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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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MARTIN HEIDEGGER<br />

MARTIN HEIDEGGER<br />

GESAMTAUSGABE<br />

H. ABTEILUNG: VORLESUNGEN 1919-1944<br />

EINLEITUNG<br />

IN DIE PHILOSOPHIE<br />

BAND 27<br />

EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE<br />

-<br />

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-<br />

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VITTORIO KLOSTER MANN<br />

FRANKFUR T AM MAIN<br />

VITTORIO KLOSTERMANN<br />

FRANKFURT AM MAIN


Freiburger Vorlesung W<strong>in</strong>tersemester 1928/29<br />

herausgegeben von Otto Saamet und Ina Saame-Speidel<br />

INHALT<br />

EINFÜHRUNG<br />

Die Aufgabe e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

§ 1. Menschse<strong>in</strong> heißt schon philosophieren .................... .<br />

§ 2. E<strong>in</strong>leiten besagt: In Gang br<strong>in</strong>gen des <strong>Philosophie</strong>rens ....... 4<br />

§ 3. Vorverständnis von <strong>Philosophie</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

§ 4. Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> zu Wissenschaft, Weltanschauung<br />

und Geschichte? ........................................ 9<br />

ERSTER ABSCHNITT<br />

PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT<br />

Erstes Kapitel<br />

Was heißt <strong>Philosophie</strong>?<br />

§ 5. Ist <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

§ 6. Antike und neuzeitliche Auffassung von <strong>Philosophie</strong> ......... 19<br />

§ 7. Der Ausdruck "<strong>Philosophie</strong>« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Zweites Kapitel<br />

Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

© Vittorio Klostermann GmbH' Frankfurt am Ma<strong>in</strong> . 1996<br />

Alle Rechte vorbehalten, <strong>in</strong>sbesondere <strong>die</strong> des Nachdrucks und der Übersetzung.<br />

Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, <strong>die</strong>ses Werk oder Teile<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder<br />

unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen<br />

und zu verbreiten.<br />

Satz: Libro, Kriftel<br />

Druck: Hubert & Co., Gött<strong>in</strong>gen<br />

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier' Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany<br />

ISBN 3-465-02892-9 kt . ISBN 3-465-02893-7 Ln<br />

§ 8. Vorläufige Frage nach dem Wesen der Wissenschaft aus ihrer<br />

Krisis ................................................. 26<br />

a) Die Krisis im Verhältnis des E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft ... 27<br />

b) Die Krisis der Wissenschaft h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Stellung im<br />

Ganzen des geschichtlich-gesellschaftlichen Dase<strong>in</strong>s ...... . 30<br />

c) Die Krisis im <strong>in</strong>neren Wesensbau der Wissenschaft selbst .. . 35<br />

§ 9. Neue Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft .......... . 40<br />

a) Wissenschaft als methodische, systematische, exakte und<br />

allgeme<strong>in</strong>gültige Erkenntnis .......................... . 42<br />

b) Wissenschaft und Wahrheit - adaequatio <strong>in</strong>tellectus<br />

ad rem ............................................ .


VI Inhalt Inhalt VII<br />

§ 10 Wahrheü als Satzwahrheit 46 Vzertes Kapltel<br />

a) Der tradltlonelle Wahrheltsbegnff 50 Wahrheu - Dasem - Mlt-sem<br />

b) Wahrheü als Charakter emes Satzes Verbmdung von<br />

Subjekt und Pradlkat 51<br />

~ 15 Entdeckendsem beIm fruhzelthchen und fruhmenschhchen<br />

DaseIn 123<br />

c) Ansatz des Wahrheitsproblems m der AntIke 57<br />

~ 16 Entdecktheü von Vorhandenem und Offenbarkeü<br />

§11 Zum Problem der Subjekt Objekt BezIehung PradikatlVe und des Dasems 126<br />

ventatlVe BezIehung 62<br />

~ 17 DIe Offenbarkelt des Dasems qua Da sem 152<br />

~ 18 Dasem und MIt-sem 157<br />

~ttes Kapuel<br />

§ 19 LeIbmz' MonadologIe und dIe InterpretatlOn des<br />

'ährhelt und Sem<br />

Mltemandersems 142<br />

Vom ursprunghchen Wesen der Wahrheu<br />

als Unverborgenhelt § 20 Gememschaft auf dem Grunde des Müemander 145<br />

§ 12 Das ursprunghche Wesen der WahrheIt 68<br />

Funftes Kapltel<br />

a) Ruckgang hmter dIe Subjekt Objekt BezIehung Der WesensbereLCh der Wahrhelt<br />

das Sem beI 70 und das Wesen der WLSsenschaft<br />

b) Das Sem bel als ExlStenzbestImmung des Dasems 72<br />

§ 21 Zusammenfassung der InterpretatlOn der WahrheIt 149<br />

c) DIe Bekundung des SeIenden m Bewandtmszusammenhangen 75<br />

d) WahrheIt als Unverborgenheü VerschIedene Welsen der ~ 22 DIe Bestimmung des Wesens der WIssenschaft aus dem<br />

Offenbarkeü des SeIenden 78 ursprunghchen Wahrheltsbegnff 156<br />

a) WIssenschaft eme Art von WahrheIt? 158<br />

§ 13 Semsart und Offenbarkelt VerschIedene Se<strong>in</strong>sarten<br />

des SeIenden 83<br />

b) VOTWlSsenschafthches und WIssenschafthches Dasem 160<br />

a) Zusammenvorhandensem - Mltemandersem 86 c) Wlssenschafthche WahrheIt 166<br />

b) MIte<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> SIchverhalten mehrerer zu Selbigem 89 § 23 WISsenschaft als moghche Grundhaltung der menschhchen<br />

c) Selbigkeit 92 EXIstenz Btoe; ih:(J)QT)~L"OC; - VIta contemplatIva 167<br />

d) Das Selbige als Gememsames 97 § 24 DIe ursprunghche ZusammengehongkeIt von Theone und<br />

e) TeIlhaberschaft em Gememsames? 101 PraXIS 1m ih:WQELV als Offenbarmachen des SeIenden 174<br />

f) Vom Semlassen der Dmge 102 ~ 25 Konstruktion des Wesens der WIssenschaft 179<br />

§ 14 WIr teIlen uns m dIe Unverborgenheü des SeIenden 105 a) In der WahrheIt sem um der WahrheIt wIllen 179<br />

a) Mltemandersem 1st em SIchtellen m Wahrheü 107 b) DIe Urhandlung Das Semlassen des SeIenden 183<br />

b) DIe Unverborgenhelt von Vorhandenem 110 § 26 Der Wandel des Selnsverstandmsses 1m WIssenschafthchen<br />

c) DIe Zugehongkett der WahrheIt zum Dasem erklart dIe Entwurf DIe neue BestImmung des SeIenden als Natur 185<br />

WahrheIt nIcht als etwas »SubJektiVIstisches« 113 a) DIe VorgangIgkeü des Verstehens von Sem vor Jedem BegreIfen 190<br />

d) Sem bel Vorhandenem und Mltemandersem gehoren b) Wandel des Semsverstandnlsses em BeIspIel aus<br />

glelChursprunghch zum Wesen des Dasems 117 der PhYSIk 193<br />

e) Das Entdeckendse<strong>in</strong> des DaseIns WahrheIt von c) DIe POSItIVItat der WIssenschaft Der vorganglge, ungegen<br />

Vorhandenem und Zuhandenem als Entdeckthelt 121 standhche, feldabsteckende Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung 196


VIII Inhalt Inhalt IX<br />

&chstes Kapltel<br />

Zum UnterscJued von WLSsenschaft und PJulosophu<br />

e) Welt als Idee der TotalItat der Erschemungen Korrelat der<br />

endhchen menschhchen Erkenntms 288<br />

§ 27 Der Entwurf der Semsverfassung des SeIenden als mnere 1) Idee und Ideal DIe volle BestImmtheit des Weltbegriffs als<br />

ErmoglIchung der POSItIVltat, d h des Wesens der WIssen transzendentales Ideal 290<br />

schaft Vorontologlsches und ontologisches Semsverstandms 198 g) DIe eXIstenzIelle Bedeutung des Weltbegnffs 297<br />

§ 28 OntIsche und ontologische Wahrheit Wahrheit und<br />

Transzendenz des Dasems 205<br />

§ 29 PhIlosophIeren als TranszendIeren gehort zum Wesen des<br />

menschhchen Dasems 214 § 35<br />

Zweltes Kapltel<br />

Weltanschauung und In der Welt sem<br />

Dasem als In der Welt sem 505<br />

§ 50 Der unterschledhche Fragebereich von PhIlosophIe und § 36 Welt als »SpIel des Lebens« 509<br />

§ 51<br />

WIssenschaft 217 a) Das In der Welt sem als ursprunglIches SpIel der<br />

Transzendenz 511<br />

Eme Zusammenfassung des Vorstehenden Semsverstandms<br />

als Urfaktum des Dasems dIe Moghchkelt der ontologIschen<br />

b) Transzendenz qua Semsverstandms als SpIel 515<br />

DIfferenz DIe ontologIsche DIfferenz und der UnterschIed<br />

c) DIe KorrelatIon von Sem und Denken Ihre Verengung m<br />

von PhIlosophIe und WIssenschaft 221 der »logIschen« Auslegung des Semsverstandmsses 517<br />

~ 37 Gewmnung emes konkreteren Verstandmsses der Transzendenz 525<br />

a) Selbsthelt (UmWIllen semer) als Se<strong>in</strong>sbeStImmung des<br />

ZWEITER ABSCHNITT<br />

Dasems DIe Preisgegebenheit als mnere BestImmung des<br />

PHILOSOPHIE UND WELTANSCHAUUNG In der Welt sems 525<br />

b) PrelSgegebenheit als Geworfenhelt 528<br />

Erstes Kapltel<br />

Weltanschauung und Weltbegnff<br />

c) FaktIZItat und Geworfenhelt NIChtIgkeIt und EndlIchkeIt<br />

des Dasems Zerstreuung und Veremzelung 551<br />

§ 52 Was 1st Weltanschauung? 229 d) DIe Halt losigkeIt des In der Welt seIns 557<br />

a) Das Wort >Weltanschauung< 250 § 58 Der Strukturcharakter der Transzendenz 558<br />

b) InterpretatlOnen von Weltanschauung<br />

a) Ruckbhck auf den gewonnenen Strukturcharakter des<br />

DIlthey - Jaspers Scheler 255 In der Welt sems 558<br />

§ 55 Was heIßt Welt? 259 b) Weltanschauung als SIchhalten 1m In der Welt sem 541<br />

a) Der Weltbegnff m der antiken PhIlosophIe und 1m fruhen<br />

Chnstentum 240 Dnttes Kapuel<br />

Das Problem der Weltanschauung<br />

b) Der Weltbegriff m der SchulmetaphysIk 244<br />

~ 39 Grundfragen des prmzlplellen Problems der Weltanschauung 344<br />

§ 34 Kants Weltbegnff<br />

248<br />

a) Weltanschauung als faktIsch ergnffenes In der Welt sem 544<br />

a) Kants Weltbegnff m der »KrItIk der remen Vernunft« 252<br />

b) Der Weltanschauungsbegnff bel DIlthey 546<br />

b) Exkurs Kants Grundlegung der MetaphYSIk 258<br />

a) Die Hauptthesen 258 ~ 40 WIe verhalt SIch Weltanschauung zum PhIlosophIeren? 554<br />

ß) DIe Durchfuhrung 264 a) DIe vulgare Form des Problems Kann und soll dIe Phlloso<br />

c) Exkurs Kants DIalektIk 275 phle eme wIssenschaftlIche Weltanschauung ausbIlden? 554<br />

d) Kants BegrIff der >Idee< 279 b) Zur GeschichtlIchkeIt von Weltanschauungen 556


x<br />

Inhalt<br />

§ 41. Zwei Grundmöglichkeiten der Weltanschauung. . . . . . . . . . . . . . 357<br />

a) Weltanschauung im Mythos: Bergung als Halt im<br />

übermächtigen Seienden selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357<br />

b) Entartung der Bergung: zum Betrieb gewordene<br />

Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363<br />

§ 42. Die andere Grundmöglichkeit: Weltanschauung als Haltung . . . 366<br />

a) Weltanschauung als Haltung und <strong>die</strong> aus ihr entspr<strong>in</strong>gende<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden .................. 366<br />

b) Weltanschauung als Haltung und der Wandel der Wahrheit<br />

als solcher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370<br />

c) Formen der Entartung der Weltary;chauung als Haltung ... 372<br />

§ 43. Zum <strong>in</strong>neren Verhältnis von Weltanschauung als Haltung und<br />

<strong>Philosophie</strong> ........ ~. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376<br />

a) Zur Problematik <strong>die</strong>ses Verhältnisses .................... 376<br />

b) <strong>Philosophie</strong> ist Weltanschauung als Haltung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ausgezeichneten S<strong>in</strong>ne ................................ 379<br />

§ 44. In der Weltanschauung als Haltung bricht das Se<strong>in</strong>sproblem auf 382<br />

a) Das Erwachen des Se<strong>in</strong>sproblems aus der Weltanschauung<br />

im Mythos als Bergung ............................... 383<br />

b) Geschichtliche Formen der Ausbildung von <strong>Philosophie</strong> aus<br />

der Weltanschauung als Bergung und Haftung . . . . . . . . . . . . 386<br />

Viertes Kapitel<br />

Der Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

§ 45. Se<strong>in</strong>sproblem und Weltproblem ........................... 391<br />

a) Die Se<strong>in</strong>sfrage als Frage nach dem Grund und das<br />

Weltproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392<br />

b) Im Se<strong>in</strong>s~ und Weltproblem br<strong>in</strong>gt sich <strong>die</strong> Transzendenz<br />

zur begrifflichen Ausarbeitung ......................... 395<br />

§ 46. <strong>Philosophie</strong> als Grund-h~ltung: Geschehenlassen der<br />

Transzendenz aus ihrem Grunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397<br />

Nachwort der Herausgeber. . . . .. . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403


EINFÜHRUNG<br />

Die Aufgabe e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

§ 1. Menschse<strong>in</strong> heijJt schon philosophieren<br />

Die Aufgabe <strong>die</strong>ser Vorlesung ist e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>.<br />

Wenn Sie <strong>die</strong> Absicht haben, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

e<strong>in</strong>führen zu lassen, dann liegt dem <strong>die</strong> Voraussetzung zugrunde,<br />

daß wir zunächst »außerhalb« der <strong>Philosophie</strong> stehen. Daher<br />

bedarf es e<strong>in</strong>es Weges, der von <strong>die</strong>sem Standort außerhalb der<br />

<strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> das Gebiet der <strong>Philosophie</strong> über- und h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>leitet.<br />

Das sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> so e<strong>in</strong>facher Tatbestand, daß man ihn nur<br />

anzudeuten braucht, um ihn als e<strong>in</strong>en selbstverständlichen Ansatz<br />

der <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> zu verstehen. Der Weg der<br />

<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> solle <strong>in</strong> das Gebiet der <strong>Philosophie</strong> führen. Damit<br />

wir aber <strong>die</strong> Richtung des Weges nicht verfehlen, müssen wir im<br />

voraus das Ziel kennen. Also bedürfen wir schon vor der <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong><br />

und für sie e<strong>in</strong>er vorausgehenden Vorstellung davon,<br />

was <strong>Philosophie</strong> ist. Damit kommt e<strong>in</strong>e Schwierigkeit <strong>in</strong> das<br />

ganze Vorhaben, aber nur sche<strong>in</strong>bar; denn wir s<strong>in</strong>d ja nicht<br />

völlig vom Gebiet der <strong>Philosophie</strong> abgeschnürt. Wir haben gewisse<br />

Kenntnisse von dem, was heute als <strong>Philosophie</strong> gilt bzw.<br />

wir können uns <strong>in</strong> der philosophischen Literatur darüber ungefähr<br />

orientieren, was <strong>Philosophie</strong> bedeutet. Wir haben über<strong>die</strong>s<br />

<strong>in</strong> den Handbüchern der Geschichte der <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong> Mittel,<br />

uns über <strong>die</strong>sen oder jenen Philosophen, <strong>die</strong>ses oder jenes<br />

System Auskunft zu beschaffen. Schwierig wird <strong>die</strong> Aufgabe<br />

freilich wieder, wenn wir vor <strong>die</strong> Entscheidung kommen, welcher<br />

der Philosophen nun maßgebend se<strong>in</strong> soll: Kant oder<br />

Hegel, Leibniz oder Descartes, Platon oder Aristoteles. Aber


D~e Aufgabe emer Emlettung m dle Ph~losoph~e<br />

auch dem ist abzuhelfen, <strong>in</strong>dem wir - und das soll gerade <strong>die</strong><br />

<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> - versuchen, uns über alle Philosophen und <strong>die</strong> ganze<br />

Geschichte der <strong>Philosophie</strong>, m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> den Hauptzügen,<br />

e<strong>in</strong>en Überblick zu verschaffen.<br />

Alle<strong>in</strong>, wir wollen nicht nur e<strong>in</strong>e historische Kenntnis dessen,<br />

was <strong>Philosophie</strong> gewesen ist, sondern wir wollen <strong>die</strong> »Probleme«<br />

des Gebietes der <strong>Philosophie</strong> kennenlernen, <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Problembezirke der philosophischen Diszipl<strong>in</strong>en - Lo<br />

gik, Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik - freilich nicht e<strong>in</strong>ge<br />

hend, aber doch im Umriß, so daß wir sehen, wie <strong>die</strong> Diszipl<strong>in</strong>en<br />

unter sich geordnet s<strong>in</strong>d, wie sie zusammen stehen, wie sie e<strong>in</strong><br />

System der <strong>Philosophie</strong> bilden. Die <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

muß neben der historischen Seite e<strong>in</strong>e systematische<br />

haben, und beide können sich auf das Trefflichste ergänzen.<br />

Wenn wir am Ende des Semesters e<strong>in</strong>e solche historische und<br />

systematische <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> durchlaufen haben, s<strong>in</strong>d wir glück<br />

liche Besitzer von Kenntnissen des historischen und systemati<br />

schen Gebietes der Philos~hie. Freilich will der E<strong>in</strong>druck nicht<br />

ganz schw<strong>in</strong>den, daß <strong>die</strong>ses 'Gebiet zwar sehr mannigfaltig, aber<br />

ebenso unsicher und wechselnd ist; vor allem aber verstärkt sich<br />

das mehr oder m<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>gestandene Gefühl, daß wir mit dem<br />

Gehörten eigentlich nichts anfangen können. »Fachphilosophen«<br />

mögen sich damit beschäftigen und glauben, den Wirrwarr<br />

der Me<strong>in</strong>ungen endlich zu beseitigen.<br />

Wenn solche Bes<strong>in</strong>nung sich regt, ist es freilich schon viel.<br />

Zumeist aber regt sich überhaupt nichts mehr. Man hat auch<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Vorlesung über <strong>Philosophie</strong> gehört - schließlich<br />

darf man se<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Bildung nicht ganz vernachlässigen,<br />

wenngleich es heute viel wichtiger ist, über <strong>die</strong> neu esten Typen<br />

von Rennwagen oder <strong>die</strong> jüngsten Bestrebungen auf dem Gebiet<br />

der Filmkunst Bescheid zu wissen.<br />

So ist <strong>die</strong> Situation gegenüber der <strong>Philosophie</strong>, und sie wird<br />

trotz der vielen <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong>en <strong>in</strong> gewissem Umfang immer so<br />

bleiben. Warum ist sie aber überhaupt trotz der vielen E<strong>in</strong>leItungen<br />

derart? Weil e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> nach der<br />

§ 1. Menschsem heißt schon philosoph~eren 3<br />

besprochenen Art lediglich aus der <strong>Philosophie</strong> h<strong>in</strong>ausleitet, -<br />

nicht nur das, sondern über<strong>die</strong>s <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung erweckt, man sei<br />

nun <strong>in</strong> <strong>die</strong> Philosphie e<strong>in</strong>geführt. Und warum muß <strong>die</strong> gekennzeichnete<br />

übliche <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Philosphie notwendig versagen?<br />

Weil sie <strong>in</strong> ihrem Ansatz auf e<strong>in</strong>er Grundtäuschung<br />

beruht. Der Ansatz geht von der Voraussetzung aus, daß wir, <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geleitet werden sollen, zunächst unseren<br />

Standort außerhalb der <strong>Philosophie</strong> haben und daß <strong>die</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> selbst e<strong>in</strong> Gebiet sei, <strong>in</strong> das h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> der Weg genommen<br />

werden soll (vgl. unten S. 219).<br />

Aber wir s<strong>in</strong>d gar nicht »außerhalb« der <strong>Philosophie</strong>, und das<br />

nicht deshalb etwa, weil wir vielleicht gewisse Kenntnisse über<br />

<strong>Philosophie</strong> mitbr<strong>in</strong>gen. Auch wenn wir von <strong>Philosophie</strong> ausdrücklich<br />

nichts wissen, s<strong>in</strong>d wir schon <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong>, weil<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> uns ist und zu uns selbst gehört, und zwar <strong>in</strong><br />

dem S<strong>in</strong>ne, daß wir immer schon philosophieren. Wir philosophieren<br />

auch dann, wenn wir nichts davon wissen, auch dann,<br />

wenn wir nicht »<strong>Philosophie</strong> treiben«. Wir philosophieren nicht<br />

dann und wann, sondern ständig und notwendig, sofern wir als<br />

Menschen existieren. Als Mensch da se<strong>in</strong>, heißt philosophieren.<br />

Das Tier kann nicht philosophieren; Gott braucht nicht zu philosophieren.<br />

E<strong>in</strong> Gott, der philosophIerte, wäre ke<strong>in</strong> Gott, weil<br />

das Wesen der <strong>Philosophie</strong> ist, e<strong>in</strong>e endliche Möglichkeit e<strong>in</strong>es<br />

endlichen Seienden zu se<strong>in</strong>.<br />

Menschse<strong>in</strong> heißt schon philosophieren. Das menschliche<br />

Dase<strong>in</strong> steht als solches schon, se<strong>in</strong>em Wesen nach, nicht gelegentlich<br />

oder gelegentlich nicht, <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong>. Weil nun<br />

aber das Menschse<strong>in</strong> verschiedene Möglichkeiten, mannigfache<br />

Stufen und Grade der Wachheit hat, kann der Mensch <strong>in</strong> verschiedener<br />

Weise <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> stehen. Entsprechend kann<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als solche verborgen bleiben oder sich bekunden<br />

im Mythos, <strong>in</strong> der Religion, <strong>in</strong> der Dichtung, <strong>in</strong> den Wissenschaften,<br />

ohne daß sie als <strong>Philosophie</strong> erkannt wäre. Weil nun<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als solche sich auch ausdrücklich und eigens<br />

ausbilden kann, sieht es so aus, als stünden <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich


4 D~e Aufgabe emer Emleitung m d~e Ph~losophte<br />

am ausdrücklichen <strong>Philosophie</strong>ren nicht beteiligen, außerhalb<br />

der <strong>Philosophie</strong>.<br />

Wenn nun aber das menschliche Dase<strong>in</strong> wesenhaft schon <strong>in</strong><br />

der <strong>Philosophie</strong> steht, dann wird e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> dem gekennzeichneten<br />

S<strong>in</strong>ne als H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das Gebiet der<br />

<strong>Philosophie</strong> von e<strong>in</strong>ew Standort außerhalb ihrer s<strong>in</strong>nlos. Wozu<br />

dann überhaupt noch e<strong>in</strong>e »<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>«?<br />

Warum dann mit <strong>die</strong>sem Brauch nicht brechen?<br />

§ 2. Emleiten besagt· In Gang br<strong>in</strong>gen des Phdosophierens<br />

Wenn wir uns trotzdem e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> zur<br />

Aufgabe machen, dann muß sie e<strong>in</strong>en anderen Charakter haben.<br />

Zwar sieht es so aus, als stünden wir zunächst außerhalb der<br />

<strong>Philosophie</strong>. Die Frage ist: Wor<strong>in</strong> hat <strong>die</strong>ser Ansche<strong>in</strong> und<br />

Sche<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Grund? Wenn <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> schon <strong>in</strong> unserem<br />

Dase<strong>in</strong> als solchem liegt, dann kann jener Sche<strong>in</strong> nur daraus<br />

entspr<strong>in</strong>gen, daß <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> uns gleichsam schläft. SIe<br />

liegt <strong>in</strong> uns, wenngleich gefesselt und verstrickt; sie ist noch<br />

nicht frei, noch nicht <strong>in</strong> der ihr möglichen Bewegung. Die Philosphie<br />

geschieht nicht <strong>in</strong> uns so, wie sie am Ende geschehen<br />

könnte und sollte.<br />

-IJeshalb bedarf es der <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong>. Aber <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> heißt jetzt<br />

nicht mehr: H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führen von e<strong>in</strong>em Standort außerhalb <strong>in</strong> das<br />

Gebiet der <strong>Philosophie</strong>, sondern E<strong>in</strong>leiten besagt jetzt: <strong>in</strong> Gang<br />

br<strong>in</strong>gen des <strong>Philosophie</strong>rens, <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> uns zum Geschehen<br />

werden lassen. <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> heIßt:<br />

E<strong>in</strong>leiten (<strong>in</strong> Gang br<strong>in</strong>gen) des <strong>Philosophie</strong>rens. Doch wie sol<br />

len wir <strong>die</strong>s bewerkstelligen? Wir können doch nicht durch<br />

irgende<strong>in</strong>en Trick, e<strong>in</strong>e Technik oder Zauberei <strong>in</strong> den Zustand<br />

des <strong>Philosophie</strong>rens versetzt werden.<br />

Die <strong>Philosophie</strong> soll <strong>in</strong> uns frei werden, d. h. sie soll zur <strong>in</strong>neren<br />

Notwendigkeit unseres eigensten Wesens werden, dergestalt,<br />

daß sie <strong>die</strong>sem Wesen se<strong>in</strong>e eigenste Würde gibt. Was aber<br />

§ 2. In Gang bnngen des Phdosoph~erens 5<br />

so <strong>in</strong> uns frei werden soll, müssen wir <strong>in</strong> unsere Freiheit aufnehmen,<br />

wir müssen selbst das <strong>Philosophie</strong>ren <strong>in</strong> uns frei<br />

ergreifen und erwecken.<br />

Aber hierzu müssen wir es doch schon wieder kennen; wir<br />

bedürfen e<strong>in</strong>es Vorverständnisses der <strong>Philosophie</strong>. So könnte es<br />

se<strong>in</strong>, daß wir uns an <strong>die</strong> Geschichte der <strong>Philosophie</strong> halten<br />

müssen. Vielleicht ist <strong>die</strong> Geschichte, aber nicht nur <strong>die</strong> der<br />

philosophischen Literatur, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr viel ursprünglicheren<br />

S<strong>in</strong>ne wesentlich für das <strong>Philosophie</strong>ren. Es wäre, aus Gründen,<br />

<strong>die</strong> wir noch e<strong>in</strong>sehen werden, e<strong>in</strong> grober Irrtum zu me<strong>in</strong>en, wir<br />

könnten je unter völliger Abwerfung der geschichtlichen Überlieferung<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> ausbilden.<br />

Aber aus all dem folgt nicht, daß der übliche Weg e<strong>in</strong>er historischen<br />

Übersicht über <strong>die</strong> Geschichte der <strong>Philosophie</strong> irgend<br />

etwas Wesentliches leisten könnte für unsere Absicht, das <strong>Philosophie</strong>ren<br />

e<strong>in</strong>zuleiten. Kenntnisse, und gar umfassende gelehrte<br />

Kenntnisse darüber erwerben, was und wie Philosophen<br />

gedacht haben, mag von Nutzen se<strong>in</strong>, aber nur nicht für das<br />

<strong>Philosophie</strong>ren. Im Gegenteil: Der Besitz von Kenntnissen über<br />

<strong>Philosophie</strong> ist <strong>die</strong> Hauptursache der Täuschung, man sei damit<br />

zum <strong>Philosophie</strong>ren gelangt.<br />

Wie anders aber läßt sich e<strong>in</strong> Vorverständnis der <strong>Philosophie</strong><br />

gew<strong>in</strong>nen, dessen wir bedürfen, wenn das <strong>Philosophie</strong>ren nicht<br />

e<strong>in</strong> bl<strong>in</strong>der Vorgang, sondern e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Freiheit ergriffenes Handeln<br />

se<strong>in</strong> soll? Dieses Vorverständnis der <strong>Philosophie</strong> müssen<br />

wir offenbar <strong>in</strong> der Weise suchen, <strong>die</strong> uns durch das Wesen des<br />

<strong>Philosophie</strong>rens schon vorgezeichnet ist. Wir wissen darüber<br />

jetzt nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Behauptung: Das <strong>Philosophie</strong>ren gehört<br />

zum menschlichen Dase<strong>in</strong> als solchem. In <strong>die</strong>sem als<br />

solchem geschieht es und hat es se<strong>in</strong>e Geschichte (vgl. unten<br />

S.226).<br />

Im Dase<strong>in</strong> soll <strong>Philosophie</strong>ren <strong>in</strong> Gang kommen. Aber<br />

menschliches Dasem existiert ja nicht und nie so im allgeme<strong>in</strong>en,<br />

sondern jedes Dase<strong>in</strong> existiert, wenn es existiert, als es<br />

selbst. In unserem Dase<strong>in</strong> selbst soll das <strong>Philosophie</strong>ren zum


6 Dle Aufgabe emer Emleuung <strong>in</strong> dw Phdosophle<br />

Geschehen gebracht werden. In unserem Dase<strong>in</strong> ~ aber auch<br />

nicht so im allgeme<strong>in</strong>en, sondern <strong>in</strong> unserem Dase<strong>in</strong> jetzt und<br />

hier, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Augenblick und <strong>in</strong> den Perspektiven, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Augenblick hat, <strong>in</strong> dem wir uns anschicken, von der PhilosophIe<br />

zu handeln. In uns soll <strong>Philosophie</strong> frei werden, <strong>in</strong> uns <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Lage. In welcher? In derjenigen, <strong>die</strong> jetzt <strong>die</strong> Existenz unseres<br />

Dase<strong>in</strong>s, d. h. das Wählen, Wollen, Tun und Lassen primär und<br />

wesentlich bestimmt.<br />

§ 3. Vorverständnis von <strong>Philosophie</strong><br />

Wodurch ist jetzt unsere ganze Existenz entscheidend bestimmt?<br />

Dadurch, daß wir das Bürgerrecht an der Universität beanspruchen.<br />

Mit <strong>die</strong>sem Anspruch aber haben wir unserem Dase<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>dung gegeben; mit <strong>die</strong>ser B<strong>in</strong>dung ist <strong>in</strong> unser Dase<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Richtung geschlagen, <strong>in</strong> unserem Dase<strong>in</strong> hat<br />

sich etwas entschieden. Das kann entweder <strong>in</strong> der Klarheit über<br />

~sere Existenz geschehen oder auch nicht - wir können aus<br />

Konvention, sogar aus Verlegenheit <strong>in</strong> den Dase<strong>in</strong>skreis der Universität<br />

geraten se<strong>in</strong>.<br />

Wenn wir uns hier nicht lediglich herumtreiben, teils um<br />

allerlei brauchbare D<strong>in</strong>ge zu lernen, teils um uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen<br />

Form zu amüsieren, dann muß sich <strong>in</strong> uns etwas entschieden<br />

haben. Jede Entscheidung der Existenz ist e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> dIe<br />

Zukunft des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Was hat sich entschieden? Unser Beruf. Unter Beruf verstehen<br />

wir aber nicht <strong>die</strong> äußere Lebensstellung und gar ihre E<strong>in</strong>stufung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte und gar gehobene Gesellschaftsklassf'.<br />

Unter Beruf verstehen wir <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Aufgabe, <strong>die</strong> sich das<br />

Dase<strong>in</strong> im Ganzen und Wesentlichen se<strong>in</strong>er Existenz vorgIbt.<br />

Die geschichtliche faktische Auswirkung des Berufs bedarf immer<br />

e<strong>in</strong>er äußeren Lebensstellung, aber erstlich und letztlich<br />

bleibt <strong>die</strong>se von nachgeordneter Bedeutung.<br />

Inwiefern haben wir aber unserem Dase<strong>in</strong> mit dem Anspruch<br />

§}. Vorverstandms von Phllosophle 7<br />

auf das akademische Bürgerrecht e<strong>in</strong>en besonderen Beruf gegeben?<br />

Mit <strong>die</strong>sem Anspruch ~ sofern wir ihn überhaupt verstehen<br />

- haben wir <strong>die</strong> Verpflichtung <strong>in</strong> unser Dase<strong>in</strong> gepflanzt,<br />

im jeweiligen Ganzen des geschichtlichen Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s so<br />

etwas wie e<strong>in</strong>e Führerschaft zu übernehmen. Darunter verstehen<br />

wir nicht <strong>die</strong> äußere Übernahme e<strong>in</strong>es sogenannten leitenden<br />

Postens im Gebiet des öffentlichen Lebens, nicht, daß wir<br />

vielleicht da und dort <strong>die</strong> Rolle des Vorgesetzten oder Direktors<br />

spielen, sondern Führerschaft ist <strong>die</strong> Verpflichtung zu e<strong>in</strong>er Existenz,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise <strong>die</strong> Möglichkeiten menschlichen<br />

Dase<strong>in</strong>s im Ganzen und Letzten ursprünglicher versteht und <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Verstehen Vorbild se<strong>in</strong> soll. Um das zu se<strong>in</strong>, ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

erforderlich, daß jemand zu den Prom<strong>in</strong>enten gehört.<br />

Noch weniger aber schließt <strong>die</strong>se Führerschaft schon ohne weiteres<br />

irgend e<strong>in</strong>e moralische Überlegenheit gegenüber anderen<br />

<strong>in</strong> sich - im Gegenteil, <strong>die</strong> Verantwortung, <strong>die</strong> gerade solche<br />

unkontrollierbare und schlechth<strong>in</strong> unöffentliche Führerschaft<br />

bei sich trägt, ist e<strong>in</strong>e ständige und verschärfte Gelegenheit zum<br />

moralischen Versagen des E<strong>in</strong>zelnen.<br />

Warum liegt nun aber gerade <strong>in</strong> der wirklichen Zugehörigkeit<br />

zur Universität e<strong>in</strong> eigener Anspruch auf solche Führerschaft?<br />

Er ergibt sich daraus, daß <strong>die</strong> Universität durch <strong>die</strong><br />

Pflege der wissenschaftlichen Forschung und <strong>in</strong> der Mitteilung<br />

e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Bildung dem Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

ZU e<strong>in</strong>er neuen Stellung im Ganzen der Welt bereitlegt, <strong>in</strong> der<br />

alle Bezüge des Dase<strong>in</strong>s zum Seienden e<strong>in</strong>e Wandlung erfahren<br />

und es <strong>in</strong> neuer Wf'ise allen D<strong>in</strong>gen verwandter werden kann,<br />

nicht muß, weil e<strong>in</strong>e eigene Durchsichtigkeit und Aufklärung<br />

<strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong> kommt.<br />

Daß wir mehr wissen als andere und manches besser, daß wir<br />

<strong>in</strong> den Besitz von Berechtigungs- und Examenssche<strong>in</strong>en kommen,<br />

ist völlig belanglos. Daß aber das ganze Dase<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>em<br />

<strong>in</strong>neren Vorzug durchwaltet wird, den an sich ke<strong>in</strong>er von uns<br />

sich ver<strong>die</strong>nt hat, daß also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglicheren Grunde<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> uns <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er unauffälligen und


8 Die Aufgabe e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

darum aber umso wirksameren Führerschaft im Ganzen der<br />

menschlichen Geme<strong>in</strong>schaft ausbildet, bestimmt den Augenblick<br />

unseres jetzigen Dase<strong>in</strong>s.<br />

Wissenschaft und Führerschaft, beide <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>heit, s<strong>in</strong>d<br />

demnach <strong>die</strong> Mächte, unter <strong>die</strong> jetzt unser Dase<strong>in</strong> - wenn es<br />

überhaupt irgende<strong>in</strong>e Helle hat - gestellt ist, nicht im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er flüchtigen Episode, sondern als e<strong>in</strong> ~lniI).aliges Stadium,<br />

das <strong>die</strong> E<strong>in</strong>zigkeit unseres Dase<strong>in</strong>s wesentlich besTImmt. Wenn<br />

wir <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> unserem Dase<strong>in</strong> hier und jetzt frei werden<br />

lassen wollen und wenn es <strong>die</strong> Aufgabe des E<strong>in</strong>leitens ist,<br />

das <strong>Philosophie</strong>ren <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen, dann werden wir auch<br />

aus <strong>die</strong>ser Situation heraus e<strong>in</strong> gewisses Verständnis dessen gew<strong>in</strong>nen,<br />

was <strong>Philosophie</strong> besagt. Dieses Vorverständnis, das wir<br />

zunächst benötigen, müssen wir aus e<strong>in</strong>er Aufhellung des Wesens<br />

der <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zu Wissenschaft und<br />

Führerschaft schöpfen.<br />

Führerschaft bestimmt den Beruf Ihres Dase<strong>in</strong>s, schon e<strong>in</strong>zig<br />

deshalb, weil Sie jetzt an der Universität existieren. Führerschaft<br />

bedeutet aber hier: das Verfügen über höhere und reichere<br />

Möglichkeiten menschlicher Existenz, <strong>die</strong> den anderen nicht<br />

aufgedrängt, wohl aber unaufdr<strong>in</strong>glich und so e<strong>in</strong>zig wirksam<br />

vor-gelebt werden. Diese verborgene Vorbildlichkeit echter<br />

Führerschaft bedarf aber ihrer eigenen Klarheit und Sicherheit,<br />

d. h. das Dase<strong>in</strong> bedarf selbst e<strong>in</strong>er ständig sich erneuernden<br />

Bes<strong>in</strong>nung auf <strong>die</strong> Grundstellungen des Dase<strong>in</strong>s zum Ganzen<br />

des Seienden, e<strong>in</strong>e Bes<strong>in</strong>nung aber, <strong>die</strong> sich unmittelbar aus der<br />

jeweiligen geschichtlichen Lage des Dase<strong>in</strong>s bestimmt und <strong>in</strong><br />

sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> sich auswirkt. Was so <strong>in</strong> der Führerschaft - freilich<br />

nicht nur <strong>in</strong> ihr - liegt, nennen wir Welt-anschauung.<br />

So besagt <strong>die</strong> Aufgabe, e<strong>in</strong> Vorverständnis von <strong>Philosophie</strong><br />

aus den jetzt unser Dase<strong>in</strong> bestimmenden Mächten zu gew<strong>in</strong>nen,<br />

nichts anderes als <strong>die</strong> Frage zu stellen: Wie verhält sich<br />

<strong>Philosophie</strong> zu Führerschaft, Weltanschauung und Wissenschaft?<br />

§ 4. Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> zu Wissenschaft,<br />

Weltanschauung und Geschichte?<br />

Wir werden im besonderen zu fragen haben: Ist <strong>Philosophie</strong><br />

e<strong>in</strong>e Wissenschaft unter anderen Wissenschaften oder ist sie <strong>die</strong><br />

»allgeme<strong>in</strong>e« Wissenschaft im Unterschied zu den E<strong>in</strong>zelwissenschaften<br />

oder ist sie <strong>die</strong> »Grundwissenschaft« gegenüber den<br />

abgeleiteten Wissenschaften oder ist sie überhaupt ke<strong>in</strong>e Wissenschaft,<br />

d. h. <strong>in</strong> ihrem Wesen gar nicht zu treffen, wenn sie<br />

unter dem allgeme<strong>in</strong>en Begriff Wissenschaft untergebracht<br />

und e<strong>in</strong>geordnet wird?<br />

Entsprechend werden wir bezüglich <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

zu fragen haben: Ist es Aufgabe der <strong>Philosophie</strong>,<br />

e<strong>in</strong>e Weltanschauung auszubilden, ist sie <strong>die</strong> Lehre von solchen<br />

oder hat sie primär mit Welt-bildung nichts zu schaffen? Beruht<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> auf e<strong>in</strong>er Weltanschauung, oder ist <strong>die</strong>ser Zusammenhang<br />

überhaupt nicht entscheidend?<br />

Schließlich nehmen wir beide Fragegruppen zusammen: Ist<br />

<strong>Philosophie</strong> entweder Wissenschaft oder Weltanschauung, oder<br />

ist <strong>Philosophie</strong> sowohl Wissenschaft als auch Weltanschauung,<br />

oder ist <strong>Philosophie</strong> weder Wissenschaft noch Weltanschauung?<br />

Aber all <strong>die</strong>se Fragen über das Verhältnis von <strong>Philosophie</strong> und<br />

Wissenschaft, <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung, Wissenschaft<br />

und Weltanschauung wollen wir nicht so erörtern, daß wir<br />

gleichsam feste Größen gegene<strong>in</strong>ander halten - wir wissen ja<br />

noch gar nicht, was <strong>Philosophie</strong> ist. Vielmehr fragen wir, ausgehend<br />

von den bestimmenden Mächten Wissenschaft und<br />

Weltanschauung, was sie selbst besagen, warum gerade zu ihnen<br />

<strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> Beziehung gebracht wird und mit welchem<br />

Recht. So gew<strong>in</strong>nen wir e<strong>in</strong> erstes Vorverständnis der <strong>Philosophie</strong><br />

aus den uns bestimmenden Mächten, d. h. im Rückgang<br />

auf unser Dase<strong>in</strong> selbst.<br />

In <strong>die</strong>sen Erörterungen, <strong>die</strong> zugleich <strong>die</strong> Situation unseres<br />

jetzigen Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Grundzügen durchsichtig machen<br />

sollen, werden wir durchgängig auf e<strong>in</strong>en Zusammenhang sto-


10 Die Aufgabe emer Emleltung m <strong>die</strong> Phdosophie<br />

ßen, dem wesentliche Bedeutung zukommt: Die <strong>Philosophie</strong><br />

und das <strong>Philosophie</strong>ren, gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Selbstbes<strong>in</strong>nung, werden<br />

immer wieder zurückgeworfen auf das, was wir Geschichte<br />

nennen, zumal <strong>Philosophie</strong> sich uns zunächst <strong>in</strong> und durch di!t<br />

historische Überlieferung darbietet. Mit Geschichte me~'n~e . ch<br />

hier nicht <strong>die</strong> Geschichtswissenschaft, sondern das Ges ehen<br />

des Dase<strong>in</strong>s selbst. Es wird sich zeigen, daß mcht nur . e <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigentümlichen <strong>in</strong>neren Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der Geschichte steht.<br />

Wir hörten schon, daß <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> sich uns immer schon<br />

als <strong>in</strong> gewisser Weise bekannt anbietet, <strong>in</strong> und durch ihre Geschichte,<br />

besser: <strong>in</strong> der historischen Überlieferung. Dasselbe gilt<br />

aber von der Wissenschaft und der Weltanschauung, und sie<br />

beide s<strong>in</strong>d, jede <strong>in</strong> ihrer Weise, von Grund aus geschichtlich.<br />

Das besagt aber:<br />

Unserer Betrachtung über <strong>Philosophie</strong> und Wissenschaft,<br />

<strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung liegt zugleich <strong>die</strong> Frage zu<br />

grunde: Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> überhaupt zur Geschichte,<br />

d. h. zu der Wesensbestimmung des menschlichen Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst, das <strong>in</strong> sich geschichtlich ist?<br />

Somit stehen wir vor drei Gruppen von Fragen:<br />

1. Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> zu Wissenschaft?<br />

H. Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> zu Weltanschauung?<br />

III. Wie verhält sich <strong>Philosophie</strong> zu Geschichte?<br />

Die Erörterung <strong>die</strong>ser drei Fragegruppen kennzeichnet das<br />

erste Stadium, das wir durchlaufen, um dabei das PhilosophIeren<br />

<strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Wir wollen hier nicht <strong>Philosophie</strong> lernen, wir wollen mcht<br />

unser Fachstudium noch durch e<strong>in</strong> weiteres Fach vermehren,<br />

schon deshalb nicht, weil <strong>Philosophie</strong> gar ke<strong>in</strong> »Fach« ist. <strong>Philosophie</strong>ren<br />

ist ke<strong>in</strong>e Sache der Geschicklichkeit und Technik,<br />

freilich ebensowenig e<strong>in</strong> Spiel von undiszipl<strong>in</strong>ierten E<strong>in</strong>fällen.<br />

<strong>Philosophie</strong> ist <strong>Philosophie</strong>ren und nichts weiter. Dieses E<strong>in</strong>fache<br />

gilt es zu begreifen.<br />

Wir sagten: Das Dase<strong>in</strong> steht nicht und nie außerhalb der<br />

§ 4. <strong>Philosophie</strong> - Wissenschaft, Weltanschauung, Geschichte 11<br />

<strong>Philosophie</strong>, sondern <strong>die</strong>se gehört zum Wesen der Existenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s. Also müssen wir sie im Dase<strong>in</strong> selbst <strong>in</strong> Gang br<strong>in</strong>gen;<br />

also bedarf es e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>gehens auf das Dase<strong>in</strong>, das wir jeweils<br />

selbst s<strong>in</strong>d. So sche<strong>in</strong>t es, als gerieten wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e psychologische<br />

Selbstbetrachtung, als käme das <strong>Philosophie</strong>ren darauf h<strong>in</strong>aus,<br />

e<strong>in</strong>e egoistische Beschäftigung mit sich selbst, e<strong>in</strong>e Zergliederung<br />

des eigenen Seelenlebens zu werden.<br />

• Zunächst nur so viel negativ: Das Freimachen des <strong>Philosophie</strong>rens<br />

im Dase<strong>in</strong> hat mit e<strong>in</strong>er psychologischen und gar<br />

egoistischen Selbstbegaffung nichts zu tun. Aber ebensowenig<br />

ist das Freiwerdenlassen des <strong>Philosophie</strong>rens <strong>in</strong> uns e<strong>in</strong>e moralisch-erbauliche<br />

Betulichkeit um das eigene Ich.<br />

Mit all dem haben <strong>die</strong>se Überlegungen aber nichts zu tun.<br />

Weder um Psychologie noch um Moral handelt es sich. Wohl<br />

kommt das Dase<strong>in</strong> bei <strong>die</strong>sen Überlegungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> eigenes Zentrum,<br />

aber <strong>die</strong>ser sogenannte anthropozentrische Standpunkt<br />

hat etwas Merkwürdiges. In <strong>die</strong>ser anthropozentrischen Betrachtung<br />

werden wir zur E<strong>in</strong>sicht kommen, daß <strong>die</strong>ses Wesen<br />

Mensch, das da angeblich <strong>in</strong> sich selbst verliebt im Zentrum<br />

steht, se<strong>in</strong>em Innersten nach ex-zentrisch ist, das heißt gerade<br />

dem Wesen se<strong>in</strong>er Existenz nach nie objektiv im Zentrum des<br />

Seienden stehen kann. Denn das wird gerade das <strong>Philosophie</strong>ren<br />

offenbar machen, daß dar<strong>in</strong> der Mensch aus sich selbst und<br />

über sich selbst h<strong>in</strong>ausgeworfen wird und ganz und gar nicht<br />

das Eigentum se<strong>in</strong>er selbst ist. Damit <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>sicht, daß das<br />

Dase<strong>in</strong> sich nicht als Zentrum hat, wirklich gewonnen wird,<br />

muß es gerade <strong>in</strong> gewisser Weise <strong>in</strong>s Zentrum kommen.<br />

Der Subjektivismus wird nicht dadurch überwunden, daß<br />

man sich über ihn moralisch empört, sondern dadurch, daß man<br />

das Problem des Subjekts, d.h. <strong>die</strong> Frage nach der Subjektivität<br />

des Subjekts wirklich und radikal stellt. So liegt denn e<strong>in</strong>e große<br />

Wahrheit <strong>in</strong> der Forderung, <strong>die</strong> schon <strong>die</strong> antike <strong>Philosophie</strong><br />

aussprach: rvGrlh OEUU"!:OV, erkenne dich selbst, d. h. erkenne, was<br />

du bist, und sei, als was du dich erkannt hast. Diese Selbst<br />

erkenntnis als Erkenntnis der Menschheit im Menschen, d. h.


