgesicherterSinnzusammenhang nicht herzustellen möglich.Im Blick auf die Heideggersche Handschrift im ganzen istcharakteristisch, daß dem halbseitig links fortlaufenden Textauf der rechten Seite zahlreiche Einschübe beigegeben werden.Bei diesen Einschüben handelt es sich zum größten Teil umTextergänzungen, so daß sie in den durchgängigen Text eingefügtwerden konnten. In geringerem Umfang haben die Einschübeden Charakter von Selbstkommentierungen oder vonexkursartigen Skizzen und wurden dann in fußnotenmäßigerZählung als Anmerkung zur entsprechenden Stelle wiederge-Nachwort des Herausgebers 269geben. Ein kleinerer Teil der Einschübe, aber auch einzelneStellen im Haupttext hat Heidegger in Gabelsberger Kurzschriftnotiert. Diese Stenogramme konnten zu einem Teil Walter Biemelund zu einem anderen Teil Guy van Kerckhoven zur Prüfungvorgelegt werden. Die auf diese Weise aufgelösten Stenogrammewurden an den entsprechenden Stellen in den Textaufgenommen. Da Heidegger die Gabelsberger Kurzschrift bisweilenin einer persönlichen Variante gebraucht, konntengleichwohl nicht alle Stenogramme aufgelöst bzw. von Teilennur Bruchstücke entziffert werden. In diesen Fällen, bei denender Textsinn nicht mit der nötigen Sicherheit zu Gebote stand,wurden die Übertragungen der Kurzschrift für die Edition nichtberücksichtigt. Auch in Heideggers deutscher Handschriftkonnten an drei Stellen einzelne Worte nicht entziffert werden.Sie wurden im Drucktext eigens als Fehlstellen vermerkt.Im Manuskript gibt Heidegger eine Reihe von Querverweisenauf eigene über die Vorlesung hinausgehende oder sie flankierendeTexte. Es handelt sich dabei um drei Manuskripte undneun gesonderte von ihm selbst so genannte Zettel, die wohl ursprünglichder Vorlesungshandschrift beigelegt sein mochten.Heideggers Nachlaß wurde auf diese Zettel und Manuskriptehin durchgesehen. Dabei konnte jedoch nur das aufsatzmäßigeManuskript »Über Psychologie«, das in der dritten Abteilungder Gesamtausgabe veröffentlicht werden wird, noch ausfindiggemacht werden. Somit müssen die beiden anderen Manuskripteund auch die angeführten Zettel als verloren gelten.In der Handschrift werden von Heidegger sowohl eckige alsauch runde Klammern verwandt. Da sich darin eine betonteStrukturierung des Schriftbildes ausdrückt, wurden sie mit inden Druck übernommen. Generell ist es Maxime der Editiongewesen, so wenig wie möglich und nur so viel als unbedingtnötig in den Heideggerschen Text einzugreifen. Im einzelnenbeziehen sich die editorischen Eingriffe im bereits erläutertenSinne auf die Zeichensetzung. Weiterhin wurden die vonHeidegger zahlreich verwendeten Abkürzungen für den Druck