12 Die Aufgabe emer Emleaung m <strong>die</strong> Phllosophle<br />

des Wesens des Menschen, ist <strong>Philosophie</strong> und so fern von Psychologie,<br />

Psychoanalyse und Moral wie nur möglich. Bei e<strong>in</strong>er<br />

solchen Bes<strong>in</strong>nung auf das eigene Dase<strong>in</strong> kann sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

e<strong>in</strong>stellen, daß wir <strong>die</strong> totale Nichtigkeit menschlichen Wesens<br />

von Grund aus erfassen.<br />

Das erste Stadium unserer <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> ist also durch drei Fragen<br />

bestimmt: Verhältnis der <strong>Philosophie</strong> zu Wissenschaft, zu<br />

Weltanschauung, zu Geschichte. Wir beg<strong>in</strong>nen mit der ersten<br />

Frage.<br />

ERSTER ABSCHNITT<br />

PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT<br />

ERSTES KAPITEL<br />

Was heißt <strong>Philosophie</strong>?<br />

§ 5. Ist <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e Wissenschaft?!<br />

Die Wissenschaft ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e von den Mächten, <strong>die</strong> das bestimmen,<br />

was wir gewissermaßen <strong>die</strong> Atmosphäre der Universität<br />

nennen können. Wissenschaften s<strong>in</strong>d aber nicht e<strong>in</strong>e Ansammlung<br />

von Wissen, das fachlich-technisch gelehrt und gelernt<br />

)Vird, sondern zum Begriff der Wissenschaft gehört primär, daß<br />

sie Forschung ist. Wissenschaft existiert nur <strong>in</strong> der Leidenschaft<br />

des Fragens, im Enthusiasmus des Entdeckens, <strong>in</strong> der Unerbittlichkeit<br />

des kritischen Rechenschaftsablegens, der Ausweisung<br />

und Begründung.<br />

Es ist nicht nur e<strong>in</strong>e äußere Eigentümlichkeit der deutschen<br />

Universität, sondern ihr <strong>in</strong>nerer Vorzug und <strong>die</strong> Kraftquelle<br />

ihres geschichtlichen Dase<strong>in</strong>s, daß sie ke<strong>in</strong>e Fachschule ist, sondern<br />

daß auch das benötigte Fachwissen im Durchgang durch<br />

<strong>die</strong> forschende Arbeit angeeignet wird, im mehr oder m<strong>in</strong>der<br />

ernsthaften und e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genden Mitgehen mit den Problemen,<br />

<strong>in</strong> denen <strong>die</strong> Wissenschaft gerade steht.<br />

Weil <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise <strong>die</strong> Universität bestimmt<br />

und <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> wie e<strong>in</strong> Fach unter anderen gelehrt<br />

wird, fragen wir nach dem Verhältnis der <strong>Philosophie</strong> zu den<br />

1 Vgl. unten S. 217-221.


14 Was heifJt Phllosophle?<br />

Wissenschaften. Ist sie e<strong>in</strong> Fach unter den anderen, oder ist SIe<br />

dadurch ausgezeichnet, daß sie <strong>die</strong> Allgeme<strong>in</strong>wissenschaft ist?<br />

Oder ist sie gar nicht nur <strong>die</strong> Wissenschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> übrigen<br />

zusammenfaßt, sondern <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> sie sogar begründet, <strong>die</strong><br />

Grund -wissenschaft?<br />

All <strong>die</strong>se Fragen bewegen sich auf dem Boden der allgeme<strong>in</strong>en<br />

Voraussetzung, daß <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

sei. In der Tat ist es e<strong>in</strong> Charakteristikum der neuzeitlichen<br />

<strong>Philosophie</strong> seit Descartes, daß sie <strong>in</strong> immer neuen<br />

Anläufen versucht, sich zum Range e<strong>in</strong>er Wissenschaft, ja zu der<br />

absoluten Wissenschaft zu erheben. Von den besonderen Fragen,<br />

wie <strong>Philosophie</strong> zu den übrigen Wissenschaften sich verhalte,<br />

müssen wir absehen und zunächst <strong>die</strong> Frage entscheiden: Ist<br />

<strong>Philosophie</strong> überhaupt e<strong>in</strong>e Wissenschaft? Hat es e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n,<br />

von wissenschaftlicher <strong>Philosophie</strong> zu sprechen, PhilosophIe<br />

»als strenge Wissenschaft« begründen zu wollen?<br />

Auf <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e Wissenschaft sei, ist<br />

vorwegnehmend zu sagen: Ne<strong>in</strong>, <strong>Philosophie</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wissen<br />

schaft. Ist also <strong>Philosophie</strong> von Hause aus unwissenschaftlich,<br />

gehört sie nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Universität, also haben <strong>die</strong>jenigen recht,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> Nachahmung von Schopenhauer und Nietzsche <strong>die</strong> soge<br />

nannte »Universitätsphilosophie« für e<strong>in</strong> höchst fragwürdiges<br />

Gebilde halten? Ja und ne<strong>in</strong>. Ist dann <strong>die</strong> Bemühung der neuzeitlichen<br />

<strong>Philosophie</strong> von Descartes über Kant und Hegel bis<br />

zu Husserl, <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> zum Range e<strong>in</strong>er Wissenschaft zu<br />

erheben, nicht nur vergeblich, sondern von Grund aus <strong>in</strong> ihrer<br />

Absicht irrig? Ja und ne<strong>in</strong>. Ist denn der Titel »wissenschaftliche<br />

<strong>Philosophie</strong>« so widers<strong>in</strong>nig wie der Begriff »hölzernes Eisen«?<br />

Ja und ne<strong>in</strong>. Wird durch <strong>die</strong> These ><strong>Philosophie</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wis<br />

senschaft< nicht gerade auch <strong>die</strong> Anstrengung geleugnet und<br />

verleugnet, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Phänomenologie seit Jahrzehnten macht,<br />

um <strong>die</strong> »<strong>Philosophie</strong> als strenge Wissenschaft« - so lautet der<br />

Titel e<strong>in</strong>es bekannten Aufsatzes von Husserl im »Logos« I, 1910<br />

- zu begründen? Ja und ne<strong>in</strong>.<br />

Unsere These: ><strong>Philosophie</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wissenschaft< bleibt also<br />

/<br />

/§ 5. Ist Phllosophle e<strong>in</strong>e Wlssenschaft? 15<br />

zunächst zwerqeutig und muß es se<strong>in</strong>, solange sie sich nur ne­<br />

.gativ ausspricht und nur allgemei~ sagt, was ~hilos~phie nicht<br />

ist. Vielleicht folgt daraus, daß PhIlosophIe mcht WIssenschaft<br />

ist, ke<strong>in</strong>eswegs, daß sie »un-wissenschaftlich« se<strong>in</strong> müßte oder<br />

auch nur dürfte.<br />

Aber was besagt nun <strong>die</strong>se These: <strong>Philosophie</strong> ist nicht Wissenschaft?<br />

Zunächst soviel: <strong>Philosophie</strong> kann nicht dem Begriff<br />

Wissenschaft als höhere Gattung untergeordnet werden. So wie<br />

wir mit Recht sagen: Rot ist e<strong>in</strong>e Farbe, grün ist e<strong>in</strong>e Farbe bzw.<br />

Physik ist e<strong>in</strong>e Wissenschaft, Philologie ist e<strong>in</strong>e Wissenschaft, so<br />

können wir nicht sagen: <strong>Philosophie</strong> ist e<strong>in</strong>e Wissenschaft.<br />

Wenn wir aber so beherzt erklären: ><strong>Philosophie</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wissenschaft


16 Was heifJt Philosophle?<br />

phie sei mit dem Mangel der Unwissenschaftlichkeit behaftet.<br />

Wenn etwas nicht Wissenschaft se<strong>in</strong> kann und nicht se<strong>in</strong> soll,<br />

dann kann ihm <strong>die</strong> Unwissenschaftlichkeit nicht als Gebrechen<br />

zugerechnet werden. Aber wir hörten schon: ><strong>Philosophie</strong> ist<br />

nicht Wissenschaft< besagt nicht, sie sei unwissenschaftlich,<br />

wenn unwissenschaftlich besagt: gegen <strong>die</strong> Normen und Me<br />

thoden der Wissenschaft verstoßend. Nicht unwissenschaftlich,<br />

weil auch nicht »wissenschaftlich« ~ ke<strong>in</strong>e möglichen Prädikate<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em primären S<strong>in</strong>ne. Nur das e<strong>in</strong>e ist vorläufig deutlich.<br />

Die These sagt: <strong>Philosophie</strong> gehört nicht unter <strong>die</strong> »Gattung«<br />

Wissenschaft, wenn wir e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong>sen formallogischen Term<strong>in</strong>us<br />

gebrauchen dürfen.<br />

Aber so e<strong>in</strong>deutig <strong>die</strong>se Auskunft ist, sie befriedigt nicht angesichts<br />

des geschichtlichen Faktums, daß Denker wie Kant und<br />

Hegel sich bemühten, <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> zum Rang e<strong>in</strong>er Wissenschaft<br />

zu erheben. Vielleicht ist das Verhältnis der <strong>Philosophie</strong><br />

zur Wissenschaft, gerade wenn <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> etwas auf nichts<br />

anderes Zurückführbares ist, e<strong>in</strong> ganz eigentümliches, das wir<br />

mit der Erklärung »<strong>Philosophie</strong> fällt nicht unter <strong>die</strong> Gattung<br />

Wissenschaft« längst nicht erfaßt haben.<br />

In der Tat, <strong>Philosophie</strong> ist nicht deshalb ke<strong>in</strong>e Wissenschaft,<br />

weil sie an das Ideal e<strong>in</strong>er Wissenschaft nicht heranreichte,<br />

darunter zurückbleiben müßte, weil ihr das, was Wissenschaft<br />

als solche bestimmt, fehlte, sondern weil ihr das, was <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgeleiteten S<strong>in</strong>ne hat, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ursprünglichen<br />

Weise zukommt. <strong>Philosophie</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

~ nicht aus Mangel, sondern sie kann nicht Wissenschaft<br />

se<strong>in</strong> aus Überfluß, der dabei e<strong>in</strong> grundsätzlicher ist, nicht nur<br />

e<strong>in</strong> quantitativer.<br />

Wir sagten schon, der Ausdruck »wissenschaftliche <strong>Philosophie</strong>«<br />

sei ebenso wie der Ausdruck »hölzernes Eisen« zweideutig.<br />

Weit besser entspricht dem Ausdruck »wissenschaftliche<br />

<strong>Philosophie</strong>« <strong>die</strong> Bezeichnung »rundlicher Kreis«. Hier wird<br />

dem Kreis etwas zugesprochen, was ihm nicht zukommt; denn<br />

der Kreis ist eben nicht rundlich d.h. nur <strong>in</strong> etwa rund, sondern<br />

§ 5. Ist Phllosophle e<strong>in</strong>e Wlssenschaft) 17<br />

er ist schlechth<strong>in</strong> rund. Dem Kreis wird aber auch etwas zugesprochen,<br />

was gerade ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgezeichneten S<strong>in</strong>ne<br />

zukommt, sofern er <strong>die</strong> Idee des Runden vollkommen repräsentiert.<br />

Entsprechend wird <strong>in</strong> dem Ausdruck »wissenschaftliche<br />

<strong>Philosophie</strong>« der <strong>Philosophie</strong> etwas zugesprochen, was ihr nicht<br />

zukommt ~ sie ist nie lediglich e<strong>in</strong>e Wissenschaft; zugleich wird<br />

ihr aber etwas zugesprochen, was sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglichen<br />

S<strong>in</strong>ne schon hat: sie ist ursprünglicher als jede Wissenschaft,<br />

weil alle Wissenschaft <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> verwurzelt ist, aus ihr<br />

erst entspr<strong>in</strong>gt.<br />

Vom Kreis auszusagen, er sei rundlich, ist überflüssig und<br />

unangemessen zugleich. Daß der Kreis nicht rundlich ist, <strong>die</strong>ses<br />

Nicht-rundlich-se<strong>in</strong>-können ist nicht Unvermögen, sondern<br />

Übervermögen: er vermag wesenhaft mehr zu se<strong>in</strong>. Von der<br />

<strong>Philosophie</strong> zu sagen, sie sei Wissenschaft, ist unangemessen<br />

und überflüssig zugleich. Entsprechend gilt: <strong>Philosophie</strong> ist<br />

nicht aus Unvermögen, sondern aus wesenhaftem Übervermögen<br />

ke<strong>in</strong>e Wissenschaft.<br />

Aber weil <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise Wissenschaft ist, wie <strong>die</strong><br />

Wissenschaft es nie se<strong>in</strong> kann und weil <strong>Philosophie</strong> ursprünglicher<br />

ist als Wissenschaft und <strong>die</strong>se ihren Ursprung <strong>in</strong> der<br />

<strong>Philosophie</strong> hat, konnte es dazu kommen, den Ursprung der<br />

Wissenschaft, nämlich <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>, selbst als Wissenschaft,<br />

ja sogar als <strong>die</strong> Ur-wissenschaft und als absolute Wissenschaft zu<br />

bezeichnen und als solche zu bestimmen.<br />

Wissenschaftliche <strong>Philosophie</strong> ist nicht zu verstehen wie<br />

»hölzernes Eisen«, was sich beides ausschließt, sondern wie<br />

»rundlicher Kreis«. Aber so e<strong>in</strong>leuchtend <strong>die</strong>ser Vergleich se<strong>in</strong><br />

mag, auch er h<strong>in</strong>kt und gibt zu e<strong>in</strong>em gefährlichen Mißverständnis<br />

Anlaß, das wir gleich zu Anfang beseitigen müssen.<br />

Den Kreis können und dürfen wir nicht als »rundlich« bezeichnen,<br />

weil er schlechth<strong>in</strong> rund ist, d.h. weil »rundlich« nur e<strong>in</strong>e<br />

mangelhafte Angleichung an »rund« wäre. Er kann nicht durch<br />

etwas bestimmt werden, was gewissermaßen nur e<strong>in</strong>en Abfall,<br />

e<strong>in</strong>e Privation se<strong>in</strong>es Wesens darstellt.


18 Was heißt Phllosophw?<br />

Entsprechend ist Wissenschaft e<strong>in</strong>e mangelhafte Angleichung<br />

an <strong>Philosophie</strong>, <strong>die</strong>se also <strong>die</strong> re<strong>in</strong>ste und erste Wissenschaft.<br />

Hier ist <strong>die</strong> Stelle der verhängnisvollsten Irrtümer, <strong>die</strong><br />

auch der genannte Vergleich unterstützen könnte. Denn <strong>die</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> ist eben nicht Wissenschaft, auch nicht <strong>die</strong> re<strong>in</strong>ste<br />

und strengste; sie ist aber auch nicht etwa strengste Wissenschaft<br />

und noch etwas dazu und darüber h<strong>in</strong>aus. Wir können<br />

nur sagen: Was <strong>die</strong> Wissenschaft an ihrem Teil ist, das liegt <strong>in</strong><br />

der <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> emem ursprünglichen S<strong>in</strong>ne. <strong>Philosophie</strong> ist<br />

zwar Ursprung der Wissenschaft, aber gerade deshalb nicht Wissenschaft,<br />

- auch nicht Ur-wissenschaft.<br />

Es gilt, gerade <strong>die</strong>sen Gedanken festzuhalten, weil ohne ihn<br />

immer wieder <strong>die</strong> Neigung sich vordrängt, <strong>Philosophie</strong> als Wis<br />

senschaft zu bestimmen, d. h. eben unversehens an e<strong>in</strong>e be<br />

stimmte Wissenschaft anzugleichen, z.B. an <strong>die</strong> Mathematik als<br />

<strong>die</strong> höchste und strengste Wissenschaft. Wann immer der<br />

Schritt <strong>in</strong> Richtung auf <strong>die</strong> Idee Wissenschaft getan WIrd, ist das<br />

Wesen verkannt. Man mag Wissenschaft noch so streng nehmen<br />

und h<strong>in</strong>terher Weltanschauung ankleben: beides <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Summierung<br />

und Verschmelzung trifft das Wesen der PhilosophiE'<br />

mcht.<br />

Wie schon mehrfach betont, ist es e<strong>in</strong>e charakteristische neu<br />

zeitliche Tendenz, <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Idee der<br />

Wissenschaft zu bestimmen, und zwar ist es <strong>die</strong> Mathematik -<br />

mathematisch freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr weiten S<strong>in</strong>ne genommen.<br />

Gerade <strong>die</strong> entgegengesetzte Absicht aber bemerken wir <strong>in</strong> dE'r<br />

antiken <strong>Philosophie</strong>, d.h. <strong>in</strong> den entscheidenden Anfängen unserer<br />

abendländischen <strong>Philosophie</strong> überhaupt, und das ist ke<strong>in</strong><br />

Zufall. In der Antike fällt <strong>Philosophie</strong> nicht unter <strong>die</strong> Wissenschaften,<br />

sondern umgekehrt: <strong>die</strong> Wissenschaften s<strong>in</strong>d bestimmt<br />

geartete »<strong>Philosophie</strong>n«.<br />

§ 6. Antike und neuzeitliche Auffassung von <strong>Philosophie</strong><br />

'-"I<br />

~e Griechen haben für CjlLAoaOCjlLu bezeichnenderweise e<strong>in</strong>en<br />

Plural: CjlLAoaOCjlLm. Mathematik und Mediz<strong>in</strong>, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Antike<br />

)Chon e<strong>in</strong>e hohe Blüte und Selbständigkeit hatten, wurden dempäß<br />

»<strong>Philosophie</strong>n« genannt. Ihnen gegenüber ist das, was<br />

\lrir e<strong>in</strong>fach <strong>Philosophie</strong> nennen, nach der Bezeichnung des Arittoteles<br />

JtQWTlj CjlLAoaOCjlLu, »erste <strong>Philosophie</strong>«, d. h. nicht <strong>in</strong>nerhalb<br />

der philosophischen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>die</strong> erste, sondern Philo­<br />

.,phie im ursprünglichen S<strong>in</strong>ne schlechth<strong>in</strong>. Man <strong>in</strong>terpretiert<br />

:<strong>die</strong>sen Ausdruck »prima philosophia« meist <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß<br />

ilamit <strong>in</strong>nerhalb des Ganzen der philosophischen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

<strong>die</strong> erste Diszipl<strong>in</strong> vor Ethik, Ästhetik U.S.W. bezeichnet wäre.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e irrige Auffassung, und sie wird noch irriger, wenn<br />

'waan <strong>die</strong>sen Begriff der ersten <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> moderner Weise<br />

"*n<strong>in</strong>terpretiert als erste Wissenschaft, als Urwissenschaft. Der<br />

,Urheber <strong>die</strong>ses fundamentalen Irrtums ist Descartes, der für<br />

M<strong>in</strong>e Grundlegung der <strong>Philosophie</strong> als Wissenschaft - nach<br />

"'em Ideal der Mathematik als der eigentlichen Wissenschaft­<br />

,d.en antiken Begriff der JtQWtlj CjlLAOaOCjlLU <strong>in</strong> Anspruch nimmt<br />

und se<strong>in</strong> Hauptwerk ausdrücklich als »Meditationes de prima<br />

philosophia« I bezeichnet.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Auffassung der ersten <strong>Philosophie</strong> versucht Des­<br />

'lartes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em zweiten Hauptwerk, den »Pr<strong>in</strong>cipia philoso­<br />

,)hiae«2, den Gesamtbestand der überlieferten <strong>Philosophie</strong>, also<br />

~ Scholastik, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen Form zu systematisieren. Daher<br />

*ommt es, daß seither mit der traditionellen Metaphysik <strong>die</strong><br />

""-gentümliche Idee der ersten <strong>Philosophie</strong> als Grundwissenschaft<br />

vere<strong>in</strong>igt ist.<br />

'. Kants letztes und freilich verborgenes Bemühen geht um<br />

e<strong>in</strong>e Aufhebung <strong>die</strong>ses ganzen Zusammenhangs. Se<strong>in</strong>e Absicht<br />

I Rene Descartes, MedItatlOnes de pnma philosophla. Pans 1641,2 Ausg<br />

Amsterdam 1642.<br />

2 Rene Descartes, PnnCIpla philosophiae. Amsterdam 1644.


20 Was heifJt Phzlosophw)<br />

ist nicht so sehr, gegenüber der traditionellen Metaphysik eme<br />

neue zu begründen, sondern vielmehr Descartes' Vere<strong>in</strong>igung<br />

des mathematischen Erkenntnisideals mit der tradItionellen<br />

Metaphysik zu durchbrechen. Diese <strong>in</strong>nerste Absicht Kants<br />

wurde von den Nachfolgern nicht mehr begriffen.<br />

In der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong> f<strong>in</strong>det sich also <strong>die</strong> Tendenz,<br />

<strong>Philosophie</strong> als Wissenschaft zu bestimmen, <strong>in</strong> der antiken PhIlosophie<br />

dagegen Wissenschaften als <strong>Philosophie</strong>n. Für welche<br />

Auffassung sollen wir uns entscheiden? Oder sollen wir belde<br />

Tendenzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kompromiß vermitteln? Mag es irgendwo<br />

Kompromisse geben, so doch nicht <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong>.<br />

Wir stehen vor der Aufgabe, das Problem <strong>Philosophie</strong> und<br />

Wissenschaft erneut zu stellen. Neu heißt hier nicht, das Alte<br />

abzustoßen und etwas Neues zu erf<strong>in</strong>den, sondern im Schutz der<br />

echten Überlieferung <strong>die</strong> alten Probleme zu wiederholen. Wenn<br />

wir also bestimmen wollen, wie <strong>Philosophie</strong> sich zu Wissenschaft<br />

verhält, dann ist es an der Zeit, erst e<strong>in</strong>mal auszumachen,<br />

was Wissenschaft besagt. Bevor wir <strong>die</strong>se <strong>in</strong> der Tat dr<strong>in</strong>gendste<br />

Frage beantworten, soll kurz der Ausdruck ><strong>Philosophie</strong>< erläutert<br />

werden.<br />

§ 7. Der Ausdruck »<strong>Philosophie</strong>«<br />

Die nähere Erläuterung dessen, was das Wort cpLf..ooocplu bedeutet,<br />

ist noch ke<strong>in</strong>e Bestimmung des Wesens der <strong>Philosophie</strong>.<br />

Andererseits aber ist <strong>die</strong> Erläuterung der Bedeutung gerade<br />

solch fundamentaler Worte nicht gleichgültig. Wir werden daraus<br />

schon H<strong>in</strong>weisungen auf das Wesen der PhIlosophie entnehmen,<br />

wenn auch noch unbestimmte und unfeste.<br />

Die griechische Bezeichnung cpLf..ooocplu ist zusammengesetzt<br />

aus oocpla und CPLf..EIV (cplf..o~), d. h. aus Weisheit und lieben; etwas<br />

sentimental und großväterlich pflegt man zu übersetzen: Liebt'<br />

zur Weisheit. Dies ist im Grund nichtssagend, und wir müssen<br />

versuchen, den S<strong>in</strong>n herauszubr<strong>in</strong>gen, den <strong>die</strong> Griechen im lebendigen<br />

Gebrauch <strong>die</strong>ses Wortes verstanden haben.<br />

§' 7. Der Ausdruck »Phzlosophze« 21<br />

Zu oocptU gehärt das Adjektiv (Jocp6~, das ist derjenige, der für<br />

~was den rechten Geschmack, »e<strong>in</strong>en Riecher«, Inst<strong>in</strong>kt für das<br />

tvesentliche hat und der sich deshalb <strong>in</strong> etwas unmittelbar auskennt,<br />

der etwas von Grund aus versteht, d. h. e<strong>in</strong>er Sache <strong>in</strong><br />

'Vorbildlicher und daher hervorragender Weise vorstehen kann.<br />

J:oqJi.a wird deshalb ursprünglich vom Handwerk gesagt. So<br />

beißt es bei Homer <strong>in</strong> der Ilias (XV, 410-12)1 vom Zimmermann:<br />

a.f..f..' &~ 'tE O'tu{}!!l1 MQu VT)LOV E!;L{}UVEL 'tEX'tOVO~ EV JtUf..U!!llOL<br />

4aTIIJ.Ovo~, ö~ gu 'tE Jtu(Jl1~ dj dön oocpll1~ lJJto{}l1!!OOUVllOLV ' A{}T)vl1~,<br />

und Hesiod bezeichnet denjenigen, der <strong>in</strong> der Seefahrt und bei<br />

Schiffen kundig ist, als olhE 'tL vuu'tLf..ll1~ OEOOCPL(J!!EVO~ olhE 'tL vl1wv<br />

(Opera et <strong>die</strong>s, 649).2<br />

I Dieser Ausdruck oocplu wird dann auch auf <strong>die</strong> Dichtkunst<br />

u.nd Musik übertragen, überhaupt auf alles, was <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em<br />

S<strong>in</strong>ne verstanden und entsprechend ausgeführt werden kann.<br />

Dieselbe Bedeutung wie (Jocp6~ hatte <strong>in</strong> der Frühzeit auch der<br />

A.usdruck oOCPL(J'tT)~, so wurden <strong>die</strong> sieben Weisen genannt. »So<br />

t>hist« hatte ursprünglich nicht <strong>die</strong> abschätzige, negative Bedeutung.<br />

Diesen griechIschen Ausdrücken (Jocp6~, oocplu,<br />

ooCPL(J'tT)~ entsprechen am besten noch <strong>die</strong> deutschen Wörter<br />

>Verstehen«, »Verständnis«, freilich nicht <strong>die</strong> Wortbildung<br />

.s<br />

:. Verstand«.<br />

? E<strong>in</strong> Dreifaches gibt sich <strong>in</strong> dem Ausdruck oocplu kund: erstens<br />

Verstehen von Grund aus, zweitens das Verstehen mit unr<br />

~ittelbarem Inst<strong>in</strong>kt und drittens das Verstehen als vorbildlich<br />

~nd daher maßgebend etwas kennen und können. Verstehen<br />

iWar also zunächst auf <strong>die</strong> Sphäre handwerklicher Tätigkeit be-<br />

1'thränkt, wobei zu beachten ist, daß <strong>in</strong> der Frühzeit das Hand­<br />

·werk im Dase<strong>in</strong>, d.h. bezüglich des Grundverhältnisses zu den<br />

D<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong>e ganz andere zentrale Stellung und Funktion hatte,<br />

; I Hornen Opera. Scnptorum claSSlCorum Rlbhotheca OXOllieiiSIS. Oxonn e<br />

typographeo clarendortlano Londllll et novi eboraci apud Humphn'dum Mt!<br />

:ford.<br />

.\ 2 Hesiod, Opera et <strong>die</strong>s, Vers 649. Die HeslOdlschen Gedichte, hrsg. von Dr.<br />

;!ians Flach. Rerlm 1874, S. 27


22 Was heißt Philosophw?<br />

als das e<strong>in</strong> heutiger Großstadtliterat auch nur zu ahnen vermöchte.<br />

Nur weil das handwerkliche Verstehen latent schon e<strong>in</strong><br />

unmittelbares und maßgebendes Verstehen des Ganzen der<br />

Welt war, deshalb konnte dann der Ausdruck aocplu sich erweitern<br />

und jedes Verstehen bedeuten, <strong>in</strong>sbesondere das Verstehen<br />

der Grundmöglichkeiten des Dase<strong>in</strong>s im Ganzen, das Ganze der<br />

D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> den Menschen offenbar werden. Dies ist als nmödu<br />

zu verstehen. Deshalb war lange Zeit <strong>in</strong> der Antike <strong>Philosophie</strong><br />

gleichbedeutend mit nmödu XOLVWS;, was wir ungefähr mit »Bildung«,<br />

jedoch nicht mit unserem heutigen »Allgeme<strong>in</strong>bildung«<br />

übersetzen können. So stellt Cicero im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> frühe<br />

Ausbildung des Begriffs »<strong>Philosophie</strong>« fest: Omnis rerum optimarum<br />

cognitio atque <strong>in</strong> iis exercitatio philosophia nom<strong>in</strong>ata<br />

est.'\ »Alles wurde <strong>Philosophie</strong> genannt, was e<strong>in</strong> Verständnis der<br />

D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrem eigentlichen Wesen und e<strong>in</strong> Sichauskennen <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Wesen selbst ist.«<br />

Mit <strong>die</strong>ser Erweiterung des Kreises des Verstehbaren und mit<br />

der Ausweitung des Begriffs aocplu nicht nur auf Musik und<br />

Dichtkunst, sondern auch auf Wissenschaft und jede Art der<br />

Bildungsmöglichkeit geht aber charakteristischerweise e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>schränkung e<strong>in</strong>her: Dieses Verstehen erfährt an sich selbst<br />

Grenzen. Je mehr der Mensch <strong>die</strong> Welt im Ganzen verstehen<br />

lernt, erfährt er, daß <strong>die</strong>ses Verstehen nicht ohne weiteres da ist<br />

und <strong>in</strong> Besitz genommen werden darf. Das Verstehen bedarf<br />

e<strong>in</strong>er besonderen und ständigen Bemühung, <strong>die</strong> von vornhere<strong>in</strong><br />

getragen se<strong>in</strong> muß von e<strong>in</strong>er ursprünglichen Neigung zu den<br />

D<strong>in</strong>gen. Diese Neigung, <strong>die</strong>se <strong>in</strong>nere Freundschaft mit den D<strong>in</strong>gen<br />

selbst ist das, was mit CPLAlU bezeichnet wird - e<strong>in</strong>e Freundschaft,<br />

<strong>die</strong> wie jede echte Freundschaft ihrem Wesen nach um<br />

das, was sie liebt, kämpft.<br />

Je mehr der aocpos; e<strong>in</strong> Verstehender wird, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglich-freien,<br />

vertrauenden Verhältnis zu den D<strong>in</strong>gen un-<br />

, Vgl. M. Tullii ClcerOnIS de oratore, hbri tres, wlth mtroduction and notes<br />

by Augustus S. WJ!kms, Oxford 1892, III, 60 (16), S. 439.<br />

§ 7. Der Ausdruck "<strong>Philosophie</strong>« 23<br />

ausgesetzt um deren Verständnis kämpft, entdeckt er sich als<br />

cpLAOaocpos;. Dieses Verstehen ist daher nichts, was ohne Zutun<br />

sich verwirklichte, sondern was <strong>in</strong> <strong>die</strong> Freiheit der Existenz<br />

aufgenommen werden muß und alle<strong>in</strong> so existent wird.<br />

Der Ausdruck cpLAoaocpos; ist zuerst nachweisbar bei Heraklit,<br />

(Diels: Fragment 35t. Im 5. und 6. nachchristlichen Jahrhundert<br />

f<strong>in</strong>den wir bei »<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong>en <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>« von<br />

Exegetenschulen <strong>in</strong> Alexandria sechs verschiedene Def<strong>in</strong>itionen:<br />

5<br />

1. yvwms;twv OVtWV TI OVtU fatl<br />

2. yvwms; {}dwv tE XUt uV{}Qwnlvwv nQuYWltWV<br />

6. CPLAlU aocplus;<br />

}<br />

uno TOU<br />

UnOXEL!lEvOU<br />

Weil <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>die</strong>se freie Neigung hat und somit e<strong>in</strong>e<br />

freie Grundmöglichkeit der Existenz ist, deshalb steht sie <strong>in</strong><br />

Gefahr, mißbraucht und verkehrt zu werden. Die <strong>Philosophie</strong><br />

kann sich gebärden, als sei sie e<strong>in</strong>e solche, auch wenn sie <strong>die</strong>s<br />

doch nicht ist. Sie wird zum Sche<strong>in</strong> und gew<strong>in</strong>nt gerade als<br />

Sche<strong>in</strong> <strong>die</strong> größte Macht und Verführung. Das heißt: Mit dem<br />

Erwachen des Verständnisses davon, daß <strong>die</strong>ses Weltverstehen<br />

1m Ganzen <strong>die</strong> CPLAlU - <strong>die</strong> freiwillige, kämpfende, echte Nei-<br />

4 Hermann Dlels, Du' Fragmente der VorsokratIker. Erster Band, 4. Aufl.,<br />

Berl<strong>in</strong> 1922. S. 85.<br />

5 Ammon. III Porph. Isag. (Comm. III Arist. Graeca IV, 3) p.l ff.; Davld Pro!.<br />

(Comm. III Amt. Gr. XVIII, 2) p. 20, 25 ff.; Elias (Comm. <strong>in</strong> Amt. Gr. XVIII, 1)<br />

p.7, 26 ff.


24 Was heißt Phllosophle."<br />

gung - fordert, wird auch das Gegenteil, der Sche<strong>in</strong>, offenbar,<br />

und jetzt bekommt OOCPL(J'tT]S; im Unterschied zu CPLAOOOCPOS; <strong>die</strong><br />

Bedeutung des Sche<strong>in</strong> philosophen, des Gegenspielers, der so<br />

aussieht wie e<strong>in</strong> Philosoph und doch ke<strong>in</strong>er ist, der aber mit<br />

<strong>die</strong>sem Sche<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Geschäfte macht. Wo <strong>Philosophie</strong> ist, da ist<br />

auch notwendig Sophistik, nicht nur zur Zeit Platons, sondern<br />

jederzeit, und heute vielleicht mehr denn je. Ja, wenn es so<br />

aussieht, als sei ke<strong>in</strong>e SophistIk da, dann ist es auch mit der<br />

<strong>Philosophie</strong> schlecht bestellt. Daher ist es vielleicht nicht das<br />

schlechteste Zeichen, wenn heute der Journalismus sich der<br />

<strong>Philosophie</strong> zu bemächtigen beg<strong>in</strong>nt. Aber es ist nicht so, daß<br />

auf der e<strong>in</strong>en Seite der Philosoph und auf der anderen der<br />

Sophist stünde; sondern weil dIe <strong>Philosophie</strong> wesentlich e<strong>in</strong>e<br />

menschliche, d. h. endliche MöglichkeIt ist, deshalb steckt <strong>in</strong><br />

jedem Philosophen e<strong>in</strong> Sophist.<br />

Der griechische Ausdruck ist zugleich Anzeichen für das <strong>in</strong>~<br />

nerste und längst nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zentralen Funktion erfaßte<br />

Wesen der <strong>Philosophie</strong>: ihre Endlichkeit. Diese ist nicht damit<br />

begriffen, daß man <strong>in</strong> sche<strong>in</strong>barer Bescheidenheit und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Rührung schließlich e<strong>in</strong>gesteht, unser Wissen sei<br />

Stückwerk. Die <strong>Philosophie</strong> ist nicht deshalb endlich, weil sie<br />

nie zu Ende kommt. Die Endlichkeit liegt nicht am Ende, son~<br />

dem am Anfang der PhilosophIe, das heißt <strong>die</strong> Endlichkeit muß<br />

<strong>in</strong> ihrem Wesen <strong>in</strong> den Begriff der <strong>Philosophie</strong> aufgenommen<br />

werden. Entscheidend ist nicht, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>mal gewonnenen Wege<br />

<strong>in</strong> der Endlosigkeit doch zu Ende gehen zu wollen, sondern je<br />

wieder e<strong>in</strong>en neuen Weg e<strong>in</strong>zuschlagen.<br />

E<strong>in</strong>e letzte Kennzeichnung für den Begriff und das Wort<br />

<strong>Philosophie</strong> können wir uns deutlich machen durch e<strong>in</strong>en Ver~<br />

gleich mit entsprechenden Titeln, <strong>die</strong> wir zur Bezeichnung der<br />

Wissenschaften wie Zoo~logie, Theo~logie, Anthropo~logie oder<br />

Philo~logie gebrauchen. Der Ausdruck ~logie entspricht dem<br />

griechischen AOYOS;, d. h. Offen barrnachen, Erfassen, Bestimmen<br />

von etwas. Zoologie bedeutet also das Offenbarmachen, Erfas~<br />

sen und Erkennen der Tiere, AnthropologIe das des Menschen,<br />

.~ 7. Der Ausdruck "Phtlosophle« 25<br />

Theologie das Gottes. Hier ist AOYOS;, ~ logie der Ausdruck für <strong>die</strong><br />

Art des Erfassens von bestimmten Gegenstandsgebieten. Im<br />

Ausdruck Philologie dagegen ist AOYOS; der Gegenstand der Wis~<br />

sensehaft selbst, <strong>die</strong> Sprache, Rede; freilich liegt hier e<strong>in</strong>e<br />

gewisse cpLAia. Nach Analogie der Philologie wäre <strong>in</strong> der Philo~<br />

sophie der Gegenstand <strong>die</strong> oocpia. <strong>Philosophie</strong> ist aber nicht <strong>die</strong><br />

Erkenntnis der Weisheit.<br />

<strong>Philosophie</strong> nennt nicht das, was da behandelt, erkannt wer~<br />

den solle, sondern das Wie, <strong>die</strong> Grundart des Verhaltens. Daher<br />

sagen wir: <strong>Philosophie</strong> ist <strong>Philosophie</strong>ren. Aber so wichtig <strong>die</strong>se<br />

Worterläuterung se<strong>in</strong> mag, wir dürfen uns nicht daran hängen<br />

und me<strong>in</strong>en, nun schon e<strong>in</strong> Verständnis der <strong>Philosophie</strong> gewon~<br />

nen zu haben.


§ 8. Frage nach der WlSsenschaft aus lhrer Krisis 27<br />

ZWEITES KAPITEL<br />

Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

§ 8. Vorläufige Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

aus ihrer KriSiS<br />

Um nun aber zu klären, wie Wissenschaft als solche <strong>in</strong> der<br />

<strong>Philosophie</strong> liegt, so zwar, daß <strong>Philosophie</strong> nie Wissenschaft<br />

genannt werden darf, ist das Wesen von Wissenschaft vorläufig<br />

zu bestimmen.<br />

Die Frage, was Wissenschaft sei, wurde von den Griechen oft<br />

gestellt, sie ist alt, d. h. immer neu. Es ist e<strong>in</strong>e jener Fragen, <strong>die</strong><br />

nicht dadurch zur Ruhe kommen, daß man e<strong>in</strong>e handliche Def<strong>in</strong>ition<br />

bereit hat. Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

drängt vielmehr zu e<strong>in</strong>er grundsätzlichen Bes<strong>in</strong>nung. Wenn,<br />

wie wir behaupteten, Wissenschaft e<strong>in</strong>e der Mächte unseres<br />

Dase<strong>in</strong>s ist, dann bestimmt sie <strong>die</strong>ses nicht nur, sondern br<strong>in</strong>gt,<br />

wie alles Wesentliche, e<strong>in</strong>e spezifische Un-ruhe <strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong>.<br />

Es ist ke<strong>in</strong> Zufall, wenngleich durch mancherlei äußere Verhältnisse<br />

veranlaßt, daß man <strong>in</strong> unsrer Zeit vielfach von der<br />

Krisis der Wissenschaft spricht, nicht nur von der Krisis <strong>die</strong>ser<br />

oder jener Wissenschaft, etwa der KriSiS der Physik oder der<br />

Krisis der Geisteswissenschaften <strong>in</strong> der momentanen Erschütterung<br />

durch Os wald Spengler. Man spürt e<strong>in</strong>e Krisis der<br />

Wissenschaft schlechth<strong>in</strong>. Freilich heute - gegenüber der Lage<br />

vor wenigen Jahren - ist schon wieder deutlicher zu erkennen,<br />

daß man versucht, <strong>die</strong>ser erwachenden Krisis auszuweichen und<br />

alle Beunruhigung fernzuhalten. Die allgeme<strong>in</strong>e Biederkeit hat<br />

wieder <strong>die</strong> Oberhand. Das ist für uns freilich ke<strong>in</strong> Grund, nun<br />

auch <strong>die</strong> Augen zu schließen vor der Krisis, schon e<strong>in</strong>zig deshalb<br />

nicht, weil <strong>die</strong>se Krisis ke<strong>in</strong>e zufällige Nachkriegsersche<strong>in</strong>ung<br />

ist, wie <strong>die</strong> meisten me<strong>in</strong>en, sondern latent III der Wissenschaft<br />

liegt. Wenn <strong>die</strong> Krisis zum Wesen der Wissenschaft gehört, kann<br />

e<strong>in</strong>e Bes<strong>in</strong>nung auf sie uns dem Wesen der Wissenschaft näherbr<strong>in</strong>gen.<br />

Durch e<strong>in</strong>e Kennzeichnung der heutigen Krisis der<br />

Wissenschaft wollen wir nicht nur über <strong>die</strong> heutige geistige<br />

Lage etwas erfahren, sondern dabei etwas vom Wesen der Wissenschaft<br />

zu fassen versuchen.<br />

Wir können von e<strong>in</strong>er dreifachen Krisis der Wissenschaft<br />

sprechen, <strong>die</strong> faktisch heute <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaften<br />

verschieden gelagert, <strong>in</strong> verschiedenen Graden ausdrücklich<br />

und verschärft ist.<br />

1. Die Krisis im <strong>in</strong>neren Wesensbau der Wissenschaft selbst.<br />

2. Die Krisis der Wissenschaft h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Stellung im<br />

Ganzen unseres geschichtlich-gesellschaftlichen Dase<strong>in</strong>s.<br />

3. Die Krisis im Verhältnis des E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft<br />

selbst.<br />

Es würde freilich weit tiber <strong>die</strong> Grenzen <strong>die</strong>ser Vorlesung<br />

h<strong>in</strong>ausgehen und e<strong>in</strong> Durchdenken der hemmenden und treibenden<br />

<strong>in</strong>nersten Kräfte unserer Zeit erfordern, wollten wir<br />

versuchen, <strong>die</strong> Krisis <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen drei H<strong>in</strong>sichten e<strong>in</strong>gehender zu<br />

schildern. E<strong>in</strong>zelne H<strong>in</strong>weise für <strong>die</strong> geforderte Kennzeichnung<br />

des Wesens der Wissenschaft müssen genügen. Zugleich ergibt<br />

sich aber e<strong>in</strong>e Bes<strong>in</strong>nung, <strong>die</strong> auch für spätere Überlegungen<br />

bezüglich der <strong>Philosophie</strong> als solcher für uns wichtig ist.<br />

a) Die Krisis im Verhältnis des E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft<br />

Wir beg<strong>in</strong>nen mit der letztgenannten Krisis: der Stellung des<br />

E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft. Nach dem Krieg g<strong>in</strong>g der Ruf von<br />

der Revolution der Wissenschaft um. E<strong>in</strong>e romantische Jugend<br />

wollte über Nacht <strong>die</strong> alte akademische Wissenschaft ausrotten<br />

und durch e<strong>in</strong>e neue ersetzen. Was sich hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er etwas<br />

lärmenden Form ausprägte, war freilich nicht nur e<strong>in</strong>e Nachkriegsersche<strong>in</strong>ung,<br />

sondern <strong>in</strong> den Jahren unmittelbar vor 1914,<br />

als unsere Generation stu<strong>die</strong>rte und uns überhaupt mchts zu


28 Die Frage nach dem Wesen der Wi5senschajt<br />

fehlen schien, war e<strong>in</strong>e Unruhe wach geworden. Wir spürten<br />

e<strong>in</strong>e Erstarrung im akademischen Wissenschaftsbetrieb und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>s mit <strong>die</strong>ser Erstarrung e<strong>in</strong>e Spezialisierung, <strong>die</strong> nicht etwa<br />

<strong>die</strong> Kräfte der Aneignung anspannte - solche Kraftzumutungen<br />

können auch heute noch heilsam se<strong>in</strong> -, sondern e<strong>in</strong>e Spezialisierung,<br />

h<strong>in</strong>ter der sich e<strong>in</strong>e Ohnmacht verbarg, <strong>die</strong> Ohnmacht,<br />

den primären und ursprünglichen Se<strong>in</strong>sgehalt der Wissenschaft<br />

noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher und direkt zur Existenz sprechender Weise zu<br />

vermitteln.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Erstarrung und <strong>die</strong>ser Sucht zur Spezialisierung im<br />

Betrieb der akademischen Wissenschaft kam e<strong>in</strong> weiteres, was<br />

wir nur ahnten und nur unklar auszudrücken vermochten: Es<br />

konnte nicht länger verborgen bleiben, daß bei allen Fortschritten<br />

der E<strong>in</strong>zelwissenschaften der Zusammenhang zwischen den<br />

Wissenschaften und ihrem Gehalt auf der e<strong>in</strong>en und e<strong>in</strong>em lebendigen<br />

wirkungskräftigen Bildungsideal auf der anderen Seite abgerissen<br />

war, und <strong>die</strong>ser Riß nur noch künstlich verdeckt wurde.<br />

So entstand e<strong>in</strong>e wachsende Unsicherheit über <strong>die</strong> Stellung<br />

der Wissenschaft als solche, sowohl <strong>in</strong> der Zeit der Zugehörigkeit<br />

zur Universität als auch <strong>in</strong> ihrer späteren Auswirkung im<br />

Dase<strong>in</strong>. Diese Unsicherheit <strong>in</strong> der existenziellen Stellung der<br />

Wissenschaft im Dase<strong>in</strong> hatte aber für uns vor dem Krieg dadurch<br />

noch e<strong>in</strong>e besondere Schärfe, als wir von den positiven<br />

<strong>in</strong>neren Möglichkeiten der Wissenschaft und ihrer zentralen<br />

Dase<strong>in</strong>sfunktion überzeugt waren und uns deshalb <strong>die</strong> Intensität<br />

der Arbeit, auch der Mitarbeit im Erstarrten und Spezialisierten,<br />

nicht abschwächen ließen. Schließlich wurde <strong>die</strong>se<br />

Unsicherheit durch das Versagen der <strong>Philosophie</strong> ke<strong>in</strong>eswegs<br />

behoben, weil deren Interpretation der Wissenschaft, von der<br />

wir noch hören werden, uns etwas zu vergessen und zu verbergen<br />

schien, was wir nur spürten, aber außerstande waren zu<br />

fassen. Dabei möchte ich gleichwohl <strong>die</strong> positive Funktion der<br />

Wissenschaftstheorie He<strong>in</strong>rich Rickerts festhalten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> deutsche<br />

<strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> der Zeit vor dem Krieg maßgeblich beherrscht<br />

hatte; sie war gegenüber allem Positivismus, wie er sich<br />

§ 8. Frage nach der Wissenschaft aus threr Krisis 29<br />

rundum breitmachte, grundsätzlich überlegen. In <strong>die</strong>se Situation,<br />

<strong>die</strong> ich aus eigener Erfahrung nur ganz allgeme<strong>in</strong> hier<br />

gekennzeichnet habe und <strong>die</strong> heute im Rückblick natürlich<br />

weit deutlicher zu übersehen ist, als sie uns damals offenbar<br />

war, brach der Krieg here<strong>in</strong>.<br />

Nach dem Krieg wurde <strong>die</strong>se kritische Situation nicht verschärft,<br />

sondern gleichsam nur popularisiert. Diese <strong>in</strong>nere Not<br />

gegenüber der Wissenschaft, <strong>die</strong> wir nicht gegen sie ausspielten,<br />

wurde jetzt Thema von Broschüren und nun, wie solche Ansteckung<br />

sich verbreitet, war jeder mit der Wissenschaft unzufrieden.<br />

Jeder glaubte auch schon Mittel zu haben, abhelfen zu<br />

können und <strong>die</strong> Universität zu reformieren. Verschärft hatte sich<br />

der allgeme<strong>in</strong>e Widerwille gegen <strong>die</strong> Wissenschaft und der Ruf<br />

nach Revolution der Wissenschaft, nicht weil das Spezialistentum<br />

und <strong>die</strong> Erstarrung sich gesteigert hätten, sondern wegen<br />

Neuerungssucht und dem phantastischen Glauben, mit Hilfe<br />

von Programmen <strong>die</strong> Wissenschaft ändern zu können. Man vergaß,<br />

erst e<strong>in</strong>mal sich E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wissenschaft zu verschaffen,<br />

um sie, wenn schon, von <strong>in</strong>nen her umzubilden. Die Krisis<br />

war nicht schärfer und ernster, sondern nur lauter geworden.<br />

Was aber früher uns schon fehlte, <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es Verständnisses<br />

der Wissenschaft als solcher im Ganzen ihres Wesens,<br />

<strong>die</strong>ser Mangel zeigt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en breiten Folgen, ohne daß<br />

es im Grunde bis heute erkannt wäre.<br />

Daß <strong>die</strong> Stellung der e<strong>in</strong>zelnen Existenz zur Wissenschaft <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Krisis kommen kann, hat doch am Ende dar<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Grund, daß überhaupt unbestimmt und ungeklärt ist, wie denn<br />

so etwas wie Wissenschaft im menschlichen Dase<strong>in</strong> als solchem<br />

wesensmäßig steht. Es ist das Problem des existenzialen Wesens<br />

der Wissenschaft.<br />

Wenn es andererseits gel<strong>in</strong>gen sollte, <strong>die</strong>se Frage nach dem<br />

Wesen der Wissenschaft als wirkliches Problem sichtbar und<br />

spürbar zu machen und gar e<strong>in</strong>e Wesenserklärung des existenzialen<br />

Wesens der Wissenschaft zu erreichen, ist damit ke<strong>in</strong>eswegs<br />

<strong>die</strong> faktische Krisis des E<strong>in</strong>zelnen behoben. Im Gegenteil,


30 Die Fra{!;e nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

SIe ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise verschärft, daß e<strong>in</strong>sichtig wird, WIe unmöglich<br />

von Anfang an <strong>die</strong> romantischen Versuche se<strong>in</strong> müssen,<br />

Wissenschaft von außen her und gar durch e<strong>in</strong>e künstliche<br />

Überwältigung und Überw<strong>in</strong>dung mit Weltanschauung und<br />

dergleichen umbilden zu wollen.<br />

Seitdem <strong>die</strong> Krisis sich <strong>in</strong> Broschüren öffentlich breitmachte,<br />

ist noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Jahrzehnt verflossen, - und alles ist<br />

ruhig geworden und fährt im alten Geleise - doch nicht im<br />

alten; denn ohne über Sie heute aburteilen und unsere Generation<br />

als besser kennzeichnen zu wollen: Die Intensität und der<br />

Ernst der wissenschaftlichen Arbeit war e<strong>in</strong>e andre, anders geartete,<br />

mögen heute vielleicht auch ebenso gute Exam<strong>in</strong>a<br />

bestanden werden wie früher. Aber ob <strong>die</strong> Krisis öffentlich <strong>in</strong><br />

Broschüren abgehandelt wird oder nicht, ist unwesentlich. Sie<br />

ist auch da, wenn es sche<strong>in</strong>t, als sei alles <strong>in</strong> Ordnung.<br />

Die an dritter Stelle genannte Krisis gibt uns <strong>die</strong> H<strong>in</strong>weisung<br />

darauf, daß das Wesen der Wissenschaft offenbar im Zusammenhang<br />

des menschlichen Dase<strong>in</strong>s als solchen und aus dessen<br />

Grundverfassung begriffen werden muß, daß demnach alle Def<strong>in</strong>itionen<br />

der Wissenschaft, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Richtung geschöpft<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wesentlichen versagen. Es folgt hieraus,<br />

daß <strong>die</strong> Wissenschaft nicht irgend e<strong>in</strong> Gebilde ist, zu dem es<br />

dann auch noch natürlich e<strong>in</strong> persönliches Verhältnis gibt, das<br />

man aber am besten dem E<strong>in</strong>zelnen überläßt.<br />

Gewiß muß das faktische konkrete Verhältnis zu e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Wissenschaft jeweils der E<strong>in</strong>zelne entscheiden, aber<br />

das ist nur vollziehbar im Umkreis von Möglichkeiten, <strong>die</strong> sagen,<br />

wie überhaupt der Spielraum aussieht, <strong>in</strong>nerhalb dessen<br />

der E<strong>in</strong>zelne <strong>in</strong> echter Weise sich so oder so entscheidet.<br />

b) Die Krisis der Wissenschaft h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Stellung<br />

im Ganzen des geschichtlich-gesellschaftlichen Dase<strong>in</strong>s<br />

Die an zweiter Stelle genannte Krisis betrifft <strong>die</strong> Stellung der<br />

Wissenschaft im Ganzen des geschichtlich-gesellschaftlichen<br />

§ 8. Frage nach der Wissenschaft aus ihrer Krisis 31<br />

Dase<strong>in</strong>s. Es wurde schon angedeutet, daß man seit e<strong>in</strong>iger Zeit<br />

deutlicher spürt, wie der Zusammenhang zwischen der Wissenschaft<br />

und e<strong>in</strong>em wirksamen Bildungsideal abgerissen ist. Es ist<br />

nicht mehr ohne weiteres klar, auf welche Weise nicht nur<br />

Resultate der Wissenschaft, sondern <strong>die</strong> wissenschaftliche Bildung<br />

selbst über- und h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geleitet werden soll <strong>in</strong> das ungestörte<br />

Wachstum e<strong>in</strong>er echten Bildung der menschlichen<br />

Geme<strong>in</strong>schaften. Die Ratlosigkeit gegenüber der Wissenschaft<br />

und ihrer Funktion im Ganzen der »Kultur« ist um so aufdr<strong>in</strong>glicher,<br />

als <strong>die</strong> Bildungs- und Dase<strong>in</strong>smächte, <strong>die</strong> noch weith<strong>in</strong><br />

im 19. Jahrhundert, wenn auch oft nur noch als gute Konvention,<br />

<strong>die</strong> Existenz bestimmten, - das klassische Bildungsideal,<br />

das durch Namen wie Goethe und Schiller gekennzeichnet ist,<br />

und <strong>die</strong> christliche Religiosität, welcher Konfession auch immer,<br />

- daß <strong>die</strong>se beiden geschichtlichen Kräfte ihre Wirkungsmöglichkeit<br />

weitgehend e<strong>in</strong>gebüßt haben.<br />

Da nun <strong>die</strong> Wissenschaft sich selbst <strong>in</strong> ihrer Eigenbedeutung<br />

fraglich geworden ist und e<strong>in</strong> Bildungsideal und e<strong>in</strong>e ursprüngliche<br />

Zwecksetzung nicht mehr besteht, fällt sie gleichsam <strong>in</strong>s<br />

Leere. Freilich fürchten wir uns davor, <strong>die</strong>se Lage uns rücksichtslos<br />

e<strong>in</strong>zugestehen. In allen wesentlichen Lagen, <strong>die</strong> kritisch<br />

werden können, versucht der Mensch, sich durch <strong>die</strong><br />

Flucht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Konvention oder den Ersatz zu retten. Warum jetzt<br />

das unentwegte und wahllose Bemühen um Popularisierung der<br />

Wissenschaften? Volksbildungs bestrebungen, <strong>die</strong> aus sozialen<br />

Rücksichten erforderlich se<strong>in</strong> mögen, s<strong>in</strong>d dafür je nur Veranlassungen<br />

und günstige Gelegenheiten. Wenn <strong>die</strong>se Tendenz zur<br />

Popularisierung von den Wissenschaften selbst ausgeht und von<br />

ihnen emsig betrieben wird - viele Gelehrte arbeiten nur noch<br />

an Handbüchern und Sammlungen oft dritter und vierter Güte<br />

(symptomatisch) -, dann muß sie auch <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

selbst ihren Grund haben. Dieser Grund ist e<strong>in</strong> doppelter: 1. <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>nere Not, <strong>die</strong> Bedeutungslosigkeit der Wissenschaft, 2. der<br />

Mangel.<br />

Diese Tendenz zur Popularisierung soll e<strong>in</strong>er deutlich gespür-


32 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

ten und verstandenen Not abhelfen, für e<strong>in</strong>en Mangel e<strong>in</strong>en<br />

Ersatz schaffen und der Wissenschaft wiederum Bedeutung verschaffen,<br />

und zwar auf dem Wege, der fast selbstverständlich ist,<br />

<strong>in</strong>dem man ihre praktische Wirkung ausdrücklicher dokumentiert.<br />

Alle<strong>in</strong> ist es nicht dasselbe, Wissenschaft praktisch machen<br />

und Wissenschaft popularisieren? Warum soll denn <strong>die</strong> Popularisierung<br />

von Wissenschaft so von Übel se<strong>in</strong>?<br />

Popularisierung der Wissenschaft ist <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong> Übel,<br />

nicht wegen ihrer schlechten Folgen, sondern <strong>in</strong> ihrem Wesen<br />

als e<strong>in</strong> Grundrnißverständnis, d. h. als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Zerstörung<br />

des Wesens der Wissenschaft selbst, als e<strong>in</strong>e zunehmende Vernichtung<br />

und Verschüttung der Möglichkeiten, ihr <strong>die</strong> ursprüngliche<br />

Stellung <strong>in</strong> der Geschichte des Dase<strong>in</strong>s zurückzugeben.<br />

Alle Popularisierung der Wissenschaft, mag sie noch so sehr<br />

von ernsten Motiven geleitet se<strong>in</strong>, ist e<strong>in</strong> Verstoß gegen deren<br />

Wesen, weil sie verkennt, daß <strong>die</strong> Wissenschaft nie gleichgesetzt<br />

werden darf mit ihren Resultaten, <strong>die</strong> dann <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Zubereitung<br />

von Hand zu Hand weitergegeben werden. Diese<br />

Gleichsetzung ist nicht etwa deshalb abzulehnen, weil <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

im sogenannten Fortschritt immer wieder über ihre<br />

Resultate h<strong>in</strong>auswächst, sondern weil sie sich im Resultat überhaupt<br />

nie als Wissenschaft bekundet. Popularisierung ist nicht<br />

nur notwendig Verflachung der Wissenschaft, sondern <strong>in</strong>nere<br />

Entwertung derselben. Popularisierung geht gegen das Wesen<br />

der Wissenschaft, weil das Wesentliche der Wissenschaft nicht<br />

<strong>in</strong> dem liegt, was bloß tra<strong>die</strong>rbar ist, von Hand zu Hand gegeben<br />

werden kann, sondern was immer neu angeeignet wird. Diese<br />

ursprüngliche Aneignung des Wesentlichen ist aber nur -möglich<br />

<strong>in</strong> der mit Sachgehalt und Resultat unzertrennlich verwachsenen<br />

Methode. Methode me<strong>in</strong>t freilich mehr, als was<br />

geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> damit bezeichnet wird; Methode selbst ist mehr als<br />

Technik.<br />

In der allgeme<strong>in</strong>en Ratlosigkeit über den S<strong>in</strong>n der Wissenschaft<br />

ist <strong>die</strong> Popularisierung aber nicht nur e<strong>in</strong> Ausweg, auf<br />

§ 8. Frage nach der Wissenschaft aus ihrer Krisis 33<br />

dem der Wissenschaft nun doch noch e<strong>in</strong>e Bedeutung verschafft<br />

wird und sogar e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e und daher<br />

recht zweifelhafte Schätzung <strong>in</strong> den sogenannten »breiten Kreisen«<br />

rechnen darf, sondern der Versuch, e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlich<br />

echten Mangel abzuhelfen, um das zu verwirklichen, was <strong>in</strong> der<br />

Tat zum Wesen der Wissenschaft gehört, daß <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong><br />

sich selbst praktisch ist. Man will <strong>die</strong> Wissenschaft, der mit<br />

e<strong>in</strong>em heutigen Schlagwort »Lebensferne« vorgeworfen wird,<br />

wieder lebensnah machen. In <strong>die</strong>ser Tendenz liegt etwas Echtes,<br />

<strong>in</strong>sofern man spürt, daß <strong>die</strong> Wissenschaften zwar re<strong>in</strong> theoretischen<br />

Charakter besitzen, d.h. daß sie <strong>die</strong> Aufgabe haben,<br />

primär <strong>die</strong> Wahrheit um der Wahrheit willen, abgesehen von<br />

jedem Nutzen, zu untersuchen. Aber <strong>die</strong> Resultate müssen<br />

schließlich auch zu etwas <strong>die</strong>nen - e<strong>in</strong>e Argumentation, <strong>die</strong><br />

jedem e<strong>in</strong>leuchtet.<br />

Die Frage bleibt aber, ob der eigentliche praktische Charakter<br />

der Wissenschaft <strong>in</strong> der möglichen Nutznießung besteht.<br />

Das ist für uns durch <strong>die</strong> sogenannten Triumphe der Technik auf<br />

Grund der Naturwissenschaft e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit geworden.<br />

Diese Auffassung des praktischen Charakters der Wissenschaft<br />

setzt wieder voraus, daß ihre Wahrheit <strong>in</strong> den<br />

Resultaten besteht, <strong>die</strong> dann auch noch angewendet und verwendet<br />

werden. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wissenschaft wird nicht erst praktisch<br />

durch Anwendung ihrer Resultate, sondern sie ist <strong>in</strong> sich<br />

selbst praktisch und wirkt sich als solche unmittelbar aus, wenn<br />

nur begriffen wird, wor<strong>in</strong> ihre Wahrheit besteht. So entspr<strong>in</strong>gt<br />

auch <strong>die</strong> Krisis h<strong>in</strong>sichtlich der Stellung der Wissenschaft im<br />

GalIlZen der Kultur aus e<strong>in</strong>er eigentümlichen Verkennung des<br />

Wesens der Wissenschaft, des Wesens der ihr eigentümlichen<br />

Wahrheit.<br />

Der praktische Charakter der e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaften ist<br />

verschieden, aber nicht leicht zu bestimmen. Am Beispiel der<br />

Mediz<strong>in</strong> bzw. der mediz<strong>in</strong>ischen Anthropologie läßt sich erläutern,<br />

wie der praktische Charakter der Mediz<strong>in</strong> zum Problem<br />

geworden ist, obwohl sie eo ipso e<strong>in</strong>e praktische Wissenschaft


34 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

ist. Zwar s<strong>in</strong>d ihre Resultate unbestreitbar, aber es s<strong>in</strong>d Fragen<br />

wachgeworden, ob denn das ganze mediz<strong>in</strong>ische Erkennen <strong>in</strong><br />

denjenigen Horizont gestellt sei, daß <strong>in</strong>nerhalb des Ganzen <strong>die</strong>ser<br />

Erkenntnisse e<strong>in</strong>e solche Existenzform wie <strong>die</strong> des Arztes<br />

unmittelbar erwachsen kann. Es besteht <strong>die</strong> merkwürdige Tatsache,<br />

daß <strong>die</strong> jungen Menschen mediz<strong>in</strong>ische Kenntnisse haben,<br />

aber nie erfahren, was e<strong>in</strong> Arzt ist, daß mediz<strong>in</strong>ische<br />

Erkenntnis und Existenz als Arzt <strong>in</strong>nerlich zusammenhängen,<br />

daß mith<strong>in</strong>, wenn man so sagen darf, <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong> irgendwo<br />

e<strong>in</strong> fauler Fleck ist, solange <strong>die</strong>ses Verhältnis nicht geklärt ist.<br />

Dasselbe Problem - mit den entsprechenden Abwandlungen -<br />

entsteht und ist latent <strong>in</strong> allen Wissenschaften, auch <strong>in</strong> denjenigen,<br />

<strong>die</strong> sche<strong>in</strong>bar gar ke<strong>in</strong> Verhältnis zur Praxis haben.<br />

Wenn unsere Behauptung, daß <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> sich selbst<br />

praktisch ist, zurecht besteht, muß es mit dem theoretischen<br />

Charakter der Wissenschaft e<strong>in</strong>e eigene Bewandtnis haben. Was<br />

>theoretisch< besagt, muß sich dann aus dem Wesen der Wahrheit<br />

der Wissenschaft bestimmen.<br />

So kündigt sich schon an, daß am Ende <strong>die</strong>se zweitgenannte<br />

Krisis mit der an dritter Stelle genannten und vorh<strong>in</strong> besprochenen<br />

<strong>die</strong>selbe geme<strong>in</strong>same Wurzel hat, daß irgendwo ursprünglich<br />

begründet se<strong>in</strong> muß, warum sowohl <strong>die</strong> Stellung des<br />

E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft als auch <strong>die</strong> Stellung der Wissenschaft<br />

im Ganzen der Kultur jeweils als zwar notwendige, aber<br />

doch nachträgliche und äußerliche Zugaben zur Wissenschaft<br />

gefaßt werden. Zur Wissenschaft gibt es also »auch noch«, gewissermaßen<br />

von außen angeklebt, e<strong>in</strong> persönliches Verhältnis,<br />

und <strong>die</strong> Wissenschaft hat »auch noch« e<strong>in</strong>e praktische Beziehung<br />

zu den übrigen Möglichkeiten des Dase<strong>in</strong>s. Dieses »auch<br />

noch« ist aber das Anzeichen, daß das, wovon <strong>die</strong> Rede ist, nicht<br />

aus dem Wesen der Wissenschaft begriffen ist, und zwar deshalb<br />

nicht, weil es bei der herrschenden Auffassung der Wissenschaft<br />

nicht begriffen werden kann.<br />

Die geme<strong>in</strong>same Wurzel der beiden Krisen kann nicht gefaßt<br />

werden, weil das Wesen der Wissenschaft von vornhere<strong>in</strong> nicht<br />

§ 8. Frage nach der Wissenschaft aus ihrer Krisis 35<br />

zureichend bestimmt, d.h. unterbestimmt ist. Der Horizont für<br />

e<strong>in</strong>e mögliche Wesens bestimmung der Wissenschaft ist sowohl<br />

zu schmal als auch zu dunkel. Es sche<strong>in</strong>t demnach, daß wir <strong>die</strong><br />

Wurzel der Krisis unmittelbar treffen, wenn wir uns auf <strong>die</strong> an<br />

erster Stelle genannte Krisis bes<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> nach unserer Formulierung<br />

den <strong>in</strong>neren Wesens bau der Wissenschaft selbst betrifft.<br />

Aber wir sahen schon <strong>in</strong> den bisherigen Überlegungen, daß <strong>die</strong><br />

Kdsen immer nur e<strong>in</strong>e Anweisung darauf geben, wo ihre Wurzel<br />

zu suchen ist, nicht aber, wo <strong>die</strong>se selbst zu f<strong>in</strong>den ist.<br />

~<br />

c).Die Krisis im <strong>in</strong>neren Wesensbau der Wissenschaft selbst<br />

Die Krisis im Wesensbau der Wissenschaft bekundet sich <strong>in</strong><br />

dem, was man heute mit e<strong>in</strong>em Schlagwort gern als Grundlagenkrise<br />

bezeichnet. So spricht man von e<strong>in</strong>er Grundlagenkrise<br />

der Mathematik. Obwohl sie für Mathematiker und Philosophen<br />

heute noch völlig undurchsichtig ist, hat gerade sie e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Popularität erreicht, weil <strong>die</strong> Krise e<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

betrifft, <strong>die</strong> man seit Jahrtausenden für schlechth<strong>in</strong> unerschütterlich<br />

hielt, <strong>in</strong> der es - nach der Vorstellung ungeschichtlicher<br />

Wissenschaft - von e<strong>in</strong>er Entdeckung zur nächsten weiterg<strong>in</strong>ge.<br />

Aber <strong>die</strong>se Grundlagenkrisis besteht nicht nur <strong>in</strong> der Mathematik,<br />

und sie besteht nicht nur erst heute, sondern <strong>die</strong>se Krisis<br />

wohnt <strong>in</strong> jeder Wissenschaft, seitdem es Wissenschaft gibt. Das<br />

heißt: Was sich <strong>in</strong> dem Schlagwort Grundlagenkrisis anzeigt,<br />

gehört zum Wesen der Wissenschaft.<br />

Von außen gesehen ist es zunächst merkwürdig, daß <strong>die</strong> Wissenschaften,<br />

<strong>die</strong> der Grundlagenkrisis unterliegen, nicht <strong>in</strong> sich<br />

zusammenbrechen, sondern im Gegenteil oft - denken wir nur<br />

an <strong>die</strong> heutige Physik und auch <strong>die</strong> Biologie - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen<br />

Entwicklung stehen. Man spricht von Grund-Iagen-krisis, Erschütterung<br />

der Fundamente - und dennoch gerät der Bau nicht<br />

<strong>in</strong>s Wanken. Weil das Bild von Grundlage, Fundament und Bau<br />

nicht allzu viel aussagt, gilt es näher auszumachen, was hier<br />

Grundlage e<strong>in</strong>er Wissenschaft bedeutet.


36 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

Die Wissenschaften bewegen sich <strong>in</strong> bestimmten Aussagen,<br />

Sätzen und Begriffen, und <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit bestimmt<br />

durch Grund-sätze und Grund-begriffe. Sü spricht man<br />

davün, durch <strong>die</strong> neueste Physik sei der bisherige Begriff der<br />

Kausalität, der Ursache und Verursachung unbrauchbar gewürden,<br />

imgleichen der Begriff Materie. In der Biülügie wächst <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nütwendigkeit e<strong>in</strong>er neuen 'Oder erstmaligen<br />

Umgrenzung dessen, was Lebewesen, Organismus besagt. Man<br />

beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>zusehen, daß <strong>die</strong> Chemie e<strong>in</strong>e außerürdentlich hüchstehende<br />

und reiche Wissenschaft ist, daß es aber düch nicht<br />

angeht, durch den blüßen Chemismus den Organismus und se<strong>in</strong><br />

Wesen erfassen zu wüllen. In der Philülügie wird vün allen Seiten<br />

e<strong>in</strong>e neue Bes<strong>in</strong>nung wach auf das Wesen der Sprache, auf<br />

e<strong>in</strong>e Neubildung der Idee und der Struktur der Grammatik<br />

süwie auf den Begriff und das Wesen der »Literatur« und »Literaturgattungen«.<br />

In der Histürie wächst <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht: Das<br />

Verständnis des Geschichtlichen ist nicht beliebig und düch wesentlichen<br />

Wandlungen unterwürfen, wie sie <strong>die</strong> Naturwissenschaften<br />

nicht kennen, wenn auch <strong>die</strong>se eigene Gesetze ihrer<br />

Ausbildung haben. In der christlichen Theülügie, natürlich nur<br />

<strong>in</strong> der prütestantischen, sucht man nach e<strong>in</strong>em neuen Verständnis<br />

der Begriffe Glaube, Offenbarung.<br />

Dies s<strong>in</strong>d beliebige und äußerliche Beispiele dafür, daß sülehe<br />

für <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaften leitenden Begriffe<br />

schwankend gewürden s<strong>in</strong>d und daß nach e<strong>in</strong>er neuen Umgrenzung<br />

gesucht wird, mit mehr 'Oder m<strong>in</strong>der viel Glück, mit mehr<br />

'Oder m<strong>in</strong>der guter E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> möglichen Wege.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist <strong>die</strong> Sachlage nun nicht sü, daß <strong>die</strong> Fürseher sich<br />

etwa e<strong>in</strong>hellig um <strong>die</strong> neue Klärung und Sicherung der Grundbegriffe<br />

bemühten, ja auch nur e<strong>in</strong>mütig <strong>die</strong> Nütwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er sülchen zugäben. Im Gegenteil, <strong>die</strong> meisten sperren sich<br />

dagegen und sehen <strong>in</strong> sülchen Versuchen e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen vün<br />

Mystik und Metaphysik <strong>in</strong> ihre Wissenschaft. Man will vün<br />

<strong>die</strong>sem verschwümmenen und allgeme<strong>in</strong>en Zeug nichts wissen,<br />

zumal dann nicht, wenn <strong>die</strong>se" verme<strong>in</strong>tliche Revisiün der<br />

§ 8. Frage nach der WlSsenschqft aus threr Krisis 37<br />

Grundlagen der Wissenschaft mit irgende<strong>in</strong>er überschwenglichen<br />

Weltanschauung unternümmen und mehr mit schlechtem<br />

Pathüs als mit guten Gründen gepredigt wird. Gegenüber<br />

<strong>die</strong>sen fragwürdigen Experimenten beruft man sich auf <strong>die</strong><br />

Gründlichkeit und Stetigkeit der Spezialfürschung und lehnt<br />

alle solche Neuerungen ab. Wü man e<strong>in</strong>e sülche Bes<strong>in</strong>nung als<br />

nütwendig zugibt, glaubt man jedüch, <strong>die</strong> bisherigen Mittel der<br />

sü hoch entwickelten eigenen Wissenschaft reichten aus, <strong>die</strong>se<br />

Arbeit selbst zu erledigen - alsü z.B. das Wesen und <strong>die</strong> Grundlagen<br />

der Mathematik ma<strong>die</strong>matisch begreifen zu können.<br />

Sü kümmt es, daß <strong>die</strong> Wissenschaften und ihre Vertreter auf<br />

der e<strong>in</strong>en Seite sich auf gesicherte Tatsachen und Methüden<br />

berufen - e<strong>in</strong> Starrs<strong>in</strong>n, der sich h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Menge der Resultate<br />

verschanzt, - und auf der anderen Seite allzu schnell mit irgendwüher<br />

erbürgten und äußerlich an <strong>die</strong> Wissenschaft herangebrachten<br />

philüsüphischen Begriffen und Ideen 'Operieren.<br />

In der Krise der Wissenschaft s<strong>in</strong>d sie h<strong>in</strong>- und hergewürfen<br />

zwischen jenem Starrs<strong>in</strong>n und e<strong>in</strong>er Überschwenglichkeit neuerungssüchtiger<br />

Stimmung und kümmen dabei nicht vün der<br />

Stelle. Sü muß man zugestehen, daß <strong>die</strong>se Grundlagenkrisen<br />

nicht ernsthaft ergriffen und verstanden s<strong>in</strong>d, daß sie nur zeigen,<br />

wie ungeheuer weit <strong>die</strong> Wissenschaften heute - bei allen<br />

Fürtschritten und allen Resultaten - vün e<strong>in</strong>em Verständnis<br />

auch nur der Krisis als sülcher, d.h. vün der E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das<br />

Wesen der Wissenschaft, entfernt s<strong>in</strong>d.<br />

Aber vielleicht ist e<strong>in</strong> sülches Selbstverständnis der Wissenschaft<br />

gar nicht nütwendig, wenn nur der sügenannte Fortschritt<br />

der Wissenschaft sich ungehemmt jeden Tag weiter<br />

auswirkt. Was süll e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition etwa der Physik für ihre<br />

Fürtschritte, wenn sie gar sü unverständlich für <strong>die</strong> Physiker ist<br />

wie alle philüsüphischen Theürien? »Was süllen wir damit anfangen?«<br />

lautet <strong>die</strong> übliche und fast spüntane Frage <strong>in</strong> den<br />

E<strong>in</strong>zelwissenschaften gegenüber solchen grundsätzlichen Bemühungen.<br />

Der Mathematiker braucht gar nicht zu wissen,<br />

wür<strong>in</strong> das Wesen der Mathematik besteht, wenn er nur richtige


38 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

und brauchbare Resultate f<strong>in</strong>det. Doch am Ende ist der sachliche<br />

Fortschritt im Bereich der Tatsachen, den man so wichtig<br />

nimmt, gerade der Grund für <strong>die</strong>ses Nichtsanfangenkönnen mit<br />

e<strong>in</strong>er grundsätzlichen Bes<strong>in</strong>nung, zugleich auch der Grund für<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Not der Wissenschaft, <strong>die</strong> man sich selten ganz offen<br />

e<strong>in</strong>gesteht, <strong>die</strong> aber <strong>in</strong> all <strong>die</strong> Auswege h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>treibt, <strong>die</strong> wir<br />

andeuteten.<br />

So weicht man selbst <strong>die</strong>ser <strong>in</strong>neren Krisis der Wissenschaft<br />

aus, weil man schon gar nicht versteht, wie hier ernsthaft und<br />

fruchtbar gefragt werden kann. Vielleicht ist es <strong>in</strong> der Tat so,<br />

daß weder <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelne Wissenschaft von sich aus <strong>in</strong> der üblichen<br />

Selbstkenntnis noch e<strong>in</strong>e von außen herangebrachte <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>die</strong> Krisis auch nur wecken kann. Mit <strong>die</strong>sem Entweder-Oder<br />

wird <strong>die</strong> Wurzel der Krisis überhaupt nicht erreicht.<br />

Die Frage bleibt freilich, ob es nur das Versagen der <strong>Philosophie</strong><br />

auf der e<strong>in</strong>en und das Nichtwollen der Wissenschaft auf der<br />

anderen Seite s<strong>in</strong>d, was <strong>die</strong> echte Krisis nicht wach werden läßt,<br />

- oder aber ob es daran liegt, daß sowohl <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als<br />

auch <strong>die</strong> Wissenschaften mit e<strong>in</strong>er Wissenschaftsidee operieren,<br />

<strong>die</strong> nicht zureicht, das Problem zu verstehen. Das letztere ist <strong>in</strong><br />

der Tat der FalL<br />

Wir stehen nicht so ursprünglich <strong>in</strong> der Wissenschaft, um ihre<br />

Krisis von Grund aus zu fassen, d.h. von ihr selbst kritisch im<br />

ernsten S<strong>in</strong>ne erlaßt zu werden. Wir haben <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

nicht so elementar und durchsichtig zu eigen, um <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />

selbst an deren Grenzen stoßen zu können, um an<br />

<strong>die</strong>sen Grenzen der Wissenschaft das zu verstehen, warum sie<br />

nicht zufällig, sondern notwendig als Wissenschaft umgrenzt<br />

ist. Solange es nicht dah<strong>in</strong> kommt, daß <strong>die</strong> Forscher <strong>in</strong> den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaften e<strong>in</strong>sehen, daß sie mit den Mitteln<br />

ihrer Wissenschaft <strong>die</strong>se grundsätzlich nie begreifen und auf<br />

den Grund br<strong>in</strong>gen können, solange ist alle Grundlagenforschung<br />

vergeblich. Die Mathematik läßt sich nicht mathematisch<br />

begreifen, und das Wesen der Philologie werden ke<strong>in</strong>e<br />

Philologen mit philologischen Methoden aufhellen.<br />

§ 8. Frage nach der Wissenschaft aus ihrer Krisis 39<br />

Wir müssen erst verstehen lernen, was Grundlage e<strong>in</strong>er Wissenschaft<br />

heißt und <strong>in</strong>wiefern Krisis der Grundlage gerade <strong>die</strong><br />

wesenhaften Grenzen der Wissenschaft als solcher offenbart.<br />

Ob <strong>die</strong> Krisis der Wissenschaften heute öffentlich weiter verhandelt<br />

wird oder nicht und wie, ist nicht wesentlich; entscheidend<br />

aber ist, ob wir willens und stark genug s<strong>in</strong>d, uns für den<br />

Durchgang oder besser E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> <strong>die</strong> Krisis vorzubereiten.<br />

Denn <strong>die</strong> Krisis soll nicht überwunden, sondern lebendig werden,<br />

und nicht dazu, daß Wissenschaften nur besser und <strong>in</strong> ihren<br />

Fortschritten ungehemmter und schneller würden, sondern<br />

dazu, daß <strong>die</strong> Wissenschaften überhaupt so existent werden<br />

können, wie sie es ihrem Wesen nach wollen.<br />

Aber <strong>die</strong>se Wandlung <strong>in</strong> der Stellung der Existenz zur Wissenschaft<br />

ist nicht Sache der Organisation und des Betriebs, und<br />

sie kommt nicht über Nacht. Es ist charakteristisch für <strong>die</strong> heutige<br />

Zeit, daß, selbst wenn wir gewisse echte Möglichkeiten und<br />

Aufgaben begriffen haben, wir noch nicht gelernt haben, was zu<br />

ihrer Verwirklichung gehört. Wir können nicht mehr warten,<br />

und das heißt, wir haben verlernt, daß <strong>die</strong> erste Aufgabe jeder<br />

Generation, <strong>die</strong> etwas will, dar<strong>in</strong> besteht, daß sie sich für <strong>die</strong><br />

kommende opfert, ohne Resignation, vielmehr mit der <strong>in</strong>neren<br />

Kraft und Sicherheit dessen, der begriffen hat, daß <strong>in</strong> allen<br />

echten menschlichen Leistungen jeder für jeden »nur« Vorläufer<br />

se<strong>in</strong> kann.<br />

Wesentlich ist nicht Programm und Betrieb, sondern das <strong>in</strong>nere<br />

Wachstum der Geschichte <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>zelnen Generation. Es<br />

gilt, nicht zu reden, sondern zu wirken. Wie, das versuchen wir<br />

zu verstehen. Ob Sie es verstehen und wirklich handeln, habe<br />

ich nicht <strong>in</strong> der Hand. Nur das e<strong>in</strong>e mag noch gesagt se<strong>in</strong>, bevor<br />

wir aufhören, über <strong>die</strong> Krisis zu sprechen: Es wäre bl<strong>in</strong>der Eifer,<br />

wenn Sie nun zum Beispiel <strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>arübungen Ihres Faches<br />

plötzlich anf<strong>in</strong>gen zu erzählen, daß <strong>die</strong> Wissenschaften eigentlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krisis ständen, und wenn Sie versuchten, Ihre<br />

Wissenschaft mit Hilfe e<strong>in</strong>er Heideggerschen Term<strong>in</strong>ologie zu<br />

reformieren.


40 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

§ 9. Neue Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft<br />

41<br />

§ 9. Neue Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft<br />

Die Erörterung der dreifachen Krisis ergab folgende Fragen:<br />

1. Wie steht so etwas wie Wissenschaft überhaupt 1m<br />

menschlichen Dase<strong>in</strong>?<br />

2. In welchem S<strong>in</strong>ne ist <strong>die</strong> Wissenschaft »praktisch«?<br />

3. Was.heißt Grundlage der Wissenschaft, und <strong>in</strong>wiefern offenbart<br />

sich an ihr e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Grenze im Wesen der Wissenschaft?<br />

Die Kennzeichnung der Krisis bezüglich der Stellung des<br />

e<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft ergab, daß nicht nur e<strong>in</strong>e Unklarheit<br />

darüber besteht, wie der e<strong>in</strong>zelne sich zur Wissenschaft<br />

verhalten soll, sondern daß grundsätzlich überhaupt nicht gefragt<br />

ist, <strong>in</strong> welchem S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong> Wissenschaft als solche im<br />

Dase<strong>in</strong> des Menschen steht.<br />

Entsprechend liegt <strong>in</strong> der Krisis der Wissenschaft bezüglich<br />

ihrer Stellung im Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit, daß<br />

sie sich formulieren läßt als <strong>die</strong> Frage nach dem wesentlich<br />

praktischen Charakter der Wissenschaft. Man spürt, daß <strong>die</strong><br />

Wissenschaft, gerade wenn sie im eigentlichen und echten S<strong>in</strong>ne<br />

theoretisch ist, trotzdem nicht abgelöst freischwebend se<strong>in</strong><br />

kann gegenüber dem konkreten Dase<strong>in</strong> der Geschichte, und<br />

man sucht aus <strong>die</strong>ser Unklarheit und Unbestimmtheit des Ziels<br />

der Wissenschaft e<strong>in</strong>en Ausweg durch <strong>die</strong> heute besonders starkeTendenz<br />

zur Popularisierung. Wir sahen aber, daß <strong>die</strong>se nicht<br />

e<strong>in</strong> zufälliger Mangel der Wissenschaft ist, sondern e<strong>in</strong> Verstoß<br />

gegen ihr <strong>in</strong>neres Wesen. Wissenschaft läßt sich ihrem S<strong>in</strong>ne<br />

nach nicht popularisieren. Was man im Grunde damit will, ist,<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft praktisch machen, ohne daß man eigentlich<br />

versteht, wor<strong>in</strong> der praktische Charakter der Wissenschaft besteht;<br />

aber nur, wenn man <strong>die</strong>sen geklärt hat, läßt sich auch<br />

ausmachen, <strong>in</strong>wiefern zu jeder Wissenschaft e<strong>in</strong>e gewisse Technik<br />

gehört und welche Stellung und Rolle sie im lebendigen<br />

Dase<strong>in</strong> der Wissenschaft selbst hat.<br />

Schließlich machte uns <strong>die</strong> Krisis im <strong>in</strong>neren Wesensbau der<br />

\Yissenschaft, oder wie man heute sagt, <strong>die</strong> »Grundlagenkrisis<br />

der Wissenschaft« deutlich, daß es sich <strong>in</strong> ihr eigentlich darum<br />

handelt, das Selbstverständnis der e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaften so<br />

klar und ursprünglich auszubilden, daß dar<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wissenschaften<br />

ihre eigene Grenze erkennen, um zugleich das aufleuchten<br />

zu sehen, was <strong>die</strong>se Grenze bestimmt, d.h., das andere, was <strong>die</strong><br />

V\" issenschaft seIhst noch trägt, von der Wissenschaft selbst als<br />

VVissenschaft aber nicht begriffen, ja nicht e<strong>in</strong>mal befragt werden<br />

kann. Diese Grundlagenkrisis ist <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong>, wenn sie<br />

recht verstanden wird, <strong>die</strong> Endlichkeit der Wissenschaft <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ursprünglichen S<strong>in</strong>ne klarmacht, d.h. sie macht offenbar,<br />

daß <strong>die</strong> Wissenschaft e<strong>in</strong>e wesenhafte Möglichkeit der<br />

Existenz des Menschen ist.<br />

Zugleich ergab <strong>die</strong> Erörterung, daß <strong>die</strong>se Fragen weder von<br />

den Wissenschaften selbst noch aber durch irgende<strong>in</strong>e von außen<br />

an <strong>die</strong> Wissenschaft herangeführte <strong>Philosophie</strong> beantwortet<br />

werden können.<br />

Es gilt vielmehr, <strong>in</strong> der Erhellung des Wesens der Wissenschaft<br />

an deren Grenze zu stoßen, um <strong>in</strong> der Umgrenzung etwas<br />

anderes anzutreffen.<br />

Doch sollen <strong>die</strong> Fragen jetzt nicht der Reihe nach beantwortet<br />

werden, vielmehr setzen wir, unter Festhaltung der Fragen,<br />

mit e<strong>in</strong>er neuen Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft<br />

eIn.<br />

Wenn wir so'mitten heraus fragen: »Was ist Wissenschaft?«,<br />

dann kommen' wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e große Ratlosigkeit. Zwar bieten sich<br />

sofort allerlei Antworten an; das ist das Anzeichen dafür, daß<br />

das, dessen Wesen wir suchen, uns nicht schlechth<strong>in</strong> unbekannt<br />

ist.<br />

So können wir auf <strong>die</strong> Frage, was Wissenschaft sei, beispielsweise<br />

antworten: Wissenschaft ist da, wo es Institute gibt, <strong>in</strong><br />

denen mit Hilfe von Apparaten Untersuchungen angestellt werden.<br />

Diese Aussage gilt vielleicht für alle Naturwissenschaften<br />

und <strong>die</strong> Mediz<strong>in</strong>, nicht aber für <strong>die</strong> Geisteswissenschaften. Doch<br />

wie ist es mit der Musikwissenschaft, <strong>die</strong> wir zu den historischen


42 Die Frage nach dem Wesen der WlSsenschaft<br />

§' 9. Neue Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft<br />

43<br />

Geisteswissenschaften rechnen? Sie hat auch Institute und sogar<br />

»Instrumente« wie Cembalo oder Hammerklavier, <strong>die</strong> aber offenbar<br />

e<strong>in</strong>e ganz andere Funktion als etwa e<strong>in</strong> Elektroskop oder<br />

e<strong>in</strong> Thermometer haben. Im Grunde benötigen aber alle Wissenschaften<br />

technisches Handwerkszeug - und wenn es nur<br />

Bücher s<strong>in</strong>d. Wissenschaft ist das <strong>in</strong> Büchern Gedruckte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

hat das Buch <strong>in</strong> der Philologie e<strong>in</strong>e andere Funktion als<br />

das Bürgerliche Gesetzbuch <strong>in</strong> der Rechtswissenschaft oder <strong>die</strong><br />

Bibel <strong>in</strong> der Theologie. Es ist fraglich, ob mit <strong>die</strong>sem Handwerkszeug,<br />

den Büchern - doch nicht alle Bücher s<strong>in</strong>d Handwerkszeug<br />

-, das Wesen der Wissenschaft gekennzeichnet ist.<br />

Vielleicht folgt aus dem Wesen der Wissenschaft, daß sie auf<br />

e<strong>in</strong>e solche Technik, auf Institute, Bücher, Apparate angewiesen<br />

ist; aber <strong>die</strong> Wesensfolge ist nicht das Wesen selbst, und so kann<br />

der H<strong>in</strong>weis auf <strong>die</strong> technische Konkretion <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />

sehr wesentlich und doch nur äußerlich se<strong>in</strong>. Wir verlangen<br />

demgegenüber aber e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Bestimmung des Wesens und<br />

f<strong>in</strong>den sie vielleicht, wenn wir fragen, wozu <strong>die</strong> ganze Apparatur<br />

<strong>die</strong>nt.<br />

Die Apparate haben nur S<strong>in</strong>n und Zweck im Dienste der<br />

Forschung. Das Forschen ist e<strong>in</strong> Erkennenwollen nicht beliebiger<br />

Art und nicht mit Bezug auf beliebige Objekte, sondern<br />

untersuchendes Erkennen, das methodisch und systematisch im<br />

Umkreis e<strong>in</strong>er Ordnung von bestimmt umgrenzten Fragen vorgeht<br />

und vor allem auf e<strong>in</strong>e Erkenntnis abzielt, <strong>die</strong> möglichst<br />

exakt bewiesen und allgeme<strong>in</strong>gültig ausgearbeitet werden soll.<br />

a) Wissenschaft als methodische, systematische, exakte und<br />

allgeme<strong>in</strong>gültige Erkenntnis<br />

Die Prädikate a.XQLßiJr; und xm't6Ä.ou s<strong>in</strong>d von alters her der Erkenntnis<br />

der Wissenschaft zugesprochen worden. So können wir<br />

sagen: Wissenschaft ist methodische, systematische, exakte und<br />

allgeme<strong>in</strong>gültige Erkenntnis. Gerade <strong>die</strong> heiden letzten Prädikate<br />

gelten von jeher als auszeichnende Bestimmungen der<br />

vVIssenschaft. Man beruft sich oft auf Kant, der e<strong>in</strong>mal sagte:<br />

»Ich behaupte aber, daß <strong>in</strong> jeder besonderen Naturlehre nur<br />

sovIel eIgentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als<br />

dann l\1athematik anzutreffen ist.«! E<strong>in</strong>e Wissenschaft ist nur<br />

soweIt wissenschaftlich, als sie mathematisierbar ist. Also s<strong>in</strong>d<br />

dIe Geisteswissenschaften überhaupt ke<strong>in</strong>e Wissenschaften, sofern<br />

SIe sich der Mathematisierung grundsätzlich widersetzen.<br />

Andererseits ist Mathematik dann <strong>die</strong> eigentliche Wissenschaft,<br />

denn SIe ist ja doch <strong>die</strong> exakteste und ihre Ergebnisse s<strong>in</strong>d<br />

schlechthm allgeme<strong>in</strong>gültig. So lautet <strong>die</strong> landläufige Auslegung<br />

des kantischen Satzes. Ob aber all das aus <strong>die</strong>sem Satz<br />

folgt, Ja ob er, recht besehen, überhaupt den S<strong>in</strong>n hat, den man<br />

ihm dabei gibt, wird sich später zeigen.<br />

Exaktheit gilt als Kennzeichen der Wissenschaft, und exakte<br />

BeweIse smd Ziel und Stolz wissenschaftlicher Begründung. Die<br />

ExaktheIt aber beruht auf dem mathematischen Charakter der<br />

betreffenden Wissenschaft. Dieser mathematische Charakter<br />

kann Jedoch e<strong>in</strong>er Wissenschaft nicht e<strong>in</strong>fach aufgezwungen<br />

werden, weil man sich vorgenommen hat, sie als e<strong>in</strong>e exakte<br />

auszubilden. Was <strong>in</strong> der betreffenden Wissenschaft Gegenstand<br />

werden soll, muß von sich aus allererst e<strong>in</strong>e mathematische<br />

Bestimmbarkeit zulassen oder abweisen.<br />

Wenn so <strong>die</strong> Möglichkeit der Mathematisierung e<strong>in</strong>er Wissenschaft<br />

im Sachgehalt und <strong>in</strong> der Se<strong>in</strong>sart des GegenstandsgebIetes<br />

liegt, dann bedarf es über<strong>die</strong>s aber noch der Motivierung<br />

der Notwendigkeit e<strong>in</strong>er solchen. So gewähren <strong>die</strong><br />

Lebewesen als ausgedehnte Körper e<strong>in</strong>e gewisse mathematische<br />

Bestimmbarkeit, aber <strong>die</strong> unbegrenzte Verwirklichung <strong>die</strong>ser<br />

V10glJchkeit wäre e<strong>in</strong> Verfehlen der Absicht, den Organismus als<br />

solchen zu erfassen und zu bestimmen. Exaktheit der ErkenntnIs<br />

kann also mit Bezug auf den zu erkennenden Gegenstand<br />

I lmmanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft.<br />

\orrpdC', \ IX In: Immanuel Kants Werke, hrsg. von Ernst Cassirer. Band IV,<br />

ßprhn 1922, S. 372.


44 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

gerade unangemessen se<strong>in</strong>. Diese Un-angemessenheit, <strong>die</strong>se<br />

Nicht-Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem, was der Gegenstand fordert,<br />

ist e<strong>in</strong>e fundamentale Form von Unwahrheit.<br />

Exaktheit kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wissenschaft Unwahrheit mit sich<br />

führen; sie gehört also nicht wesensnotwendig zur Wahrheit.<br />

Wenn wir unter Strenge der Wissenschaft <strong>die</strong> Art und Weise<br />

verstehen, wie <strong>die</strong> dem Gegenstand angemessene Erkenntnis<br />

gewonnen und bestimmt werden kann, dann begründet Exaktheit<br />

nicht notwendig <strong>die</strong> Strenge e<strong>in</strong>er Wissenschaft. So bedeutete<br />

der im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, <strong>die</strong> historische<br />

Erkenntnis der mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />

anzugleichen, e<strong>in</strong>en wesentlichen Verstoß gegen <strong>die</strong> spezifische<br />

Strenge der historischen Erkenntnis. E<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

braucht, um als strenge zu gelten, nicht exakt zu se<strong>in</strong>. Wohl aber<br />

ist dennoch das Ideal jeder Wissenschaft <strong>die</strong> Strenge ihrer Erkenntnisse.<br />

Vielleicht ist <strong>die</strong> Strenge als Exaktheit <strong>in</strong> den<br />

Naturwissenschaften viel leichter zu gew<strong>in</strong>nen als <strong>die</strong> Strenge<br />

der spezifisch unexakten Wissenschaften, <strong>die</strong> deshalb nicht weniger<br />

streng s<strong>in</strong>d. Auch wenn wir sagen, daß zur Wissenschaft<br />

Strenge ihrer Erkenntnis gehört, haben wir <strong>die</strong> gesuchte Wesensbestimmung<br />

der Wissenschaft nicht gefunden. Der Charakter<br />

der Strenge mag vielleicht e<strong>in</strong> für <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

notwendiger se<strong>in</strong>, aber <strong>die</strong> Frage bleibt, ob er auch schon e<strong>in</strong>e<br />

ursprüngliche Bestimmung von Wissenschaft ist. Dieser Charakter<br />

der Strenge kann auch nur notwendig aus ihrer <strong>in</strong>neren<br />

Wesensverfassung folgen.<br />

§ 9. Neue Bes<strong>in</strong>nung über das Wesen der Wissenschaft 45<br />

DIS. Diese Angemessenheit der Erkenntnis ist <strong>in</strong> der scholastischen<br />

Def<strong>in</strong>ition von Wahrheit erfaßt: Adaequatio <strong>in</strong>tellectus ad<br />

rem.<br />

Strenge ist der Modus der Wahrheitsgew<strong>in</strong>nung, sie hat also<br />

nur Smn und Funktion <strong>in</strong>nerhalb der Wissenschaft, sofern <strong>die</strong>se<br />

auf Erfassung der Wahrheit abzielt. Wissenschaftliche Forschung<br />

und Lehre ist untersuchendes Erkennen, e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Art des Suchens, F<strong>in</strong>dens, Zueignens, Behaltens, Mitteilens<br />

von Wahrheit.<br />

Die Kennzeichnung von Wissenschaft als e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Art von Erkenntnis, von Abzielen auf Wahrheit ist am Ende<br />

unbestreitbar, ,aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Allgeme<strong>in</strong>heit zugleich nichtssagend.<br />

Alles wird davon abhängen, wie Erkenntnis und WahrheIt<br />

uberhaupt gefaßt werden und wor<strong>in</strong> <strong>die</strong> spezifische<br />

EIgt'ntumlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlIcher<br />

Wahrheit gesucht wird.<br />

MIt der Lösung <strong>die</strong>ser Aufgaben stehen wir am Scheideweg,<br />

an dem sich entscheidet, ob das Wesen der Wissenschaft getroffen<br />

oder unwiederbr<strong>in</strong>glich verfehlt wird, so verfehlt freilich,<br />

daß <strong>die</strong>se Verfehlung immer noch den Sche<strong>in</strong> der Wahrheit bei<br />

SIch trägt. Denn wenn überhaupt Wissenschaft als Erkenntnis<br />

und Wahrheit angesetzt ist, dann sche<strong>in</strong>t das Wesentliche geslcht'rt,<br />

zumal darüber, was Wahrheit ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht doch<br />

weItgehende Übere<strong>in</strong>stimmung herrscht, nämlich <strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung,<br />

daß Wahrheit etwas sei, was als Eigenschaft primär der<br />

Aussage, dem Urteil zukomme.<br />

b) Wissenschaft und Wahrheitadaequatio<br />

<strong>in</strong>tellectus ad rem<br />

Daß dem so ist, entnehmen wir leicht aus dem, wie wir <strong>die</strong><br />

Strenge gekennzeichnet haben: <strong>die</strong> Art und Weise, wie <strong>die</strong> dem<br />

Gegenstand angemessene Erkenntnis gewonnen und bestimmt<br />

werden kann. Strenge ist demnach e<strong>in</strong> bestimmter Charakter<br />

der Aneignung der Gegenstandsangemessenheit der Erkennt-


111<br />

46 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

§ 10. Wahrheit als Satzwahrheit<br />

Wahrheit ist von Haus aus Urteils-, Aussagewahrheit. Urteile und<br />

Aussagen drücken sich sprachlich <strong>in</strong> Sätzen aus. Wahrheit ist<br />

Satzwahrheit. »Diese Lampe brennt«, »Diese Kreide ist weiß« ,<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fache Beispiele für e<strong>in</strong>e Satzwahrheit. E<strong>in</strong>zelne Worte<br />

und Wortzusammenstellungen wie »<strong>die</strong>se Lampe« oder »<strong>die</strong>se«<br />

oder »brennt« können weder wahr noch falsch se<strong>in</strong>, sondern nur<br />

der Satz im Ganzen, d.h. <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung des Prädikats »brennt«<br />

mit dem Subjekt »<strong>die</strong> Lampe«. Diese Überlegung ist e<strong>in</strong>leuchtend.<br />

Die Wahrheit liegt <strong>in</strong> Vorstellungsverb<strong>in</strong>dungen, nicht <strong>in</strong><br />

isolierten Vorstellungen. Daß <strong>die</strong> Wahrheit ihren Ort <strong>in</strong> der Aussage,<br />

im Satz habe, ist um so weniger von Zweifeln berührt, als<br />

sich dafür sogar Platon und Aristoteles als Kronzeugen anrufen<br />

lassen. Seither ist <strong>die</strong>se Auffassung der Wahrheit unerschütterlich<br />

geblieben, sie gehört zu dem ganz Wenigen, was <strong>in</strong> der<br />

Geschichte der <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>mütig festgehalten wird.<br />

Unsere späteren Überlegungen werden an <strong>die</strong>sem Problem<br />

zentral orientiert se<strong>in</strong>. Deshalb seien kurz e<strong>in</strong>ige Belege für<br />

<strong>die</strong>se wichtige Auffassung der Wahrheit als Satzwahrheit gegeben:<br />

Aristoteles, De <strong>in</strong>terpretatione, 4,17a 1 sqq.: EcrU ÖE 'A.oyoC;<br />

a:n:ae; JlEV 0l1JlavtLxoe;, ... u:n:Omatura<br />

ventatis <strong>in</strong> universum seu connexio <strong>in</strong>ter term<strong>in</strong>os enuntiationis,<br />

aut etiam Aristoteles observavit«.1 Leibniz nennt also <strong>die</strong><br />

Wahrheit des Satzes hier connectio, das ist e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> late<strong>in</strong>ische<br />

Loersetzung von ouv6-EOLe;. Die Wahrheit ist connectio von<br />

zweI Begriffen 'oder Ausdrücken. Die Wahrheit gehört zur enuntlatio,<br />

zur Aussage.<br />

Schließlich sei auf e<strong>in</strong>en Beleg aus Kant, Logikvorlesung<br />

§ 17, verwiesen: »E<strong>in</strong> Urteil ist <strong>die</strong> Vorstellung der E<strong>in</strong>heit des<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s verschiedener Vorstellungen oder <strong>die</strong> Vorstellung<br />

des Verhältnisses derselben, sofern sie e<strong>in</strong>en Begriff ausmachen.«2<br />

Kant sagt auch ganz kurz: Ich denke = ich urteile = ich<br />

verb<strong>in</strong>de, nämlich Prädikat und Subjekt. Im Verb<strong>in</strong>den ist also<br />

nach der allgeme<strong>in</strong>en Auffassung der Ort der Wahrheit.<br />

, Opuseules et fragments <strong>in</strong>edits de Leibniz, ed. Louis Couturat. Paris 1903,<br />

p '}18/9 Pnmae veritates. Phil. VIII,' 6.<br />

2 lmmanuel Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich preußi­<br />

"hpn '\kademie der Wissenschaften. Bd. IX, Berl<strong>in</strong> 1923, S. 101.


48 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

Was ergibt sich nun aus <strong>die</strong>ser Kennzeichnung der Wahrheit<br />

als Satzwahrheit für <strong>die</strong> Bestimmung des Wesens der Wissen_<br />

schaft? Wenn Wissenschaft als Erkenntnis auf Wahrheit abzielt,<br />

<strong>die</strong> Wahrheit aber im Satz liegt, dann ist <strong>die</strong> Wissenschaft als e<strong>in</strong><br />

Zusammenhang von Erkenntnissen e<strong>in</strong> Zusammenhang von<br />

wahren Sätzen; <strong>die</strong>ser Zusammenhang ist dadurch bestimmt,<br />

daß <strong>die</strong> Sätze nicht e<strong>in</strong>fach nebene<strong>in</strong>ander gereiht s<strong>in</strong>d, sondern<br />

sich gegenseitig begründen. Der Zusammenhang der Sätze ist<br />

e<strong>in</strong> Begründungszusammenhang. Zum Wesen der Wissenschaft<br />

gehört also, wie auch Husserl sagt, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit des Begründungszusammenhangs~<br />

wahrer Sätze. Das ist <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition der<br />

Wissenschaft, wie sie heute <strong>in</strong> Wissenschaftslehre und Erkenntnistheorie<br />

üblich ist.<br />

Hieraus entnehmen wir e<strong>in</strong> Doppeltes: 1. e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Auffassung der Wahrheit als Satzwahrheit, 2. aber zugleich <strong>die</strong><br />

Auffassung der Wissenschaft von dem her, was sich gewissermaßen<br />

als ihr Resultat niederschlägt. Die Wissenschaft schlägt<br />

sich gewissermaßen nieder <strong>in</strong> Sätzen, und <strong>die</strong>ser Niederschlag<br />

der Forschung wird konkret <strong>in</strong> den gedruckten Abhandlungen<br />

und Büchern. So hat Hermann Cohen, Begründer der Marburger<br />

Schule, <strong>die</strong> ausgezeichnet ist durch e<strong>in</strong>e bestimmte Auffassung<br />

der kantischen <strong>Philosophie</strong>, der kantischen Kritik im<br />

besonderen als e<strong>in</strong>er Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, <strong>in</strong><br />

der Tat gesagt, »das Faktum der Wissenschaft liegt vor <strong>in</strong> den<br />

gedruckten Büchern.«' Unausgesprochen ist das der herrschende<br />

Horizont für <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wissenschaft.<br />

Aber es ist gerade <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong>ses H<strong>in</strong>sehen auf das Resultat<br />

der Wissenschaft primär ihr Wesen trifft.<br />

Das Resultat ist immer dasjenige, das sich von der Herstel-<br />

,§ 10. Wahrheit als Satzwahrheit 49<br />

lung und Verfertigung gewissermaßen ablöst, ist das Werk, das<br />

sIch von der Bewerkstelligung freimacht. Diese kann nicht ohne<br />

weiteres und im,Ganzen aus dem Werk erkannt werden. Das<br />

Resultat ist gleichsam der Leichnam, der, wie Hegel sagte, <strong>die</strong><br />

Tendenz [das Leben] h<strong>in</strong>ter sich gelassen hat. 5 Wir wollen aber<br />

nicht den Leichnam, nicht das, was von Hand zu Hand weitergegeben<br />

wird und schon erstarrt ist, sondern das Unmittelbare<br />

des Wirkens selbst, so allerd<strong>in</strong>gs, daß wir aus dem Wesen des<br />

wissenschaftlichen Wirkens und Werkeschaffens verstehen, <strong>in</strong><br />

welchem S<strong>in</strong>ne und <strong>in</strong> welcher Weise das Resultat zur Wissenschaft<br />

gehört. Wir wollen das Wesen der Wissenschaft als<br />

Wahrheitsf<strong>in</strong>dung und -bestimmung verstehen, so zwar, daß am<br />

Ende <strong>die</strong>ses Verständnis erst Aufschluß gibt, <strong>in</strong> welcher Weise<br />

<strong>die</strong> Resultate und Sätze sich zur Wissenschaft verhalten, d. h. <strong>die</strong><br />

Wissenschaft <strong>in</strong> ihrem Wesen nicht als Resultat, nicht als Werk,<br />

sondern im Vollzug des Wirkens begreifen.<br />

Wenn aber <strong>die</strong> Wissenschaft Wahrheitsf<strong>in</strong>dung und -bestimmung<br />

se<strong>in</strong> soll, dann wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s damit fraglich, ob der<br />

zugrundegelegte Begriff der Wahrheit als Satzwahrheit h<strong>in</strong>reicht,<br />

um Aufschluß über das Wesen der wissenschaftlichen<br />

Wahrheit zu geben. Vielleicht liegt sogar <strong>in</strong> der Kennzeichnung<br />

der Wahrheit als Satzwahrheit und <strong>in</strong> der Bestimmung der Wissenschaft<br />

von ihrem Resultat her e<strong>in</strong> und derselbe Grundirrtum,<br />

Wir müssen uns durch e<strong>in</strong>e radikalere Fassung des Wesens<br />

der Wahrheit <strong>in</strong> den Stand setzen, auch das Wesen der Wissenschaft<br />

von Anfang an ursprünglicher zu sehen. Wir müssen<br />

dah<strong>in</strong> kommen, daß wir von Anfang an vermeiden, Wissenschaft<br />

als Satzzusammenhang zu nehmen.<br />

, Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band, 3. unveränderte<br />

Aufl., Halle a.d.S. 1922. § 6, S. 15.<br />

• Anm. d, Hrsg,: Vermutlich zuspitzende Formulierung von Heidegger. Vgl.<br />

Hermann Cohen, Ethik des re<strong>in</strong>en Willens (System der <strong>Philosophie</strong>, Zweiter<br />

Teil), Berl<strong>in</strong>: Cassirer 1904, S. 62 f. Vgl. ferner Hermann Cohen, Kommentar zu<br />

Immanuel Kants Kritik der re<strong>in</strong>en Verrrunft. Leipzig: Me<strong>in</strong>er 1907, S. 53.<br />

; G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Jubiläumsausgabe. In revidl('rtc'lYl<br />

Text herausgegeben und mit e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> versehen von Georg<br />

Lassoll. Lelpzig 1911, S. 5 (Vorrede).