270 Nachwort des Herausgebersaufgelöst. Ferner wurde, entsprechend Heideggers eigenenWeisungen, die an einigen wenigen Stellen offenkundig ausgefallenenWorte, fast durchweg Hilfsverben, ergänzt. StilistischeGlättungen unterblieben, d. h. die mitunter auftretenden Härten,die Heidegger im Vortrag abgemildert haben mag, bliebensomit im abgedruckten Text erhalten. Offensichtliche Verschreibungenwurden gemäß Heideggers Verfügung stillschweigendberichtigt. Stillschweigend berücksichtigt wurden mit zwei Ausnahmenebenso die von Heidegger vorgenommenen, meist aufeinzelne Worte bezogenen Streichungen. Bei den Ausnahmenhandelt es sich zum einen um eine Kritik an O. Spengler (S. 3),die Heidegger nach der Niederschrift wieder strich und amRand mit dem Kommentar »unnötig!« versah, aber, wie dieNachschriften nahelegen, in der Stunde dann doch vortrug unddeshalb in den Drucktext übernommen wurde. Die zweite Ausnahmebildet eine von Heidegger markierte und mit dem Hinweis»später vorbringen!« versehene absatzstarke Textpassage(S. 310.). Nun fehlt im weiteren Verlauf der Vorlesungshandschriftein entsprechender Einfügungsvermerk und auch dieNachschriften geben hier keine Auskunft, so daß nicht ausgeschlossenwerden kann, daß Heidegger im Vortrag der Stundevon seiner Verschiebungsabsicht wieder Abstand genommen hat,weshalb für die Edition der ursprüngliche Textbestand verbindlichblieb. In diesen beiden Fällen wurden dann auch im Unterschiedzu den sonst durchweg in den Anmerkungen angeführtenSelbstkommentierungen Heideggers die eben genannten Hinweisenicht in den Drucktext aufgenommen.Beim Abfassen seines Textes hat Heidegger bereits Unterstreichungenvorgenommen. Sie sind zum größten Teil keine Verdeutlichungenzum Zweck bloß des mündlichen Vortrages, sonderninhaltlich bezogene Hervorhebungen. Sie wurden deshalbdann auch im Druck durch Kursivschreibung eigens ausgezeichnet.Von der dem Herausgeber von Heidegger in seinen Richtlinieneingeräumten Freiheit, sinnhaltig solche Textauszeichnungenselbst vorzunehmen, wurde nur sparsam Gebrauch gemacht.Nachwort des Herausgebers 271Abgesehen von den mit Tinte erfolgten Unterstreichungen derNiederschrift zeigt die Handschrift vielfältige farbige Unterstreichungen.Heidegger selbst hat in seinen »Leitsätzen« darauf verwiesen,daß es sich häufig dabei um »Lesehilfen« für den Vortraghandelt. Solche farbigen Unterstreichungen können aber auch,wie Heidegger gesprächsweise gegenüber Friedrich -Wilhelmv. Herrmann äußerte, Spuren einer späteren Beschäftigung miteinem Manuskript sein und markieren dann den Bezug, den einfrüherer Text von einer späteren Besinnungsebene aus noch entfaltethat. In beiden Fällen handelt es sich um nachträgliche Bearbeitungsspuren,die für die Edition des ursprünglichen Textbestandesohne Gewicht sind.Die von Heidegger durchweg sehr verkürzt angegebenen Literaturhinweisewurden recherchiert, gängigem Standard entsprechendbibliographisch vervollständigt und dem Text alsFußnoten beigegeben. Dabei konnten für die Überprüfung derZitate wie auch der auf Titel bezogenen Hinweise zum TeilExemplare aus Heideggers Handbibliothek verwandt werden;wo dies nicht möglich war, wurden sie verifiziert anhand der betreffenden1919 zugänglichen Textausgaben.*Das seit dem Kriegsnotsemester 1919 (vgl. GA Bd. 56/57) auchnach außen sichtbar werdende Ringen Heideggers um eineneigenen systematischen Ansatz in der Auseinandersetzung sowohlmit der Tradition als auch mit zeitgenössischen philosophischenStrömungen verleiht auch der vorliegenden Vorlesungihr spezifisches Gepräge. Daß sie dabei mit Blick auf HeideggersDenkweg nicht nur ein entwicklungsgeschichtlich wertvollesZeugnis ist, sondern gerade auch als systematische VorlesungGewicht besitzt, wird durch die Intention der Vorlesung,Phänomenologie als Ursprungswissenschaft vom Leben an undfür sich aufzuweisen, nachhaltig bestätigt. Vieles von dem, wassich später im Umkreis von »Sein und Zeit« und dort selbst ana-


272 Nachwort des Herausgeberslytisch weiter klärte und dann auch begrifflich bis zu terminologischenSprachregelungen hin ausformtc, ist in dieser frühenVorlesung bereits im Schwange. Von daher kann Heideggerdann auch am Ende des § 15 von »Sein und Zeit« in einer Anmerkungdarauf verweisen, »daß er die Umweltanalyse undüberhaupt die >Hermeneutik der Faktizität< des Daseins seitdem W.S. 1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilthat«. Insofern ist die Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie«eben auch nicht nur ein Zeugnis der Suche, sonderndokumentiert bereits ein Sichfinden und -gefundenhaben, dasallerdings entschieden noch zu weiterer Selbstklärung fortdrähgt.Nachwort des Herausgebers 273seine fortwährende und gewinnbringende Gesprächsbereitschaft.In freundschaftlicher Verbundenheit gilt mein DankGräfin Beatrice v. Kornis für ihren großen Anteil am Lesen derKorrektur.Freiburg, im September 1992Hans-Helmuth Gander*In der langen Reihe von Bänden der Gesamtausgabe, für dieMichael Klostermann als Verleger seit 1977 Verantwortungtrug, ist die vorliegende Edition die letzte, die er noch persönlichbetreut hat. Michael Klostermann ist am 8. August 1992 gestorben.Sein Name bleibt mit der Martin Heidegger Gesamtausgabeverbunden.*Für vielfältige Hilfe in Fragen der Entzifferung der Handschriftdanke ich Herrn Dr. Hermann Heidegger, Herrn Dr. HartrnutTietjen, insbesondere auch Herrn Walter v. Kempski und HerrnProf. Dr. Friedrich -Wilhelm v. Herrmann. Ihm danke ich zudemherzlich für die die ganze Editionsarbeit begleitenden zahl- undertragreichen Gespräche. Herrn Prof. Dr. Walter Biemel undHerrn Dr. Guy van Kerckhoven sage ich Dank für ihre großzügigeBereitschaft, Heideggers Stenogramme zu entziffern. HerrnDr. Friedrich Hogemann danke ich für die freundliche Überlassungseiner Transkription der Brechtsehen Vorlesungsnachschrift.Herrn Dr. Mathias Mayer danke ich freundschaftlich für

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!