50 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

a) Der traditionelle Wahrheitsbegriff<br />

Wir fragen daher jetzt ganz allgeme<strong>in</strong>: Wie steht es mit dem<br />

Wahrheitsbegriff, der <strong>die</strong> heutige und frühere Bestimmung des<br />

Wesens der Wahrheit maßgebend leitet? Die Antwort wird lauten:<br />

Der traditionelle Wahrheitsbegriff trifft nicht das ursprüngliche<br />

Wesen der Wahrheit. Damit erhebt sich aber <strong>die</strong><br />

Frage: Wie ist dann Wahrheit ursprünglicher zu bestimmen<br />

und zwar so, daß daraus verständlich wird, warum es daz~<br />

kommt, Wahrheit gewöhnlich als Satzwahrheit zu fassen? Wir<br />

werden <strong>die</strong>se herrschende Auffassung bei ihrem großen Alter<br />

und ihrer weitreichenden Bedeutung nicht e<strong>in</strong>fach beiseiteschieben,<br />

sondern wir müssen aus der positiven Klärung des<br />

Wesens der Wahrheit zugleich den Grund für <strong>die</strong>se herrschende<br />

Auffassung f<strong>in</strong>den und damit <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das relative Recht<br />

<strong>die</strong>ser Auffassung gew<strong>in</strong>nen.<br />

Wir haben also e<strong>in</strong> Doppeltes zu zeigen: Erstens, daß Wahrheit,<br />

<strong>die</strong> traditionell als Eigenschaft des Urteils, als adaequatio<br />

<strong>in</strong>tellectus et rei, gefaßt wird, <strong>in</strong> etwas anderem gründet, d. h.<br />

was man im Urteil als Wahrheit faßt, ist zwar e<strong>in</strong>e echte Bestimmung,<br />

aber <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit der Wahrheit liegt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Ursprünglicheren, und <strong>die</strong>ses Ursprüngliche gilt es zweitens<br />

näher zu kennzeichnen.<br />

Das s<strong>in</strong>d sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>fache Überlegungen, <strong>in</strong> denen freilich<br />

etwas ganz Wesentliches zur Sprache kommt. Angesichts solch<br />

sche<strong>in</strong>bar trivialer Überlegungen sieht es so aus, zumal wenn<br />

man sie öfters schon durchgesprochen hat, als könnte man e<strong>in</strong>en<br />

solchen Zusammenhang zwischen abgeleiteter und ursprünglicher<br />

Wahrheit e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> für alle Mal wissen. Es ist charakteristisch,<br />

daß man all <strong>die</strong>se Wesenszusammenhänge nie so wissen<br />

kann, wie man irgende<strong>in</strong>e Kenntnis hat, sondern daß ich sie mir<br />

immer wieder aneignen muß und bei jeder Neuaneignung sich<br />

mir e<strong>in</strong> neuer Abgrund zeigt. Das Wesen des E<strong>in</strong>fachen und<br />

Selbstverständlichen ist es, daß es der eigentliche Ort für <strong>die</strong><br />

Abgründigkeit der Welt ist. Und <strong>die</strong>ser Abgrund öffnet sich nur,<br />

§ 10. Wahrheit als Satz wahrheit 51<br />

wenn wir philosophieren, aber nicht, wenn wir glauben, dergleichen<br />

schon zu wissen.<br />

b) Wahrheit als Charakter e<strong>in</strong>es Satzes:<br />

Verb<strong>in</strong>dung von Subjekt und Prädikat<br />

Die These der traditionellen Logik und Erkenntnislehre im weitesten<br />

S<strong>in</strong>ne lautet: Wahrheit ist e<strong>in</strong>e Eigenschaft der Aussage.<br />

Wir wollen uns <strong>die</strong>se These zunächst an e<strong>in</strong>em Beispiel erläutern,<br />

das wir allen weiteren Überlegungen dann zugrundelegen.<br />

Wahrheit als Charakter e<strong>in</strong>es Satzes ist <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>fachsten Form<br />

e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von Subjekt und Prädikat, S - p. In <strong>die</strong>ser<br />

Verb<strong>in</strong>dung soll der Ort für das se<strong>in</strong>, was wir Wahrheit e<strong>in</strong>es<br />

Satzes nennen. Nehmen wir e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel:»Diese Kreide<br />

ist weiß.« In <strong>die</strong>ser Aussage wird <strong>die</strong> Bestimmung »weiß«,<br />

das Prädikat, dem Subjekt »Kreide« zugesprochen. 'Die Griechen,<br />

besonders Aristoteles (De <strong>in</strong>terpret. 5,17a 8; 6,17a 25),<br />

haben für <strong>die</strong>ses Zusprechen <strong>die</strong> Bezeichnung Xat"Uq>(l(JLC;. Dieser<br />

Ausdruck heißt: »von oben herunter auf etwas zu«, bedeutet also<br />

gewissermassen von oben herunter auf <strong>die</strong> Kreide zu sagen, sie<br />

sei weiß, ihr <strong>die</strong> Bestimmung, <strong>die</strong>ses Prädikat zuzusprechen.<br />

Sage ich von demselben Gegenstand: Diese Kreide ist nicht<br />

blau, so wird ihr das »blau« abgesprochen. Diese Form der Aussage<br />

nennen <strong>die</strong> Griechen aru)q>amc;, das heißt, ich spreche e<strong>in</strong>er<br />

Sache etwas ab, von ihr weg. Diese Scheidung ist dann später,<br />

im Ausgang der Antike und zu Anfang des Mittelalters, <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

late<strong>in</strong>ische Term<strong>in</strong>ologie übergegangen, und seitdem heißt<br />

xm:acpums; affirmatio, oder wie Boethius noch sagt: adfirmati0 6 ;<br />

und cmocpuats; heißt negatio. In der traditionellen Logik bedeuten<br />

<strong>die</strong>se Ausdrücke also e<strong>in</strong> bejahendes bzw. verne<strong>in</strong>endes<br />

l~rteil (verum - falsum). Beide Formen, <strong>die</strong> xm:uq>amc; wie <strong>die</strong><br />

UJToq:,U(JlS; können nun jeweils entweder wahr oder falsch se<strong>in</strong>,<br />

(, Vgl Roethius, De <strong>in</strong>terpretatione. Patrologia Lat<strong>in</strong>a, ed. J.-P. Migne. Bd.<br />

M. I'drtO 1891, S. 364 A.


52 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

d. h. es gibt bejahende wahre oder falsche Urteile und ebenso<br />

verne<strong>in</strong>ende wahre oder falsche Urteile. Das bejahende Urteil<br />

als das wahre ist: »Die Kreide ist weiß.« Das bejahende als<br />

falsches ist: Die Kreide ist blau. Das verne<strong>in</strong>ende Urteil als<br />

wahres ist: Die Kreide ist nicht blau. Das verne<strong>in</strong>ende als falsches:<br />

Die Kreide ist nicht weiß. So kreuzt sich <strong>die</strong> eigentüm_<br />

liche Bestimmung des Negativen und Positiven, wobei <strong>in</strong> der<br />

Formel des negativen Urteils e<strong>in</strong>e eigentümliche Doppelung<br />

liegt, was wir im Deutschen nicht zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, da wir<br />

nur e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Negation setzen, während wir <strong>in</strong> der positiven<br />

Aussage »<strong>die</strong> Kreide ist weiß« ke<strong>in</strong> entsprechendes Wort haben,<br />

das der Negation entspricht; wir müßten eigentlich sagen, <strong>die</strong><br />

Kreide ist ja weiß.<br />

Doch <strong>in</strong>teressiert e<strong>in</strong> anderer Zusammenhang, nämlich der<br />

Charakter der Wahrheit <strong>in</strong> der Aussage und ihr Ort. Wenn wir<br />

nun der E<strong>in</strong>fachheit halber beim positiven, d.h. beim bejahenden<br />

wahren Urteil »Diese Kreide ist weiß« bleiben, dann besteht<br />

<strong>die</strong> Wahrheit <strong>die</strong>ses Satzes im Zukommen des Prädikats zum<br />

Subjekt oder <strong>in</strong> der Zusammengehörigkeit <strong>die</strong>ser beiden Vorstellungen<br />

»weiß« und »Kreide«, so daß <strong>die</strong> Wahrheit e<strong>in</strong>e Angelegenheit<br />

<strong>die</strong>ses Verhältnisses des Prädikats zum Subjekt ist.<br />

Das Urteil, das wir als Beispiel zugrunde legen , läßt sich so<br />

darstellen:<br />

Prädikation<br />

----veritativ<br />

Diese<br />

J,<br />

Kr~<br />

t "~~"<br />

ist~<br />

t<br />

weiß<br />

0 ~ weiße Kreide<br />

§ 10. Wahrheit als Satzwahrheit 53<br />

c<br />

\ erU<br />

'k<br />

a<br />

le Richtung und horizontale Richtung der<br />

..<br />

Beziehungen<br />

Hen andeuten, daß sie ganz verschiedener Art smd und daß Ihr<br />

sZo mmenhang nicht so ist, daß sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>differenten Be­<br />

~usa<br />

ziehungskette ane<strong>in</strong>andergeschlossen s<strong>in</strong>d (»Satz« - Objekt).<br />

Aber was entscheidet denn darüber, daß <strong>die</strong>ses p »weiß« dem S<br />

»Kreide« zukommt? Woher nimmt <strong>die</strong> vertikale Pfeilrichtung <strong>in</strong><br />

dem Schema ihr Recht? Wo liegt der Grund dafür, daß »weiß«<br />

und »Kreide« zusammengehören, daß <strong>die</strong>se Verb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>e gehörige,<br />

rechtmäßige ist? In der Vorstellung e<strong>in</strong>er Kreide liegt<br />

doch nicht notwendig, daß sie weiß sei; sie könnte auch rot oder<br />

blau se<strong>in</strong>. Die Zusammengehörigkeit von Sund p besteht nur<br />

deshalb, weil sie als solche schon »hörig« ist, gleichsam untertan<br />

e<strong>in</strong>em anderen, und zwar der weißen Kreide, über <strong>die</strong> wir aussagen.<br />

So ergibt sich, daß der Satz »Diese Kreide ist weiß« zunächst<br />

e<strong>in</strong>e Beziehung von S zu p darstellt. Diese ganze Beziehung des<br />

Satzes steht aber noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beziehung zu dem, was uns<br />

schon vorliegt, nämlich zur weißen Kreide, und nur im Blick auf<br />

<strong>die</strong>ses Vorliegende können wir <strong>die</strong> Aussage vollziehen.<br />

Vrir sehen also, daß im Satz e<strong>in</strong>e verhängnisvolle Zweideutigkeit<br />

liegt: e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> formale Beziehung des p zum S, und<br />

dann <strong>die</strong> Beziehung <strong>die</strong>ser ganzen S-p-Verb<strong>in</strong>dung zu dem Worüber<br />

der Aussage. Die Beziehung des Prädikats zum Subjekt<br />

nennen wir <strong>die</strong> prädikative Beziehung im Satz; sie nimmt~ihre<br />

ReC'htmäßigkeit her aus e<strong>in</strong>em Bezug auf das, worüber ausgesagt<br />

wird. So haben wir e<strong>in</strong> Doppeltes: e<strong>in</strong>mal das Prädizieren<br />

des Prädikats vom Subjekt, sodann das Aussagen <strong>die</strong>ser ganzen<br />

Prädikation über das Vorliegende, <strong>die</strong> weiße Kreide. Wir müssen<br />

also das Subjekt der Prädikation vom Gegenstand der Aussage<br />

unterscheiden. Aussagegegenstand und Prädikationssubjekt<br />

s<strong>in</strong>d zwei wesentlich verschiedene D<strong>in</strong>ge. Jedes Prädikat hat e<strong>in</strong><br />

Subjekt, und <strong>die</strong>ses Prädikat wird vom Subjekt ausgesagt. Aber<br />

jede Prädikation, d.h. das Ganze der Subjekt-Prädikatbeziehung<br />

nicht etwa jedes Prädikat - hat e<strong>in</strong>en Gegenstand, über den<br />

dusgesagt wird. Dabei ist zu beachten, daß <strong>die</strong>se Beziehung der<br />

ganzen Prädikation auf <strong>die</strong> Kreide nicht <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige ist, denn


54 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

über das, was hier Gegenstand der Aussage ist" kann ich auch<br />

e<strong>in</strong>e andere Aussage machen, beispielsweise: »Dieser materielle<br />

Körper ist leicht«.<br />

Mit der üblichen Theorie des Satzes und der Aussage kann<br />

man z. B. Sätze wie »es regnet« oder »es blitzt«, also sogenannte<br />

impersonale Sätze, oder »<strong>die</strong>ser Mensch existiert«, d.h. Existenzialaussagen,<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong>terpretieren. Diese e<strong>in</strong>fache<br />

Satzdef<strong>in</strong>ition ist, wenn man im ganzen <strong>die</strong> Probleme des Satzes<br />

und der Wahrheit übersieht, fragwürdig. Im Verlauf der Entwicklung<br />

der neuzeitlichen Logik, vor allem bei Leibniz, wird<br />

<strong>die</strong>se Beziehung des Prädikats zum Subjekt, <strong>die</strong>se connexio, genauer<br />

gefaßt als determ<strong>in</strong>atio, so daß das Prädikat <strong>die</strong> Grundfunktion<br />

des Bestimmens hat. Es bestimmt das Subjekt, und<br />

entsprechend dem Unterschied von positivem und negativem<br />

Urteil wird auch e<strong>in</strong>e positive und negative determ<strong>in</strong>atio unterschieden.<br />

Dieser Unterschied ist <strong>in</strong>sofern wesentlich, als er<br />

zwei Begriffe <strong>in</strong> sich birgt, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> neuzeitliche, vor allem <strong>die</strong><br />

kantische und spätere Metaphysik von besonderer Bedeutung<br />

s<strong>in</strong>d, nämlich den Begriff der Realität und der Negation. Baumgarten<br />

bestimmt, was er unter determ<strong>in</strong>atio und determ<strong>in</strong>are<br />

versteht: Quae determ<strong>in</strong>ando ponuntur <strong>in</strong> aliquo, (notae et praedicata)<br />

sunt determ<strong>in</strong>ationes, altera positiva, et affirmativa,<br />

quae si vere sit, est realitas, altera determ<strong>in</strong>atio negativa, quae si<br />

vere sit, est negatio. 7 »Das, was <strong>in</strong> der Weise des Bestimmens <strong>in</strong><br />

etwas gesetzt wird, nämlich <strong>die</strong> Merkmale und <strong>die</strong> Prädikate,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Bestimmungen. Die e<strong>in</strong>e Art der Bestimmungen ist<br />

positiv, und <strong>die</strong>se positive, zustimmende Bestimmung des Subjekts<br />

durch das Prädikat heißt, wenn sie e<strong>in</strong>e wahre positive<br />

Bestimmung ist, Realität.«<br />

Diesen Begriff der Realität als e<strong>in</strong> positives wahres Prädikat<br />

muß man von vornhere<strong>in</strong> festhalten, um überhaupt <strong>die</strong> Fragestellung<br />

der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« zu verstehen. Der<br />

7 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica. Zweite Ausgabe Halle<br />

1743. § 36, S. 11.<br />

§ 10. Wahrheit als Satzwahrheit 55<br />

Ce enbegriff zu Realität ist <strong>die</strong> Negation, während wir heute <strong>in</strong><br />

7<br />

g Erkenntnistheorie ,Realität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz anderen S<strong>in</strong>ne<br />

der ..<br />

ebrauchen wie Kant und <strong>die</strong> alte Metaphysik. Ubrigens geht<br />

~ieser Begriff der realitas schon auf <strong>die</strong> Scholastik, vor allem <strong>die</strong><br />

Sätscholastik, auf Suarez zurück; realitas bedeutet nichts and~res<br />

als essentia, Wesen, Sachhaltiges, Positives, e<strong>in</strong>em Etwas<br />

zugesprochenes Wesen. Mit Rücksicht auf spätere wichtige<br />

Cberlegungen erwähne ich, daß <strong>die</strong>ser Begriff der Realität mit<br />

dem Satz, der determ<strong>in</strong>atio, und zwar dem positiven Satz <strong>in</strong><br />

Zusammenhang gehört.<br />

Wenn man- also sagt: Die Wahrheit hat ihren Ort <strong>in</strong> der Aussage<br />

bzw. im Satz, dann ist <strong>die</strong>se These zunächst zweideutig.<br />

VIan weiß nicht, wo nun <strong>die</strong> Wahrheit sitzt, <strong>in</strong> der prädikativen<br />

Beziehung oder <strong>in</strong> der Beziehung der Prädikation auf das, worüber<br />

ausgesagt wird. Nun hörten wir schon, daß offenbar <strong>die</strong><br />

Zusammengehörigkeit von p zu S als prädikative Beziehung <strong>in</strong><br />

ihrer Gehörigkeit sich gewissermaßen normiert auf dem Weg<br />

<strong>die</strong>ses Bezuges zu dem, worüber ausgesagt wird. Diese prädikative<br />

Beziehung ist dann e<strong>in</strong>e gehörige, wenn sie sich dem<br />

Vorliegenden, der Sache, »res«, worüber sie prädiziert und aussagt,<br />

anmißt, angleicht. Angleichung heißt late<strong>in</strong>isch adaequatio,<br />

und »adaequatio <strong>in</strong>tellectus ad rem« ist <strong>die</strong> alte scholastische<br />

Def<strong>in</strong>ition für veritas. Wir nennen daher <strong>die</strong> Beziehung der<br />

Prädikation zum Worüber der Aussage veritative Beziehung,<br />

ohne damit schon zu sagen, daß <strong>die</strong>se abgeleitete Beziehung das<br />

Wesen der Wahrheit ausmache.<br />

Die Wahrheit liegt also nicht <strong>in</strong> der Beziehung des Prädikats<br />

zum Su bjekt, sondern <strong>in</strong> der Beziehung der ganzen prädikativen<br />

Beziehung zu dem, worüber ausgesagt wird, zum Aussagegegenstand.<br />

Wir können im Satz <strong>die</strong> prädikative Beziehung von<br />

derjenigen scheiden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> adaequatio und damit <strong>die</strong> veritas<br />

hetrifft, und <strong>die</strong> wir deshalb veritative Beziehung des Satzes<br />

nennen.<br />

I )as Eigentümliche ist, daß <strong>die</strong> prädikative Beziehung <strong>in</strong> ge­<br />

WIsser 'Weise unabhängig ist von dem Sachgehalt dessen, was


56 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

ich aussage. Diese Beziehung besteht auch, ob ich sage »<strong>die</strong><br />

Kreide ist weiß« oder »<strong>die</strong>ses materielle D<strong>in</strong>g ist leicht«. Die<br />

prädikative Beziehung hat also e<strong>in</strong>e gewisse Unabhängigkeit<br />

von dem, was jeweils über e<strong>in</strong>en Gegenstand ausgesagt wird<br />

und <strong>die</strong>ses vom Sachgehalt Freie, <strong>die</strong>ses durch das Material de:<br />

Aussagegegenstandes nicht Bestimmte nennt man das Formale.<br />

Weil nun <strong>die</strong>se Beziehung Auskunft über den Sachgehalt dessen<br />

gibt, was der Gegenstand ist, nennt man sie auch <strong>die</strong> materiale<br />

Wahrheit im Unterschied zu der formalen Wahrheit. Aber man<br />

kann <strong>die</strong> prädikative Beziehung nur unter derjenigen Voraussetzung<br />

formale Wahrheit nennen, daß <strong>die</strong> Wahrheit, wie <strong>in</strong> der<br />

traditionellen Logik, primär überhaupt der Prädikation, der<br />

Aussage, dem Urteil zukommt. Diese »formale Wahrheit« bezeichnen<br />

wir aber besser als »Richtigkeit«, um den Irrtum<br />

abzuwehren, als sei <strong>die</strong> Wahrheit doch primär <strong>in</strong> der Prädikation<br />

zu Hause. Insofern sich das Prädikat auf das Subjekt richtet,<br />

untersteht <strong>die</strong>ses Sichrichten des Prädikats auf das Subjekt, ganz<br />

unabhängig von der möglichen Wahrheit oder Unwahrheit, bestimmten<br />

Regeln, und zwar den Regeln der sogenannten formalen<br />

Logik. Wie wir im Satz prädikative und veritative<br />

Beziehung scheiden, so muß man <strong>die</strong> Regeln der Richtigkeit im<br />

Satz, <strong>die</strong> sagen, was se<strong>in</strong> muß, daß sich überhaupt e<strong>in</strong> p auf e<strong>in</strong> S<br />

beziehen kann, und <strong>die</strong> Forderungen und Normen der Wahrheit<br />

der Aussage vone<strong>in</strong>ander scheiden.<br />

Diese Überlegungen haben nun zunächst das E<strong>in</strong>e ergeben,<br />

daß <strong>die</strong> Aussage <strong>in</strong> sich schon e<strong>in</strong>e Mannigfaltigkeit von Beziehungen<br />

birgt, und daß demnach <strong>die</strong> Zuweisung der Wahrheit<br />

als Charakter der Aussage schwankend und unsicher ist. Wie<br />

kommt es nun dazu, daß <strong>die</strong> Wahrheit primär dem Satz zugesprochen<br />

wird, und warum ist <strong>die</strong>se Zuweisung der Wahrheit als<br />

Charakter des Satzes so selbstverständlich? Inwiefern entspr<strong>in</strong>gt<br />

gerade aus <strong>die</strong>ser Zuweisung der Wahrheit zum Satz <strong>die</strong> Verwirrung,<br />

<strong>in</strong> der sich heute noch alle Erkenntnistheorie und<br />

Logik bewegt, e<strong>in</strong>e Verwirrung, <strong>die</strong> durch ke<strong>in</strong>e neuerfundene<br />

Theorie zu entwirren ist, sondel"n lediglich dadurch, daß man<br />

§ 10. Wahrheit als Satzwahrheit 57<br />

auf den Crsprung und <strong>die</strong> Quelle der Fehl<strong>in</strong>terpretation zurückl1eht.<br />

,., \Yarum ist es natürlich, vom Satz auszugehen, wenn man <strong>die</strong><br />

Frage nach dem Wese~ der Wahr~eit s~ellt? Daß Wahrheit <strong>in</strong><br />

ende<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne mIt ErkenntnIs, mIt Denken zusammen-<br />

Irg . .<br />

hängt, ist schon früh 'deuthch. Um das Wesen der WahrheIt zu<br />

erfassen, wird man' versuchen, <strong>in</strong> der Erkenntnis, <strong>in</strong> deren Begriff<br />

schon Wahrheit liegt, - denn e<strong>in</strong>e falsche Erkenntnis ist<br />

"ben ke<strong>in</strong>e Erkenntnis - das Wahrheitsmoment und damit <strong>die</strong><br />

Wahrheitsstruktur zu f<strong>in</strong>den.<br />

c) Ansatz des Wahrheitsproblems <strong>in</strong> der Antike<br />

Die Frühzeit des <strong>Philosophie</strong>rens <strong>in</strong> ihrer ursprünglichen und<br />

frischen S<strong>in</strong>nlichkeit strebt danach, <strong>die</strong> Frage nach der Wahrheit,<br />

<strong>die</strong> der Erkenntnis zugehört, <strong>in</strong> derjenigen Gestalt zum<br />

Gegenstand zu machen, <strong>die</strong> unmittelbar s<strong>in</strong>nlich für jedermann<br />

zugänglich ist - und das ist das ausgesprochene Wort. Das hörbare<br />

und geschriebene Wort ist es also, das unmittelbar <strong>die</strong><br />

Wahrheit und <strong>die</strong> Erkenntnis präsentiert. Dabei ist noch zu beachten,<br />

daß <strong>die</strong> Griechen, wie alle südlichen Völker, viel stärker<br />

<strong>in</strong> der öffentlichen Sprache und Rede leben, als wir es gewohnt<br />

s<strong>in</strong>d. Denken heißt für sie eigentlich öffentlich diskutieren.<br />

Weder das Buch noch gar <strong>die</strong> Zeitung spielten e<strong>in</strong>e Rolle. Das<br />

Denken als Ause<strong>in</strong>andersetzen, als Entscheiden über Wahrheit<br />

und Falschheit, ist öffentliches Gespräch. Daher ist <strong>die</strong> gesprochene<br />

Rede, der-ausgesprochene Satz gewissermaßen <strong>die</strong> Wirklichkeit<br />

der Wahrheit, das Handgreifliche, <strong>in</strong> dem sich <strong>die</strong><br />

Wahrheit präsentiert; sie ist im A6yo~ wirklich.<br />

Dieser Ansatz des Wahrheitsproblems f<strong>in</strong>det sich ganz deutlidl<br />

<strong>in</strong> der vorplatonischen <strong>Philosophie</strong>, bei Platon, auch noch<br />

bei Aristoteles. Weil <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wahrheit<br />

und der Erkenntnis im gesprochenen Wort ansetzt, d.h. im A6yo~,<br />

dpshal b ist <strong>die</strong> Erkenntnis des Wesens der Wahrheit <strong>die</strong> Erkpnntnis<br />

des Logos, d.h. Logik. Man wird also den spezifischen


58 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

Ansatz und <strong>die</strong> Grenze der antiken und damit der abendländi_<br />

schen Logik überhaupt nur verstehen, wenn man von <strong>die</strong>ser<br />

Sachlage ausgeht, daß Wahrheit und Erkenntnis sich primär im<br />

ge~prochenen Wort präsentieren. Deshalb steht <strong>die</strong> antike Logik<br />

bel Platon und bei Aristoteles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz engen, bis heUte<br />

freilich noch kaum aufgehellten <strong>in</strong>neren Zusammenhang mit<br />

derjenigen Wissenschaft und Erkenntnis, <strong>die</strong> sich im besonde_<br />

ren mit der öffentlichen Rede beschäftigt, nämlich mit der<br />

Rhetorik. So s<strong>in</strong>d alle Grundprobleme der platonischen Logik<br />

zugleich Probleme der Rhetorik.<br />

Wahrheit also präsentiert sich im gesprochenen Satz. Der gesprochene<br />

Satz hat aber zunächst <strong>die</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Abfolge Von<br />

Wörtern. Deshalb legt Platon das nache<strong>in</strong>ander Ausgesprochene<br />

- 'tu E


60<br />

Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

§ Ja Wahrheit als Satzwahrheit 61<br />

Seele<br />

Subjekt<br />

Denken Bedeu- A.oyo~ nQaYtlu<br />

tungs- Satz, Wörvoetv<br />

e<strong>in</strong>heit terfolge D<strong>in</strong>g<br />

3tliihlflU O1]fletov q>O)v~ Objekt<br />

y y y y<br />

Subjekt-Objekt-Beziehung<br />

Aber etwas Merkwürdiges zeigt sich doch sofort. S<strong>in</strong>d denn <strong>die</strong><br />

Beziehungen, <strong>die</strong> wir von der Ansatzstelle fortlaufend nach beiden<br />

Seiten anfügten, zufällig und willkürlich? Ist es so, daß wir<br />

auch <strong>die</strong> angefügten Beziehungen gleichsam wieder abschneiden<br />

und alles bis auf <strong>die</strong> Ansatzstelle beschneiden können?<br />

Haben wir denn im letzten Falle noch wirklich den Satz, von<br />

dem wir im Grunde ausgegangen s<strong>in</strong>d? Oder haben wir, streng<br />

genommen, e<strong>in</strong> Gemenge von Lauten? S<strong>in</strong>d wir denn vom bloßen<br />

Wortlaut, von den bloßen Wörterbildern ausgegangen, »ei«,<br />

e i und dergleichen gezeichneten Gebilden, oder nicht vielmehr<br />

vom Satz, sofern wir ihn verstehen? In der Tat. Wenn wir vom<br />

ausgesprochenen Satz ausgehen, dann nicht zunächst und alle<strong>in</strong><br />

vom Wortlaut; ja, wenn wir e<strong>in</strong>en Satz aussprechen hören, wie<br />

den genannten, s<strong>in</strong>d wir spontan mit unserem Gehör auf das<br />

gerichtet, zu vernehmen, was der Redende sagt, gleichsam beiläufig<br />

auf Wortlaute, ja, es bedarf e<strong>in</strong>er besonderen Abstraktion<br />

und Umstellung, um lediglich akustisch das Wortlautgefüge zu<br />

hören, und es bleibt sogar sehr schwierig, es re<strong>in</strong> als solches zu<br />

hören. Wir gehen also faktisch nicht e<strong>in</strong>mal vom Wortlaut aus;<br />

e<strong>in</strong> ausgesprochener Satz ist mehr; nur deshalb, weil <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit<br />

des Satzes schon verstanden war, konnte sich auch für Platon <strong>die</strong><br />

Frage aufdrängen, woher denn <strong>die</strong> Wörterfolge <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>heit<br />

nehme.<br />

Mit anderen Worten: Die Mehrheit von Beziehungen läßt<br />

sich gar nicht auf den Satzwortlaut beschneiden, so daß <strong>die</strong>ser<br />

dann noch der Satz wäre, den wir im Grunde vor uns haben.<br />

ders gewendet: Der Satz = <strong>die</strong> Ansatzstelle steht schon im<br />

'Z\n mcnhang <strong>die</strong>ser Beziehungen; sie s<strong>in</strong>d ihr nicht ange-<br />

~usam<br />

klebt, sondern machen das mit aus, was ~er l~bendig gesprochene<br />

Satz ist. Dieser bedeutet etwas, und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bedeuten<br />

ist er auf e<strong>in</strong> Objekt bezogen, und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ausgesprochenwerden<br />

und Verstandenwerden gehört er e<strong>in</strong>em Subjekt zu; all<br />

das gehört zusammen 'und liegt dem Satzwortlaut zugrunde.<br />

Diese Beziehungsmannigfaltigkeit ist e<strong>in</strong> Ganzes, das nicht erst<br />

m der Zusammenschiebung der Stücke entsteht, sondern etwas,<br />

auf dessen Grunde alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Teile S<strong>in</strong>n und Funktion haben.<br />

Der V\iortlaut ist solcher nur als Wortlaut, und Wort ist ke<strong>in</strong><br />

(;eräusch, sondern' etwas Bedeutungsmäßiges, Verstehbares.<br />

Wortlaut, das sprachlich phonetische Satzgebilde hat nur Halt<br />

und S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Beziehungsganzen, dar<strong>in</strong> es steht und von<br />

dem der Satz umgriffen wird. Dieses Ganze ist das Primäre und<br />

Crsprünglichere, und ,nur auf se<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>tergrunde lassen sich<br />

<strong>die</strong> Teile als solche und <strong>in</strong> ihren Beziehungen fassen.<br />

Ist durch <strong>die</strong>sen umfassenden Problemhorizont von Anfang<br />

an nicht gewährleistet, das Wesen der Wahrheit zu treffen? Und<br />

doch ist er bei allem Reichtum mit e<strong>in</strong>em Grundmangel behaftet,<br />

der es bed<strong>in</strong>gt, daß <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wahrheit<br />

nicht mehr von der Stelle kommt.<br />

Aber nun zeigt sich, daß seit der Antike <strong>in</strong> den Hauptzügen<br />

zwar alle Teile und der Zusammenhang <strong>die</strong>ser Beziehungen<br />

bekannt und mannigfach erörtert s<strong>in</strong>d, daß aber gerade das<br />

umgreifende, oder besser durchgreifende und organisierende<br />

durchwaltende Ganze h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Ganzheit unbestimmt<br />

gpblipben ist. Ja,~ nicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Frage nach dem ursprünglichen<br />

Ganzen, von dem alle Teile ihr Wesen beziehen, ist als<br />

Problem grundsätzlich und e<strong>in</strong>deutig gestellt. Dieses Ganze<br />

aber, <strong>in</strong> dem sich der wahre Satz f<strong>in</strong>det, muß offenbar auch <strong>die</strong><br />

Wahrheit mit bestimmen.<br />

Wpil man sich nur immer <strong>in</strong>nerhalb des genannten Zusammpnhangs<br />

von Beziehungen des Satzes bewegt, ohne nach dem<br />

ursprünglichen, sie als solche erst ermöglichenden Ganzen zu


62 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

fragen, deshalb werden wir das Wesen der dem Satz zugehörigen<br />

Wahrheit nicht ursprünglich fassen können. Die Frage nach<br />

dem Wesen der Wahrheit muß uns aber hier mit Rücksicht auf<br />

<strong>die</strong> Klärung des Wesens der Wissenschaft beschäftigen.<br />

§ 11. Zum Problem der Subjekt-ObJekt-Beziehung.<br />

Prädikative und veritative Beziehung<br />

Mit welchem Recht können wir behaupten, <strong>die</strong>ses Ganze der<br />

genannten Beziehungen sei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit nicht bestimmt,<br />

ja nicht e<strong>in</strong>mal zum Problem gemacht? Dieses Ganze von Beziehungen<br />

ist doch gewonnen, wenn man auf <strong>die</strong> Umschließung<br />

aller Beziehungen sieht, <strong>die</strong> zwischen den bei den Enden liegen,<br />

wenn man <strong>die</strong> bei den Enden <strong>die</strong>ses Beziehungsganzen, also Seele<br />

und D<strong>in</strong>g, oder, wie man heute sagt, Subjekt und Objekt<br />

verknüpft. In der Subjekt-Objekt-Beziehung liegt dann <strong>die</strong> spezifische<br />

Ganzheit <strong>die</strong>ses Ganzen.<br />

Was ist seit Beg<strong>in</strong>n der Neuzeit und besonders heute häufiger<br />

diskutiert und als Problem behandelt worden als <strong>die</strong> Subjekt­<br />

Objekt-Beziehung? Diese Beziehung ist es doch, aus der <strong>die</strong> beiden<br />

Hauptstandpunkte der <strong>Philosophie</strong>, Realismus und Idealismus<br />

sowie deren Spielarten und Vennittlungen, erwachsen.<br />

Gewiß, <strong>die</strong>s ist alles unbestreitbar. Nur ist gerade <strong>die</strong> Frage,<br />

ob durch das Zusammennehmen der beiden Enden wirklich das<br />

Ganze umgriffen ist, ob dessen Ganzheit sich von den bei den<br />

Enden und ihrer Verknüpfung her fassen läßt. Das ist aber unmöglich<br />

- schon e<strong>in</strong>zig deshalb, weil ja gerade <strong>die</strong>se beiden<br />

Enden, so wie sie als Enden zusammengeknüpft werden, auf<br />

dem Boden e<strong>in</strong>es Ansatzes entstehen, der bisher vergessen hat,<br />

zuvor das begründende Ganze <strong>in</strong> den Blick zu nehmen. Die<br />

beiden Enden, Subjekt und Objekt, selbst Resultat e<strong>in</strong>es ungeklärten<br />

und unangemessenen Ansatzes, können nicht dadurch,<br />

daß sie nun - <strong>in</strong> welcher Weise immer - verkoppelt werden, <strong>die</strong><br />

zuvor unbestimmte Ganzheit zUri.ickgew<strong>in</strong>nen und bestimmen.<br />

§ 11. Problem der Subjekt-ObJekt-Beziehung 6:5<br />

Wir müssen vielmehr umgekehrt sagen: Gerade das viel diskutierte<br />

Problem der Subjekt-Objekt-Beziehung mit all se<strong>in</strong>en<br />

Spielarten ist das Anzeichen dafür, daß man über den alten<br />

Ansatz der Antike nicht h<strong>in</strong>ausgekommen ist und das zentrale<br />

Problem noch nicht gefaßt hat. Dieses Problem kann nur gestellt<br />

,werden, wenn man begriffen hat, daß <strong>die</strong> Frage der<br />

Subjekt-Objekt-Beziehung und erst recht alle »Erkenntnistheorie«<br />

auf dem Problem der Wahrheit ruht und nicht - wie <strong>die</strong><br />

ü bliche Me<strong>in</strong>ung lautet - umgekehrt.<br />

Man kann zwar immer neue Theorien erf<strong>in</strong>den zur Lösung<br />

des Subjekt-Objekt-Problems. Aber <strong>die</strong>se Erf<strong>in</strong>dungen haben<br />

nur das zweifelhafte Ver<strong>die</strong>nst, daß sie <strong>die</strong> Verwirrung steigern<br />

und immer erneute Belege dafür liefern, daß das entscheidende<br />

Problem offenbar nicht auf der Hand liegt. Es besteht aber <strong>in</strong><br />

nichts anderem als <strong>in</strong> der Aufrollung der Frage nach dem Wesen<br />

der Wahrheit, d. h. aber zugleich <strong>in</strong> der Frage nach den Voraussetzungen<br />

und dem ursprünglichen Problem für <strong>die</strong> Wesens bestimmung<br />

der Wahrheit. Die angeblich »neue Problemlage der<br />

Erkenntnistheorie« mag recht <strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong>, und man kann<br />

se<strong>in</strong>en Leser mit allerlei darüber unterhalten, nur sagt man ihm<br />

gar nichts über <strong>die</strong> Lage des Problems, wenn man dabei verschweigt,<br />

was <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Problematik über das Wesen der Wahrheit<br />

-ausgemacht ist.<br />

Daß <strong>die</strong>ses Problem der Wahrheit aber nicht gestellt werden<br />

kann <strong>in</strong> ausschließlicher und primärer Orientierung am Satz,<br />

gilt es jetzt positiv zu sehen.<br />

Es ist deutlich geworden: Der Satz hat S<strong>in</strong>n und Halt nur <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em durchgreifenden Ganzen. Dessen Ganzheit muß zuvor<br />

bestimmt werden. Wenn im Satz so etwas wie Wahrheit vorkommt,<br />

dann muß auch <strong>die</strong>se sich aus <strong>die</strong>sem Ganzen bestimmen,<br />

ja noch mehr: vielleicht ist es gerade das Wesen der<br />

Wahrheit, was <strong>die</strong>se gesuchte Ganzheit wesenhaft mitbestimmt.<br />

Wir sehen jetzt: 1. Es ist naheliegend und fast zwangsläufig,<br />

bei der Frage nach der Wahrheit der Erkenntnis <strong>die</strong>se <strong>in</strong> ihrer<br />

nächstzugänglichen Form, dem ausgesprochenen Satz, zu


64 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

suchen und von <strong>die</strong>sem Ansatz aus <strong>die</strong> weiteren Fragen zu entwickeln.<br />

Wir sahen ferner: 2. daß der A.6yo~ <strong>in</strong> mehrfachen<br />

Beziehungen steht. Wir sahen aber 3. zugleich: daß bei aller<br />

Selbstverständlichkeit <strong>die</strong>ses Ausgangs, oder gerade deshalb,<br />

e<strong>in</strong>e Grund- und Vorfrage ungestellt bleibt, <strong>die</strong> Frage nach dem<br />

Ganzen, <strong>in</strong> dem der gekennzeichnete Zusammenhang von Beziehungen<br />

notwendig steht, <strong>die</strong> Frage nach dem, wodurch jenes<br />

Ganze von Beziehungen überhaupt <strong>in</strong>nerlich möglich wird.<br />

Aber wie sollen wir <strong>die</strong>ses Ganze nun bestimmen oder überhaupt<br />

<strong>in</strong> den Blick br<strong>in</strong>gen? Wir versuchen es zunächst <strong>in</strong><br />

Anlehnung an das Beispiel: »Diese Kreide ist weiß«. Im Grunde<br />

haben wir schon mit der Analyse des Satzes als Prädikation und<br />

Aussage e<strong>in</strong>en ersten Schritt <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung getan. Wir sahen<br />

sofort, der Begriff des Satzes als Prädikatsbeziehung des Prädikats<br />

auf das Subjekt und als Aussagebeziehung der ganzen<br />

prädikativen Beziehung auf das, worüber ausgesagt wird, ist<br />

zweideutig; <strong>die</strong>se Zweideutigkeit sagt nämlich: Die Struktur des<br />

Satzes ist e<strong>in</strong>e reichere und weist <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Strukturganzes zurück,<br />

das erst das begründet, was wir zunächst <strong>in</strong>s Auge gefaßt haben.<br />

Weil <strong>die</strong> Satzstruktur reicher ist, ist der Ansatz bei <strong>die</strong>sem Gebilde<br />

vieldeutig.<br />

Zunächst fiel uns das Merkwürdige auf: <strong>die</strong> Verschiedenartigkeit<br />

der prädikativen und veritativen Beziehung. Der Satz ist<br />

als Prädikation zugleich Aussage über ..., oder besser: Der Satz<br />

ist Aussage über Objekte <strong>in</strong> der Weise, daß <strong>die</strong>ses Aussagen über<br />

... selbst prädikative Struktur hat. Die Aussage ist als solche<br />

Aussage über das Objekt; <strong>in</strong> der Aussage selbst liegt e<strong>in</strong>e Beziehung<br />

auf das Objekt. Wir nannten sie <strong>die</strong> veritative, lediglich<br />

um anzudeuten, daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Beziehung zum Objekt <strong>die</strong> Wahrheit<br />

zum Vorsche<strong>in</strong> kommt. Das Wesen der Wahrheit wird sich<br />

nur bestimmen lassen, wenn wir <strong>die</strong>se Beziehung zum Objekt<br />

schärfer untersuchen und fragen: 1. Wor<strong>in</strong> besteht <strong>die</strong>se Beziehung<br />

der Aussage zum Objekt? 2. Kommt <strong>die</strong>se Beziehung zum<br />

Objekt der Aussage als Aussage zu? Konstituiert sich <strong>die</strong>se Beziehung<br />

zum Objekt <strong>in</strong> der Aussage als solcher, oder macht <strong>die</strong><br />

§ 11. Problem der Subjekt-Objekt-Beziehung 65<br />

Aussage nur von <strong>die</strong>ser Beziehung zum Objekt Gebrauch? Diese<br />

bei den Fragen hängen aufs engste zusammen, und mit der ersten<br />

beantwortet sich <strong>die</strong> zweite.<br />

Zur ersten Frage: Wenn wir das Wesen e<strong>in</strong>er Beziehung bestimmen<br />

wollen, dann ergibt sich als Nächstes, daß wir überhaupt<br />

e<strong>in</strong>mal erst festlegen, wo zwischen <strong>die</strong> Beziehung besteht.<br />

E<strong>in</strong>e Beziehung (Relation) hat ihre Beziehungsglieder (Relata);<br />

das e<strong>in</strong>e Beziehungsglied der Aussage ist das Objekt, das andere<br />

das aussagende Subjekt. Jeder von uns ist e<strong>in</strong> Subjekt, das sich<br />

auf <strong>die</strong>se Kreide bezieht im Vollzug der Aussage, im Nach- und<br />

Mitvollzug.<br />

Aber mit <strong>die</strong>ser trivialen Feststellung, <strong>die</strong> Beziehung sei <strong>die</strong><br />

Subjekt-Objekt-Beziehung, ist wenig zur Charakterisierung der<br />

Beziehung der Aussage zum Objekt gewonnen - im Gegenteil,<br />

sie ist der Titel für e<strong>in</strong>e Kette von Problemen und fragwürdigen<br />

Thesen.<br />

Doch haben wir uns nicht durch <strong>die</strong> Herausstellung der Mannigfaltigkeit<br />

von Beziehungen, <strong>die</strong> zwischen Subjekt und Objekt<br />

bestehen, <strong>in</strong>stand gesetzt, nun doch <strong>die</strong>se Beziehung näher<br />

zu bestimmen? Zeigt nicht <strong>die</strong>ses Beziehungsganze, wie im E<strong>in</strong>zelnen<br />

<strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Subjekt-Objekt-Beziehung vermittelt ist?<br />

Sie ist e<strong>in</strong>e durch Denken, Bedeutungse<strong>in</strong>heit, Wortlaut usw.<br />

vermittelte, so daß wir, je als seelische Subjekte, uns zunächst<br />

auf Vorstellungen, von <strong>die</strong>sen auf Bedeutungen, von <strong>die</strong>sen auf<br />

das Objekt beziehen und also auf <strong>die</strong>sem Wege von uns, von<br />

unserem Bewußtse<strong>in</strong>, h<strong>in</strong>aus gelangen zum Objekt. Gewiß mag<br />

es noch e<strong>in</strong>e besondere Aufgabe se<strong>in</strong>, <strong>die</strong>se vermittelnden Beziehungen<br />

im e<strong>in</strong>zelnen näher zu untersuchen und zu erklären,<br />

aber grundsätzlich ist doch klar, wie wir <strong>die</strong> Subjekt-Objekt­<br />

Beziehung und damit <strong>die</strong> veritative Beziehung und damit<br />

Wahrheit aufzuklären haben.<br />

Aber andererseits wissen wir doch, daß der Ansatz der Bestimmung<br />

des Wesens der Wahrheit beim ausgesprochenen Satz<br />

e<strong>in</strong> zwar natürlicher, aber doch äußerlicher und fragwürdiger<br />

ist, so daß von <strong>die</strong>ser Fragwürdigkeit des Ansatzes auch all das


66 Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

mitbetroffen wird, was sich <strong>die</strong>sem Ansatz zufolge ergibt: <strong>die</strong><br />

ganze Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen Subjekt und<br />

Objekt. - Alle<strong>in</strong> auf <strong>die</strong>se Fragwürdigkeit des Ansatzes können<br />

wir uns jetzt nicht berufen, wo wir positiv zeigen sollen, warum<br />

er fragwürdig ist.<br />

Nun ist aber doch <strong>die</strong>ser Beziehungszusammenhang (aussagendes<br />

Subjekt, Vorstellung, Bedeutung, Objekt) so e<strong>in</strong>leuchtend,<br />

er hat sich so natürlich ergeben, daß man immer wieder<br />

auf ihn zurückkommt.<br />

Und doch, was so e<strong>in</strong>leuchtet, ist bloßer Sche<strong>in</strong>! Die <strong>in</strong> der<br />

lebendig vollzogenen Aussage liegende Beziehung auf das Objekt<br />

hat durchaus nicht den Charakter, wie ihn <strong>die</strong> Theorie von<br />

<strong>die</strong>sem Beziehungszusammenhang darlegt. Im Aussagen »Diese<br />

Kreide ist weiß« durchlaufen wir, <strong>die</strong> Aussagenden, nicht<br />

jenen Beziehungszusammenhang; wir richten uns nicht zuerst<br />

auf e<strong>in</strong>e oder zwei Vorstellungen, <strong>die</strong> wir dann verb<strong>in</strong>den, um<br />

durch <strong>die</strong>se Vorstellungsverb<strong>in</strong>dung h<strong>in</strong>durch uns schließlich<br />

auf <strong>die</strong> weiße Kreide zu beziehen, sondern umgekehrt und ganz<br />

anders: Vor dem Aussagen des Satzes s<strong>in</strong>d wir unmittelbar schon<br />

auf das D<strong>in</strong>g selbst, auf <strong>die</strong> weiße Kreide bezogen, und zwar<br />

nicht so, daß wir nur e<strong>in</strong>e» Vorstellung« <strong>in</strong> unserer Seele von ihr<br />

hätten, sondern - aussagend - halten wir uns schon bei der<br />

Kreide auf. Wir s<strong>in</strong>d schon bei der Kreide, bei ihr selbst als<br />

<strong>die</strong>sem vorhandenen D<strong>in</strong>g; aussagend me<strong>in</strong>en wir im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

und direkt sie selbst. Wir, <strong>die</strong> Subjekte, beziehen uns direkt auf<br />

<strong>die</strong>ses Seiende (Kreide) selbst; wir s<strong>in</strong>d bei ihr. Unsere, des<br />

Subjekts, Beziehung zum Objekt ist e<strong>in</strong> unmittelbares »Se<strong>in</strong><br />

bei« der Kreide. Zunächst und natürlicherweise f<strong>in</strong>det sich gerade<br />

gar nichts von jenem verwickelten und problematischen<br />

Beziehungszusammenhang.<br />

Wir kommen nicht erst auf dem Wege über <strong>die</strong> Aussage und<br />

den Beziehungszusammenhang, <strong>in</strong> dem sie angeblich hängt, zur<br />

Kreide, sondern umgekehrt, nur <strong>in</strong>sofern wir schon bei der Kreide<br />

s<strong>in</strong>d, uns bei ihr aufhalten, kann sie mögliches Objekt der<br />

Aussage werden. Nur das, wobei wir schon s<strong>in</strong>d, können wir zu<br />

§ 11. Problem der Subjekt-Objekt-Beziehung 67<br />

e<strong>in</strong>em möglichen Worüber der Aussage machen. Die Aussage ist<br />

gar nicht <strong>die</strong> Art und Weise des Zugangs zu <strong>die</strong>ser Kreide. Nur<br />

weil wir schon vor dem Aussagen bei der Kreide s<strong>in</strong>d und nicht<br />

erst durch das Aussagen als solches zu ihr gelangen, deshalb und<br />

deshalb alle<strong>in</strong> kann <strong>die</strong> Aussage als prädizierende sich angleichen<br />

an das, was und wie das ist, worüber <strong>die</strong> Aussage ergehen<br />

soll.<br />

Wir sahen: Die Beziehung der Aussage als Aussage zu den<br />

Objekten sei gemäß der alten Def<strong>in</strong>ition der Wahrheit <strong>die</strong> adaequatio<br />

<strong>in</strong>tellectus ad rem, <strong>die</strong> Angleichung des denkenden<br />

Aussagens an ,<strong>die</strong> Sache. Diese Angleichung der Prädikation an<br />

das Objekt, adaequatio, wor<strong>in</strong> man traditionell <strong>die</strong> Wahrheit<br />

sieht, setzt aber zu ihrer <strong>in</strong>neren Möglichkeit voraus, daß wir<br />

vorgängig schon bei dem Seienden uns aufhalten, worüber e<strong>in</strong>e<br />

ihm sich angleichende Aussage vollzogen werden soll.<br />

Damit ist auch schon unsere zweite Frage entschieden: Konstituiert<br />

sich <strong>die</strong> Subjekt-Objekt-Beziehung <strong>in</strong> der Aussage, oder<br />

macht <strong>die</strong>se von jener nur Gebrauch? Wir sehen, das letzte ist<br />

der Fall. Das Aussagen über ... bewegt sich schon <strong>in</strong>nerhalb<br />

und gleichsam auf der Bahn unseres Aufenthaltes bei der Kreide.<br />

"


§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 69<br />

DRITTES KAPITEL<br />

Wahrheit und Se<strong>in</strong>.<br />

Vom ursprünglichen Wesen der Wahrheit<br />

als Unverborgenheit<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit<br />

So hat sich bezüglich unserer ersten Hauptfrage - <strong>in</strong>wiefern ist<br />

der traditionelle Wahrheitsbegriff nicht ursprünglich, sondern<br />

weist auf etwas zurück? - ergeben: Die traditionelle Auffassung<br />

der Wahrheit setzt deren Ort <strong>in</strong> den Satz. Diese Ortsbestimmung<br />

aber ist zweideutig, sofern der Satz zugleich Prädikation und<br />

Aussage ist. Wenn überhaupt zum Satz gehörig, kann <strong>die</strong> Wahrheit<br />

nur <strong>in</strong> der Aussagebeziehung liegen. Diese Aussagebeziehung,<br />

<strong>die</strong> Beziehung zum Worüber, gründet jedoch selbst <strong>in</strong><br />

dem notwendig zugrundeliegenden Aufenthalt bei Seiendem,<br />

<strong>in</strong>nerhalb welchen Aufenthaltes alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Worüber zugänglich<br />

und durch <strong>die</strong> prädikative Aussage bestimmbar ist.<br />

Wenn schon mit e<strong>in</strong>em gewissen Recht dem Satz als Aussage<br />

<strong>die</strong> Wahrheit zugesprochen wird, so gründet <strong>die</strong> Wahrheit <strong>in</strong><br />

etwas Ursprünglicherem, was nicht Aussagecharakter hat. Diesem<br />

ursprünglicheren Anderen gilt es jetzt nachzugehen, um so<br />

zum ursprünglicheren Wesen der Wahrheit vorzudr<strong>in</strong>gen.<br />

Damit stehen wir bei der zweiten Hauptfrage, wie <strong>die</strong>ses<br />

ursprüngliche Wesen der Wahrheit selbst zu fassen sei. Was sich<br />

uns zunächst ergab, war: Die Aussage über <strong>die</strong> Kreide erwächst<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Aufenthaltes bei ... , e<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s bei ... Diese<br />

Art zu se<strong>in</strong> kommt uns, den Aussagenden, zu. Dieses direkte<br />

unmittelbare Se<strong>in</strong> bei der Kreide selbst haben wir nicht durch<br />

irgend e<strong>in</strong>e Theorie über <strong>die</strong> Aussage oder über das Verhältnis<br />

von Subjekt und Objekt erdacht;.; sondern es zeigte sich <strong>die</strong>se<br />

Beziehung dann, als wir gerade alle Theorie beiseite ließen und<br />

lediglich dem nachg<strong>in</strong>gen, was im natürlichen Aussagen liegt.<br />

Wir haben dem nachgefragt, worauf <strong>die</strong> Aussage über <strong>die</strong> Kreide<br />

nach ihrer eigenen, <strong>in</strong> der Aussage lebendigen Me<strong>in</strong>ung abzielt.<br />

~ichts von Bewußtse<strong>in</strong>, Seele, ob nur Vorstellungen, Bilder von<br />

D<strong>in</strong>gen, sondern nur wir selbst, so wie wir uns kennen, s<strong>in</strong>d auf <strong>die</strong><br />

Kreide selbst bezogen, unser Se<strong>in</strong> bei ... Vorhandenem im weitesten<br />

S<strong>in</strong>ne. Das ist freilich wieder e<strong>in</strong>e recht triviale Feststellung.<br />

Dergleichen hat man doch längst gewußt: aV'tLXEL!lEva. In der<br />

Tat, dergleichen wurde immer schon gesehen. Die Schwierigkeit<br />

liegt nicht dar<strong>in</strong>, daß man <strong>die</strong>ses Sich beziehen auf Objekte übersehen<br />

hätte, daß es gefehlt hätte, sondern daß man es ob se<strong>in</strong>er<br />

Trivialität allzu leicht nahm - etwa <strong>in</strong> der üblichen Argumentation,<br />

durch <strong>die</strong> sich auch der Realismus e<strong>in</strong>schüchtern läßt und<br />

damit auf grundsätzliche Irrwege gerät - und daß man allzu<br />

schnell weiterg<strong>in</strong>g und nach Erklärungen suchte. Was man <strong>in</strong><br />

gewisser Weise feststellte - das Se<strong>in</strong> bei ... - kam gar nicht zu<br />

se<strong>in</strong>em Recht und wurde durch Theorien zugedeckt.<br />

Die Schwierigkeit und das Entscheidende liegt hier und <strong>in</strong><br />

allen entsprechenden trivialen Feststellungen <strong>die</strong>ser Art dar<strong>in</strong>,<br />

das, was da festgestellt ist, nun auch festzuhalten, derart, daß<br />

sich aus dem, was sich zunächst zeigt und wie es sich zeigt, <strong>die</strong><br />

Probleme erst ergeben. Man glaubt, <strong>die</strong>se Trivialität dadurch zu<br />

beseitigen und zu e<strong>in</strong>er Erkenntnis zu erheben, daß man auf <strong>die</strong><br />

Frage, wie <strong>die</strong> Seele sich auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge beziehen könne, sich <strong>in</strong><br />

allerhand Theorien stürzt, <strong>in</strong> der Weise, daß man - um e<strong>in</strong>e<br />

Analogie zu gebrauchen - e<strong>in</strong> durchgearbeitetes und <strong>in</strong> sich<br />

vielleicht wertvolles System e<strong>in</strong>er Therapie entwickelt, ohne<br />

daß man <strong>die</strong> Diagnose gestellt hat. Mit e<strong>in</strong>em ungeheuren Aufwand<br />

von scharfs<strong>in</strong>nigen Theorien und Argumenten wird <strong>die</strong>se<br />

Beziehung zu erklären gesucht, ohne daß man zuerst den Tatbestand<br />

gesichert hat, der zum Problem werden solL Man<br />

bemüht sich also um Probleme, <strong>die</strong> gar nicht existieren, und<br />

sieht nicht <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich ergeben, wenn man <strong>die</strong> Trivialität<br />

nicht beseitigt, sondern sie ausschöpft.


70 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Daß nun <strong>die</strong>se Theorien und <strong>die</strong> formallogische Argumentation<br />

immer den Vorrang gew<strong>in</strong>nen über das, was unmittelbar<br />

aufzunehmen und zu fassen ist, liegt daran, daß alle philosophischen<br />

Theorien <strong>in</strong> dem Moment, <strong>in</strong> dem sie sich ausbilden,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en weiteren Zusammenhang mit anderen Theorien h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten<br />

und dadurch das System im schlechten S<strong>in</strong>ne sich<br />

verfestigt. Dazu kommt, daß durch unheilvollen E<strong>in</strong>fluß und<br />

schlechte Nachahmung der Wissenschaften merkwürdigerweise<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> das Bestreben hat, nur dasjenige als E<strong>in</strong>sicht<br />

gelten zu lassen, was auf irgende<strong>in</strong>em argumentativen Wege<br />

rational bewiesen ist, so daß man <strong>die</strong> Instanz e<strong>in</strong>er unmittelbaren<br />

Anschauung <strong>in</strong> ihrer Unmittelbarkeit nicht mehr sieht.<br />

Es gilt, <strong>die</strong> Anstrengung darauf zu konzentrieren, das, was<br />

sich zeigt, das Phänomen, wirklich fest- und durchzuhalten, je<br />

e<strong>in</strong>facher, um so nachhaltiger; nur so entwickelt das Phänomen<br />

<strong>die</strong> ganze Schärfe der dar<strong>in</strong> verborgenen Probleme. Denn ebenso<br />

wesentlich wie <strong>die</strong> Anstrengung des ersten Festnehmens des<br />

Phänomens ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht, daß damit nicht schon <strong>die</strong> Lösung<br />

e<strong>in</strong>es Problems gewonnen ist, ja nicht e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>e Stellung und<br />

Ausarbeitung. So verhängnisvoll wie <strong>die</strong> Unterschätzung e<strong>in</strong>er<br />

solchen ersten Feststellung und Festnahme ist auch <strong>die</strong> Überschätzung<br />

e<strong>in</strong>er bloßen Beschreibung. Gerade <strong>die</strong>se unheilvolle<br />

Me<strong>in</strong>ung macht sich <strong>in</strong>nerhalb der Phänomenologie geltend,<br />

wo man zwar auf <strong>die</strong> unmittelbare Aufweisung der D<strong>in</strong>ge<br />

drängt, <strong>in</strong>dem man me<strong>in</strong>t, wenn man nur alles beschrieben hat,<br />

wie <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d, sei alles gut. Aber damit ist nichts gewonnen,<br />

nur der Irrtum vorbereitet, als sei <strong>Philosophie</strong> Botanik.<br />

a) Rückgang h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Subjekt-Objekt-Beziehung:<br />

das Se<strong>in</strong> bei . . .<br />

Wenn wir betonen: Dem Aussagen liegt schon e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei .. .<br />

zugrunde, dann erhebt sich <strong>die</strong> Frage, wie ist <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei .. .<br />

h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Möglichkeit aufzuklären. Se<strong>in</strong><br />

bei ... , Aufenthalt bei ... kennzeichnet zunächst e<strong>in</strong>e Art und<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 71<br />

VVeise, 'gemäß der wir, <strong>die</strong> Menschen, s<strong>in</strong>d. Das Seiende, das<br />

jeder von uns selbst ist, als Mensch, nennen wir das menschliche<br />

Dase<strong>in</strong> oder kurz Dase<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>en Grundcharakter der Art und<br />

Weise, wie das Dase<strong>in</strong> ist, nennen wir Existenz.! Dase<strong>in</strong> existiert,<br />

und nur es. Nur der Mensch hat Existenz. Existenz ist auch hier<br />

noch zweideutig: 1. Se<strong>in</strong>sweise überhaupt für Dase<strong>in</strong>, 2. und<br />

<strong>die</strong>ses, weil <strong>die</strong> <strong>in</strong> verschiedenen H<strong>in</strong>sichten führende nicht <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>zige ist, sondern mit anderen zugleich.<br />

Das heißt nicht, daß anderes Seiendes nicht wirklich wäre,<br />

sondern nur, <strong>die</strong> Weise zu se<strong>in</strong> ist bei anderem Seienden e<strong>in</strong>e<br />

von Grund aus andere. Tiere und Pflanzen leben; materielle<br />

D<strong>in</strong>ge, »Natur« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz bestimmten S<strong>in</strong>ne, s<strong>in</strong>d vorhanden,<br />

Gebrauchsd<strong>in</strong>ge zuhanden. Term<strong>in</strong>ologisch ergibt sich das<br />

Paradoxe, daß der Mensch nicht lebt, sondern existiert, wobei<br />

sich freilich bei genauerer Interpretation der Existenz zeigt, daß<br />

der Mensch zwar nicht »auch noch« lebt, sondern daß das, was<br />

<strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Tieres und der Pflanze ausmacht, als Leben<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Existenz des Menschen, sofern er e<strong>in</strong>en Leib hat,<br />

e<strong>in</strong>en ganz anderen und eigenen S<strong>in</strong>n bekommt. Im Unterschied<br />

von der Se<strong>in</strong>sart der D<strong>in</strong>ge, wie etwa Ste<strong>in</strong>e oder Geröll,<br />

haben' nun D<strong>in</strong>ge wie Kreide, Schwamm, Tafel, Tür, Fenster<br />

noch e<strong>in</strong>e ganz andere Art zu se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> wir als das Zuhandense<strong>in</strong><br />

derselben bezeichnen. Ferner gibt es dergleichen wie Raum und<br />

Zahl, <strong>die</strong> auch nicht nichts s<strong>in</strong>d, und sofern sie etwas s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d<br />

sie; von ihnen sagen wir, daß sie bestehen; sie haben Bestand. So<br />

können wir mit Rücksicht auf <strong>die</strong>se verschiedenen Arten des<br />

Se<strong>in</strong>s des Seienden scheiden: das Existierende: <strong>die</strong> Menschen;<br />

das Lebende: Pflanzen, Tiere; das Vorhandene: <strong>die</strong> materiellen<br />

D<strong>in</strong>ge; das Zuhandene: <strong>die</strong> Gebrauchsd<strong>in</strong>ge im weitesten S<strong>in</strong>ne;<br />

1 Deus - essentia - existentia. - Zum Wesen Gottes gehört existentia (Wirkhrhkeit);<br />

er ist se<strong>in</strong>em Wesen nach dasjenige, was nicht nicht se<strong>in</strong> kann. Se<strong>in</strong><br />

Wesen: ens realissimum. Würde Gott nicht wirklich se<strong>in</strong>, so fehlte ihm etwas;<br />

da Ihm nichts fehlen kann, muß er existieren. Ontologischer Gottesbeweis,<br />

d. h. der Beweis der Wirklichkeit aus der Se<strong>in</strong>sverfassung, dem Wesen. Kritik<br />

bPl Thomas, Kant, Schell<strong>in</strong>g.


72 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

das Bestehende: Zahl und Raum. Nach <strong>die</strong>sen Grundarten des<br />

Se<strong>in</strong>s können wir Bereiche kennzeichnen, obwohl der Aspekt<br />

von Bereichen nicht wesentlich und primär ist. Das Existierende,<br />

das Lebende, das Vorhandene, das Zuhandene s<strong>in</strong>d nicht<br />

nebene<strong>in</strong>andergeschobene Bereiche, sondern nur methodische<br />

Auffassungsbegriffe. Vollkommen verschieden von <strong>die</strong>ser Auffassung<br />

von Natur ist »Natur« im S<strong>in</strong>ne von Kosmos oder als<br />

Gegenbegriff zu Kunst; <strong>die</strong>ses Problem hat e<strong>in</strong>e ganz andere<br />

Stelle.<br />

b) Das Se<strong>in</strong> bei ... als Existenzbestimmung des Dase<strong>in</strong>s<br />

Die Beantwortung der Frage, was das Wesen der Wahrheit sei,<br />

hängt davon ab, wie weit es uns gel<strong>in</strong>gt, das Dase<strong>in</strong> selbst, d.h.<br />

uns selbst <strong>in</strong> unserer Existenz, so ursprünglich aufzuklären, daß<br />

wir aus dem Wesen unserer eigenen Existenz sehen, <strong>in</strong>wiefern<br />

zu ihr wesensmäßig so etwas wie Wahrheit gehört.<br />

Se<strong>in</strong> bei ... ist e<strong>in</strong>e Art zu se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> dem zukommt, was existiert,<br />

das eben <strong>die</strong>se spezifische Grundart zu se<strong>in</strong> hat, welche<br />

Grundart zu se<strong>in</strong> sich, wenn auch nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht, <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Se<strong>in</strong> bei ... dokumentiert. Wenn <strong>die</strong>ses e<strong>in</strong> Modus der<br />

Existenz des Dase<strong>in</strong>s ist, dann muß <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit <strong>die</strong>ses<br />

Existenzmodus sich aufklären und nur dadurch aufklären<br />

lassen, daß wir <strong>die</strong> Existenz des Dase<strong>in</strong>s, d. h. das Dase<strong>in</strong> als<br />

solches h<strong>in</strong>reichend begreifen. Das Dase<strong>in</strong> ist aber nichts anderes,<br />

als was wir bisher »Subjekt« nannten, Subjekt, das zu<br />

Objekten <strong>in</strong> der besagten Beziehung steht.<br />

Haben wir nun lediglich e<strong>in</strong> anderes Wort für dasselbe Seiende<br />

gesetzt, Dase<strong>in</strong> statt Subjekt, oder was ist gewonnen? Wir<br />

sehen, daß wir nicht e<strong>in</strong>fach mit der Subjekt-Objekt-Beziehung<br />

operieren können, solange nicht klar ist, was hier >Subjekt< besagt.<br />

Dies erfahren wir aber nur, wenn wir <strong>die</strong> Subjektivität des<br />

Subjekts zum Problem machen, d. h. fragen, was das Dase<strong>in</strong> als<br />

Seiendes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ursprünglichen Verfassung bestimmt, was<br />

<strong>die</strong>ses Seiende als solches ist, <strong>die</strong>ses Seiende, von dem wir bereits<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 73<br />

festgestellt haben, es existiert so, daß es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Existenz sich<br />

bei anderem Seienden aufhält. Wir müssen <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei ...<br />

als Existenzbestimmung festhalten und fragen: Wie muß <strong>die</strong><br />

Existenz von Dase<strong>in</strong> überhaupt bestimmt werden, daß <strong>in</strong> der<br />

ursprünglichen Verfassung <strong>die</strong>ses Seienden <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit<br />

e<strong>in</strong>es solchen Se<strong>in</strong>s bei ... ans Licht kommt? Wir können<br />

und dürfen nicht irgende<strong>in</strong>en Begriff vom Subjekt voraussetzen<br />

und daraus <strong>die</strong> Aussage und <strong>die</strong> Subjekt-Objekt-Beziehung erklären,<br />

sondern umgekehrt: Was wir zunächst als Phänomen<br />

festgenommen haben, das müssen wir als e<strong>in</strong>e Bestimmung des<br />

Dase<strong>in</strong>s festhalten und gemäß <strong>die</strong>ser Bestimmung, <strong>die</strong>sem Se<strong>in</strong><br />

bei ... , nun das Dase<strong>in</strong> selbst, <strong>die</strong> Subjektivität des Subjekts,<br />

bestimmen.<br />

Aber <strong>die</strong>se Aufhellung des Se<strong>in</strong>s bei ... , d. h. <strong>die</strong>ser Rückgang<br />

auf das Dase<strong>in</strong>, geschieht <strong>in</strong> der leitenden Absicht, das ursprüngliche<br />

Wesen der Wahrheit zu f<strong>in</strong>den und um daraus das<br />

Wesen der Wissenschaft als e<strong>in</strong>er Art von Wahrheit zu verstehen.<br />

Bei der Erörterung der Krisis der Wissenschaft ergab sich,<br />

daß ungeklärt ist, welche Stellung <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> der Existenz<br />

des Menschen, d. h. im Dase<strong>in</strong> selbst, hat. Die Frage nach<br />

der Wissenschaft bzw. Wahrheit führt uns zurück auf <strong>die</strong> eigen-­<br />

tümliche Frage nach uns selbst. Das ist aber zunächst nur e<strong>in</strong>e<br />

vorgreifende und allgeme<strong>in</strong>e Kennzeichnung des Horizonts, <strong>in</strong><br />

den wir nun h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>fragen und der mit dem zunehmend bestimmteren<br />

Fragen sich mehr und mehr aufklärt.<br />

Damit wir aber <strong>die</strong>sen Horizont für <strong>die</strong> nähere Aufklärung<br />

des Se<strong>in</strong>s bei ... konkret <strong>in</strong> gewissen Hauptstrukturen sehen,<br />

müssen wir den Ausgang unseres Fragens nach der <strong>in</strong>neren<br />

Möglichkeit des Se<strong>in</strong>s bei ... als Existenzmodus noch konkreter<br />

bestimmen. Aber was läßt sich darüber noch mehr sagen?<br />

Kehren wir zurück zu unserer Aussage »Diese Kreide ist<br />

weiß«. Dieses Aussagen über ... ist vollzogen und nur vollziehbar<br />

auf dem Grunde dessen, daß wir uns schon aufhalten bei der<br />

Kreide. Wenn wir <strong>die</strong>se Aussage über <strong>die</strong> Kreide vollziehen und<br />

sie dabei gewissermaßen <strong>in</strong>s Auge fassen, halten wir uns dabei


74 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

nicht nur bei ihr auf, sondern auch bei anderen D<strong>in</strong>gen. Bevor<br />

wir <strong>die</strong> Aussage fällen, s<strong>in</strong>d wir mit der Kreide gar nicht beschäftigt.<br />

Wir richten unser Augenmerk auf <strong>die</strong> Kreide erst <strong>in</strong><br />

dem Moment, <strong>in</strong> dem wir <strong>die</strong> ausgesprochene Aussage mit- und<br />

nachvollziehen.<br />

So ergibt sich, daß unser Aufenthalt bei den D<strong>in</strong>gen merkwürdige<br />

Modifikationen hat, daß er nicht notwendig besagt,<br />

sich damit zu beschäftigen. Wir halten uns hier auf im Saal, d. h.<br />

auch bei der Tür, bei den Lampen, den Kleiderhaken, ohne daß<br />

wir uns mit den D<strong>in</strong>gen beschäftigen. Beschäftigung mit den<br />

D<strong>in</strong>gen ist also nur e<strong>in</strong> ganz bestimmter Modus <strong>in</strong>nerhalb des<br />

Aufenthaltes bei ihnen. Wenn wir unser Augenmerk auf <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge richten, also bei der Aussage über <strong>die</strong> Kreide auf das D<strong>in</strong>g<br />

selbst, dann können wir an <strong>die</strong>sem D<strong>in</strong>g <strong>die</strong> bestimmte Eigenschaft,<br />

daß es weiß ist, erfassen; <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Aufmerken auf das<br />

D<strong>in</strong>g erfahren wir zugleich, daß <strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g, das wir nun erst<br />

ausdrücklich erfassen, schon vorher vorhanden war. Es liegt<br />

im Charakter <strong>die</strong>ses Aufmerkens auf das D<strong>in</strong>g, daß das D<strong>in</strong>g<br />

selbst uns gewissermaßen sagt: ich war schon da, bevor du mich<br />

auffaßtest. In <strong>die</strong>sem Aufmerken auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge tragen wir ihnen<br />

nichts zu, wir reden ihnen gewissermaßen nichts auf,<br />

sondern sie, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge selbst, begegnen uns so. Das Aufmerken<br />

auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>e Tätigkeit von unserer Seite, e<strong>in</strong><br />

sche<strong>in</strong>bares Tun, oder mit Kant zu sprechen, e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare<br />

Spontaneität unserer selbst, ist aber ihrem eigentlichen Wesen<br />

nach gerade e<strong>in</strong> Begegnen-lassen, e<strong>in</strong>e eigentümliche Passivität,<br />

e<strong>in</strong>e eigentümliche Receptivität. Bei <strong>die</strong>sem Begegnenlassen<br />

gibt es weder »E<strong>in</strong>druck« von e<strong>in</strong>em Außen noch H<strong>in</strong>ausgehen<br />

von uns, also auch ke<strong>in</strong> Dr<strong>in</strong>nen; weder ist es e<strong>in</strong><br />

Kausalverhältnis noch verkehrte Transzendenz. Dieses Begegnen-lassen<br />

ist <strong>in</strong> gewisser Weise Spontaneität, aber e<strong>in</strong>e solche,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>tentional doch den Charakter des H<strong>in</strong>nehmens, der Receptivität<br />

hat.<br />

Kant wurde durch <strong>die</strong> Spontaneität des Denkens und überhaupt<br />

aller Tätigkeit des Bewußtse<strong>in</strong>s im weitesten S<strong>in</strong>ne dazu<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 75<br />

verleitet zu sagen, nur wo Spontaneität ist, da ist Denken - also<br />

e<strong>in</strong> Bestimmen mit Bezug auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, e<strong>in</strong> Zusprechen von<br />

bestimmten logischen Charakteren. Das ist e<strong>in</strong> Grundirrtum.<br />

Wo Spontaneität ist, ist nicht notwendig ausgeschlossen, daß da<br />

nicht gerade noch e<strong>in</strong>e eigentümliche Receptivität ist. Gerade<br />

im Aufmerken auf etwas, das <strong>in</strong> uns wach wird, ist e<strong>in</strong> Sichfreigeben<br />

für <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, damit sie sich zeigen können, wie sie<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

c) Die Bekundung des Seienden<br />

<strong>in</strong> Bewandtniszusammenhängen<br />

In unserem - auch unaufmerksamen - Aufenthalt bei den D<strong>in</strong>gen<br />

haben wir immer schon e<strong>in</strong>e Mannigfaltigkeit vor uns:.<br />

nicht nur Kreide, sondern Schwamm, Tafel, Katheder, Kleiderhaken,<br />

Mützen, Bänke, Türen.<br />

Aber gew<strong>in</strong>nen wir mit <strong>die</strong>ser Aufzählung das Ger<strong>in</strong>gste zur<br />

Aufhellung des Se<strong>in</strong>s bei ... und demzufolge unseres Verhaltens<br />

zu 'den D<strong>in</strong>gen? Gewiß mag im e<strong>in</strong>zelnen <strong>die</strong> der Kreide angemessene<br />

Beschäftigung, das Schreiben auf der Tafel, etwas<br />

anderes se<strong>in</strong> als <strong>die</strong> Art und Weise, wie ich mit e<strong>in</strong>er Mütze<br />

umgehe, <strong>die</strong> ich nur aufsetze bzw. ablege. Wir entnehmen hieraus<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Art des benutzenden Umgangs mit <strong>die</strong>sen<br />

Gebrauchsd<strong>in</strong>gen. Doch haben wir noch nicht alles ausgeschöpft,<br />

was dar<strong>in</strong> liegt, daß nicht nur <strong>die</strong>se Kreide, über <strong>die</strong> wir<br />

gerade ausdrücklich aussagen, vorhanden ist, sondern mehrere<br />

andere D<strong>in</strong>ge. Sie aber s<strong>in</strong>d für uns vorhanden nicht wie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Trödlerladen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wirren und beziehungslosen Nebene<strong>in</strong>ander.<br />

Zwar liegt <strong>die</strong> Kreide vielleicht neben dem<br />

Schwamm und beide neben der Tafel. Aber <strong>die</strong>ses Nebene<strong>in</strong>ander<br />

ist e<strong>in</strong> ganz bestimmtes <strong>in</strong> der Nähe von e<strong>in</strong>ander. Es ist<br />

mitbestimmt durch den Sachgehalt, durch das, was und wie <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d. Die Kreide <strong>die</strong>nt zum Schreiben auf der Tafel, der<br />

Schwamm zum Auslöschen des Geschriebenen auf der Tafel.<br />

Diese D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach nur mehrere räumlich neben-


76 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>anderliegende, sondern sie stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zusammenhang,<br />

der Dienlichkeit zu ... Im Medium <strong>die</strong>ses Zusammenhangs haben<br />

sie unter sich spezifische Beziehungen. Dieser Zusammenhang<br />

aber ist das für <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge Frühere, das ihnen schon<br />

Zugrundeliegende. Daß es <strong>die</strong>se Bewandtnis mit Kreide,<br />

Schwamm, Tafel hat, bestimmt sich im Ganzen dar<strong>in</strong>, daß hier<br />

im Saal <strong>die</strong> Gelegenheit zum Anschreiben gebraucht wird, welches<br />

Anschreiben dazu <strong>die</strong>nt, Vorgetragenes im Zusammenhang<br />

mit der Vorlesung bestimmter mitzuteilen.<br />

Durch <strong>die</strong>se Aufgabe ist aber im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> der Saal im ganzen<br />

bestimmt: e<strong>in</strong>e Ganzheit von Bewandtnisbezügen durchherrscht<br />

<strong>die</strong> Mannigfaltigkeit der D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> hier vorhanden<br />

s<strong>in</strong>d, und <strong>die</strong> sche<strong>in</strong>bar selbstverständliche und von uns gar<br />

nicht erst ausdrücklich beachtete Art, wie all <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge hier<br />

vorhanden s<strong>in</strong>d. Die Mannigfaltigkeit <strong>die</strong>ses Seienden, so wie es<br />

sich uns direkt bekundet, ist nur deshalb für uns zu erfassen,<br />

weil wir und sofern wir im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> schon dergleichen wie<br />

Hörsaal verstehen, aufgeklärt s<strong>in</strong>d darüber. Im Lichte e<strong>in</strong>es<br />

bestimmten Bewandtniszusammenhangs, der durch <strong>die</strong> Aufgabe<br />

- öffentliche Vorlesung - gleichsam diktiert ist, ist uns das<br />

vorhandene Seiende an ihm selbst, <strong>in</strong> dem, was es eben hier ist,<br />

offenbar.<br />

E<strong>in</strong> Bewandtniszusammenhang besteht nicht dar<strong>in</strong>, daß fortlaufend<br />

e<strong>in</strong>es durch anderes sich bestimmt, sondern daß alles je<br />

auf das Ganze angewiesen ist, e<strong>in</strong>e Verweisung <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses zeigt<br />

und solcher Verwiesenheit an <strong>die</strong>ses Ganze sich »selbst« verdankt.<br />

Jedes E<strong>in</strong>zelne hat das Ganze <strong>in</strong> sich aufgenommen. Das<br />

Bewandtnisganze kommt aber auch wieder nur so zum Vorsche<strong>in</strong>;<br />

es ist nichts, was für sich, gleichsam neben und h<strong>in</strong>ter<br />

den D<strong>in</strong>gen, als e<strong>in</strong> unter <strong>die</strong>sen auch Vorhandenes, stünde.<br />

Wenn wir für e<strong>in</strong>en Augenblick annähmen, daß wir dergleichen<br />

wie e<strong>in</strong>en Hörsaal nicht verstünden, dann würden wir<br />

zwar sehr wohl D<strong>in</strong>ge sehen, <strong>die</strong> vorhanden s<strong>in</strong>d, aber D<strong>in</strong>ge,<br />

<strong>die</strong> wir als solche nicht zu erfassen vermöchten <strong>in</strong> dem, was sie<br />

selbst s<strong>in</strong>d. Was sich uns da zeigt,..würde sich uns nicht m<strong>in</strong>der<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 77<br />

real, nicht m<strong>in</strong>der aufdr<strong>in</strong>glich und vorhanden bekunden. Im<br />

Gegenteil, gerade sofern wir uns <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

nicht auskennen, ist das Vorhandene für uns rätselhaft und <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser Rätselhaftigkeit umso aufdr<strong>in</strong>glicher und unmittelbarer<br />

wirldich. Weil wir uns aber faktisch auskennen, wissen wir gar<br />

nicht, daß wir eigentlich <strong>die</strong>ses e<strong>in</strong>zelne D<strong>in</strong>g immer erst erfassen<br />

auf dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ses Verständnisses e<strong>in</strong>es Bewandtnisganzen:<br />

anschreiben, Vorlesung, Hörsaal und dergleichen.<br />

Jedes D<strong>in</strong>g, mit dem wir uns hier beschäftigen und das<br />

ugendwie zum Gebrauch <strong>die</strong>nt, läßt als solches <strong>die</strong>ses Ganze der<br />

Rewandtnisbezüge, <strong>die</strong> durch den Hörsaal bestimmt s<strong>in</strong>d,<br />

durchsche<strong>in</strong>en.<br />

Unversehens haben wir so über unser Se<strong>in</strong> bei den D<strong>in</strong>gen<br />

e<strong>in</strong>igen Aufschluß erhalten, nämlich daß es nicht notwendig e<strong>in</strong><br />

ausdrückliches Sichbeschäftigen mit ihnen zu se<strong>in</strong> braucht.<br />

Aber auch dann, wenn <strong>die</strong> Kreide, von uns unbenutzt, nur so<br />

herumliegt, liegt sie als Kreide <strong>in</strong>nerhalb des gekennzeichneten<br />

Bewandtnisganzen da. Das Seiende ist für uns nur dadurch offenbar,<br />

daß uns schon e<strong>in</strong> Bewandtniszusammenhang enthüllt<br />

ist. So sprechen wir von e<strong>in</strong>er Offenbarkeit des Seienden <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Zusammenhängen. Unser Se<strong>in</strong> bei ... ist also <strong>in</strong> erster<br />

L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>er Mannigfaltigkeit von Seiendem, das<br />

durch e<strong>in</strong>e bestimmte Bewandtnisganzheit durchherrscht ist.<br />

In <strong>die</strong>sem unserem Se<strong>in</strong> bei der D<strong>in</strong>gmannigfaltigkeit ist das<br />

Seiende im Ganzen und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schlag offenbar. Der<br />

Umkreis <strong>die</strong>ses Seienden vermag sich deshalb an ihm selbst zu<br />

zeigen. Das e<strong>in</strong>zelne Objekt, das wir <strong>in</strong>s Auge fassen, ist gerade<br />

<strong>die</strong>ses e<strong>in</strong>zelne nur <strong>in</strong> dem Ganzen des Zusammenhangs. Diese<br />

Offenbarkeit von Seiendem <strong>in</strong> solcher Ganzheit ist uns so selbstverständlich,<br />

daß wir gar nicht erst von ihr Notiz nehmen; es ist<br />

nicht zufällig, daß wir <strong>die</strong>ses Ganzen uns nicht eigens bewußt<br />

werden und es sonach hartnäckig übersehen bei der Reflexion<br />

über Objekte <strong>die</strong>ses Bezirks.


78 Wahrheit und Sem<br />

d) Wahrheit als Unverborgenheit.<br />

Verschiedene Weisen der Offenbarkeit des Seienden<br />

Die Offenbarkeit des Seienden an ihm selbst jedoch wird uns<br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, wenn wir <strong>die</strong>ses Faktum negativ umschreiben und<br />

sagen: Dieses Seiende, so wie es hier <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bewandtniszusammenhang<br />

an ihm selbst vorhanden ist, ist uns nicht verborgen,<br />

was es doch se<strong>in</strong> könnte; es ist an ihm selbst unverborgen.<br />

Weil es das ist, können wir Aussagen darüber machen und <strong>die</strong>se<br />

auch nachprüfen. Die Offenbarkeit des Seienden ist e<strong>in</strong>e Unverborgenheit.<br />

Unverborgenheit heißt wirklich im Griechischen<br />

UATJ1')-nU, was wir nichtssagend genug mit Wahrheit zu<br />

übersetzen pflegen. Wahr, d.h. unverborgen ist das Seiende<br />

selbst, wodurch und wie ist e<strong>in</strong>e weitere Frage. Also nicht der<br />

Satz und nicht <strong>die</strong> Aussage über das Seiende, sondern das Seiende<br />

selbst ist »wahr«. Nur weil das Seiende selbst wahr ist,<br />

können Sätze über das Seiende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgeleiteten S<strong>in</strong>ne<br />

wahr se<strong>in</strong>.<br />

In der Tradition der Metaphysik im Mittelalter gibt es aber<br />

auch e<strong>in</strong>e Auffassung der Wahrheit - veritas -, wonach sie dem<br />

Seienden selbst, dem ens zukommt. E<strong>in</strong>e These lautet: omne ens<br />

est verum, jedes Seiende ist wahr. Dieser Satz hat aber e<strong>in</strong>en<br />

ganz anderen S<strong>in</strong>n, nämlich daß jedes Seiende, sofern es ist, von<br />

Gott geschaffen ist; sofern es aber von Gott geschaffen ist, ens<br />

creatum, muß es von Gott gedacht se<strong>in</strong>. Sofern es von Gott als<br />

dem, der nicht irrt, von der absoluten Wahrheit gedacht ist, ist es<br />

als von Gott Gedachtes wahr. Weil jedes Seiende geschaffenes<br />

ist, ist es als Seiendes e<strong>in</strong> Wahres, verum qua cogitatum a Deo.<br />

Dieser Begriff der Wahrheit des Seienden beruht also auf ganz<br />

anderen Voraussetzungen als <strong>in</strong> unserer Exposition der Wahrheit.<br />

Wahrheit besagt also Unverborgenheit; <strong>die</strong> Griechen, <strong>die</strong>se<br />

leidenschaftlich <strong>Philosophie</strong>renden, haben im Begriff dessen,<br />

was als das Positivste und mit als höchstes Gut gilt, im Begriff<br />

der Wahrheit, e<strong>in</strong>e negative Bsstimmung, e<strong>in</strong> u-privativum.<br />

§ 12. Das ursprünghche Wesen der Wahrheit 79<br />

Wenn zum Begriff der Wahrheit <strong>die</strong>ser Raub gehört, dann sagt<br />

das, daß das Seiende allererst der Verborgenheit entrissen werden<br />

muß, oder ihm, dem Seienden, muß se<strong>in</strong>e Verborgenheit<br />

genommen werden. Wenn aber das Seiende so <strong>in</strong> der Verborgenheit<br />

liegt, dann muß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche Verborgenheit geraten<br />

sem, zumal ganz und gar nicht e<strong>in</strong>sichtig ist, warum denn etwas,<br />

das ist, verborgen se<strong>in</strong> muß. Was ist das aber für e<strong>in</strong> Geschehen,<br />

durch das das Seiende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verborgenheit gerät? In welcher<br />

VVeise »ist« <strong>die</strong>se Verborgenheit des Seienden, mit der alles Erkennen<br />

als F<strong>in</strong>den der Wahrheit, als Entdecken der Unverborgenheit<br />

kämpft?<br />

Damit stellen wir Fragen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Griechen noch nicht<br />

auftauchten und nach ihnen erst recht nicht. Die Griechen und<br />

dIe Folgezeit kennen <strong>die</strong>se Fragen nicht, weil <strong>die</strong> Antike trotz<br />

des Wortes UATJ1'l'ELa noch nicht ausdrücklich sah, daß im Wesen<br />

der Wahrheit etwas Negatives liegt und weil sie deshalb durch<br />

dIese Negativität nicht beunruhigt werden konnten. Gleichsam<br />

nur <strong>in</strong> der ersten Wortschöpfung, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong> Griechen über<br />

<strong>die</strong> Wahrheit aussprachen, blitzte <strong>die</strong>se Helligkeit über das von<br />

e<strong>in</strong>er Negation durchzogene Wesen der Wahrheit auf. Das Wort<br />

blieb, aber jene Helle, der es entstammte, wandelte sich <strong>in</strong>s<br />

Dunkel zurück und wurde fortan dar<strong>in</strong> gehalten. Sofern nämlich<br />

Wahrheit sich ausspricht, wird sie öffentlich zugänglich im<br />

gesprochenen Satz als Verflechtung von Worten und Bedeutungen<br />

und Vorstellungen. So ist <strong>die</strong> primäre und e<strong>in</strong>zige Gestalt<br />

der Wahrheit <strong>die</strong> prädikative Synthesis. Weil <strong>die</strong>se Kennzeichnung<br />

der Wahrheit auch heute noch <strong>die</strong> selbstverständlichste<br />

ist, zugleich aber durch <strong>die</strong> ehrwürdige Tradition der <strong>Philosophie</strong><br />

sanktioniert, besteht zunächst überhaupt ke<strong>in</strong> Ahnen<br />

mehr, daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Wort uATrftWl für Augenblicke etwas Elementares<br />

hell wurde.<br />

So müssen wir <strong>die</strong>sem Urwort erst wieder se<strong>in</strong>en ursprünghchen,<br />

aber verlorengegangenen Gehalt zurückgeben, oder<br />

besser, ihn erst eigentlich <strong>in</strong>s Licht stellen. Über Wahrheit als<br />

Cn-verborgenheit des Seienden, als Privation und Raub sowie


80 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

über <strong>die</strong> Überw<strong>in</strong>dung der Verborgenheit des Seienden und <strong>die</strong><br />

Befreiung des Seienden aus se<strong>in</strong>er Verborgenheit ist das Grundsätzliche<br />

nachzulesen <strong>in</strong> »Se<strong>in</strong> und Zeit« I, S. 212-230. Hier<br />

wird zum ersten Mal der Versuch gemacht, <strong>die</strong>sen S<strong>in</strong>n der<br />

Wahrheit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er grundsätzlichen Bedeutung und <strong>in</strong> der ganzen<br />

Weite, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Begriff hat, zu erörtern. Es fehlt noch<br />

vollkommen an e<strong>in</strong>er Durchforschung der Geschichte des<br />

Wahrheits begriffes <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem radikalen und ursprünglichen<br />

S<strong>in</strong>ne, sowohl bezüglich der Geschichte des Wahrheitsbegriffes<br />

<strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> als <strong>in</strong> den Wissenschaften, als auch überhaupt<br />

im S<strong>in</strong>ne des Wahrheitsbegriffs, der <strong>die</strong> praktische Wahrheit,<br />

das Handeln betrifft. Trotzdem haben wir <strong>in</strong> neuerer Zeit<br />

e<strong>in</strong>e Untersuchung <strong>die</strong>ser Art, <strong>die</strong> auch von me<strong>in</strong>er Fragestellung<br />

grundsätzlicher Art ausgeht: Rudolf Bultmann, Untersuchungen<br />

zum Johannesevangelium, <strong>in</strong>: Zeitschrift für <strong>die</strong><br />

neutestamentliche Wissenschaft und <strong>die</strong> Kunde der älteren Kirche.<br />

1928, Bd.27, S. 113-163. Bultmann veröffentlicht hier<br />

Vorarbeiten für den großen Kommentar, den er vorbereitet, und<br />

versucht, e<strong>in</strong>zelne Grundbegriffe zu erörtern, unter anderen<br />

und zuerst den Begriff der uATrItEtU. Die Abhandlung ist <strong>in</strong> zwei<br />

Hauptteile gegliedert. Zuerst wird der alttestamentliche Wahrheitsbegriff<br />

erörtert und <strong>die</strong> Art se<strong>in</strong>er Übersetzung <strong>in</strong> der<br />

Septuag<strong>in</strong>ta. Dabei kommen zur Sprache verwandte Begriffe<br />

von Wahrheit, Festigkeit, Treue, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit<br />

und dergleichen. Alle <strong>die</strong>se Begriffe, denen man bisher mit dem<br />

traditionellen Wahrheits begriff ratlos gegenüberstand, f<strong>in</strong>den<br />

jetzt erste und angemessene Interpretation. So dann ist der Begriff<br />

der Wahrheit <strong>in</strong> der jüdischen und jüdisch-christlichen<br />

Literatur behandelt. Die Abhandlung des zweiten Teils, UAr'J'ltELU<br />

<strong>in</strong> der christlichen und hellenistischen Literatur, ist wichtig,<br />

nicht nur weil zum ersten Mal versucht wird, <strong>in</strong> konkreter Untersuchung<br />

<strong>die</strong>se Geschichte des Wahrheitsbegriffs herauszustellen,<br />

sondern weil Bultmann mit der ihm eigenen Gründlichkeit<br />

und Scharfs<strong>in</strong>nigkeit neues Material <strong>in</strong> unerhörter<br />

Durchdr<strong>in</strong>gung vorlegt, so daß <strong>die</strong>se Abhandlung von wesent-<br />

§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 81<br />

licher wissenschaftsgeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher<br />

Bedeutung ist.<br />

Wir halten <strong>die</strong>sen elementaren Wesenscharakter der Wahrheit<br />

fest und versuchen fortan, unter Wahrheit so etwas wie<br />

Un-verborgenheit zu verstehen, und wissen dabei, daß wir ihn<br />

noch nicht recht fassen, geschweige denn zu verstehen vermögen.<br />

Spätere Überlegungen müssen uns dazu helfen. Jetzt versuchen<br />

wir, den e<strong>in</strong>geschlagenen Weg weiter zu gehen, d.h. <strong>die</strong><br />

Aufhellung des Se<strong>in</strong>s bei ... (Aufenthalt) weiterzuführen, und<br />

zwar' so weit, daß wir e<strong>in</strong>e erste h<strong>in</strong>reichende E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das<br />

Wesen der Wahrheit gew<strong>in</strong>nen, h<strong>in</strong>reichend, um im Lichte des<br />

Wesens der Wahrheit <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wissenschaft<br />

zu beantworten. 2<br />

Wir sahen: <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong> bei den D<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d uns <strong>die</strong>se<br />

offenbar; unverborgen begegnen sie selbst und zwar so, daß sie<br />

sich, im Ganzen e<strong>in</strong>es Bewandtniszusammenhangs bekunden. 3<br />

Der Umkreis der nun jeweils faktisch durchsche<strong>in</strong>enden Bewandtniszusammenhänge,<br />

<strong>die</strong> Perspektive dessen, was uns gerade<br />

offenbar ist, ist aber veränderlich und ändert sich ständig:<br />

Wenn wir Kreide, Schwamm, Tafel und Hörsaal sagen, so zw<strong>in</strong>gen<br />

wir uns gewissermaßen auf den Umkreis <strong>die</strong>ses bestimmten<br />

Raumes. Der Hörsaal selbst aber ist unmittelbar im Universitätsgebäude,<br />

<strong>die</strong>ses Gebäude an <strong>die</strong>sem Platz der Stadt, <strong>die</strong> Stadt<br />

Freiburg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Umgebung, <strong>die</strong>se Umgebung unter<br />

dem Himmel, bei Tag, bei Nacht, bei e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Witterung. Dieser ganze Zusammenhang ist unmittelbar unver-<br />

2 Nicht nur h<strong>in</strong>reichend allgeme<strong>in</strong>; denn allgeme<strong>in</strong> ist auch <strong>die</strong> Idee der<br />

Satzwahrheit und gerade sie, aber e<strong>in</strong>e verführerische Allgeme<strong>in</strong>heit des Unbestimmten.<br />

Das ursprüngliche Wesen, so daß alle wesenhaften Abwandlungen<br />

und <strong>die</strong> Art der Abwandlung selbst Verrenkungen und Künsteleien<br />

bezüglich »praktischer Wahrheit«, <strong>die</strong> des Satzes festgehalten und dann übertragen!<br />

Wahrheit des Hoffens, Wünschens, Fragens und dergleichen ist damit<br />

nicht zu fassen.<br />

, Wesen der Wahrheit: Offenbarkeit von Vorhandenem bis jetzt. Durchgängig<br />

<strong>die</strong>selbe Offenbarkeit? Charakter von Wahrheit unberührt von der Se<strong>in</strong>sart<br />

dps Seienden? Wie Zusammenhang beider?


82 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

borgen uns gegenwärtig, wenn wir sagen, daß <strong>die</strong>se Kreide hier<br />

auf dem Katheder liegt. All <strong>die</strong>se Umkreise des Zusammenhangs<br />

von Seiendem haben ke<strong>in</strong>e festen Grenzen; sie s<strong>in</strong>d nicht<br />

nebene<strong>in</strong>ander gelagert, sondern <strong>die</strong> weiteren sche<strong>in</strong>en je als<br />

Ganze durch <strong>die</strong> engeren durch und <strong>in</strong> <strong>die</strong>se here<strong>in</strong>.<br />

Damit ist aber gesagt, daß uns immer mannigfaltiges Seiendes<br />

mehrerlei Art offenbar ist. Wir alle bewegen uns <strong>in</strong> gewissen<br />

durchschnittlich gleichen, z.T. sogar denselben Kreisen des alltäglich<br />

offenbaren Seienden. Dem nachzugehen, ist nicht unsere<br />

jetzige Aufgabe, wo wir lediglich der Offenbarkeit als<br />

solcher, der Unverborgenheit des Seienden nachfragen. Zwar<br />

sche<strong>in</strong>t es zu genügen, daß wir uns dabei an e<strong>in</strong> beliebiges<br />

Beispiel halten, <strong>die</strong> Offenbarkeit der Kreide, <strong>die</strong> es ermöglicht,<br />

daß <strong>die</strong>se Kreide Gegenstand e<strong>in</strong>er Aussage wird. Alle<strong>in</strong> wir<br />

hörten schon, daß nicht alles Seiende <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart der Gebrauchsd<strong>in</strong>ge<br />

hat. Wirklich ist auch Seiendes, das vorhanden ist<br />

(Ste<strong>in</strong>e), das lebt (Pflanze, Tier), das existiert (Mensch). Wir<br />

fragen deshalb jetzt nach der Offenbarkeit all <strong>die</strong>ses Seienden,<br />

das freilich se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sart nach verschieden se<strong>in</strong> mag.<br />

Aber ist <strong>die</strong>se Offenbarkeit des Seienden e<strong>in</strong>e durchgängig<br />

gleichmäßige, unbeschadet der jeweiligen Se<strong>in</strong>s art des offenbaren<br />

Seienden? Es sieht so aus. Denn wir können leicht <strong>in</strong><br />

derselben fortlaufenden Weise feststellen, daß da s<strong>in</strong>d: Ste<strong>in</strong>e,<br />

Bäume, Hunde, Automobile, »Passanten« (Menschen). Wir<br />

können über all das, weil es <strong>in</strong> gleicher Weise offenbar ist, auch<br />

<strong>in</strong> gleicher Weise uns direkt unterhalten, wahre Aussagen darüber<br />

vollziehen. Diese gleichmäßige Aussagemöglichkeit über<br />

all das vorkommende Seiende ist auch der Beleg für e<strong>in</strong>e gleichmäßige<br />

Form der Offenbarkeit, Unverborgenheit, Wahrheit des<br />

Seienden.<br />

Aber wir s<strong>in</strong>d nun doch schon mehrfach mißtrauisch geworden<br />

gegenüber dem, was <strong>die</strong> Aussage bezüglich des Wesens der<br />

Wahrheit hergibt. Vielleicht ist es gerade hier auch wieder <strong>die</strong><br />

Gleichmäßigkeit, Unterschiedslosigkeit des Aussagens und Redens<br />

über ... , was den Sche<strong>in</strong> erweckt, als sei <strong>die</strong> Wahrheit über<br />

§ 13. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 83<br />

das Seiende gleichfalls unterschiedslos vom seI ben Charakter,<br />

als sei <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden <strong>in</strong> ihren Weisen nicht<br />

bestimmt durch <strong>die</strong> jeweilige Se<strong>in</strong>sart des Seienden.<br />

In der Tat ist es e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong>, als sei alles uns gerade zugängliche<br />

Seiende <strong>in</strong> derselben Weise der Offenbarkeit unverborgen,<br />

e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong> freilich, der se<strong>in</strong>e Gründe hat. Weil <strong>die</strong>ser Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

sehr hartnäckiger ist, ja sogar zum Wesen unseres alltäglichen<br />

Dase<strong>in</strong>s gehört, verlangt <strong>die</strong> Aufhellung der Gründe und der<br />

Möglichkeit <strong>die</strong>ses Sche<strong>in</strong>s weitgehende Überlegungen. Aber<br />

wir sehen immer wieder, daß <strong>die</strong> Aussage uns nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Idee von Wahrheit suggeriert, sondern auch nahelegt,.<br />

als sei gewissermaßen all das Seiende, worüber ausgesagt<br />

werd~n kann, von derselben Art.<br />

Nun ist aber <strong>die</strong> Offenbarkeit (Wahrheit) des uns alltäglich<br />

zugänglichen Seienden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Mannigfaltigkeit ke<strong>in</strong>e unterschiedslos<br />

gleichmäßige, sondern verschieden je nach der Se<strong>in</strong>sart<br />

des bekundenden Seienden. Gerade weil wir <strong>die</strong> Verschiedenheit<br />

des Seienden zunächst nicht und zumeist nie beachten,<br />

müssen wir ihr nachgehen. Denn das Wesen der Wahrheit soll ja<br />

nicht <strong>in</strong> der Orientierung an der Aussage und ihrer Indifferenz,<br />

an ihrem nivellierten und nivellierenden Charakter bestimmt<br />

werden.<br />

§ 13. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit<br />

Verschiedene Se<strong>in</strong>sarten des Seienden<br />

Wir können <strong>die</strong> Verschiedenheit der Wahrheit des <strong>in</strong> ihr offenbaren<br />

Seienden nur so verdeutlichen, daß wir <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Se<strong>in</strong>sarten des Seienden näher kennzeichnen und nachweisen,<br />

wie durch <strong>die</strong>se je e<strong>in</strong> eigener Modus der Wahrheit gefordert<br />

wird. Aber hierzu wäre nicht nur e<strong>in</strong>e Interpretation der verschiedenen<br />

Se<strong>in</strong>sarten (Vorhandenheit, Leben, Existenz, Bestand)<br />

notwendig, sondern zugleich e<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichend weitgeführtes<br />

Verständnis des Wesens der Wahrheit, um zu sehen, wie<br />

<strong>die</strong>se durch jene Arten des Se<strong>in</strong>s sich modifiziert.


84 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Um solche Betrachtungen durchzuführen, fehlt uns jetzt<br />

noch nahezu alles. Daher müssen wir uns behelfen. E<strong>in</strong>e rohe<br />

und auch nicht alle Se<strong>in</strong>sarten betreffende Charakteristik muß<br />

genügen, um <strong>die</strong> Unterschiede allererst im Groben näher zu<br />

br<strong>in</strong>gen. Jetzt ist zunächst das Thema: Se<strong>in</strong>sarten und ihre Verschiedenheit<br />

an den bei den extremen Weisen: Vorhandenheit<br />

und Existenz. Zunächst ist also das Wahrheitsproblem zurückzustellen<br />

(vgl. unten S. 107 ff.).<br />

Seiendes, so ergab sich, steht immer <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Zusammenhangs,<br />

und <strong>die</strong>ser Zusammenhang bekundet gerade etwas<br />

von der Se<strong>in</strong>sart des betreffenden Seienden: Bewandtnis, Dienlichkeit<br />

zu ... , Gebrauchsd<strong>in</strong>ge, solches, was zuhanden ist.<br />

Damit ist gesagt, daß <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit des uns offenbaren<br />

Seienden nicht e<strong>in</strong> bloßes gleichmäßiges Nebene<strong>in</strong>andervorkommen<br />

von Ste<strong>in</strong>en, Pflanzen, Tieren, Menschen ist. Wenn all<br />

<strong>die</strong>ses Seiende, sofern es im Raum ist, schon nebene<strong>in</strong>ander<br />

bzw. vor-, h<strong>in</strong>ter-, oder übere<strong>in</strong>ander vorkommt, so ist <strong>die</strong>ses<br />

sche<strong>in</strong>bar gleichmäßige Nebene<strong>in</strong>ander doch bezüglich des e<strong>in</strong>zelnen<br />

Seienden verschieden, und zwar nicht nur räumlich.<br />

Wir wollen versuchen, <strong>die</strong>ses Nebene<strong>in</strong>ander des alltäglich<br />

offenbaren mannigfaltigen Seienden, unter dem wir uns ja<br />

bewegen, also dazu gehören, etwas schärfer zu sehen. Wir<br />

wählen hierzu zwei extreme Weisen des Nebene<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s:<br />

Vorhandenheit und Existenz. Unter dem mannigfachen Seienden,<br />

unter dem wir selbst vorkommen, f<strong>in</strong>det sich solches, das<br />

<strong>die</strong> gleiche Se<strong>in</strong>sart hat wie wir, Dase<strong>in</strong>, und solches, was von<br />

anderer Se<strong>in</strong>sart ist. Daraus ergibt sich <strong>die</strong> Dichotomie, daß all<br />

'das Seiende, das wir vorf<strong>in</strong>den und zu dem wir selbst gehören,<br />

entweder dase<strong>in</strong>smäßiges oder nichtdase<strong>in</strong>smäßiges Seiendes<br />

, ist.<br />

Seiendes nun, das unsere Se<strong>in</strong>sart hat, das wir aber gleichwohl<br />

nicht selbst s<strong>in</strong>d, sondern das je der Andere ist, anderes<br />

Dase<strong>in</strong>, Dase<strong>in</strong> Anderer ist nicht e<strong>in</strong>fach neben uns vorhanden<br />

und dazwischen vielleicht noch andere D<strong>in</strong>ge, sondern anderes<br />

Dase<strong>in</strong> ist mit uns da, Mitdase<strong>in</strong>;..wir selbst s<strong>in</strong>d bestimmt durch<br />

§ IJ. Se<strong>in</strong>sart und q[fenbarkeit 85<br />

em Mitse<strong>in</strong> mit den Anderen. Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Mitplnander.<br />

Aber s<strong>in</strong>d denn Tafel oder Kreide nicht ebenso zugleich wirkhch<br />

wie wir, s<strong>in</strong>d sie denn abgesondert, nicht auch mit uns, mit<br />

uns zugleich da und s<strong>in</strong>d sie nicht alle zusammen mite<strong>in</strong>ander<br />

mit uns da und wir mit den D<strong>in</strong>gen? Streng genommen kann<br />

man von ihnen nicht sagen, daß sie mite<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d, obgleich<br />

wir zugeben müssen, daß zugleich mit unserem Dase<strong>in</strong> auch der<br />

Schwamm und <strong>die</strong> Kreide vorhanden s<strong>in</strong>d. Aber nie kann e<strong>in</strong><br />

Seiendes, das <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Vorhandense<strong>in</strong>s hat, mit uns dase<strong>in</strong>,<br />

weil ihm <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s nicht zukommt. N~as<br />

sell)"si Dase<strong>in</strong> ist, kann mit-dase<strong>in</strong>. Mit-da-se<strong>in</strong> besagt nicht nur:<br />

zugleich auch seiend, nur eben qua Dase<strong>in</strong>, sondern <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart<br />

Dase<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> das »Mit« erst den eigentlichen S<strong>in</strong>n. »Mit« ist<br />

zu fassen als Teilnahme, wobei Fremdheit als Teilnahmslosigkeit<br />

nur e<strong>in</strong>e Abwandlung der Teilnahme ist. Das »Mit« hat also<br />

e<strong>in</strong>en ganz bestimmten S<strong>in</strong>n und besagt nicht e<strong>in</strong>fach »zusammen«,<br />

auch nicht zusammense<strong>in</strong> von solchem, was <strong>die</strong>selbe<br />

Se<strong>in</strong>sart hat. »Mit« ist e<strong>in</strong>e eigene Weise des Se<strong>in</strong>s.<br />

Gleichzeitige Wirklichkeit, d. h. zugleich Wirklichse<strong>in</strong> von<br />

Seiendem besagt nicht notwendig Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Zugleich<br />

können Kreide und Schwamm oder auch Mensch und Kreide<br />

wirklich se<strong>in</strong>. Aber von <strong>die</strong>sen beiden können wir nicht sagen,<br />

daß sie mite<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d, sondern mite<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d nur Mensch<br />

und Mensch. Wir unterscheiden also ganz allgeme<strong>in</strong> zugleich<br />

Wirklichse<strong>in</strong> von Seiendem, was noch gar nichts über <strong>die</strong> Art<br />

und Weise des Zusammen besagt, und zugleich Wirklichse<strong>in</strong><br />

von Seiendem, das <strong>die</strong>selbe Se<strong>in</strong>sart hat. Hat es <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des<br />

Vorhandenen, dann sprechen wir von e<strong>in</strong>em Zusammen-vorhandense<strong>in</strong>,<br />

hat das zugleich Wirklichse<strong>in</strong> <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des<br />

Dase<strong>in</strong>s, sprechen wir von e<strong>in</strong>em Mite<strong>in</strong>ander.<br />

Wir fragen nun nach dem Unterschied des Nebene<strong>in</strong>ander im<br />

S<strong>in</strong>ne des Zusammenvorhandense<strong>in</strong>s der D<strong>in</strong>ge und dem Nebene<strong>in</strong>ander<br />

als Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> von Menschen.


86 Wahrheit und Sem<br />

a) Zusammenvorhandense<strong>in</strong> - Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

Nehmen wir als e<strong>in</strong>faches Beispiel zwei Felsblöcke, <strong>die</strong> an e<strong>in</strong>er<br />

Geröllhalde liegen. Wir können sagen: sie s<strong>in</strong>d zusammen, aber<br />

nicht mite<strong>in</strong>ander vorhanden. Zwei Wanderer dagegen, <strong>die</strong> an<br />

der Halde vorbei steigen, s<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>ander. Der Unterschied ist<br />

e<strong>in</strong>fach zu fassen: <strong>die</strong> zwei Ste<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d materielle Körper, <strong>die</strong><br />

zwei Wanderer Lebewesen und zwar vernünftige, <strong>die</strong> mit Hilfe<br />

ihrer Vernunft sich gegenseitig erfassen. Die Menschen s<strong>in</strong>d<br />

zwar auch nebene<strong>in</strong>ander vorhanden, aber über<strong>die</strong>s haben sie<br />

e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> von <strong>die</strong>sem Nebene<strong>in</strong>ander, der e<strong>in</strong>e erfaßt den<br />

anderen. Demnach wäre ihr Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> nichts anderes als<br />

e<strong>in</strong> bewußtes Zusammenvorhandense<strong>in</strong>.<br />

Diese Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Zusammenvorhandense<strong>in</strong><br />

und Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist auf den ersten<br />

Blick e<strong>in</strong>leuchtend und sche<strong>in</strong>t zutreffend zu se<strong>in</strong>. Sie trifft<br />

etwas, weil sie auf e<strong>in</strong>e Verschiedenheit den F<strong>in</strong>ger legt: Die<br />

Felsblöcke s<strong>in</strong>d nicht nur bewußtlos, als hätten sie ihr Bewußtse<strong>in</strong><br />

verloren und könnten deshalb vom Bewußtse<strong>in</strong> nicht<br />

Gebrauch machen, sondern sie haben wesensmäßig ke<strong>in</strong> solches.<br />

Es ist ihnen, zwischen denen e<strong>in</strong>e Wechselwirkung bestehen<br />

mag, also schlechth<strong>in</strong> versagt, ihr Nebene<strong>in</strong>ander zu e<strong>in</strong>em<br />

gegenseitig sich erfassenden zu machen. Die beiden Menschen<br />

als vernünftige Lebewesen können das. Aber wird durch das<br />

gegenseitige Sicherfassen das Nebene<strong>in</strong>ander zu e<strong>in</strong>em Mite<strong>in</strong>ander?<br />

Nehmen wir an, <strong>die</strong> beiden Wanderer kommen alsbald<br />

um e<strong>in</strong>e Biegung des Pfads zu e<strong>in</strong>er unerwarteten Aussicht auf<br />

das Gebirge, so daß sie beide plötzlich h<strong>in</strong>gerissen s<strong>in</strong>d und<br />

schweigend nebene<strong>in</strong>ander stehen. Es ist dann ke<strong>in</strong>e Spur von<br />

gegenseitigem Sicherfassen, jeder steht vielmehr benommen<br />

von dem Anblick. S<strong>in</strong>d <strong>die</strong> beiden jetzt nur noch nebene<strong>in</strong>ander<br />

wie <strong>die</strong> beiden Felsblöcke, oder s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Augenblick<br />

gerade <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise mite<strong>in</strong>ander, wie sie es nicht se<strong>in</strong> können,<br />

wenn sie unentwegt zusammen schwatzen oder gar sich gegenseitig<br />

erfassen und auf ihre Komplexe beschnüffeln?<br />

§ lJ. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 87<br />

Wenn also <strong>in</strong> jenem H<strong>in</strong>gerissense<strong>in</strong> von dem Anblick, <strong>in</strong> dem<br />

von e<strong>in</strong>em gegenseitigen Erfassen gewiß ke<strong>in</strong>e Rede ist, gleichwohl<br />

gerade e<strong>in</strong> ursprüngliches Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> liegt, dann<br />

kann sich <strong>die</strong>ses Mite<strong>in</strong>ander nicht durch e<strong>in</strong> gegenseitiges Erfassen<br />

konstituieren. Das ist denn auch so wenig der Fall, daß<br />

vielmehr umgekehrt alles gegenseitige Sicherfassen von Dase<strong>in</strong><br />

und Dase<strong>in</strong> das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> beider schon voraussetzt. Gegenseitiges<br />

Sicherfassen ist fun<strong>die</strong>rt im Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>.<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> sagt also mehr, ja etwas anderes als: Zwei<br />

;\fenschen kommen gleichzeitig irgendwo vor. Bisher ergab sich<br />

negativ: 1. Das Mite<strong>in</strong>ander ist nicht e<strong>in</strong> Zugleich-auch-se<strong>in</strong>,<br />

nur daß eben <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> wäre. 2. Das Mite<strong>in</strong>ander ist<br />

auch nicht e<strong>in</strong> Zusammenvorhandense<strong>in</strong> so zwar, daß <strong>die</strong> Vorhandenen<br />

dabei e<strong>in</strong> gegenseitiges Wissen von sich haben, ke<strong>in</strong><br />

Zugleich-auch-se<strong>in</strong>, nur mit Bewußtse<strong>in</strong> begleitet.<br />

Aber wor<strong>in</strong> liegt nun positiv das Wesen des Mite<strong>in</strong>ander? Wir<br />

hörten zuletzt, das gegenseitige Erfassen setze das Mite<strong>in</strong>andersem<br />

schon voraus, d. h. gegenseitiges Erfassen ist allererst auf<br />

dem Grunde des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s möglich. Das sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

nichtssagende Trivialität zu se<strong>in</strong>, denn wenn zwei sich gegenseitig<br />

erfassen sollen, dann müssen sie allerd<strong>in</strong>gs hierzu jeder<br />

wirklich da se<strong>in</strong>. Aber ist das geme<strong>in</strong>t, wenn wir sagen, das<br />

:vIite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> sei <strong>die</strong> Voraussetzung für gegenseitiges Erfassen?<br />

Ganz und gar nicht. Diese Voraussetzung, daß faktisch zwei<br />

l\1enschen wirklich se<strong>in</strong> müssen, um sich gegenseitig wirklich<br />

als wirklich zu erfassen, bedarf ke<strong>in</strong>er Erörterung. Wir fragen<br />

mcht nach dem, was wirklich se<strong>in</strong> muß, damit anderes sich<br />

verwirkliche, sondern was möglich se<strong>in</strong> muß, damit anderes<br />

SIch ermögliche. Damit gegenseitiges Sicherfassen überhaupt<br />

als sölches möglich sei, muß zuvor e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> möglich<br />

se<strong>in</strong>., Nur auf dem Grunde <strong>die</strong>ser Möglichkeit des Mite<strong>in</strong>ander<br />

besteht <strong>die</strong> nachgeordnete der gegenseitigen Erfassung von Dasem<br />

und Dase<strong>in</strong>.<br />

Nun sahen wir schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Zusammenhang, wie<br />

alles Erfassen Offenbarkeit voraussetzt. Damals g<strong>in</strong>g es um das


88 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Erfassen von Vorhandenem, jetzt um das Erfassen von Dase<strong>in</strong>.<br />

Dase<strong>in</strong> muß zuvor schon für Dase<strong>in</strong> offenbar se<strong>in</strong>, damit gegenseitiges<br />

Erfassen möglich wird. Trifft <strong>die</strong>ses Für-e<strong>in</strong>anderoffenbarse<strong>in</strong><br />

von Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> das Wesen des Mite<strong>in</strong>ander<br />

oder gehört es gar ·nicht wesentlich zum Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>? Jedenfalls<br />

müssen wir versuchen, <strong>in</strong> der Orientierung an <strong>die</strong>sem<br />

Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> das Mite<strong>in</strong>ander zu erörtern.<br />

Wenn das Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> sich nicht deckt mit<br />

dem gegenseitigen Erfassen, dann fallen von vornhere<strong>in</strong> alle<br />

Weisen des Erfassens als nicht h<strong>in</strong>reichend zur Aufklärung des<br />

Mite<strong>in</strong>ander aus. Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> besteht also nicht<br />

dar<strong>in</strong>, daß ich den Anderen - und umgekehrt der Andere mich -<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em sogenannten Innenleben kenne, daß ich weiß, was <strong>in</strong><br />

ihm vorgeht, was er für Anlagen, Eigentümlichkeiten und Grillen<br />

hat; es besteht dann auch ebensowenig im Erfassen der<br />

äußeren Ausstattung oder des Benehmens. Wenn das Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weisung enthalten soll auf das<br />

Wesen des Mite<strong>in</strong>ander, dann werden wir es am Ende dort antreffen,<br />

wo wir e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander feststellten, z.B. im H<strong>in</strong>genommense<strong>in</strong><br />

der beiden Wanderer von dem Anblick. Hier waltet<br />

gerade e<strong>in</strong> gegenseitiges sich-nicht-Erfassen und doch e<strong>in</strong> eigentümliches<br />

Mit-dem-Anderen. Das »Mit« deutet auf Geme<strong>in</strong>samkeit.<br />

Das Geme<strong>in</strong>schaftliche liegt dar<strong>in</strong>, daß der e<strong>in</strong>e<br />

ebenso h<strong>in</strong>gerissen ist wie der andere, daß von beiden geme<strong>in</strong>sam<br />

das Gleiche gilt. So wie der e<strong>in</strong>e verhält sich auch der<br />

andere. Besteht also das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> beider dar<strong>in</strong>, daß beide<br />

sich <strong>in</strong> gleicher Weise verhalten und verhalten können? Aber<br />

das gilt doch auch von den beiden Felsblöcken. Was an dem<br />

e<strong>in</strong>en möglich ist, kann auch am anderen vor sich gehen. Ja,<br />

<strong>die</strong>se D<strong>in</strong>ge gleichen sich <strong>in</strong> der Art, wie sie s<strong>in</strong>d, viel mehr als<br />

<strong>die</strong> Menschen. Obwohl beide <strong>in</strong> gleicher Weise s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d sie<br />

doch ganz und gar nicht mite<strong>in</strong>ander.<br />

§ 1 J. Semsart und Offenbarkeit 89<br />

b) Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>: Sichverhalten mehrerer zu Selbigem<br />

Aber bei den Menschen handelt es sich um e<strong>in</strong> gleiches Verhalten<br />

zu D<strong>in</strong>gen, wie etwa beim Anblick des Gebirges. Mite<strong>in</strong>ander<br />

d.h. <strong>in</strong> gleicher Weise se<strong>in</strong>, wobei Se<strong>in</strong> besagt: verhalten zu.<br />

MIte<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> heißt sich <strong>in</strong> gleicher Weise verhalten zu ...<br />

Gibt es überhaupt dergleichen, daß Menschen sich <strong>in</strong> gleicher<br />

VVelse zu etwas verhalten?<br />

Nehmen wir unser ständiges Beispiel: Wir alle vollziehen<br />

Jetzt - mite<strong>in</strong>ander - im Blick auf <strong>die</strong>se Kreide <strong>die</strong> Aussage:<br />

Diese' Kreide ist weiß. Dieses Aussagen ist gegründet auf unserem<br />

Se<strong>in</strong> bei <strong>die</strong>sem Vorhandenen. Dieses unser Se<strong>in</strong> bei der<br />

Kreide ,ist aber auch nur bei Zweien von uns allen nie das<br />

gleiche. Von allem übrigen abgesehen zeigt schon alle<strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

räumliche Orientierung, <strong>in</strong> der wir je verschieden bei der Kreide<br />

s<strong>in</strong>d, daß jedes Se<strong>in</strong> bei ... jedes e<strong>in</strong>zelnen e<strong>in</strong> verschiedenes<br />

1st. Ja, noch mehr, nicht nur jetzt ist faktisch ke<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ...<br />

von uns allen das gleiche, sondern es kann nie unterschiedslos<br />

das gleiche se<strong>in</strong>, faktisch nicht und wesensmäßig nicht. Aber der<br />

Verschiedenheit der räumlichen Orientierung läßt sich abhelfen;<br />

jedes Dase<strong>in</strong> kann doch z.B. an me<strong>in</strong>e Stelle treten und <strong>die</strong><br />

Kreide von hier aus vor sich haben. Gewiß kann jeder von uns<br />

den Platz e<strong>in</strong>es anderen e<strong>in</strong>nehmen, aber doch nie zu gleicher<br />

Zelt. Der Zeitpunkt ist notwendig e<strong>in</strong> verschiedener, und wenn<br />

er der gleiche ist, dann ist notwendig der Platz verschieden.<br />

Also gibt es ke<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ... und entsprechend ke<strong>in</strong> Verhalten<br />

zu ..., das gleich wäre. Hieße Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> soviel wie:<br />

sich <strong>in</strong> gleicher Weise zu e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g verhalten, dann gäbe es<br />

ke<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander. Nun sagen wir doch aber mit verständlichem<br />

S<strong>in</strong>n, daß wir alle »mite<strong>in</strong>ander« uns zu der Kreide verhalten.<br />

Gleich ist also nicht unser Verhalten zu ..., sondern gleich ist<br />

das, wozu wir uns verhalten. Aber sehen wir denn <strong>in</strong> der Tat <strong>die</strong><br />

gleiche Kreide? Sieht jemand auf der h<strong>in</strong>tersten Bank e<strong>in</strong>e Kreide,<br />

<strong>die</strong> derjenigen gleich ist, <strong>die</strong> ich sehe? Ich behaupte, ne<strong>in</strong>!<br />

Sie werden zustimmen und sagen: natürlich nicht; was für den


111111111<br />

90 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Betrachter der h<strong>in</strong>tersten Bank an der Kreide vorn ist, ist umgekehrt<br />

für mich h<strong>in</strong>ten. Was wir da sehen, wozu wir uns verhalten,<br />

ist also auch e<strong>in</strong> Verschiedenes. Aber ich sage noch mehr:<br />

Jemand h<strong>in</strong>ten im Saal sieht im Se<strong>in</strong> bei der vorliegenden Kreide<br />

nicht nur faktisch nicht <strong>die</strong> gleiche Kreide, <strong>die</strong> ich sehe, und<br />

zwar nicht nur deshalb, weil das, was wir da sehen, faktisch<br />

Unterschiede zeigt, sondern weil dergleichen im vorliegenden<br />

Fall wesensmäßig ausgeschlossen ist. Damit jemand h<strong>in</strong>ten soll<br />

e<strong>in</strong>e gleiche Kreide sehen können, <strong>die</strong> gleich ist der, <strong>die</strong> ich<br />

sehe, müßten zum m<strong>in</strong>desten zwei Kreiden vorhanden se<strong>in</strong>.<br />

Gleichheit setzt wesensmäßig Mehrheit voraus. Wir sehen also<br />

nicht jeder von uns <strong>die</strong> gleiche Kreide, sondern alle mite<strong>in</strong>ander<br />

<strong>die</strong>selbe. Selbigkeit und Gleichheit s<strong>in</strong>d etwas Verschiedenes.<br />

Wir stehen bei der Frage nach dem Wesen der Wahrheit.<br />

Wahrheit ergab sich uns zunächst <strong>in</strong> der allgeme<strong>in</strong>en Bestimmung<br />

als Unverborgenheit des Seienden. Sie kommt also <strong>in</strong><br />

irgende<strong>in</strong>er Weise, <strong>die</strong> noch nicht bestimmt ist, dem Seienden<br />

zu. Daraus ist zu entnehmen, daß vermutlich <strong>die</strong> Wahrheit<br />

durch das Seiende selbst <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise bestimmt ist. Nun<br />

wissen wir aber, Seiendes ist verschieden nach se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sart.<br />

Daraus erwächst <strong>die</strong> Frage, ob nicht am Ende dann auch <strong>die</strong><br />

Wahrheit wesensmäßig sich abwandelt je nach der Se<strong>in</strong>sart dessen,<br />

von dem sie Unverborgenheit, Enthülltheit ist. So ergibt<br />

sich <strong>die</strong> Aufgabe, zunächst e<strong>in</strong>mal verständlich z~ machen, <strong>in</strong><br />

welcher Weise Seiendes h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sart verschieden<br />

ist, um daraus zu entnehmen, wie sich auf Grund <strong>die</strong>ser verschiedenen<br />

Arten zu se<strong>in</strong> auch <strong>die</strong> Wahrheit vom Seienden<br />

wandelt.<br />

Für den Nachweis der Verschiedenartigkeit des Seienden<br />

wählen wir zwei extreme Fälle: das Vorhandense<strong>in</strong> der D<strong>in</strong>ge<br />

und <strong>die</strong> Existenz des Menschen. Wenn wir das im S<strong>in</strong>ne der<br />

Tradition fassen, so haben wir damit auf der e<strong>in</strong>en Seite - im<br />

Anschluß an Descartes formuliert - <strong>die</strong> res extensa, <strong>die</strong> ausgedehnten<br />

körperlichen D<strong>in</strong>ge, und auf der anderen Seite <strong>die</strong> res<br />

cogitans, das denkende D<strong>in</strong>g, oQer wie Husserl sagt, <strong>die</strong> Realität,<br />

§ 13. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 91<br />

d. h. Wirklichkeit aller Objekte auf der e<strong>in</strong>en Seite, -das Bewußtse<strong>in</strong><br />

auf der anderen, e<strong>in</strong>e Scheidung, <strong>die</strong> nach ihm <strong>die</strong> fundamentalste<br />

kategoriale Scheidung überhaupt ist, e<strong>in</strong>e Scheidung,<br />

<strong>die</strong> auch für Kant und für den ganzen deutschen Idealismus<br />

zentral ist. Wir gehen auf den historischen fI<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ses<br />

Unterschieds von Vorhandenem und Existierendem, von D<strong>in</strong>gen<br />

und Menschen, nicht weiter e<strong>in</strong>, sondern suchen zunächst<br />

aus der Analyse der Phänomene selbst gewisse Unterschiede <strong>in</strong><br />

der Se<strong>in</strong>sart des Vorhandenen, der D<strong>in</strong>ge, und des Existierenden,<br />

der Menschen, sichtbar zu machen.<br />

Wir fragten nach dem Nebene<strong>in</strong>ander von Vorhandenem und<br />

Nebene<strong>in</strong>ander von Menschen. Letzteres nannten wir das Mite<strong>in</strong>anlierse<strong>in</strong>.<br />

Wenn wir jetzt den vorigen Versuch e<strong>in</strong>er Bestimmung'des<br />

Mite<strong>in</strong>ander wieder aufnehmen, dann ist zu sagen: es<br />

liegt weder dar<strong>in</strong>, daß wir uns <strong>in</strong> der gleichen Weise zu etwas<br />

verhalten, noch dar<strong>in</strong>, daß das, wozu wir uns je verhalten, e<strong>in</strong><br />

Gleiches ist. Vielmehr kann Mite<strong>in</strong>ander jetzt allenfalls besagen,<br />

daß mehrere sich <strong>in</strong> verschiedener Weise zum Selbigen<br />

verhalten. Verhalten zu Selbigem schließt nicht aus, sondern<br />

sogar e<strong>in</strong>, daß das Verhalten verschieden ist. Aber s<strong>in</strong>d wir etwa<br />

nicht mite<strong>in</strong>ander, wenn sich der e<strong>in</strong>e zur Kreide, der andere zur<br />

Tafel oder zum Heft, noch e<strong>in</strong> anderer vielleicht zu se<strong>in</strong>en<br />

Skiern, bei sich zu Hause verhält? Vom letzteren würden wir<br />

freilich sagen, er ist abwesend, obzwar er hier auf der Bank sitzt.<br />

Wir können uns also zu Verschiedenem verhalten und s<strong>in</strong>d<br />

dabei doch mite<strong>in</strong>ander. Zwar merken wir sofort etwas Auffallendes:<br />

Angenommen, jeder von uns beschäftigte sich jetzt mit<br />

etwas, anderem, mit je e<strong>in</strong>em anderen Gegenstand <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Saal, dann s<strong>in</strong>d wir zwar zusammen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Saal, aber doch<br />

nicht eigentlich mite<strong>in</strong>ander; wir existieren gleichsam alle je<br />

von e<strong>in</strong>ander weg - es entstünde e<strong>in</strong> privatives Un-mite<strong>in</strong>ander.<br />

Aber liegt das letztlich an der Verschiedenheit der Objekte, mit<br />

denen wir uns abgeben? Setzen wir den Fall, <strong>die</strong> genannten zwei<br />

Wanderer kommen abends auf ihre Hütte; der e<strong>in</strong>e hackt Holz,<br />

der andere schält Kartoffeln. Hier werden wir ohne Zögern


92 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

sagen: Die Zwei s<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>ander - und <strong>die</strong>s nicht nur, weil sie<br />

<strong>in</strong> der Nähe vone<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>ander, obwohl sie<br />

sich mit Verschiedenem, aber doch <strong>in</strong> Absicht auf dasselbe beschäftigen,<br />

auf <strong>die</strong> Zubereitung der Mahlzeit und im weiteren<br />

auf das Besorgen ihres Aufenthalts <strong>in</strong> der Hütte; <strong>in</strong> Absicht auf<br />

Selbiges gehört das zum Wesen von Dase<strong>in</strong>.<br />

Wenn wir uns entsprechend vergegenwärtigen, daß jeder <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Saal auf e<strong>in</strong> beliebiges und je anderes Objekt gerichtet<br />

ist, dann existieren wir <strong>in</strong> gewisser Weise ause<strong>in</strong>ander. Wenn<br />

wir aber annehmen, daß <strong>die</strong>ses Gerichtetse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es jeden auf e<strong>in</strong><br />

verschiedenes Objekt <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en Aufgabe bestünde, den Saal<br />

zu beschreiben, dann wäre durch <strong>die</strong> Selbigkeit der Aufgabe das<br />

Mite<strong>in</strong>ander eigentlicher als zuvor. E<strong>in</strong> solches Sichverhalten<br />

mehrerer zu Selbigem ist e<strong>in</strong>e Weise, <strong>in</strong> der sich das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

bekundet; vielleicht ist es e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> notwendig<br />

zum menschlichen Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> gehört.<br />

In der Tat ist also für das Mite<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>e Absicht auf Selbiges<br />

wesentlich.<br />

c) Selbigkeit<br />

Es zeigte sich: Die Selbigkeit dessen, wozu wir uns im Mite<strong>in</strong>ander<br />

verhalten, spielt für <strong>die</strong>ses Mite<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Rolle. Welche? Das ist dunkel; ja, es ist überhaupt ~icht klar, was<br />

hier mit Selbigkeit geme<strong>in</strong>t ist. Sie bedarf offensichtlich der<br />

näheren Bestimmung, wenn verständlich werden soll, <strong>in</strong>wiefern<br />

mit Recht gefragt werden kann: In welchem S<strong>in</strong>ne verhalten<br />

wir uns zu Selbigem und was heißt hier das Selbige? Für<br />

Selbigkeit hat man den Term<strong>in</strong>us Identität. Diese sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>fachste Sache von der Welt zu se<strong>in</strong>. Etwas ist mit sich identisch,<br />

das können wir von jedem Gegenstand sagen. Trotzdem<br />

reicht <strong>die</strong> angebliche E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das, was Identität besagt, ganz<br />

und gar nicht aus, um uns Aufschluß zu geben über das, was wir<br />

me<strong>in</strong>en, wenn wir sagen: mehrere verhalten sich zum Selbigen,<br />

so daß <strong>die</strong>ses ihr Verhalten e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist. Wir müssen<br />

§ lJ. Se<strong>in</strong>sart und qjfenbarkeit 93<br />

daher konkret und schrittweise uns davon zu überzeugen versuchen,<br />

daß <strong>die</strong>ser landläufige Begriff der Identität hier<br />

schlechth<strong>in</strong> nicht ausreicht, d.h. wir müssen <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Begriffe<br />

von Identität an dem Phänomen, das wir hier verhandeln,<br />

dem Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> als Sichverhalten zum SeI bi gen, auf ihre<br />

Begriffsfähigkeit erproben.<br />

Das, wozu wir uns verhalten, das, wobei wir s<strong>in</strong>d, ist für uns<br />

dasselbe. Das kann heißen: Als das Seiende ändert es sich nicht.<br />

Aber muß etwas, um Selbiges zu se<strong>in</strong>, alle Änderung von sich<br />

weis'en? Ganz und gar nicht. Alles Veränderliche und sich Verändernde<br />

ist je solches nur, sofern es, dasselbe, anders wird.<br />

Bliebe es nicht es selbst, dann könnten wir nie sagen: Es hat sich<br />

verändert, sondern wir müßten sagen: an se<strong>in</strong>e Stelle ist e<strong>in</strong><br />

anderes getreten. Wir hätten ke<strong>in</strong>e Veränderung <strong>die</strong>ses Seienden,<br />

sondern nur <strong>die</strong> Auswechslung <strong>die</strong>ses Seienden durch e<strong>in</strong><br />

anderes. Aber auch bei <strong>die</strong>sem Vorgang der Auswechslung ist<br />

das e<strong>in</strong>e und das andere je mit sich identisch. Selbigkeit besagt<br />

also nicht e<strong>in</strong>fach Unveränderung. Wir verhalten uns ja auch zu<br />

e<strong>in</strong>em SeI bigen, wenn wir e<strong>in</strong>en Wagen vorbeifahren sehen, e<strong>in</strong><br />

Vorhandenes also, das <strong>in</strong> jedem Moment se<strong>in</strong>en Ort ändert. Veränderung<br />

- z.B. e<strong>in</strong> vorbeifahrender Wagen - schließt Identität<br />

nicht aus, sondern e<strong>in</strong>. Veränderung setzt immer voraus, daß e<strong>in</strong><br />

Bleibendes, Identisches sich durchhält.<br />

Was heißt aber dann, wir verhalten uns zum Selbigen, so<br />

zwar, daß sich <strong>in</strong> solchem Verhalten das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bekunden<br />

solL Es heißt nicht: Wir verhalten uns zu etwas, was sich<br />

nicht ändert. E<strong>in</strong> Selbiges, wozu wir uns verhalten, so daß <strong>die</strong>ses<br />

e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei. . . ist, kann <strong>in</strong> Bewegung se<strong>in</strong> oder<br />

ruhen, ja es kann auch schlechth<strong>in</strong> außerhalb <strong>die</strong>ser Möglichkeiten<br />

stehen wie etwa <strong>die</strong> Zahl 5, <strong>die</strong> sich nicht bewegt, und<br />

zwar nicht deshalb nicht, weil sie ruhte. Sie kann nicht ruhen;<br />

ruhen kann nur, was sich bewegt. Ruhe ist nur e<strong>in</strong> Modus von<br />

Bewegung. Unser Se<strong>in</strong> bei der Kreide ist bei solchem, was ruht,<br />

d. h. grundsätzlich gesprochen, was <strong>in</strong> Bewegung ist. Diese Ruhe<br />

der D<strong>in</strong>ge ist nicht so belanglos, wie es sche<strong>in</strong>en möchte.


94 Wahrhelt und Sem<br />

Wir haben beiläufig schon gesehen, daß wir uns zum SeI bigen<br />

verhalten, obzwar dabei jeder eben <strong>die</strong>ses Selbe verschieden<br />

sieht. Selbigkeit schließt Veränderung nicht aus und überhaupt<br />

nicht Unterschied. Die Verschiedenheit der Anblicke, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se<br />

Kreide für jeden von uns bietet, stört uns nicht. Wie soll sie auch<br />

stören, wenn am Ende gerade <strong>die</strong> Verschiedenheit der Anblicke<br />

mithilft, damit wir mite<strong>in</strong>ander <strong>die</strong> Kreide selbst wirklich sehen.<br />

Nehmen wir für e<strong>in</strong>en Augenblick an, wir alle würden <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge um uns ständig m e<strong>in</strong>em durchgängig gleichen Anblick<br />

sehen, hören und erfahren. Das gäbe e<strong>in</strong>e phantastische» Welt«<br />

- oder am Ende überhaupt ke<strong>in</strong>e. Diese Fiktion, alle D<strong>in</strong>ge<br />

böten sich für alle <strong>in</strong> derselben Weise dar, liegt <strong>in</strong> dem kantischen<br />

Gedanken des D<strong>in</strong>g an sich. Das D<strong>in</strong>g an sich ist nur<br />

gedacht als Gegenstand e<strong>in</strong>er absoluten Erkenntnis, Gottes<br />

nämlich, <strong>die</strong> nicht durch irgende<strong>in</strong>e Relativität, nicht durch<br />

irgende<strong>in</strong>e Perspektive <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge sieht. Auf Grund <strong>die</strong>ser Annahme<br />

e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>ges an sich müßte man konsequent sagen, daß<br />

es für Gott überhaupt nicht so etwas wie e<strong>in</strong>e Welt gibt. Wir<br />

werden <strong>die</strong>sen Gedanken, der bei Kant nicht zu Ende gedacht<br />

ist, später bei der Analyse des Weltbegriffs noch e<strong>in</strong>gehender<br />

betrachten. Jetzt stellen wir nur fest, daß uns <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit<br />

und Verschiedenartigkeit der Anblicke, <strong>in</strong> denen sich<br />

<strong>die</strong>selben D<strong>in</strong>ge für uns darbieten, nicht stört, sondern daß <strong>die</strong>se<br />

Verschiedenartigkeit vielleicht e<strong>in</strong>e wesentliche Funktion hat.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>se Verschiedenartigkeit beim Erfassen der D<strong>in</strong>ge<br />

nicht <strong>in</strong> Rechnung setzen, sondern uns alle geme<strong>in</strong>sam durch<br />

<strong>die</strong> Verschiedenartigkeit der Anblicke h<strong>in</strong>durch zu demselben<br />

D<strong>in</strong>g verhalten, wozu verhalten wir uns dann schließlich? Wir<br />

ziehen doch nicht <strong>die</strong> Verschiedenheit der Anblicke ab; erstens<br />

wissen wir von solchem Abziehen nichts, zweitens vergleichen<br />

wir doch nicht <strong>die</strong> uns sich bietenden Anblicke mit denen anderer.<br />

Was soll auch der nach Abzug aller verschiedenen Anblicke<br />

verbleibende Restbestand? Man könnte sagen: das ist<br />

eben <strong>die</strong> Kreide an sich selbst. Es mag se<strong>in</strong>, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Betrachtungsart der~Natur - z.B. <strong>in</strong> der theoreti-<br />

§ 1}. Semsart und Qffenbarknt 95<br />

schen der Physik und der Chemie - <strong>die</strong> Kreide <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise<br />

als Exempel für e<strong>in</strong> materielles D<strong>in</strong>g nehmen können. Dies ist<br />

aber dann gewiß nicht <strong>die</strong> Kreide, <strong>die</strong> wir mite<strong>in</strong>ander me<strong>in</strong>en;<br />

SIe gibt sich für uns vielmehr als dasselbe Gebrauchsd<strong>in</strong>g zum<br />

Schreiben. Was sie da als materielles D<strong>in</strong>g ist, fällt für uns nicht<br />

ms Gewicht - ganz abgesehen davon, daß <strong>die</strong>ser verme<strong>in</strong>tlich<br />

gleichbleibende Restbestand der materiellen D<strong>in</strong>gsubstanz<br />

VIelleicht, ja höchst wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> jedem Zeitmoment etwas<br />

anderes ist, daß er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ständigen Verlagerung se<strong>in</strong>er Elementarteilchen<br />

begriffen ist. Das Selbige ist also nicht <strong>die</strong>se<br />

materielle Substanz im physikalischen S<strong>in</strong>n. So sche<strong>in</strong>t es, daß<br />

WIr mit allen <strong>die</strong>sen Fragen nach der Selbigkeit <strong>die</strong>ses SeI bigen,<br />

wozu wir uns im Mite<strong>in</strong>ander verhalten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Abgrund<br />

kommen.<br />

Was bleibt dann noch, was Selbigkeit und Verhalten zum<br />

Selbigen besagen könnte? Erfassen wir etwa das Selbige als<br />

Selbiges <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem geme<strong>in</strong>samen Se<strong>in</strong> bei der Kreide? Zwar s<strong>in</strong>d<br />

WIr bei derselben Kreide, aber wir erfassen sie nicht als <strong>die</strong>selbe;<br />

WIr s<strong>in</strong>d nicht auf sie <strong>in</strong> ihrer Selbigkeit oder gar auf <strong>die</strong> Selblgkeit<br />

selbst gerichtet. Erfassen wir etwa als das Geme<strong>in</strong>te den<br />

Tatbestand, daß <strong>die</strong> Kreide mit sich selbst identisch ist? Also 1st<br />

mit <strong>die</strong>ser Selbigkeit auch nicht <strong>die</strong> Identität des D<strong>in</strong>ges geme<strong>in</strong>t.<br />

Bisher hörten wir schon so vielerlei über <strong>die</strong>se rätselhaftige<br />

Selbigkeit, daß alles wirr durche<strong>in</strong>anderläuft, ohne daß wir den<br />

ger<strong>in</strong>gsten Aufschluß über das Mite<strong>in</strong>ander erfahren hätten.<br />

Das Durche<strong>in</strong>ander 1st aber zunächst Absicht, um zu zeigen, daß<br />

<strong>die</strong>se sche<strong>in</strong>bar selbstverständlichen Begriffe wie Selbigkeit<br />

mcht ausreichen. Sche<strong>in</strong>bar gewannen wir wieder nur lauter<br />

negative Ergebnisse:<br />

1. Das Selbige me<strong>in</strong>t nicht Unverändertes und UnveränderlIches,<br />

also nicht Unveränderung.<br />

2. Das Selbige me<strong>in</strong>t nicht etwas, das sich <strong>in</strong> der Verschiedenheit<br />

der Anblicke als gleichbleib end durchhält, also nicht<br />

substanzielle Beharrlichkeit.


96 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

3. Das Selbige me<strong>in</strong>t nicht <strong>die</strong> formale Identität des Seien_<br />

den mit sich selbst.<br />

Damit haben wir <strong>die</strong> Hauptbegriffe von Selbigkeit erschöpft.<br />

Dar<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf, daß wir so nicht vorwärts kommen,<br />

mehr noch, daß Selbigkeit hier etwas Orig<strong>in</strong>ales ist.<br />

Je vielfältiger wir dem nachfragen, was da Selbigkeit heißen<br />

könnte <strong>in</strong> dem Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei Selbigem, um so weiter<br />

sche<strong>in</strong>en wir uns von dem zu entfernen, was wir aufklären<br />

sollen. Und doch e<strong>in</strong> Ergebnis: Alle negativen Resultate zusammenfassend,<br />

sehen wir: Bei der Selbigkeit handelt es sich nicht<br />

um e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> dem Seienden lediglich und primär <strong>in</strong> Rücksicht<br />

auf es selbst eignet.<br />

Wir g<strong>in</strong>gen von der Feststellung aus, daß wir nicht verschiedene<br />

Kreiden sehen, sondern e<strong>in</strong> und <strong>die</strong>selbe. Dieses unser aller<br />

Se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong> und derselben Kreide soll e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander bekunden.<br />

Wir s<strong>in</strong>d bei derselben; sie ist durchgängig für alle <strong>die</strong>selbe<br />

und nicht nur je e<strong>in</strong>e gleiche, sie ist <strong>die</strong>selbe für jeden von uns.<br />

Daraus ergibt sich, daß wir von e<strong>in</strong>er Selbigkeit sprechen, <strong>die</strong><br />

relativ auf uns ist. Diese Relation auf uns gehört am Ende zum<br />

Wesen <strong>die</strong>ser Selbigkeit. Ob, <strong>in</strong>wiefern und warum zu jeder<br />

Selbigkeit und Identität e<strong>in</strong> Relationscharakter gehört, ist jetzt<br />

nicht zu erörtern. Daß dergleichen auch <strong>in</strong> der formalen leeren<br />

Selbigkeit von etwas mit sich selbst vorliegt, läßt sich leicht<br />

zeigen; <strong>die</strong>se Identität ist e<strong>in</strong> Charakter der Bezi~hung von etwas<br />

zu sich selbst.<br />

Selbigkeit von etwas drückt aus: Relation von etwas auf es<br />

selbst. Dies ist aber nur e<strong>in</strong>e erste Fassung der Identität. Mit<br />

<strong>die</strong>ser Idee von Selbigkeit kommen wir nicht weiter, ja überhaupt<br />

nicht an das Phänomen, das uns beunruhigt. Selbigkeit ist<br />

e<strong>in</strong>e Beziehung, <strong>die</strong> sich gerade ihrem S<strong>in</strong>n nach auf das zurückwendet,<br />

was da selbiges ist, e<strong>in</strong>e Relation, <strong>die</strong> nicht von<br />

dem betreffenden Etwas wegführt, sondern gerade immer nur<br />

auf es selbst zurück.<br />

Nun aber zeigt sich: Hier ist e<strong>in</strong> Selbiges, das so benannt wird,<br />

nicht weil es mit sich identiscR - das ist es vielleicht auch -,<br />

§ IJ. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 97<br />

'I fu"r mehrere dasselbe ist. Jetzt sche<strong>in</strong>t sich der<br />

ndern wel es .'<br />

,0 I" n Diese Beziehung auf mehrere 1st eben nur dIe<br />

Koten zu ase .<br />

n , d Erfassens. Diese Beziehung des Erfassens gehört<br />

BeZlehung es . . d .<br />

, Wesen <strong>die</strong>'ser Selbigkeit, sondern es WIrd em I entIl)lcht<br />

ZUln<br />

. d<br />

. mehreren erfaßt. Wir kommen also doch mIt em<br />

,chps "on ..... . h<br />

. "1 l' hen Begriff der SelbIgkeIt aus, nur durfen WIr mc t<br />

'rf'WO In IC .<br />

,., . 11ießlich darauf reflektieren, sondern müßten mIt beacha<br />

usscdl ß mehrere e<strong>in</strong> Identisches erfassen. Wir können jetzt<br />

tf'n, a . .<br />

. en Selbigkeit kann sehr wohl eme BestImmung des Gegensag<br />

d' Ibst se<strong>in</strong> aber <strong>die</strong>ses mit sich selbst identische Seiende<br />

stan s se , .<br />

,teht dazu noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beziehung des Erfaßtwerdens. DIese<br />

Beziehung macht das vorhandene Seiende eben dann noch.relativ<br />

auf mehrere andere Seiende vom Charakter des Dasems.<br />

Wir habf'n also den Tatbestand: Seiendes, das mit sich identisch<br />

ist und dann noch als'rlieses Identische e<strong>in</strong> mögliches Erfaßbares<br />

für mehrere ist.<br />

d) Das Selbige als Geme<strong>in</strong>sames<br />

1\ ber -- wenn mehrere e<strong>in</strong> Identisches erfassen, so ist das ganz<br />

und gar nicht das, was wir als aufzuklärendes Phänomen vor uns<br />

haben. Das erstere geschieht ständig: irgend jemand <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

sipht e<strong>in</strong> Automobil, und e<strong>in</strong> Bauer im Schwarzwald sieht se<strong>in</strong>e<br />

Kuh; es s<strong>in</strong>d da mehrere, <strong>die</strong> je e<strong>in</strong> Identisches erfassen, und<br />

doch nicht: mite<strong>in</strong>ander dasselbe und doch noch e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>andpr,<br />

auch hier. Sö llluß es doch dabei bleiben, daß im Mite<strong>in</strong>andersf'<strong>in</strong><br />

bei demselben <strong>die</strong> Selbigkeit e<strong>in</strong>e wesenhafte Beziehung<br />

ausdrückt, und zwar e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> nicht e<strong>in</strong>fach auf das<br />

Seiende selbst zurückspr<strong>in</strong>gt, sondern gerade wegführt zu mehrpren.<br />

Aber wie das? Das Vorhandene, bei dem wir s<strong>in</strong>d, ist uns also<br />

gemp<strong>in</strong>sam, ist dasselbe für mehrere, so daß <strong>die</strong>se mehreren auf<br />

(;rund <strong>die</strong>ses »dasselbe für sie« e<strong>in</strong> »wir« werden. Ob das Wir<br />

freilich das Resultat e<strong>in</strong>er Zusammenkunft mehrerer ist, lassen<br />

wir zunächst offen. Doch was heißt: Das Vorhandene, bei dem


98 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

wir uns aufhalten, ist uns <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Mite<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong> Gem .<br />

eIn_<br />

sames? Was heißt hier Geme<strong>in</strong>samkeit?<br />

Wir sprachen davon, daß e<strong>in</strong>zelnen Farben wie rot, grün, blau<br />

der Charakter >Farbe< geme<strong>in</strong>sam sei; Farbe ist <strong>die</strong> Gattun<br />

" . g, So<br />

WIe dIe Arten Elche, Buche, Tanne den Charakter >Baum< habe.n.<br />

In <strong>die</strong>ser Weise ist offenbar <strong>die</strong> Kreide nichts Geme<strong>in</strong>sames<br />

mIt Bezug auf uns als mehrere. Denn e<strong>in</strong>mal ist <strong>die</strong>se Kreide<br />

überhaupt nicht e<strong>in</strong>e Gattung, sondern e<strong>in</strong> bestimmtes, hier<br />

und jetzt vorhandenes e<strong>in</strong>zelnes Gebrauchsd<strong>in</strong>g. Wenn wir dennoch<br />

Kreide als Gattung mit Bezug auf verschiedene Exemplare<br />

und. Art~n von Kreidestücken dächten, dann ist <strong>die</strong> Gattung<br />

KreIde mchts, was als Arten uns Menschen unter sich enthielte'<br />

denn wir s<strong>in</strong>d ja ke<strong>in</strong>e Kreiden, so wie Tanne und Buche Bäum~<br />

s<strong>in</strong>d. Das ist allzu selbstverständlich, aber rätselhaft bleibt nun<br />

e<strong>in</strong>mal, was es heißt: <strong>die</strong>se Kreide ist für uns etwas Geme<strong>in</strong>sames.<br />

Wenn wir uns für e<strong>in</strong>en Augenblick darauf bes<strong>in</strong>nen, was wir<br />

eigentlich klären wollen, nämlich e<strong>in</strong>en Vorbegriff von <strong>Philosophie</strong>,<br />

so sche<strong>in</strong>en wir merkwürdige Wege e<strong>in</strong>geschlagen zu<br />

haben. Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er Lösung der Frage, was denn<br />

<strong>Philosophie</strong> besage, s<strong>in</strong>d wir bei dem Problem angekommen,<br />

wie e<strong>in</strong>e Kreide für uns <strong>in</strong> unserem Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> als etwas<br />

Geme<strong>in</strong>sames vorhanden se<strong>in</strong> könne. Das sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der; Tat<br />

zunächst e<strong>in</strong> großer Abweg. Deshalb ist es notwendig, daß wir<br />

uns jetzt des <strong>in</strong>neren Zusammenhangs unserer Betrachtungen<br />

bewußt bleiben bzw. <strong>die</strong>sen Zusammenhang gegenwärtig haben.<br />

Dies ist nicht etwa deshalb erforderlich, damit Sie <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Schritte der Vorlesung lediglich nachzuerzählen vermöchten<br />

- es gibt hier nichts zum E<strong>in</strong>pauken. Die Gegenwärtigkeit<br />

des Zusammenhanges unserer Betrachtungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

jeder Stunde notwendig ist, ist eben ke<strong>in</strong> solcher wie etwa <strong>in</strong> der<br />

Mathematik, wo wir bestimmte Sätze aus bestimmten Axiomen<br />

deduzieren. Der Zusammenhang der Betrachtungen ist vielmehr<br />

wegen der B<strong>in</strong>dung an <strong>die</strong> Sache, von der ständig gehandelt<br />

wird, wichtig. So wird sich-zeigen, daß wir <strong>die</strong>sen weiten<br />

§ 1 J. Se<strong>in</strong>sart und Q1Jenbarkeit 99<br />

. cht zurückgehen müssen, um dann wieder zur Phi-<br />

"eg gar Dl ., ..<br />

flle zu kommen, sondern WIr können Jeden AugenblIck dIe<br />

losop . h' . h d b . . d D h lb<br />

t eben wenn wlr tnreic en vor ereltet sln. es a<br />

\ntWor g , .<br />

seI als äußere Hilfe der Z.usammen~an~ d~utlIch gem~cht g.e-<br />

1<br />

. dem Augenblick, ,m dem Wlr bel emer Frage smd, dle<br />

rac e In . . .<br />

l .<br />


100 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

fachen und zunächst trivialen Tatbestand zu begreifen, daß w'<br />

zusammen mite<strong>in</strong>ander bei demselben D<strong>in</strong>g uns aufhalten WIr<br />

. Ir<br />

haben zunächst gesehen, daß der Versuch aufzuklären<br />

,<br />

Was h'<br />

ler<br />

Selbigkeit des Seienden, zu dem wir uns verhalten, heißt, schei_<br />

tert, solange wir von den üblichen Begriffen der Selbigkeit und<br />

Identität Gebrauch machen. Wir s<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>ander beim Selbigen,<br />

und dabei heißt Selbigkeit weder Unveränderung noch<br />

d<strong>in</strong>gliche Substanzialität bzw. Beharrlichkeit als Substanz, noch<br />

formale Identität e<strong>in</strong>es Gegenstandes mit sich selbst.<br />

Die Frage ist, was heißt positiv <strong>die</strong> Selbigkeit e<strong>in</strong>es vorhandenen<br />

Seienden für uns? Wir s<strong>in</strong>d zuletzt bei der Bestimmun<br />

angelangt, daß Selbigkeit hier zunächst soviel wie Geme<strong>in</strong>sa;_<br />

keit besagt. Die Kreide ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em noch zu bestimmenden<br />

S<strong>in</strong>ne für uns e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames. So stehen wir bei <strong>die</strong>ser speziellen<br />

Frage nach der Geme<strong>in</strong>samkeit e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>ges für uns.<br />

Inwiefern - so müssen wir deshalb erneut fragen - kann <strong>die</strong><br />

Kreide <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong> bei ihr etwas Geme<strong>in</strong>sames se<strong>in</strong>? Nun,<br />

etwa so, daß wir uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kreide gewissermaßen teilen, und<br />

das kann heißen, daß wir sie unter uns verteilen, daß wir sie <strong>in</strong><br />

Stücke zerteilen. Aber e<strong>in</strong>mal dürfen wir das gar nicht, sie gehört<br />

nicht uns, sondern dem Staat. Sie ist also ke<strong>in</strong> uns Geme<strong>in</strong>sames<br />

und Unsriges <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß sie unser frei verfügbarer<br />

Besitz wäre. Wir dürfen sie nicht zerstückeln und verteilt:)n, wir<br />

tun es auch nicht; wir lassen sie ungeteilt, und gleichwohl teilen<br />

wir uns <strong>in</strong> sie. Sich <strong>in</strong> etwas teilen, ohne es dabei zu zerteilen <strong>in</strong><br />

Stücke, heißt: etwas für den Gebrauch und im Gebrauch sich<br />

gegenseitig überlassen. Diese Kreide ist uns etwas Geme<strong>in</strong>sames<br />

<strong>in</strong> dem Gebrauch, den wir von ihr machen bzw. machen<br />

können. Wir haben so bestimmt, <strong>in</strong> welcher Weise sie uns etwas<br />

Geme<strong>in</strong>sames ist; aber was <strong>die</strong>se Geme<strong>in</strong>samkeit selbst besagt,<br />

wor<strong>in</strong> ihr Wesen besteht und <strong>in</strong>wiefern dadurch das Mite<strong>in</strong>ander<br />

aufgeklärt werden soll, ist noch nicht klar.<br />

§ 13. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 101<br />

e) Teilhaberschaft e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames?<br />

Es Ist <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> Ge.rn~<strong>in</strong>samkei: der ~reide i~ ?ebrauc~<br />

. . 1st <strong>die</strong> das Mltemandersem bel. . . pnmar konstldWJenlge<br />

,<br />

tuWrt. ., . . .<br />

I )aß wir im Gebrauch uns m dIe KreIde teIlen, 1st doch nur<br />

(ann 1 \ lnd so möglich, daß <strong>die</strong>se Kreide uns allen zur Verfügung<br />

1 t<br />

stell, d . h . für den möglichen und berechtigten Gebrauch bereit,<br />

berlassen vorliegt. Gebrauch von ihr machen, schließt <strong>in</strong><br />

UllS U· .1 1<br />

daß sie hierzu für uns offenbar ist, daß wir mite<strong>in</strong>ander<br />

~J( I , '<br />

schon bei ihr-s<strong>in</strong>d, daß sie <strong>in</strong> und für unser Se<strong>in</strong> bei ... etwas<br />

(;eme<strong>in</strong>sames ist, auch wenn <strong>die</strong>ses ke<strong>in</strong> ausdrückliches Sichbeschäftigen<br />

ist. Damit wir im Gebrauch der Kreide uns sollen<br />

\ll sie teilen können,' muß sie uns zuvor schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglicheren<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong> 'Geme<strong>in</strong>sames se<strong>in</strong>; wir müssen sie uns<br />

zuvor schon so teilen, daß es uns noch freisteht, ob wir Gebrauch<br />

machen von ihr oder nicht. Wir müssen schon vor dem Gebrauch<br />

und für ihn alle Teilhaber an der Kreide se<strong>in</strong>, um sie uns<br />

gegenseitig im Gebrauch zu überlassen bzw. um geme<strong>in</strong>sam<br />

von e<strong>in</strong>em Gebrauch derselben Abstand zu nehmen.<br />

Was ist das für e<strong>in</strong>e' Teilhabe, und nach welcher H<strong>in</strong>sicht ist<br />

dip Kreide <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Teilhaberschaft uns e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames? Zunächst<br />

gilt es zu klären, <strong>in</strong> was wir uns denn teilen, wenn wir<br />

alle <strong>die</strong>selbe Kreide, ,<strong>die</strong>ses bestimmte Gebrauchsd<strong>in</strong>g, vor uns<br />

liegen haben, und zwar'auch dann und gerade dann, wenn wir<br />

ke<strong>in</strong>en Gebrauch Von ihr machen, nicht mit ihr eigens beschäftigt<br />

smd, sondern sie liegen lassen so, wie sie an ihr selbst ist.<br />

(~erade <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem unserem Liegen-lassen der Kreide, <strong>in</strong> dem,<br />

was und wie sie als <strong>die</strong>ses Gebrauchsd<strong>in</strong>g ist, muß das zu f<strong>in</strong>den<br />

~elll, was wir suchen: nämlich das Teilhaben an der Kreide,<br />

<strong>die</strong>ses ursprüngliche Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kreide, gemäß dem sie e<strong>in</strong><br />

(;erne<strong>in</strong>sames ist und unser Se<strong>in</strong> bei ihr e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander.<br />

enser Se<strong>in</strong> bei der Kreide ist, sagen wir, e<strong>in</strong> Liegenlassen der<br />

KrPlde so, wie sie ist, e<strong>in</strong> Liegen-lassen, eben weil sie etwas ist<br />

und so ist, daß es vor-liegt. Das Vorliegen, Vor-handense<strong>in</strong> ist <strong>die</strong>


102 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Art, wie <strong>die</strong>se Kreide an ihr selbst als <strong>die</strong>ses Gebrauchsd<strong>in</strong>g ist,<br />

ihre Art zu se<strong>in</strong>; wir lassen sie liegen, wir lassen sie se<strong>in</strong>, so, wie<br />

und waS sie ist. Unser Se<strong>in</strong> bei der Kreide ist so etwas wie e<strong>in</strong><br />

Se<strong>in</strong>lassen der Kreide.<br />

Wir lassen <strong>die</strong>ses Seiende se<strong>in</strong>, wir nehmen ihm nichts und<br />

geben ihm nichts; wir stoßen es nicht von uns und ziehen es<br />

nicht an uns heran; wir überlassen <strong>die</strong>ses Seiende ihm selbst,<br />

und gerade <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Überlassen begegnet <strong>die</strong> Kreide <strong>in</strong> dem,<br />

was und wie sie als <strong>die</strong>se Kreide ist.<br />

f) Vom Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge<br />

Wir lassen <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge se<strong>in</strong>, wie sie s<strong>in</strong>d, überlassen sie ihnen<br />

selbst, auch dann und gerade dann, wenn wir uns so <strong>in</strong>tensiv wie<br />

immer beschäftigen. Ja, gerade <strong>in</strong> dem und für den Gebrauch<br />

muß ich das D<strong>in</strong>g se<strong>in</strong> lassen, was es ist. Ließe ich <strong>die</strong> Kreide<br />

nicht Kreide se<strong>in</strong>, würde ich sie etwa im Mörser zerstampfen,<br />

dann würde ich sie nicht gebrauchen.<br />

Im Gebrauchen ebenso wie im Nichtgebrauchen liegt <strong>die</strong>ses<br />

Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge, und zwar liegt es allem gebrauchenden<br />

Umgang mit den D<strong>in</strong>gen zugrunde. Aber nicht nur im gebrauchenden<br />

Verhalten, auch <strong>in</strong> ganz andersartigem Verhalten zu<br />

ganz andersartigem Seienden, etwa im aesthetischen Verhalten<br />

liegt e<strong>in</strong> ganz bestimmtes Se<strong>in</strong>lassen e<strong>in</strong>es Gemäldes z. B: oder<br />

e<strong>in</strong>er Plastik, und zwar abgesehen davon, ob das betreffende<br />

Kunstwerk mir e<strong>in</strong>en besonderen E<strong>in</strong>druck macht oder nicht.<br />

Dieses Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge im weitesten S<strong>in</strong>ne liegt grundsätzlich<br />

noch vor jeder besonderen Interessiertheit bzw. bestimmten<br />

Gleichgültigkeit. Dieses unser Se<strong>in</strong>lassen, unser<br />

Überlassen der D<strong>in</strong>ge an sie selbst und ihr Se<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>e eigene<br />

Gleichgültigkeit unsererseits, e<strong>in</strong>e Gleichgültigkeit des Dase<strong>in</strong>s,<br />

<strong>die</strong> zu se<strong>in</strong>em metaphysischen Wesen gehört. Diese<br />

>Gleichgültigkeit< ist nur möglich <strong>in</strong> der Sorge. Die Lässigkeit<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Überlassen ist ke<strong>in</strong> Unterlassen schlechth<strong>in</strong>. Das Seiende<br />

se<strong>in</strong> lassen ist nicht etwa~nichts; wir tun freilich nichts<br />

§ lJ. Se<strong>in</strong>sart und Offenbarkeit 103<br />

dazu, daß etwa <strong>die</strong> Natur ist, was und wie sie ist, wir können<br />

nichts dazu tun, und doch ist <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen e<strong>in</strong> »Tun« der<br />

höchsten und ursprünglichen Art und nur möglich auf dem<br />

Grunde unseres <strong>in</strong>nersten Wesens der Existenz, der Freiheit.<br />

Diese metaphysische Gleichgültigkeit zu den D<strong>in</strong>gen wird uns<br />

noch sehr <strong>in</strong> Anspruch nehmen auf unserem Wege.<br />

Zunächst hat sich uns das e<strong>in</strong>e ergeben: Unser Se<strong>in</strong> bei den<br />

D<strong>in</strong>gen - bleiben wir im Gebiet des Vorhandenen - ist im Grunde<br />

se<strong>in</strong>es Wesens e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> dem gekennzeichneten<br />

Si:nn. Daher kommt es, daß zum Se<strong>in</strong> bei . . . auch nicht<br />

notwendig e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressiertes Beschäftigtse<strong>in</strong> damit gehört, daß<br />

umgekehrt auch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teresseloses oder widerwilliges Verhalten<br />

zu den D<strong>in</strong>gen, ja auch jede Abkehr von ihnen e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ... ist.<br />

Es zeigte sich: Wir müssen zuvor schon Teilhaber an den<br />

D<strong>in</strong>gen se<strong>in</strong>, um sie uns im und für den Gebrauch zu überlassen;<br />

allem Gebrauchen aber z.B.liegt schon zugrunde e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>lassen<br />

der D<strong>in</strong>ge.<br />

Besteht nun jene Teilhaberschaft an den D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> dem gekennzeichneten<br />

Se<strong>in</strong>lassen des Seienden? Das Se<strong>in</strong>lassen von<br />

etwas, wie und was es ist, schließt doch nicht schon <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong><br />

gegenseitiges Sichteilen <strong>in</strong> das Seiende? Müssen wir dann je<br />

zuvor Seiendes <strong>in</strong> dem, was und wie es ist, se<strong>in</strong> lassen, damit wir<br />

uns <strong>in</strong> das Seiende teilen können? Oder liegt es umgekehrt:<br />

Müssen wir uns <strong>in</strong> das Seiende zuvor teilen, um es an ihm selbst<br />

se<strong>in</strong> lassen zu können? Setzt Se<strong>in</strong>lassen Teilhaberschaft voraus<br />

oder umgekehrt Teilhaberschaft das Se<strong>in</strong>lassen? Was besagt hier<br />

voraussetzen? Zunächst bleibt zu klären, was Teilhabe besagt. In<br />

was teilen wir uns? Was ist das Geme<strong>in</strong>same dabei und wie ist<br />

das, wore<strong>in</strong> wir uns teilen, e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames?<br />

Wir teilen uns <strong>in</strong> das Vorhandene, heißt:<br />

1. wir zerteilen und verteilen es nicht unter uns, sondern<br />

lassen es ungeteilt;<br />

2. wir überlassen es uns gegenseitig im Gebrauch, und auch<br />

im bloßen, nicht gebrauchenden Liegenlassen teilen wir uns<br />

schon dare<strong>in</strong>.


C ) durch<br />

104 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Positiv: Wir teilen uns <strong>in</strong> das Seiende, ohne daß dabei mit ih<br />

etwas geschieht, es sich ändert. Wir teilen uns <strong>in</strong> das Seiend:<br />

ohne daß wir dabei uns gegenseitig etwas, was dem Seiende<br />

zukommt, weiter-, h<strong>in</strong>- und hergäben, etwas, was des Seiende~:<br />

ist und was doch zugleich unser ist; <strong>in</strong> solches teilen wir uns als<br />

e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames, so, daß <strong>die</strong>ses Geme<strong>in</strong>same das Mite<strong>in</strong>ander<br />

se<strong>in</strong> mit ermöglicht.<br />

Was ist das nun am Seienden, was - wenn wir so sagen können<br />

- ihm <strong>in</strong> gewisser Weise zukommt und wore<strong>in</strong> wir uns teilen<br />

können, ohne daß dadurch das Seiende im m<strong>in</strong>desten verändert<br />

wird? Etwas, was dem Seienden zukommt und was doch auch<br />

uns zur Verfügung se<strong>in</strong> muß, wenn anders wir uns dare<strong>in</strong> sollen<br />

teilen können. Dem Seienden - der Kreide - kommen bestimm<br />

te Eigenschaften als Gebrauchsd<strong>in</strong>g und als materieller Körper<br />

zu, es hat e<strong>in</strong>e bestimmte Art zu se<strong>in</strong>. Aber gerade das lassen wIr<br />

se<strong>in</strong>, was und wie es ist. Unser Se<strong>in</strong> bei dem Vorhandenen ist eIn<br />

Se<strong>in</strong>lassen. Davon nehmen wir nichts weg und nehmen nichts<br />

als unser Werk an ihm <strong>in</strong> Anspruch. Aber darüber verfügen wIr<br />

doch nicht, sondern - wenn wir so sagen dürfen - <strong>die</strong> Kreide,<br />

solches und so ist eben sie.<br />

Doch wir hörten schon und zwar bei der Interpretation un<br />

seres Se<strong>in</strong>s bei <strong>die</strong>sem Vorhandenen, daß <strong>die</strong>ses Seiende, es,<br />

dabei unverborgen, d. h. im ursprünglichen S<strong>in</strong>ne wahr ~ei. DIe<br />

Unverborgenheit (Wahrheit) kommt dem Seienden zu; es Ist<br />

primär wahr; erst nachträglich ist der Satz über es wahr. Diese<br />

Unverborgenheit ist etwas, was <strong>die</strong> Kreide <strong>in</strong> ihrem Was und<br />

Wie nicht stört; sie bleibt, was sie und wie sie ist, auch wenn<br />

niemand im Saal sich aufhält und bei <strong>die</strong>sem Vorhandenen ist<br />

Sie wird auch nicht anders dadurch, daß sie für uns unverborgen<br />

ist. Durch unser Se<strong>in</strong> bei der Kreide wird sie nicht etwa abg e<br />

nutzt. Die Kreide ist wahr <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong> bei ..., sie l'it<br />

unverborgen. Die Wahrheit ist also etwas, was der Kreide zu<br />

kommt und doch nicht zum vorhandenen Bestand ihrer Eigen<br />

schaften qua Kreide gehört.<br />

Diese Unverborgenheit der-Kreide ist es, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Kreide an<br />

§ 14 reden <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 105<br />

Is dleses Gebrauchsd<strong>in</strong>g sich zeigt, <strong>in</strong> der sie sich als<br />

hr sel b st a . . ("lU h<br />

1 d das sie ist bekundet. DIe Unverborgenhelt Ha r-<br />

dd S :--eien e, '. .,<br />

<strong>die</strong> h<strong>in</strong>durch WIr also gerade dIeses SeIende als<br />

hel t ist es, . .<br />

1 bst se<strong>in</strong> lassen, was und WIe es 1st.<br />

(''i ~eun aber sehen wir e<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge steht <strong>in</strong><br />

B<br />

edmgungszusammenhang mit der Teilhabe am SeieneJlWm<br />

dcn. ,-.ei<br />

'- nlassen geschieht nur so und kann nur so geschehen, daß<br />

c •<br />

d bei das was wir da se<strong>in</strong> lassen, offenbar, d.h. wahr 1st.<br />

\Ins a "<br />

.,eJDlassen steht im Bed<strong>in</strong>gungszusammenhang mit Wahrheit.<br />

1 'cmer ist <strong>die</strong>se Wahrh'eit (Unverborgenheit) etwas »am« Seienden,<br />

etwas, was ihm zukommt, aber es gleichwohl nicht<br />

andert. Wenn <strong>die</strong> Kreide als das Seiende, das sie ist, unverborgen,<br />

offenbar wird, geht an ihr nichts vo~, es tritt nic~t .irge~d<br />

eJD Naturprozeß <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong>, und doch geschIeht etwas mIt Ihr: SIe<br />

kommt m e<strong>in</strong>e Geschichte.<br />

Wir fragen nach e<strong>in</strong>er Teilhabe am Seienden, bei der wir uns<br />

JD etwas teilen, was 'dem Seienden zukommt, ohne daß am<br />

:-'elE'nden etwas dabei <strong>in</strong> Verlust gerät und geändert wird. Wor<strong>in</strong><br />

teilen WH uns <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser merkwürdigen Teilhabe am Seienden?<br />

V\ Ir teilen uns m se<strong>in</strong>e Unverborgenheit, se<strong>in</strong>e Wahrheit. Nur<br />

sofern WH uns m <strong>die</strong>' Unverborgenheit des Seienden teilen, können<br />

wir es, das Seiende, so se<strong>in</strong> lassen, wie es sich bekundet. Und<br />

wenn WH uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit teilen, ist uns etwas gememsam,<br />

was nicht e<strong>in</strong> Stück der Kreide ausmacht und also<br />

gleichsam Je nur für e<strong>in</strong>en Besitz se<strong>in</strong> könnte. Die Unverborgenheit<br />

ist auch nicht e<strong>in</strong>e vorhandene Eigenschaft der Kreide,<br />

\\ IP etwa ihre weiße Farbe, e<strong>in</strong>e Eigenschaft, <strong>die</strong> sich von der<br />

KrPlde ablosen ließe.<br />

.~. 14. Wlr teilen uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden<br />

\\ Ir telh>n uns uns <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden. Das Gerr1Pmsame<br />

Ist <strong>die</strong> Wahrheit des Seienden. Die Wahrheit ist das<br />

'wlbl gE\ was wir suchten, und <strong>die</strong>ses Selbige ist es auch, was als


106 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Unverborgenheit ermöglicht, daß nun das <strong>in</strong> der Unverb o<br />

heit Offenbare sich als <strong>die</strong>ses selbst zeigt, und zwar allen :ge n<br />

d d· U b h . .. elgt.<br />

enen Ie nver orgen elt gemeInsam 1St. .<br />

Wir g<strong>in</strong>gen davon aus: Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bekundet sich Irn<br />

Verhalten mehrerer zum Selbigen. Selbigkeit für mehrere Ist<br />

Geme<strong>in</strong>samkeit, geme<strong>in</strong>sam haben von etwas, Sichteilen <strong>in</strong> Ln<br />

verborgenheit. Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei Seiendem ist Sichteilen In<br />

<strong>die</strong> Unverborgenheit (Wahrheit) des betreffenden Seienden.<br />

S<strong>in</strong>d nun <strong>die</strong> Rätsel gelöst? Gar nicht! Wir haben jetzt nur<br />

gefunden, ohne es vielleicht schon ganz deutlich zu sehen, daß<br />

das Geme<strong>in</strong>same, wore<strong>in</strong> wir uns teilen, <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

ist. Wir sehen im Rohen, es gibt etwas, wor<strong>in</strong> wir uns teilen, und<br />

zwar so, daß dabei das Seiende selbst e<strong>in</strong>erseits unberührt bleibt<br />

und andererseits sich gerade als es selbst <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Geme<strong>in</strong>sa<br />

men für uns bekunden kann.<br />

Die Wahrheit ist es, dare<strong>in</strong> wir uns teilen. Damit ist das<br />

Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit aber nur problemati<br />

scher geworden - und das soll es auch! Wir teilen uns <strong>in</strong> das<br />

Seiende, d.h. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Unverborgenheit, <strong>die</strong> eben <strong>die</strong> des betreffenden<br />

Seienden ist, ihm also zukommt - wie, ist und bleibt<br />

zunächst dunkel. Das, wore<strong>in</strong> wir uns teilen, kommt e<strong>in</strong>erseits<br />

dem Seienden zu und ist andererseits solches, worüber wir, qua<br />

Menschen, unter uns verfügen, als unseren Besitz.<br />

Die Frage ist: Wie stehen wir denn zu so etw~s wie Unver<br />

borgenheit e<strong>in</strong>es Vorhandenen? Wie haben wir an dergleichen<br />

teil? Teilhabe an der Unverborgenheit des Seienden ist - durch<br />

<strong>die</strong> Unverborgenheit h<strong>in</strong>durch - Teilhabe am Seienden. Aber<br />

<strong>die</strong>se unsere Teilhabe an der Unverborgenheit - woher ist dIese<br />

Habe genommen? Gründet <strong>die</strong>se Teilhabe an der Wahrheit (LJn<br />

verborgenheit) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Teilnahme? Und wird erst <strong>in</strong> der nähe<br />

ren Kennzeichnung <strong>die</strong>ses Teilnehmens an der Wahrheit<br />

e<strong>in</strong>sichtig, <strong>in</strong> welcher Weise und warum wir uns <strong>in</strong> so etwas<br />

teilen wie Wahrheit?<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei ... ist e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverbo r<br />

genheit (Wahrheit) des Vorhandenen. Die Wahrheit gehört zum<br />

§> 14 Talen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 107<br />

und doch istiSie nicht vorhandene Eigenschaft an<br />

\orhan d enen, .<br />

. t nichts Vorhandenes. Wahrheit ist aber zugleIch ethm.<br />

S le IS .,. .<br />

I<br />

Dase<strong>in</strong> mit DaseIn sIch teIlt, was also auch wIeder<br />

wa~. woreIn<br />

dem Dasem zugehört. h d . . k<br />

he Cnverborgenheit des Vor an enen nImmt eIne mer -<br />

I d Doppelstellung e<strong>in</strong>: sie· gehört <strong>in</strong> gewisser Weise zum<br />

wur Ige . . .<br />

L denen und zugleich zum Dasem. Was 1St denn dIe Wahr­<br />

\onlan<br />

L<br />

11('lt<br />

des Vorhandenen, daß sie <strong>die</strong>se DoppelsteIlung hat und<br />

haben kann? An der Lösung <strong>die</strong>ses Problems wird es hängen, ob<br />

das Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit h<strong>in</strong>reichend aufklären, um <strong>die</strong><br />

WIr<br />

gesuchte Emsich~ <strong>in</strong> das ~ite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e spezifische<br />

SeIDsart des DaseIns, zu gewInnen.<br />

Bevor WIr <strong>die</strong>sem Problem, d. h. der weiterdrängenden Frage<br />

nach dem Wpsen der Wahrheit nachgehen, wollen wir unsere<br />

Cntersuchung für e<strong>in</strong>en Augenblick anhalten und uns erneut<br />

den Gang und den Zusammenhang der Betrachtung gegenwärtig<br />

machpn: Aus dem' Problem des Wesens der Wissenschaft<br />

ergab sich <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wahrheit, das sich<br />

zunachst als Unverborgenheit von Seiendem darstellte. Da es<br />

SeIendes <strong>in</strong> verschiedener Se<strong>in</strong>sart gibt, gibt es entsprechend<br />

auch Abwandlungen von Wahrheit. Zunächst also müssen wir<br />

dw Verschiedenheit der Se<strong>in</strong>sweisen des Seienden sichtbar marht'n<br />

und das Wahrlleitsproblem so lange zurückstellen. Die<br />

Semsart von Vorhandenem und <strong>die</strong> von Dase<strong>in</strong> ~uß h<strong>in</strong>sichtheh<br />

Ihres Nebene<strong>in</strong>ander, Zusammenvorhandense<strong>in</strong>s und Mite<strong>in</strong>ander<br />

geklärt werden. Die Frage nach dem Wesen des<br />

\1ltemanderse<strong>in</strong>s, also <strong>die</strong> Frage nach der Struktur e<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sart,<br />

dpr des existierenden Dase<strong>in</strong>s, muß gestellt werden. Als<br />

,\ntwort ergab sich: Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> WahrheIt.<br />

a) Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit<br />

\\d' 1st das für e<strong>in</strong> merkwürdiges Ergebnis? Bei der Analyse des<br />

\ J I temanderse<strong>in</strong>s haben wir <strong>die</strong>ses vorläufig gekennzeichnet als


108 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em Selbigen, bei e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>samen, was wir<br />

genauer <strong>in</strong>terpretiert haben als e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> etwas. Dieses<br />

Sichteilen <strong>in</strong> etwas ergab sich uns zunächst <strong>in</strong> der Form als e<strong>in</strong>es<br />

sich gegenseitigen Überlassens von etwas im Gebrauchen. Es<br />

stellte sich aber heraus, daß wir schon ohne daß wir von etwas<br />

Gebrauch machen, Seiendes, Vorhandenes, Vorliegendes <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise geme<strong>in</strong>sam vor uns haben, so daß also <strong>die</strong>ses<br />

Sichteilen <strong>in</strong> etwas im Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em Vorhandenen<br />

nicht im Vollzug des Gebrauchens selbst liegen kann, sondern <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sweise des Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> schon vor allem Gebrauchen<br />

liegt und <strong>die</strong> das geme<strong>in</strong>same Gebrauchmachen von etwas allererst<br />

ermöglicht.<br />

Die Frage wird nun: Was ist <strong>die</strong>ses Geme<strong>in</strong>same, <strong>in</strong> das wir<br />

uns teilen? Wir s<strong>in</strong>d jetzt gezwungen, <strong>die</strong>ses Geme<strong>in</strong>same aufzuweisen<br />

<strong>in</strong> der Betrachtungsrichtung, daß wir nicht e<strong>in</strong>gestellt<br />

s<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong>en Gebrauch, sondern auf e<strong>in</strong> Verhalten vor dem, das<br />

wir kennzeichnen als e<strong>in</strong> Liegenlassen des Seienden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Wesen, e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge. In <strong>die</strong>sem Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge<br />

liegt e<strong>in</strong>e ursprüngliche Gleichgültigkeit des Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong><br />

noch vor allem Interessiert- und Nicht<strong>in</strong>teressiertse<strong>in</strong> liegt.<br />

Aber auch wenn wir <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen der D<strong>in</strong>ge als das Charakteristikum<br />

unseres Teilens <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames annehmen,<br />

so ergibt sich immer wieder <strong>die</strong> Frage: Was ist das eigentlich,<br />

wore<strong>in</strong> wir uns teilen? Dieses Sichteilen <strong>in</strong> das Seiende vollzieht<br />

sich <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong> bei ... , und <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei ... kennzeichneten<br />

wir dadurch, daß das Vorhandene unverborgen ist. Wore<strong>in</strong><br />

wir uns teilen, so lautete zuletzt <strong>die</strong> These, ist <strong>die</strong> Wahrheit über<br />

das Seiende, se<strong>in</strong>e Unverborgenheit, so daß jetzt das Problem<br />

entsteht, genauer auszumachen, <strong>in</strong>wiefern wir uns im Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit über <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge teilen, und wie e<strong>in</strong><br />

Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Vorhandenen,<br />

möglich ist.<br />

Im Verfolg der Aufgabe, e<strong>in</strong>e Art zu se<strong>in</strong> zu charakterisieren,<br />

und zwar unter Absehen vom Wahrheitsproblem, stoßen wir auf<br />

Wahrheit. Zum Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>, zur Struktur <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>s, zur<br />

§ 14. Teilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 109<br />

Struktur der Weise, wie Dase<strong>in</strong> zu Dase<strong>in</strong> ist, gehört Wahrheit,<br />

wenn anders Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> besagt: Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit.<br />

Was heißt das? Zum »Se<strong>in</strong>« <strong>die</strong>ses Seienden, das wir Dase<strong>in</strong><br />

nennen und das wir selbst s<strong>in</strong>d, gehört <strong>die</strong> Wahrheit. Was ist<br />

deren Wesen? Nur wenn <strong>die</strong>ses klar wird, dann auch das »Se<strong>in</strong>«<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Unversehens ist <strong>die</strong> Frage nach der Se<strong>in</strong>sart e<strong>in</strong>es<br />

Seienden zur Frage nach dem Wesen der Wahrheit geworden.<br />

Denn nur wenn klar wird, was das Wesen der Wahrheit sei, wird<br />

das Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit, und das heißt das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

als I Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s, faßbar. Wir erörtern das Wesen der<br />

Wahrheit <strong>in</strong> der Absicht, <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s im Unterschied<br />

von der des Vorhandenen zu kennzeichnen. Jetzt ist<br />

Wahrheit notwendig zu erörtern <strong>in</strong> Absicht auf e<strong>in</strong>e Klärung<br />

e<strong>in</strong>er spezifischen Se<strong>in</strong>sart: daß wir eben auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong><br />

Wahrheit kennzeichnen müssen als gehörig zum Se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst. Das ist nicht e<strong>in</strong>e beliebige Tatsache, sondern es<br />

deutet schon voraus auf e<strong>in</strong>e Wesensbestimmung der Wahrheit<br />

überhaupt: daß ihr Ort nicht der Satz, sondern das Dase<strong>in</strong> ist<br />

(oder gar umgekehrt).! Hieraus entnehmen wir schon e<strong>in</strong>e ganz<br />

fundamentale E<strong>in</strong>sicht und e<strong>in</strong>e Antwort auf <strong>die</strong> leitende Frage,<br />

wie sich Wahrheit als Unverborgenheit von Seiendem zum<br />

Seienden verhält, ob und wie sich Wahrheit mit der Se<strong>in</strong>sart des<br />

Seienden modifiziert.<br />

Die Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s im Unterschied von der des Vorhandenen<br />

suchen wir <strong>in</strong> der Orientierung am Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> von<br />

Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> zu bestimmen. Das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> erwies<br />

sich als e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit (Wahrheit) von<br />

I 'Anm. d. Hg.: In der Abschrift f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e handschriftlIche Ergänzung<br />

von Hildegard Feick, dIe weder im Manuskript noch <strong>in</strong> den Nachschnften eme<br />

Entsprechung hat. SIe betrifft den genaueren S<strong>in</strong>n des »oder gar umgekehrt«<br />

und beantwortet <strong>die</strong> dar<strong>in</strong> gelegene Frage aus der späteren denkerischen<br />

Grundstellung Mart<strong>in</strong> Heideggers. Mit <strong>die</strong>ser Ergänzung, <strong>die</strong> vermutlich aus<br />

der Zeit der Herstellung der Abschrift stammt, lautet dIe Textstelle: » ... e<strong>in</strong>e<br />

Wt'sensbestimmung der Wahrheit uberhaupt: daß ihr Ort mcht der Satz, sondern<br />

das Dase<strong>in</strong> ist, dIe Lichtung (oder gar umgekehrt: daß der Wesensart des<br />

Dase<strong>in</strong>s <strong>die</strong> Wahrheit als Unverborgenheit ist).«


110 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Vorhandenem (e<strong>in</strong>e mögliche Weise des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s bzw.<br />

notwendig zu ihm gehörig), als e<strong>in</strong>e Art des Se<strong>in</strong>s. Wahrheit ist<br />

demnach konstitutiv für <strong>die</strong> Struktur des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s als<br />

e<strong>in</strong>er wesentlichen Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s.<br />

b) Die Unverborgenheit von Vorhandenem<br />

Wahrheit (Unverborgenheit) gehört demnach zum Dase<strong>in</strong><br />

selbst, zu dem, was <strong>die</strong>ses Seiende und wie es ist, existiert. Wie<br />

gehört nun Wahrheit (Unverborgenheit) zum Dase<strong>in</strong>, das wir<br />

selbst s<strong>in</strong>d? Wenn wir <strong>die</strong>se Frage jetzt zu beantworten suchen,<br />

dann er<strong>in</strong>nern wir uns, daß wir vordem schon <strong>die</strong> Wahrheit qua<br />

Unverborgenheit dem Vorhandenen zugewiesen haben, sagten<br />

wir doch: Das Seiende selbst ist primär wahr und nicht der Satz<br />

darüber. Die Unverborgenheit »gehört« demnach zum Vorhandenen,<br />

und nun soll sie als konstitutiv für das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

des Dase<strong>in</strong>s zu <strong>die</strong>sem gehören. »Gehört« sie demnach sowohl<br />

zum Vorhandenen als auch zum Dase<strong>in</strong>, oder liegt sie gar gleichsam<br />

»zwischen« dem Vorhandenen und dem Dase<strong>in</strong>? Wie<br />

gehört <strong>die</strong> Unverborgenheit zum vorhandenen D<strong>in</strong>g, gehört sie<br />

überhaupt zu ihm? Und was heißt hier »gehören«?<br />

Es ergab sich doch: Die Unverborgenheit der Kreide ist<br />

nichts, was an ihr vorhanden wäre; wir können <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

nicht als etwas Vorhandenes an der Kreide feststellen,<br />

etwa mit der Kreide h<strong>in</strong>- und herbewegen oder sie beim Schreiben<br />

abnützen. Ja, auf Grund der Unverborgenheit der Kreide<br />

erfassen wir gerade, daß <strong>die</strong>ses Seiende nicht erst dadurch zu<br />

dem wird, was und wie es ist, daß es für uns unverborgen ist, und<br />

daß es entsprechend auch nicht aufhört, das zu se<strong>in</strong> und so zu<br />

se<strong>in</strong>, was und wie es ist, dadurch, daß es uns verborgen ist.<br />

Wenn wir angeben sollen, was e<strong>in</strong>e Kreide überhaupt ist,<br />

dann kommt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition ganz gewiß nicht <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

vor. Kreide ist nicht notwendig unverborgen; ihr<br />

Wesen läßt es zu, auch verborgen zu se<strong>in</strong>; Unverborgenheit ist<br />

ke<strong>in</strong>e Wesensbestimmung von Kreide als Kreide, auch nicht<br />

§ 14. Teilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Selenden 111<br />

vom Schwamm als Schwamm. Aber vielleicht ist <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

e<strong>in</strong>e Wesens bestimmung des Vorhandenen, sofern es<br />

vorhanden ist?<br />

Alle<strong>in</strong>, nehmen wir irgende<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> irgendwo <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Felsschlucht,<br />

<strong>die</strong> nie e<strong>in</strong> menschliches Wesen betritt, dann kann<br />

doch <strong>die</strong>ses Seiende vorhanden se<strong>in</strong> als das und so, wie es ist,<br />

ohne je der Verborgenheit entrissen werden zu müssen, ohne je<br />

unverborgen zu se<strong>in</strong>, ja, überhaupt unbetroffen von Verborgenheit<br />

und Unverborgenheit. Vielleicht ist es <strong>in</strong> gewissen Grenzen<br />

notwendig, daß Vorhandenes unverborgen ist, um se<strong>in</strong>e Se<strong>in</strong>sart<br />

zu erfassen; aber daraus folgt doch nicht, daß das faktisch Vorhandene<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Was und Wie notwendig offenbar sei.<br />

Unverborgenheit ist ke<strong>in</strong>e wesensmäßige Bestimmung des Vorhandenen.<br />

Deshalb dürfen wir nicht sagen: Unverborgenheit<br />

(Wahrheit) »gehört« zum Vorhandenen, sondern nur: Unverborgenheit<br />

(Wahrheit) kommt dem Vorhandenen zu bzw. kann ihm<br />

zukommen. Das Vorhandene hat es nicht von sich aus qua Vorhandenes.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs liegt hier noch e<strong>in</strong> Problem, das wir der E<strong>in</strong>fachheit<br />

halber bisher übergangen haben, das ich aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Zwischenbemerkung kurz erwähne und das uns später beschäftigen<br />

wird. Vielleicht ist es aufgefallen, daß plötzlich <strong>die</strong> Nichtzugehörigkeit<br />

der Unverborgenheit zum Vorhandenen an e<strong>in</strong>em<br />

beliebigen Ste<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Felsschlucht irgendwo und nicht an<br />

der Kreide demonstriert wurde. Das war notwendig, weil <strong>die</strong><br />

Kreide, so wie sie als Gebrauchsd<strong>in</strong>g vor uns liegt, streng genommen<br />

ke<strong>in</strong> Vorhandenes ist; das heißt nicht, daß sie nur<br />

sche<strong>in</strong>bar wirklich wäre, sondern sie hat als Gebrauchsd<strong>in</strong>g <strong>die</strong><br />

eIgene Se<strong>in</strong>sart des Zuhandenen. Absichtlich haben wir <strong>die</strong>sen<br />

Unterschied zwischen Vorhandenem und Zuhandenem nicht <strong>in</strong><br />

Rechnung gesetzt, sondern Vorhandenes im weiteren S<strong>in</strong>ne genommen,<br />

<strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge im Unterschied zum Dase<strong>in</strong>. Jetzt rächt sich<br />

- wie immer - <strong>die</strong> Unbestimmtheit <strong>in</strong>sofern, als eben Vorhandenheit<br />

im strengen S<strong>in</strong>ne (Ste<strong>in</strong>) und Zuhandenheit (Kreide)<br />

verschiedene Arten des Se<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> sich auch verschieden zu


112 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

ihrer Wahrheit verhalten. Am Ende kommt dem Zuhandenen<br />

notwendig Wahrheit ZU; dem schlechth<strong>in</strong> Vorhandenen kann sie<br />

zukommen, muß aber nicht. Dieses notwendige Zukommen von<br />

Unverborgenheit bei Zuhandenem und <strong>die</strong>ses mögliche Zukommen<br />

von Unverborgenheit bei Vorhandenem ist gleichwohl<br />

scharf zu unterscheiden vom Zugehören der Wahrheit zum DaseIn.<br />

Wahrheit des Vorhandenen: als mögliches Zukommen von<br />

Unverborgenheit.<br />

Wahrheit des Zuhandenen: Notwendiges Zukommen von Unverborgenheit,<br />

a) notwendig h<strong>in</strong>durchgegangen durch Wahrheit,<br />

b) nicht notwendig als Zuhandenes faktisch im Gebrauch<br />

(historische Wahrheit!).<br />

Wahrheit des Dase<strong>in</strong>s: Zugehören der Wahrheit zum Se<strong>in</strong> des<br />

Dase<strong>in</strong>s.<br />

Unverborgenheit des Vorhandenen gehört also nicht sowohl<br />

zum Vorhandenen als auch zum Dase<strong>in</strong>, sondern kommt dem<br />

Vorhandenen lediglich, und zwar nicht notwendig zu »und«<br />

gehört freilich zum Dase<strong>in</strong>, ja, Unverborgenheit kommt dem<br />

Vorhandenen zu und kann ihm nur zukommen, weil und <strong>in</strong>sofern<br />

sie zum Dase<strong>in</strong> gehört. Aber wie gehört <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

des Vorhandenen zum Dase<strong>in</strong>? Zunächst ergab sich:<br />

Unverborgenheit des Vorhandenen ist solches, wore<strong>in</strong> wir uns<br />

teilen. Aber ist es denn schlechth<strong>in</strong> notwendig, daß wir, sofern<br />

wir als Menschen existieren, als Dase<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

<strong>die</strong>ser Kreide teilen? Offenbar nicht, denn wir<br />

können doch auch existieren, ohne daß uns <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

<strong>die</strong>ser Kreide e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames ist. Also gehört <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem nicht wesensmäßig zum Dase<strong>in</strong>.<br />

Aber am Ende ist zwar nicht notwendig, daß wir uns mite<strong>in</strong>ander<br />

bei <strong>die</strong>ser Kreide aufhalten, aber doch eben bei Vorhandenem,<br />

das dann für uns dasselbe ist. Nicht <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

e<strong>in</strong>er Kreide gehört zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s; aber vielleicht ist<br />

Unverborgenheit von Vorhandenem etwas, wore<strong>in</strong> wir uns notwendig<br />

teilen im faktischen Ztrsammense<strong>in</strong>? Aber eben doch<br />

§ 14. Teilen m <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 113<br />

nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem! Zum Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>, also zum Dase<strong>in</strong> der Menschen,<br />

gehört vielleicht notwendig e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem, sofern eben gerade Menschen mit<br />

Menschen faktisch zusammen s<strong>in</strong>d; zum Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> von<br />

Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> gehört Unverborgenheit, aber nicht zum<br />

Dase<strong>in</strong> »an und für sich«. Denn e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> braucht ja nicht<br />

notwendig und ständig faktisch mit anderen zusammense<strong>in</strong>, es<br />

kann doch auch alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, solus!<br />

Wenn Dase<strong>in</strong> irgendwo alle<strong>in</strong> existiert, dann ist es doch faktlsch<br />

nicht mit anderen zusammen. Das ist sonnenklar. Also<br />

braucht sich das Dase<strong>in</strong> nicht notwendig und ständig mit anderen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit von Vorhandenem teilen. Aber<br />

folgt hieraus, daß <strong>die</strong> Unverborgenheit von Vorhandenem nicht<br />

wesensmäßig zum Dase<strong>in</strong> gehört? Auch wenn e<strong>in</strong> Mensch alle<strong>in</strong><br />

ugeridwo existiert, hält er sich bei Vorhandenem auf. Dar<strong>in</strong><br />

hegt: Vorhandenes ist ihm offenbar. Auch das e<strong>in</strong>same Existieren<br />

i'st e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei den D<strong>in</strong>gen, derart, daß sie dabei je <strong>in</strong><br />

gewissen Grenzen, aber jedenfalls irgendwie immer offenbar,<br />

d. h. unverborgen s<strong>in</strong>d. Demnach gehört Unverborgenheit wesensmäßig<br />

zum Dase<strong>in</strong>, d. h. zu jedem Dase<strong>in</strong> als solchen,<br />

während das Vorhandene nicht notwendig als solches unverborgen<br />

ist. Unverborgenheit kommt dem Vorhandenen lediglich<br />

ZU; es kann so se<strong>in</strong>, braucht es nicht. Zum Dase<strong>in</strong> gehört dagegen<br />

notwendig Unverborgenheit von Vorhandenem.<br />

c) Die Zugehörigkeit der Wahrheit zum Dase<strong>in</strong> erklärt<br />

<strong>die</strong> Wahrheit nicht als etwas »Subjektivistisches«<br />

Wenn aber <strong>die</strong> Wahrheit im S<strong>in</strong>ne der Unverborgenheit des<br />

Vorhandenen zum Dase<strong>in</strong> gehört und nicht zum Vorhandenen,<br />

wenn <strong>die</strong> Wahrheit demnach weder im Vorhandenen, noch<br />

»zwischen« <strong>die</strong>sem und dem Dase<strong>in</strong>, sondern alle<strong>in</strong> im Dase<strong>in</strong>,<br />

auch dann, wenn <strong>die</strong>ses ganz für sich isoliert ist, liegt, wird dann<br />

<strong>die</strong> Wahrheit über das Vorhandene nicht etwas »Subjektives«,<br />

e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Angelegenheit des Subjekts? Und wenn <strong>die</strong> Wahrheit


114 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

etwas Subjektives ist, wird dann mit der These der wesenhaften<br />

Zugehörigkeit der Wahrheit zum Dase<strong>in</strong> nicht von vornhere<strong>in</strong><br />

alle objektive Wahrheit, Wahrheit an sich, geleugnet? Wenn wir<br />

leugnen, daß es e<strong>in</strong>e Wahrheit an sich gibt, und sagen, sie gehört<br />

wesensgemäß zum Dase<strong>in</strong>, zum Subjekt, dann ist Wahrheit immer<br />

nur relativ auf das jeweilige faktische Dase<strong>in</strong>, und aus<br />

<strong>die</strong>ser Leugnung der Objektivität der Wahrheit entspr<strong>in</strong>gt dann<br />

der sogenannte Relativismus. Jeder Relativismus aber ist Skeptizismus<br />

und aller Skeptizismus ist der Tod alles Erkennens und,<br />

wie man auch sagt, der Existenz des Menschen überhaupt. Dies<br />

ist e<strong>in</strong>e beliebte Argumentation, <strong>die</strong> fast nie ihren Zweck verfehlt.<br />

Sche<strong>in</strong>bar völlig e<strong>in</strong>sichtig, beruht sie doch weniger auf<br />

der Kraft wirklicher sachlicher Argumente als auf e<strong>in</strong>er Art von<br />

E<strong>in</strong>schüchterung durch Vor- und Ausmalen der Konsequenzen.<br />

Wenn Wahrheit zum Subjekt als Subjekt gehört und nur zu<br />

ihm, also wenn Wahrheit ihrem Wesen nach im Subjekt liegt,<br />

dann ist sie notwendig etwas »Subjektives«. Gegen <strong>die</strong>sen Gedanken<br />

ist schwerlich etwas e<strong>in</strong>zuwenden, und es wäre <strong>in</strong> der<br />

Tat der Versuch irrig zu zeigen, daß Wahrheit etwa nicht zum<br />

Subjekt gehört. Nur ist und bleibt <strong>die</strong> Frage: Was heißt hier<br />

»Subjekt«, und was besagt dementsprechend »subjektiv«? Darüber<br />

muß doch Klarheit bestehen, zumal wenn man so weitgehende<br />

Konsequenzen aus dem subjektiven Charakter der<br />

Wahrheit zieht. Die Argumentation vom subjektiven und relativen<br />

Charakter von Wahrheit kann - so überzeugend sie sich<br />

auch vorbr<strong>in</strong>gt - nicht verbergen, daß ihre Basis e<strong>in</strong>e ganz brüchige<br />

ist. Es läßt sich zeigen, daß das Verhältnis von Wahrheit<br />

und Subjekt, das der Argumentation zugrunde liegt, gar nicht<br />

h<strong>in</strong>reichend geklärt ist, weil der Begriff des Subjekts unbestimmt<br />

bleibt.<br />

Es könnte nämlich se<strong>in</strong>, daß gerade deshalb, weil <strong>die</strong> Wahrheit<br />

zum Dase<strong>in</strong> gehört, <strong>die</strong> Wahrheit nicht »subjektiv« se<strong>in</strong><br />

kann - »subjektiv« <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne von subjektiv und Subjekt, der<br />

<strong>in</strong> der üblichen Argumentation vorausgesetzt wird. Im überlieferten<br />

S<strong>in</strong>ne ist das Subjekt e<strong>in</strong> ~unächst <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>gekapseltes<br />

§ 14. Teilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 115<br />

und von allem übrigen Seienden abgeschnittenes Ich, das sich<br />

recht eigenbrödlerisch <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>er Kapsel benimmt. Wir<br />

nennen <strong>die</strong>se Auffassung des bloßen Subjekts <strong>die</strong> schlechte Sub­<br />

Jektivität; schlecht deshalb, weil sie das Wesen des Subjekts gar<br />

lllcht trifft. Wir bezeichnen term<strong>in</strong>ologisch Subjekt mit Dase<strong>in</strong>.<br />

Am Ende ist das Wesen der Subjektivität gerade nicht etwas<br />

»Subjektives« im schlechten S<strong>in</strong>ne. Das kann uns das Wesen der<br />

Wahrheit und ihre wesenhafte Zugehörigkeit zum Dase<strong>in</strong> zeigen.<br />

Denn wenn Wahrheit zum Subjekt gehört, Wahrheit aber<br />

Unverborgenheit von Vorhandenem besagt, dann gehört Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem wesenhaft zum Subjekt, d.h. es<br />

gehört wesenhaft zum Subjekt, daß es nicht <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>gekapselt<br />

1st, sondern immer schon bei Vorhandenem ist.<br />

Nehmen wir gleichsam vom Subjekt zunächst das Se<strong>in</strong> bei<br />

emem Vorhandenen weg, dann haben wir gar ke<strong>in</strong>en Begriff<br />

vom Subjekt mehr. Dieser Ansatz stellt gar ke<strong>in</strong>en Begriff vom<br />

Ich, vom Subjekt und von Subjektivität dar, sondern lediglich<br />

em Phantom und e<strong>in</strong>e willkürliche Konstruktion e<strong>in</strong>es Ich. Weil<br />

dIe Wahrheit - und hier zunächst nur als Unverborgenheit des<br />

Vorhandenen genommen - zum Dase<strong>in</strong>, d.h. zum Subjekt gehort,<br />

deshalb ist das Dase<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen nach je schon bei<br />

Vorhandenem. Dieses Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem gehört zum Begriff<br />

des Subjekts. So ergibt sich: <strong>die</strong> These von der Zugehörigkeit<br />

von Wahrheit zum Subjekt erklärt <strong>die</strong> Wahrheit nicht als etwas<br />

»Subjektivistisches«, sondern bestimmt gerade <strong>die</strong> Subjektivität<br />

m Ihrem Se<strong>in</strong> bei unverborgenem Vorhandenem. Das Wesen der<br />

Wahrheit qua UA:r1ßcta gibt also <strong>die</strong> Anweisung zur Klärung des<br />

Begriffs der Subjektivität, während man sonst umgekehrt vorgeht.<br />

Man hat irgend e<strong>in</strong>en Begriff von Subjekt, zumeist an<br />

Descartes orientiert, im H<strong>in</strong>tergrund, und sucht sich klar zu<br />

werden, was Wahrheit besagt, wie ihr Bezug zu <strong>die</strong>sem nicht<br />

weiter bestimmten Subjekt zu denken ist. Jetzt sehen wir: das<br />

Wesen der Wahrheit selbst zw<strong>in</strong>gt uns zu e<strong>in</strong>er grundsätzlichen<br />

Revision des bisherigen Subjektbegriffes. Die Zugehörigkeit<br />

der Wahrheit zum Subjekt im rechtverstandenen S<strong>in</strong>ne macht


116 Wahrhett und Se<strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Wahrheit nicht zu etwas Subjektivem im schlechten S<strong>in</strong>ne,<br />

sondern umgekehrt. Diese Zugehörigkeit der Wahrheit zum<br />

Subjekt kann gerade <strong>die</strong> Veranlassung werden, den Begriff des<br />

Subjekts allererst <strong>in</strong> der rechten Weise zu bestimmen.<br />

Aber wenn wir auch so <strong>die</strong>sen naheliegenden, im Anfang<br />

leicht störenden E<strong>in</strong>wand, wonach <strong>die</strong> Zugehörigkeit der Wahrheit<br />

zum Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Subjektivität der Wahrheit im schlechten<br />

S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> sich schließt, abgewiesen haben, bleibt doch noch ungeklärt,<br />

wonach wir eigentlich fragen: Wie gehört denn Wahrheit<br />

als Unverborgenheit des Vorhandenen zum Dase<strong>in</strong>? Wir<br />

wollen darüber Klarheit haben, um zu verstehen, wie Dase<strong>in</strong><br />

mit Dase<strong>in</strong> sich <strong>in</strong> dergleichen wie Wahrheit teilen kann. Dieses<br />

Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit ist aber e<strong>in</strong> Kennzeichen des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s,<br />

das gerade unser Thema ist.<br />

Wir haben schon e<strong>in</strong>e wesentliche E<strong>in</strong>sicht gewonnen, nämlich<br />

daß <strong>die</strong> Zugehörigkeit der Wahrheit zum Dase<strong>in</strong> lllcht<br />

notwendig e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> ist, daß sich e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> auch alle<strong>in</strong> zu<br />

Vorhandenem verhalten kann. Unverborgenheit von Vorhandenem<br />

kann also dem Dase<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> zugehören. Zugehörigkeit der<br />

Wahrheit zum Dase<strong>in</strong> ist möglich ohne e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>andersem,<br />

ohne e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit. Das Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit 1st<br />

nicht konstitutiv für <strong>die</strong> Art und Weise, wie Wahrheit im Dase<strong>in</strong><br />

liegt. Das läßt sich grundsätzlich auch so formulieren: Das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

ist nicht konstitutiv für das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem.<br />

Dase<strong>in</strong> kann auch alle<strong>in</strong> sich aufhalten bei Vorhandenem. Mith<strong>in</strong><br />

führt uns e<strong>in</strong>e Charakterisierung des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s nicht<br />

zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> primäre Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Doch läßt sich unser Vorgehen immer noch so rechtfertigen,<br />

daß wir sagen: Das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> mag sich erst daraus ergeben,<br />

daß zwei Dase<strong>in</strong> und mehrere zusammen s<strong>in</strong>d; so ist es doch<br />

eben e<strong>in</strong> Zusammense<strong>in</strong> von Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> und nicht em<br />

solches von Vorhandenen. Also muß auch im Mite<strong>in</strong>andersem<br />

<strong>die</strong> spezifische Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s zum Vorsche<strong>in</strong> kommen.<br />

Das genügt uns ja für <strong>die</strong> vorläufige Abhebung e<strong>in</strong>er Sems art<br />

gegen <strong>die</strong> andere.<br />

§ 14. TeLZen m dte Unverborgenhett des Setenden 117<br />

Alle<strong>in</strong>; wenn uns jetzt auch nur das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> besonders<br />

beschäftigt, und wenn wir festhalten, daß es e<strong>in</strong> Sichteilen<br />

III dIe Wahrheit ist, dann dürfen wir das vorh<strong>in</strong> gewonnene<br />

Ergebnis nicht zu leicht nehmen, daß nämlich das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

nicht konstitutiv ist für das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem.<br />

Daraus ergab sich, daß <strong>die</strong> Zugehörigkeit von Wahrheit zum<br />

Dase<strong>in</strong> nicht notwendig durch e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit<br />

bestimmt ist, weil Dase<strong>in</strong> faktisch auch alle<strong>in</strong> existieren kann.<br />

Und hier<strong>in</strong> liegt doch e<strong>in</strong>e wesentliche Festsetzung über das<br />

Wesen der Wahrheit überhaupt, dessen Aufklärung wir zustreben.<br />

d) Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem und Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> gehören<br />

gleichursprünglich zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s<br />

Bel der Kritik des landläufigen Begriffes vom Subjekt ergab<br />

SIch, daß zum Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem gehört. Dieses<br />

Sem bei ... aber ist nicht notwendig e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. E<strong>in</strong><br />

Dase<strong>in</strong> kann auch, wie wir schon wiederholt sagten und was<br />

unbestreitbar ist, alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>. Aber vielleicht wurden wir doch zu<br />

schnell fertig mit <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>leuchtenden Feststellung.<br />

Wenn jemand alle<strong>in</strong> ist, dann s<strong>in</strong>d andere nicht da, dann gibt<br />

es ke<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Doch was heißt hier: Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>? Heißt<br />

das, es ist nur e<strong>in</strong>er da statt mehreren? Bedeutet »alle<strong>in</strong>« so viel<br />

WIe e<strong>in</strong>zig? Offenbar nicht. Denn dann könnte e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> nur<br />

dann alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, wenn es als e<strong>in</strong>ziges existiert. Nun kann ich<br />

alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, auch wenn andere und mehrere mit da s<strong>in</strong>d, ja sogar<br />

gerade unter e<strong>in</strong>er Masse von Menschen kann ich alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

und b<strong>in</strong> ich alle<strong>in</strong>, wie ich es sonst gar nicht se<strong>in</strong> kann, wenn<br />

keme anderen da s<strong>in</strong>d.<br />

Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> ist also ke<strong>in</strong>eswegs gleichbedeutend mit faktischem<br />

Nichtdase<strong>in</strong> von anderen. Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> besagt immer: ohne<br />

andere se<strong>in</strong>. In <strong>die</strong>sem Ohne-andere ist, wer alle<strong>in</strong> existiert,<br />

notwendig und wesensmäßig, freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Smne, auf <strong>die</strong> anderen bezogen. Alle<strong>in</strong> kann heißen: 1. verlassen


118 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

von anderen, 2. unbehelligt durch andere, 3. unbedürftig der<br />

anderen. Das besagt: im Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Ohnee<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>;<br />

das Ohnee<strong>in</strong>ander aber ist e<strong>in</strong> spezifisches Mite<strong>in</strong>andetse<strong>in</strong>.<br />

Demnach ist auch jedes Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>, und<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist dann nicht gleichbedeutend mit faktischem<br />

Auch-Dase<strong>in</strong> von anderen.<br />

Dann bricht aber <strong>die</strong> ganze vorherige Betrachtung <strong>in</strong> sich<br />

zusammen, und ihr Ergebnis ist nichtig. Das Ergebnis formulierten<br />

wir so: Das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist nicht konstitutiv für das Se<strong>in</strong><br />

bei Vorhandenem, d. h. <strong>die</strong> Art und Weise, wie Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem dem Dase<strong>in</strong> zugehört, ist nicht notwendig e<strong>in</strong><br />

Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit. Jetzt aber ergibt sich: Wenn Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong><br />

qua Ohnee<strong>in</strong>ander wesenhaft e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist, dann liegt<br />

auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em alle<strong>in</strong>igen Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>.<br />

Das heißt dann aber: Die Art und Weise, wie Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem (Wahrheit) zum Dase<strong>in</strong> gehört, ist<br />

notwendig und wesenhaft e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit.<br />

Jedes Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem, auch das alle<strong>in</strong>ige, ist e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>.<br />

Das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem ist demnach nicht<br />

e<strong>in</strong>e isolierte Möglichkeit, <strong>in</strong> der das Dase<strong>in</strong> existiert, und das<br />

Mite<strong>in</strong>derse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere, sondern jedes Se<strong>in</strong> bei ... ist Mit<br />

e<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Umgekehrt ist jedes Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em We<br />

sen nach e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem. Das letztere ist nicht<br />

m<strong>in</strong>der wesentlich als das erstere. Im Wesen des Dase<strong>in</strong>s haben<br />

Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem und Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en Vorrang vor<br />

e<strong>in</strong>ander. Beide gehören notwendig zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s; SIe<br />

s<strong>in</strong>d gleichursprünglich.<br />

Aus der These, daß das Se<strong>in</strong> bei ... wie das Mite<strong>in</strong>ander<br />

wesenhaft zum Dase<strong>in</strong> gehört, ob es alle<strong>in</strong> ist oder faktisch mit<br />

anderen, sehen wir, daß der Begriff der Subjektivität oder der<br />

Begriff des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>e eigentümliche Fülle <strong>in</strong> sich schließt<br />

und daß man sich hüten muß, den Begriff des Dase<strong>in</strong>s oder des<br />

Subjekts zu unbestimmt, ja zu unterbestimmt zu nehmen. Das<br />

ist der Grundmangel der Entwicklung des Subjektbegriffs seit<br />

Descartes. Mit ihm beg<strong>in</strong>nt eigentlich das Verhängnis der neu-<br />

§ 14. Tellen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 119<br />

zeitlichen <strong>Philosophie</strong>, weil bei ihm das ego, das Ich derart<br />

verarmt, daß es überhaupt ke<strong>in</strong> Subjekt mehr ist. Ego sum ist<br />

bel Descartes ohne Se<strong>in</strong> bei ... , ohne Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Von Descartes<br />

wurde danach nicht e<strong>in</strong>mal grundsätzlich gefragt, auch<br />

DIcht danach, wie <strong>die</strong>ses ego ist, was <strong>die</strong>ses sum im ego sum<br />

gegenüber dem Se<strong>in</strong>, etwa der res extensa, bedeutet. Dieser<br />

Begriff des Ich ist von vornhere<strong>in</strong> gewissermaßen beschnitten.<br />

Gleichwohl hat Descartes das .ver<strong>die</strong>nst, nach dem Subjekt gefragt<br />

zu haben, während <strong>die</strong> Zeit davor zwar allerlei Bestimmungen<br />

über das Subjekt, den Menschen, aufgefunden hat, <strong>die</strong><br />

slch aber mehr darauf konzentrieren, gewisse Grundverhaltungsweisen<br />

des Subjekts, <strong>die</strong> sogenannten Seelenvermögen,<br />

herauszustellen.<br />

Das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem ist als je faktisches nicht notwendlg<br />

e<strong>in</strong> faktisches Mitse<strong>in</strong> mit faktisch anwesenden Anderen;<br />

glelchwohl ist das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem se<strong>in</strong>em Wesen nach<br />

em Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Daraus erhellt: Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> besagt<br />

nicht faktisches Existieren zusammen mit faktisch anwesenden<br />

Anderen. Das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> kommt e<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong> nicht erst<br />

dadurch zu, daß andere sich faktisch e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den, sondern jedes<br />

Dase<strong>in</strong> qua Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> als Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bestlmmt,<br />

und deshalb und nur deshalb kann es auch alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>;<br />

d. h. wenn eben faktisch Andere nicht da s<strong>in</strong>d, ist das Dase<strong>in</strong><br />

wesensmäßig nicht nur noch e<strong>in</strong>es, sondern alle<strong>in</strong>. Wenn Mite<strong>in</strong>ander<br />

e<strong>in</strong> wesenhaftes Wie des Dase<strong>in</strong>s ist und <strong>die</strong>sem nicht<br />

nur bed<strong>in</strong>gungsweise zukommt, dann ist jedes e<strong>in</strong>zelne und<br />

vere<strong>in</strong>zelte Dase<strong>in</strong> immer noch <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Wie und zwar im<br />

Modus des Alle<strong>in</strong>.<br />

Es ist der Grundfehler des Solipsismus, daß er vergißt, bei<br />

dem solus ipse wirklich ernst zu machen, daß nämlich jedes »Ich<br />

alle<strong>in</strong>« als alle<strong>in</strong>iges schon wesentlich e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander ist. Nur<br />

weIl das Ich schon mit anderen ist, kann es e<strong>in</strong>en anderen verstehen.<br />

Aber es ist nicht so, daß das Ich zunächst ohne <strong>die</strong><br />

anderen e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges wäre und dann auf irgende<strong>in</strong>em rätselhaften<br />

Weg zum Mite<strong>in</strong>ander käme.


128 Wahrhea - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

tens; und er teilt sie nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise mit anderen, weil<br />

Unverborgenheit von Vorhandenem ihrem Wesen nach etwas<br />

Geme<strong>in</strong>sames ist. Der F<strong>in</strong>der kann gar nicht anders als'-Sie für<br />

sich behalten oder mitzuteilen; <strong>in</strong> jedem Falle ist <strong>die</strong>se Wahrheit<br />

etwas, was nicht se<strong>in</strong> Eigentum ist, wenn er auch den Anspruch<br />

erheben kann, sie zuerst gefunden zu haben. Für sich behalten<br />

ist e<strong>in</strong> Behüten vor ... Was heißt das aber: Er kann nicht anders,<br />

er bewegt sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Entweder-oder? Es heißt: Diese Wahrheit<br />

ist etwas, wore<strong>in</strong> er sich notwendig mit anderen teilt. Aber<br />

wie ist sie e<strong>in</strong> solches und warum? Inwiefern ist Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem wesenhaft etwas, wore<strong>in</strong> sich Dase<strong>in</strong> mit<br />

Dase<strong>in</strong> teilt? Deutlich ist das e<strong>in</strong>e, daß <strong>die</strong>ses Sichteilen <strong>in</strong> solche<br />

Wahrheit nicht heißt, daß notwendig andere sie sich ausdrücklich<br />

zueignen. Andererseits besagt das Faktum, daß<br />

jemand sie für sich behält, nicht schon, daß <strong>die</strong> Wahrheit zunächst<br />

<strong>in</strong> der Tat Alle<strong>in</strong>besitz wäre. Sie kann dergleichen nicht<br />

se<strong>in</strong>, weil sie ihrem Wesen nach anderen zur Verfügung steht<br />

und dem e<strong>in</strong>zelnen nie anders gehören kann, als daß er sie<br />

behütet. Was heißt das aber? Dieses Dase<strong>in</strong> muß sich vor anderen<br />

verschließen. Was verschließt es? Diese Unverborgenheit<br />

des betreffenden Vorhandenen, d. h. daß es, <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong>, sich<br />

<strong>in</strong> der Entdecktheit des Vorhandenen hält; das Das{)<strong>in</strong> verschließt<br />

se<strong>in</strong> entdeckendes Se<strong>in</strong> bei <strong>die</strong>sem Vorhandenen. Auf<br />

welchen Wegen und mit welchen Mitteln das faktisch geschieht,<br />

ist jetzt nicht wichtig. Wesentlich ist e<strong>in</strong> anderes. Das<br />

Dase<strong>in</strong> muß <strong>die</strong>ses se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei der betreffenden Pflanze verschließen<br />

vor anderen, wenn es mit <strong>die</strong>ser Wahrheit alle<strong>in</strong><br />

bleiben wilL Es muß verschließen, weil <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem<br />

sonst geme<strong>in</strong>sam erschlossen ist, d. h. unverborgen.<br />

Das Dase<strong>in</strong> als solches ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem<br />

unverborgen. Was heißt das? Wir haben bereits darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

<strong>in</strong>wiefern das Dase<strong>in</strong> gerade durch se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem<br />

immer schon aus sich herausgetreten ist. Mit<br />

anderen Worten: Das Dase<strong>in</strong> ist überhaupt nicht und nie etwas,<br />

was zunächst und zuweilen <strong>in</strong> -e<strong>in</strong>er sogenannten Innensphäre<br />

§ 16. Entdecktheit und Offenbarkeit 129<br />

SIch aufhielte. Wir können daher streng genommen auch nicht<br />

sagen, es sei aus sich heraus getreten. (Dieses »aus sich heraus«<br />

1St nun auch nicht geme<strong>in</strong>t mit Bezug auf jenes Innen, Immanenz.)<br />

Genug, das Dase<strong>in</strong> ist als Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem selbst<br />

offenbar, d.h. se<strong>in</strong> eigenes Offense<strong>in</strong> nach dem Vorhandenen<br />

br<strong>in</strong>gt es schon mit sich, daß es, das so offene Dase<strong>in</strong>, selbst<br />

offenbar ist. Das Dase<strong>in</strong> ist von sich aus und nicht nur zuweilen,<br />

sondern wesenhaft erschlossen; es ist qua Dase<strong>in</strong> unverborgen,<br />

auch wenn e<strong>in</strong> anderes Dase<strong>in</strong> es faktisch nicht erlaßt.<br />

So elementar <strong>die</strong>se Zusammenhänge <strong>in</strong> der Wesensverfassung<br />

,des Dase<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d, so schwer s<strong>in</strong>d sie doch im Anfang<br />

emdeutig sichtbar zu machen, - und das hat wiederum nicht<br />

zufällig Gründe. Da wir nur erst im Anfang unserer Betrachtungen<br />

stehen, d. h. e<strong>in</strong>en noch relativ engen Horizont der<br />

Problematik haben, ist das angemessene Verständnis der <strong>in</strong> Frage<br />

stehenden Strukturen besonders erschwert. Später freilich<br />

werden Sie sich wundern, weshalb so e<strong>in</strong>fache Verhältnisse<br />

mcht gleich mit e<strong>in</strong>em Schlag gefaßt werden.<br />

Wir versuchen, durch <strong>die</strong> Erörterung e<strong>in</strong>es Beispiels nachzuhelfen.<br />

Zuvor noch e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Fixierung des Problems und der<br />

These: Unverborgenheit von Vorhandenem, sagen wir, ist ihrem<br />

Wesen nach etwas, wore<strong>in</strong> sich Dase<strong>in</strong> mit Dase<strong>in</strong> teilt, mag e<strong>in</strong><br />

anderes Dase<strong>in</strong> faktisch zugegen se<strong>in</strong> und faktisch <strong>die</strong> Wahrheit<br />

sich zueignen oder nicht. Unverborgenheit des Vorhandenen ist<br />

wesenhaft e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames, solches, was zum Dase<strong>in</strong> gehört, so<br />

zwar, daß es ihm nicht als e<strong>in</strong>gezäunter E<strong>in</strong>zelbesitz gehört; sie<br />

gehört vielmehr derart zu ihm, daß sie ihrem Wesen nach gerade<br />

'weggegeben wird, d. h. sie ist nie erst Eigenbesitz und wird<br />

dann weggegeben.<br />

Wie ist das möglich, d. h. was ist <strong>die</strong>se Unverborgenheit des<br />

Vorhandenen? Entdecktheit; das Vorhandene gibt sich im Se<strong>in</strong><br />

bei ... als unverborgenes, sofern das Dase<strong>in</strong> von Hause aus<br />

entdeckend ist. Als Se<strong>in</strong> bei ... ist das Dase<strong>in</strong> Entdeckend-se<strong>in</strong>.<br />

Als das so Seiende ist das Dase<strong>in</strong> selbst <strong>in</strong> sich offenbar. Aber wie<br />

das? Da-se<strong>in</strong> besagt: mit sich br<strong>in</strong>gend allererst den Umkreis


120 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />

Wenn aber das Dase<strong>in</strong> als solches wesenhaft <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong><br />

als Mite<strong>in</strong>ander bestimmt ist, jedes Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem e<strong>in</strong><br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> ist, dann ist auch <strong>die</strong> Art und Weise, wie Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem als e<strong>in</strong>e bestimmte Art von<br />

Wahrheit zum Dase<strong>in</strong> gehört, immer und notwendig e<strong>in</strong> Sichteilen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit. Was ist aber dann <strong>die</strong> Wahrheit und wie<br />

ist sie, wenn ihre Zugehörigkeit zum Dase<strong>in</strong> bestimmt ist durch<br />

e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit?<br />

Wahrheit kommt dem Vorhandenen lediglich zu, gehört nicht<br />

zu se<strong>in</strong>em Wesen; Wahrheit gehört aber zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Wir haben gefragt »wie?« und s<strong>in</strong>d zunächst sche<strong>in</strong>bar nicht weiter<br />

gekommen. Zwar gehört zu <strong>die</strong>sem Wie notwendig das Mite<strong>in</strong>ander,<br />

aber auch damit kommen wir nicht von der Stelle,<br />

solange Wahrheit selbst nicht ursprünglicher gefaßt wird. Unverborgenheit,<br />

wore<strong>in</strong> sich Dase<strong>in</strong> teilt, ist etwas wesenhaft Geme<strong>in</strong>sames,<br />

was zum Dase<strong>in</strong> gehört und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem ihm Zugehören<br />

doch gerade nicht und nie se<strong>in</strong>, des E<strong>in</strong>zelnen, Eigentum ist.<br />

Aber <strong>in</strong>wiefern muß <strong>die</strong> Wahrheit noch ursprünglicher gefaßt<br />

werden? Wir sprachen von der Unverborgenheit von Vorhandenem.<br />

Unverborgenheit gehört nicht zum Vorhandenen als<br />

solchem, sondern kommt ihm lediglich zu. Wer läßt <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

dem Vorhandenen zukommen? Nun, das Se!ende, zu<br />

dessen Se<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit gehört, das Dase<strong>in</strong>. Aber folgt daraus,<br />

daß <strong>die</strong> Wahrheit zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s gehört, auch schon,<br />

daß das Dase<strong>in</strong> dem Vorhandenen <strong>die</strong> Wahrheit zukommen<br />

läßt? Wie soll das geschehen? Das Dase<strong>in</strong> entscheidet doch nicht<br />

darüber, was dem Seienden zukommen soll, sondern umgekehrt,<br />

das Dase<strong>in</strong> richtet sich gerade nach ihm.<br />

Wir haben schon darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß das Dase<strong>in</strong>, sofern<br />

es qua Dase<strong>in</strong> existiert, sich immer schon bei Vorhandenem im<br />

weiteren S<strong>in</strong>ne aufhält. Das Dase<strong>in</strong> ist nicht nur faktisch nicht,<br />

sondern se<strong>in</strong>em Wesen nach nie lediglich etwas <strong>in</strong> sich Beschlossenes,<br />

E<strong>in</strong>geschränktes <strong>in</strong> geschlossene Schranken, sondern es<br />

ist wesenhaft offen nach Vorhandenem. Das können wir auch so<br />

kennzeichnen: Dase<strong>in</strong> ist seirrem Wesen nach ent-deckend.<br />

§ 14. Teilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden 121<br />

e) Das Entdeckendse<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Wahrheit von Vorhandenem und Zuhandenem als Entdecktheit<br />

Dase<strong>in</strong> als solches ent-deckt Vorhandenes, d. h. nicht, es macht<br />

gelegentlich <strong>die</strong> Entdeckung, daß es auch Vorhandenes gibt,<br />

sondern als Dase<strong>in</strong> hat es Vorhandenes immer schon ent-deckt,<br />

d. h. der Verdeckung entnommen. Sofern Dase<strong>in</strong> existiert, geschieht<br />

so etwas wie Ent-deckung von Vorhandenem. Auch das<br />

Dase<strong>in</strong>, das während der ganzen Dauer se<strong>in</strong>er Existenz nie e<strong>in</strong>e<br />

sogenannte »Entdeckung« macht, ist ent-deckend, sofern es sich<br />

bei Vorhandenem aufhält. Entdeckungen im engeren S<strong>in</strong>ne,<br />

z.B. e<strong>in</strong>er bisher unbekannten Insel, kann das menschliche Dase<strong>in</strong><br />

auch nur machen, weil es qua Dase<strong>in</strong> sich schon bei<br />

Seiendem aufhält, also z. B. das Meer befährt. Dase<strong>in</strong> ist, ob es<br />

»Entdeckungen« im engeren S<strong>in</strong>ne macht oder nicht, se<strong>in</strong>em<br />

Wesen nach ent-deckend; ihm begegnet schon immer Vorhandenes<br />

<strong>in</strong> Entdecktheit. Wir geben also der Unverborgenheit des<br />

Vorhandenen, d. h. der Wahrheit <strong>die</strong>ses Seienden von der Se<strong>in</strong>sart<br />

des Vorhandenen, e<strong>in</strong>e bestimmte Bezeichnung: Wahrheit<br />

von Vorhandenem ist Entdecktheit. Damit ist angedeutet: Nicht<br />

Jede Unverborgenheit von Seiendem ist Entdecktheit, sondern<br />

nur <strong>die</strong> Unverborgenheit desjenigen Seienden, das <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart<br />

des Vorhandenen oder Zuhandenen hat. Die Entdecktheit<br />

(Cnverborgenheit) des Vorhandenen geschieht dadurch, daß<br />

Dase<strong>in</strong> existiert, und Entdecktheit von Vorhandenem ist nur,<br />

wenn und solange Dase<strong>in</strong> existiert, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Existenz entdeckend<br />

ist.<br />

Sofern also Dase<strong>in</strong> existiert, ist Vorhandenes offenbar. Wir<br />

kommen immer wieder auf <strong>die</strong>sen Grundbestand des Wesens<br />

des Dase<strong>in</strong>s zurück, weil es von zentraler Bedeutung ist. Vorhandenes<br />

ist mit der Existenz von Dase<strong>in</strong> offenbar, das heißt<br />

aber nicht notwendig, daß es erfaßt ist oder gar, daß es als<br />

Vorhandenes begriffen werden müßte, sondern es heißt nur:<br />

Sofern Dase<strong>in</strong> existiert, ist es bei unverborgenem Seienden, das<br />

es nicht selbst ist, wie immer es von <strong>die</strong>ser Unverborgenheit


122 Wahrhelt und Se<strong>in</strong><br />

Gebrauch machen mag, d.h.: Dase<strong>in</strong> kommt nicht erst im Verlauf<br />

se<strong>in</strong>er Existenz aus e<strong>in</strong>er Immanenz herüber zu anderem<br />

Seienden. Dase<strong>in</strong> ist nie so, daß es gewissermaßen für sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Kapsel lebt; es ist nie nur Subjekt im schlechten S<strong>in</strong>ne.<br />

VIERTES KAPITEL<br />

Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

§ 15. Entdeckendse<strong>in</strong> beim Jrühzeitlichen und<br />

Jrühmenschlichen Dase<strong>in</strong><br />

Wenn <strong>die</strong>se These von zentraler Bedeutung ist, dann muß der<br />

Grundbestand auch gesichert se<strong>in</strong> und vor allem <strong>in</strong> der Tat<br />

zutreffen.<br />

Wie aber ist es mit dem Wesen des Dase<strong>in</strong>s beim K<strong>in</strong>d und <strong>in</strong> der<br />

Frühzeit der Völker bestellt? Die nachfolgenden methodischen<br />

Bemerkungen über <strong>die</strong> Rolle des frühmenschlichen und frühzeitlichen<br />

Dase<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der grundsätzlich fundamental-ontologischen<br />

Interpretation des Dase<strong>in</strong>s zu verstehen, nicht etwa als<br />

Anthropologie. Auch ist hier zu scheiden: früh-zeitlich und primItiv<br />

s<strong>in</strong>d nicht dasselbe. Ganz irrig wäre es, <strong>die</strong> heroische Zeit<br />

der Griechen mit dem Dase<strong>in</strong> heutiger Kaffern gleichzustellen.<br />

Zur Frage des vorgeschichtlichen, frühzeitlichen oder frühmenschlichen<br />

Dase<strong>in</strong>s ist das Grundsätzliche zu sagen: schlechth<strong>in</strong><br />

wesensverschieden ist es nicht, wenn anders auch <strong>die</strong>se als<br />

Menschen zu verstehen s<strong>in</strong>d; und das will doch auch und gerade<br />

der E<strong>in</strong>wand sagen: anderes menschliches Dase<strong>in</strong>. Auch hier<br />

geht es um menschliches Dase<strong>in</strong>. Wenn anders »Dase<strong>in</strong>« mit<br />

S<strong>in</strong>n gebraucht wird, dann muß der Wesensbegriff zugrunde<br />

liegen. Wenn aber <strong>die</strong> Stufen und Perioden des Frühstadiums<br />

des Menschen, als K<strong>in</strong>d oder <strong>in</strong> der vorgeschichtlichen Zeit,<br />

andere s<strong>in</strong>d - daß ihnen e<strong>in</strong>e spezifische Helligkeit fehlt, ist<br />

ke<strong>in</strong> Mangel -, so erhebt sich <strong>die</strong> grundsätzliche methodische<br />

Frage, wie denn <strong>die</strong>ses andere Dase<strong>in</strong> zu fassen sei. Dies geschieht<br />

nur auf privative Weise, d.h. ausgehend von e<strong>in</strong>er<br />

positiven zugrundeliegenden Auffassung des Dase<strong>in</strong>s, nicht


130 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mzt-sem<br />

möglicher Offenbarkeit, das »Da«, <strong>in</strong> welches here<strong>in</strong>stehend<br />

auch erst Vorhandenes offenbar wird. Das sich Offenbaren aber<br />

geschieht wesenhaft, nicht zuweilen und nachträglich. Dase<strong>in</strong><br />

ist erschließend, entdeckend und so mit sich br<strong>in</strong>gend mitteilend<br />

teilnehmen.<br />

Unverborgenheit gebört nie e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen als solchem. Als<br />

Geme<strong>in</strong>sames steht sie gleichsam jedermann öffentlich zur Verfügung;<br />

sie muß daher wesentlich von jedem Dase<strong>in</strong> freigegeben<br />

se<strong>in</strong>. Unverborgenheit von Vorhandenem ist ihrerseits<br />

notwendig selbst unverborgen. Da nun aber <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

des Vorhandenen selbst nichts Vorhandenes ist, Unverborgenheit<br />

von Vorhandenem aber Entdecktheit genannt WIrd,<br />

kann <strong>die</strong> Unverborgenheit von Unverborgenheit, sofern sie<br />

selbst unverborgen ist, nicht und nie e<strong>in</strong> Entdecktes se<strong>in</strong>. Wenn<br />

aber <strong>die</strong> Unverborgenheit des Vorhandenen zum Dase<strong>in</strong> gehört,<br />

so zwar, daß sie selbst unverborgen ist, dann heißt das: Das<br />

Dase<strong>in</strong> ist, sofern es als Dase<strong>in</strong> existiert, als solches unverborgen.<br />

Die Unverborgenheit von Dase<strong>in</strong> aber nennen wir im<br />

Unterschied von der Unverborgenheit des Vorhandenen, der<br />

Entdecktheit, <strong>die</strong> Erschlossenheit.<br />

Dase<strong>in</strong> als solches ist von sich aus erschlossen. Es wird nicht<br />

erst unverborgen dadurch, daß e<strong>in</strong> anderes Dase<strong>in</strong> es der Verborgenheit<br />

entreißt. Sofern Dase<strong>in</strong> existiert, hat es sich der<br />

Verborgenheit entrissen, bzw. es br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Unverborgenheit<br />

gleichsam mit sich.<br />

Bisher wurde bezüglich des Dase<strong>in</strong>s vorwiegend nur das Sem<br />

bei Vorhandenem besprochen. Wir müssen versuchen, zunächst<br />

auch nur im Blick auf unser Se<strong>in</strong> bei den D<strong>in</strong>gen zu sehen,<br />

<strong>in</strong>wiefern das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem als das, was es ist, notwendig<br />

unverborgen ist. Wir halten jetzt gegene<strong>in</strong>ander: Das Zusammenvorhandense<strong>in</strong><br />

von D<strong>in</strong>gen und <strong>die</strong> Art und Weise des<br />

Nebene<strong>in</strong>ander von Dase<strong>in</strong> und <strong>die</strong>sen D<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>e Bank steht<br />

neben e<strong>in</strong>em Haus, sie können sogar räumlich eng ane<strong>in</strong>ander<br />

grenzen. Die Bank kann, wie wir sagen, das Haus berühren;<br />

gleichwohl ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem »Neben~< das Haus nicht und <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

§ 16. Entdeckthelt und Offenbarkezt 131<br />

Weise als Haus offenbar für <strong>die</strong> Bank und umgekehrt. Wir dürfen<br />

auch nicht sagen, das Haus sei für <strong>die</strong> Bank verborgen; <strong>die</strong>se<br />

Dlllge Jliegen vielmehr im Verhältnis zue<strong>in</strong>ander schlechth<strong>in</strong><br />

außerhalb der Möglichkeit von gegenseitiger Verborgenheit<br />

und Unverborgenheit. Um ganz vorsichtig zu sprechen: Wir<br />

haben nicht das m<strong>in</strong>deste Kriterium, etwas anderes auch nur als<br />

Moglichkeit anzunehmen. Dagegen ist der Bauer, der vor se<strong>in</strong>em<br />

Haus auf der Wiese steht, auch neben se<strong>in</strong>em Haus und der<br />

Bank dazu; aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Daneben s<strong>in</strong>d Haus und Bank offenbar,<br />

was nicht heißt, daß der Bauer nun gerade eigens se<strong>in</strong><br />

Haus und <strong>die</strong> Bank davor erfassen müßte. Das Danebenstehen<br />

des Bauern ist e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei Entdecktem. Und umgekehrt: Wie<br />

steht das Haus neben dem Bauern? Es steht so wie neben der<br />

Bank; denn es hat ja nicht den Bauern als etwas Unverborgenes<br />

vor sich. Andererseits aber ist der Bauer auch nicht e<strong>in</strong> Vorhandenes.<br />

Wir können vorläufig sagen: Das Haus ist mit Bezug auf<br />

den Bauern im Umkreis des Vorhandenen vorhanden, was für<br />

den Bauern entdecktes ist. Dieser Umkreis des Entdeckten kann<br />

lm e<strong>in</strong>zelnen wechseln, aber immer nimmt das Dase<strong>in</strong> gleichsam<br />

e<strong>in</strong>en solchen Umkreis von Entdecktem mit sich; wo immer<br />

es SIch aufhält, bewegt es sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Umkreis, und<br />

dleses Sich bewegen ist immer e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ... ; das Wobei kann<br />

mehr ,oder weniger nahe se<strong>in</strong>.<br />

Das ist alles recht simpel. Nehmen wir jetzt an, wir kommen<br />

aus großer Entfernung auf das Haus zu und wir sehen davor<br />

etwas stehen, es nimmt sich aus wie e<strong>in</strong> dicker Pfahl oder wie<br />

etwas, was vor dem Haus <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wiese e<strong>in</strong>gegraben ist. Plötzlich<br />

kommt <strong>die</strong>ser Pfahl <strong>in</strong> Bewegung, und zwar <strong>in</strong> der Richtung auf<br />

dle Haustür und verschw<strong>in</strong>det dar<strong>in</strong>. Und während wir <strong>die</strong>ses<br />

slch bewegende Vorhandene <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bewegung erfahren, stellt<br />

es sich uns als Mensch heraus. Wie kommen wir dazu, e<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

Bewegung bef<strong>in</strong>dliches Vorhandenes, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Loch verschw<strong>in</strong>det,<br />

als Menschen zu nehmen, wo wir doch aus der<br />

großen Entfernung weder Gesicht noch Hände sehen, noch ihn<br />

sprechen hören? Aber er setzte sich von selbst <strong>in</strong> Bewegung.


124 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

ohne e<strong>in</strong>en Leitfaden von der Idee des Menschen überhaupt.<br />

Das, woran ich messe, muß zuvor bestimmt se<strong>in</strong>, und <strong>die</strong>ser<br />

Maßstab ist demnach - wie jedes Fundament e<strong>in</strong>er Privationnicht<br />

unwesentlich, sondern mitbestimmend für das, was auf<br />

privative Weise bestimmt werden soll.<br />

Aufgrund der psychologischen, psychoanalytischen, anthropologischen<br />

und ethnologischen Forschung haben wir heute<br />

reichere Möglichkeiten des E<strong>in</strong>blicks <strong>in</strong> bestimmte Zusammenhänge<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Aber <strong>die</strong> Tatsachen und Phänomene, <strong>die</strong><br />

man aus <strong>die</strong>sen Forschungen beibr<strong>in</strong>gt, bedürfen e<strong>in</strong>er grundsätzlichen<br />

kritischen Revision, sobald sie für wesentliche Arten<br />

von Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> Anspruch genommen werden. Diese Revision<br />

muß von der Grundthese geleitet se<strong>in</strong>, daß, wenn es sich beim<br />

k<strong>in</strong>dlichen Dase<strong>in</strong> sowie beim Dase<strong>in</strong> primitiver Völker um e<strong>in</strong><br />

menschliches Dase<strong>in</strong> handelt, ihm e<strong>in</strong> wesenhaft geschichtlicher<br />

Charakter zugrundeliegt, auch wenn wir <strong>die</strong>sen nicht ohne<br />

weiteres erkennen. Gleichwohl liegen hier Probleme ganz<br />

eigener Art, deren Problemcharakter wir kennenlernen werden.<br />

Man hat mich schon oft gefragt und meist im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />

E<strong>in</strong>wands, warum ich bei der Untersuchung des Dase<strong>in</strong>s nur den<br />

Tod <strong>in</strong> das Fragen e<strong>in</strong>beziehe und nicht auch <strong>die</strong> Geburt. Ich gehe<br />

so vor, weil ich eben nicht der Me<strong>in</strong>ung b<strong>in</strong>, daß <strong>die</strong>, Geburt<br />

lediglich das andere Ende des Dase<strong>in</strong>s ist, das <strong>in</strong> derselben Problemstellung<br />

behandelt werden könnte und dürfte wie der Tod.<br />

Man kann für <strong>die</strong> Untersuchung des Dase<strong>in</strong>s nicht ohne weiteres<br />

statt des Todes nun auch e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Geburt heranziehen, so wie<br />

e<strong>in</strong> Botaniker bei der Untersuchung e<strong>in</strong>er Pflanze statt von der<br />

Blüte auch e<strong>in</strong>mal vom anderen Ende, der Wurzel, anfangen<br />

kann. Gerade angesichts des Faktums der Geburt, das <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise nicht schlechth<strong>in</strong> h<strong>in</strong>ter uns liegt, gilt, daß dasjenige, was<br />

uns zunächst zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, was wir zuerst waren, <strong>in</strong> der Erkenntnis<br />

das Späteste ist. Zur Geburt müssen wir notwendig <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Rücklauf gehen, aber das ist nicht e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> Inversion<br />

des Se<strong>in</strong>s zum Tode. Für <strong>die</strong>sen Rücklauf bedarf es noch e<strong>in</strong>er<br />

ganz anderen Ausarbeitung deI""" Ausgangsstellung als für jeden<br />

§ 15. Entdeckendse<strong>in</strong> beim frühmenschlichen Dase<strong>in</strong> 125<br />

anderen Grenzgang im Dase<strong>in</strong>. Dasselbe gilt entsprechend für<br />

<strong>die</strong> Interpretation der K<strong>in</strong>dheit, wenn sie nicht lediglich irgendwelche<br />

psychologische oder pädagogische Absichten hat.<br />

Wenn wir uns ganz elementar <strong>die</strong> Art des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des<br />

im ersten Moment se<strong>in</strong>es Erdendase<strong>in</strong>s vergegenwärtigen,<br />

so ist es Schreien, zappelnde Bewegung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt, <strong>in</strong> den<br />

Raum-h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, ohne jedes Ziel und doch gerichtet auf ... Ziellosigkeit<br />

ist nicht Ungerichtetheit und Gerichtetheit ist nicht<br />

Ausrichtung auf e<strong>in</strong> Ziel, sondern Gerichtetheit heißt überhaupt<br />

auf zu ..., h<strong>in</strong> zu ..., weg von ...<br />

Was <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong> zunächst bestimmt, ist Ruhe, Wärme, Nahrung;<br />

Schlaf- und Dämmerzustand. Man hat daraus geschlossen,<br />

daß <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong> zuerst gewissermaßen noch <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>gerollt<br />

und e<strong>in</strong>geschlossen, das Subjekt noch gänzlich <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>gelegt<br />

sei. Schon <strong>die</strong>ser Ansatz ist grundverkehrt, sofern nämlich <strong>die</strong><br />

Reaktion des K<strong>in</strong>des - wenn wir mit <strong>die</strong>sem Ausdruck uns<br />

orientieren dürfen - den Charakter des Schocks, des Schrecks<br />

hat. Vielleicht ist der erste Schrei schon e<strong>in</strong> ganz bestimmter<br />

Schock. Schreck ist e<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dlichkeit auf Störung, e<strong>in</strong>e Urform<br />

des Innehaltens, e<strong>in</strong> Verhalten des Se<strong>in</strong>lassens von etwas,<br />

aber auch e<strong>in</strong> Be-stürztse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Betroffenheit von ..., wobei<br />

das Wovon des Betroffense<strong>in</strong>s noch verborgen ist. Diese Betroffenheit<br />

ist aber schon eben e<strong>in</strong>e Bef<strong>in</strong>dlichkeit. Das Wesen des<br />

Schocks kann man nur im Zusammenhang mit dem Phänomen<br />

des Schrecks und der Angst klarmachen. Der Schock bedeutet,<br />

daß das Sichbef<strong>in</strong>den gestört ist, daß e<strong>in</strong> Unbehagen e<strong>in</strong>tritt, das<br />

abgewehrt werden soll.<br />

Es ist nicht so, daß das K<strong>in</strong>d erst im Verlauf der ersten Wochen<br />

aus e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>geschlossenen Subjekt zu Objekten kommt, sondern<br />

es ist schon - und nicht erst, wenn es dem Dämmerzustand<br />

entrissen ist - h<strong>in</strong>aus zu ... gerichtet; es ist schon draußen<br />

bei ... E<strong>in</strong> irgend Seiendes ist dem K<strong>in</strong>d schon offenbar, obzwar<br />

noch ke<strong>in</strong> Verhalten zu <strong>die</strong>sem Seienden, ke<strong>in</strong>e Zuwendung<br />

erfolgt. Die Abkehr und Abwehr und <strong>die</strong>ses <strong>in</strong> sich zentrierende<br />

Bedürfnis nach Ruhe, Wärme, Schlaf hat e<strong>in</strong>en ganz eigentüm-


126 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

lichen negativen Charakter. Bevor <strong>die</strong>se Phänomene wie Abwehr,<br />

Abkehr, Gegenwehr nicht <strong>in</strong> ihrer ontologischen Struktur<br />

klargemacht s<strong>in</strong>d, können wir nicht anfangen, e<strong>in</strong>en solchen<br />

Zustand wie den des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen zu <strong>in</strong>terpretieren.<br />

Der Dämmerzustand, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> solches frühes Dase<strong>in</strong> ist, besagt<br />

nicht, daß noch ke<strong>in</strong> Verhältnis zum Seienden da wäre,<br />

sondern nur, daß <strong>die</strong>ses Sichverhalten zu ... noch ke<strong>in</strong> bestimmtes<br />

Ziel hat. Das Se<strong>in</strong> bei Seiendem ist gewissermaßen<br />

noch umwölkt, noch nicht aufgehellt, so daß <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong> noch<br />

ke<strong>in</strong>en bestimmten Gebrauch machen kann von dem Seienden,<br />

bei dem es immer schon se<strong>in</strong>em Wesen nach ist.<br />

Dem Dämmerzustand entrissen zu werden, heißt nicht, aus<br />

dem Subjektkreis h<strong>in</strong>ausgehen, sondern das Draußense<strong>in</strong><br />

bei ... entwölkt sich, wird hell und <strong>in</strong> der Helle geschieht das<br />

erste Sehen. Das Wobei geht dem Dase<strong>in</strong> auf. Dies ist e<strong>in</strong> Aufgehen<br />

des zuvor schon Habens.<br />

Die primäre Interpretation muß zunächst dabei beg<strong>in</strong>nen zu<br />

zeigen, wie sich <strong>die</strong> bloße Abkehr des K<strong>in</strong>des unterscheidet von<br />

e<strong>in</strong>er Abwehr. Die Abkehr ist e<strong>in</strong> bloßes Ausweichen vor ... ,<br />

aber im Ausweichen ist schon e<strong>in</strong>e bestimmte Abwehr, e<strong>in</strong> Abweisen<br />

von. . . Im Fliehen vor etwas ist schon e<strong>in</strong> Dagegen,<br />

aber noch nicht e<strong>in</strong> aktives; von der Abkehr und Abwe?r müssen<br />

wir <strong>die</strong> Gegenwehr unterscheiden, bei der <strong>die</strong> eigentliche<br />

Gegenbewegung, das Entgegenstellen e<strong>in</strong>setzt. Alle <strong>die</strong>se Phänomene<br />

der Intentionalität s<strong>in</strong>d zugleich derart, daß sie <strong>in</strong><br />

ihrem Vollzug <strong>die</strong> erste Situation, <strong>in</strong> der sich e<strong>in</strong> solches Dase<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der anfänglich hilflosen Auslieferung an <strong>die</strong> Welt bef<strong>in</strong>det,<br />

ausarbeiten.<br />

§ 16. Entdecktheit Von Vorhandenem und Offenbarkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s<br />

Es zeigte sich: Die Entdecktheit, Unverborgenheit (Wahrheit)<br />

von Vorhandenem steht und fäRt mit dem Entdeckendse<strong>in</strong> des<br />

§ 16. Entdecktheit und Offenbarkeit 127<br />

Dase<strong>in</strong>s, d.h. mit dessen Existenz. Die Wahrheit gehört demnach<br />

zum Dase<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>em wesenhaft entdeckenden. Sofern<br />

Dase<strong>in</strong> sich bei Vorhandenem aufhält, hält es sich <strong>in</strong> der Entdecktheit<br />

des Vorhandenen. Nun ergab sich früher, <strong>die</strong> Art und<br />

Weise, wie Wahrheit (Unverborgenheit des Vorhandenen) zum<br />

Dase<strong>in</strong> gehöre, sei notwendig e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> Wahrheit. Ist<br />

nun <strong>in</strong> der Tat das sich Halten <strong>in</strong> der Entdecktheit von Vorhandenem<br />

im Se<strong>in</strong> bei <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong> Sichteilen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit? Jedes<br />

Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem, auch das alle<strong>in</strong>ige, soll e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> sich schließen. Alle Entdecktheit von Vorhandenem<br />

soll ihrem Wesen nach solche se<strong>in</strong>, wore<strong>in</strong> sich Dase<strong>in</strong> mit anderen<br />

teilt, <strong>die</strong> Entdecktheit demnach solches, was das Dase<strong>in</strong><br />

nie gleichsam für sich, als e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>geschlossenen Besitz<br />

bei sich verschlossen hält. Alle Entdecktheit von Vorhandenem<br />

soll wesenhaft schon se<strong>in</strong> als geteilt mit ...<br />

S<strong>in</strong>d das nicht recht merkwürdige und willkürliche Thesen,<br />

denen <strong>die</strong> nackten Tatsachen e<strong>in</strong>fach widersprechen? Damit,<br />

daß jemand etwas festgestellt hat, etwas zuvor Unbekanntes<br />

entdeckt hat, wissen es doch noch nicht <strong>die</strong> anderen. Er kann<br />

doch ruhig <strong>die</strong> Wahrheit für sich behalten. Wie können wir also<br />

angesichts <strong>die</strong>ser unleugbaren Möglichkeit behaupten: Wahrheit<br />

über Vorhandenes ist notwendig etwas, wore<strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong><br />

mit anderen sich teilt?<br />

Angenommen, jemand macht e<strong>in</strong>e besondere Entdeckung,<br />

e<strong>in</strong>e seltene Pflanze und deren Standort; es könnte se<strong>in</strong>, daß der<br />

glückliche F<strong>in</strong>der se<strong>in</strong>en Fund zeitlebens für sich behält und nie<br />

e<strong>in</strong> anderer davon erfährt. Dann ist doch <strong>die</strong> seltene Pflanze und<br />

Ihr sonst unbekannter Standort offenbar geworden für <strong>die</strong>ses<br />

e<strong>in</strong>zelne Dase<strong>in</strong>, und <strong>die</strong>se Unverborgenheit gehört e<strong>in</strong>zig <strong>die</strong>sem<br />

Dase<strong>in</strong>; dann kann eben doch Unverborgenheit von Vorhandenem<br />

zu e<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>zelnem gehören.<br />

Behält der glückliche F<strong>in</strong>der <strong>die</strong> Wahrheit zeitlebens für sich,<br />

so heißt das doch, er behütet sie sorgsam vor anderen und hütet<br />

sich, sie anderen mitzuteilen. Dar<strong>in</strong> verrät sich schon, daß er<br />

<strong>die</strong>se Wahrheit mit anderen teilt, nur im Modus des Vorenthal-


132 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

Doch angenommen, wir hätten <strong>in</strong> dem Moment den verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Pfahl nicht <strong>in</strong>s Auge gefaßt, als er zur Bewegung ansetzte,<br />

- wir sehen ihn gerade noch <strong>in</strong> der Bewegung auf das Loch<br />

h<strong>in</strong> und dar<strong>in</strong> verschw<strong>in</strong>den. Und wenn wir etwas Bewegtes<br />

verfolgen, dann achten wir auf se<strong>in</strong>e Richtung, wir sehen faktisch<br />

also auch schon zugleich <strong>die</strong> Richtung, das, woraufzu<br />

<strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g sich bewegt, also das Loch, ne<strong>in</strong>, sondern <strong>die</strong> Haustür;<br />

von <strong>die</strong>ser von uns im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> mitgesehenen Haustür her<br />

als dem, woraufzu sich das D<strong>in</strong>g bewegt, erfassen wir ,ferner,<br />

was und wie <strong>die</strong>ses Seiende ist, d. h. wir erfassen, daß es den<br />

E<strong>in</strong>gang des Hauses benutzt, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Gebrauchmachen nicht<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en Ortswechsel vollzieht, sondern, wie wir sagen,<br />

sich benimmt. Gerade <strong>die</strong>ses Benehmen <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> Gebrauchsd<strong>in</strong>g<br />

ist es, was wir erfassen.<br />

Also weder e<strong>in</strong> bewegtes Vorhandenes, noch e<strong>in</strong>en bloßen<br />

Zwischenraum zwischen ihm und etwas anderem, und <strong>die</strong>ses<br />

andere als ke<strong>in</strong> Loch, noch aber all <strong>die</strong>ses nur zusammen ist das,<br />

was wir erfassen; was wir im Grunde erfassen, ist e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei<br />

Vorhandenem, d.h. <strong>die</strong>ses uns Unverborgene <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er spezifischen<br />

Unverborgenheit für jenes Se<strong>in</strong> bei ..., gleichsam, daß<br />

<strong>die</strong> Tür für jenes sich Bewegende Tür ist - <strong>die</strong> Tür <strong>in</strong> ihrer<br />

Unverborgenheit, <strong>in</strong> ihrer Entdecktheit für jenes sich Bewegende,<br />

<strong>die</strong>ses als entdeckendes Se<strong>in</strong> bei ... In <strong>die</strong>sem entdeckenden<br />

Se<strong>in</strong> beim Haus bekundet sich das Seiende als Dase<strong>in</strong>. Dieses<br />

Se<strong>in</strong> beim Haus aber ist für jenes Dase<strong>in</strong> (Bauer) selbst schon<br />

erschlossen.<br />

§ 17. Die qjJenbarkeit des Dase<strong>in</strong>s qua Da-se<strong>in</strong><br />

Wir haben e<strong>in</strong>e Reihe von Versuchen unternommen, das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

als Se<strong>in</strong> bei Selbigem aufzuhellen. Wir s<strong>in</strong>d dabei<br />

nicht direkt ans Ziel gelangt. Und doch s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Versuche<br />

nicht ergebnislos, sondern jedesmal ergaben sich uns E<strong>in</strong>sichten,<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> rechte Bewältiglffig der Aufgabe wesentlich s<strong>in</strong>d,<br />

§ 17. Die Offenbarkeit des Dase<strong>in</strong>s qua Da-se<strong>in</strong> 133<br />

so <strong>die</strong>, daß zu der <strong>in</strong> Frage stehenden Se<strong>in</strong>sart Wahrheit gehört,<br />

daß Dase<strong>in</strong> nicht identisch ist mit Subjekt, daß <strong>die</strong> Subjektivität<br />

bisher immer unterbestimmt war, so daß man glauben konnte,<br />

solche Wesens bestände der Subjektivität wie das Se<strong>in</strong> bei ...<br />

und das Mite<strong>in</strong>ander erst - auf Grund e<strong>in</strong>es unzulänglichen<br />

Subjektbegriffes - als nachträgliche Zugaben gew<strong>in</strong>nen zu können.<br />

Im Ganzen ergab sich demnach e<strong>in</strong>e mehrfache Auflockerung<br />

von Problemzusammenhängen, <strong>die</strong> wir künftig nicht so<br />

sehr erweitern als radikalisieren müssen. Für unsere nächste<br />

Absicht ist nun auch mit dem Bisherigen <strong>die</strong>jenige Vorbereitung<br />

gewonnen, mit deren Hilfe wir <strong>die</strong> positive Aufweisung der Art<br />

der Zugehörigkeit von Wahrheit qua Unverborgenheit des Vorhandenen<br />

zum Dase<strong>in</strong> wagen können.<br />

Unsere These, durch <strong>die</strong> das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e eigentümliche<br />

Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s gekennzeichnet werden soll,<br />

lautete: Unverborgenheit von Vorhandenem (Entdecktheit) ist<br />

ihrem Wesen nach solches, wore<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> mit Dase<strong>in</strong> sich teilt,<br />

mag e<strong>in</strong> anderes Dase<strong>in</strong> faktisch zugegen se<strong>in</strong> oder nicht, mag<br />

das andere Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrheit sich ausdrücklich zueignen oder<br />

nichtl. Unverborgenheit von Vorhandenem ist wesenhaft e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames,<br />

gehört nie e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen Dase<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>zelnem.<br />

Die Unverborgenheit steht <strong>in</strong> eigentümlicher Weise jedermann<br />

zur Verfügung. Jedes Dase<strong>in</strong> muß demnach als entdeckendes <strong>die</strong><br />

Entdecktheit des Entdeckten immer auch schon frei- und weggegeben<br />

haben. Die Unverborgenheit des Vorhandenen gehört<br />

nicht zum Vorhandenen, sondern zum Dase<strong>in</strong>; aber sie gehört<br />

dem Dase<strong>in</strong> derart, daß sie gleichwohl nicht als e<strong>in</strong>gehegter<br />

E<strong>in</strong>zelbesitz <strong>in</strong> ihm liegt. Die Unverborgenheit ist auch nicht<br />

etwa zunächst E<strong>in</strong>zelbesitz und dann weggegeben, sondern das<br />

Zum-Dase<strong>in</strong>-gehören ist e<strong>in</strong>e Weggabe. Wie ist dergleichen<br />

möglich und warum ist es notwendig so?<br />

Wir sahen: Das Vorhandene gibt sich als unverborgenes <strong>in</strong><br />

unserem Se<strong>in</strong> bei ..., sofern <strong>die</strong>ses von Hause aus entdeckend<br />

ist. Das Dase<strong>in</strong> kann gar nicht so neben und bei e<strong>in</strong>em Vorhandenen<br />

se<strong>in</strong>, wie e<strong>in</strong> Vorhandenes »bei« Vorhandenem ist; alles


134 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

und jedes Daneben-se<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> entdeckendes Se<strong>in</strong> bei ... , dar<strong>in</strong><br />

das Wobei <strong>in</strong> Entdecktheit gehalten ist. Das »bei« im Se<strong>in</strong><br />

bei ... ist e<strong>in</strong> wesenhaft sich öffnendes Offenes für .... Diesen<br />

Tatbestand haben wir nun schon mehrfach vor Augen gestellt,<br />

wenngleich er nichts an Wunderbarkeit verliert. Aber wir haben<br />

bislang immer nur auf das Wobei geachtet und daß <strong>die</strong>ses <strong>in</strong> und<br />

für unser Se<strong>in</strong> bei ... offenbar ist. Wir haben jedoch etwas nicht<br />

m<strong>in</strong>der Wesentliches geflissentlich übersehen: Dieses unser<br />

Se<strong>in</strong> bei ... selbst, wir als so seiend bei ... , s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit der<br />

Offenbarkeit des Vorhandenen »auch« offenbar. Auch wenn e<strong>in</strong><br />

Dase<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>. sich bei e<strong>in</strong>em Vorhandenen aufhält, ist se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong><br />

bei ... offenbar; und zwar auch dann, wenn das betreffende<br />

Dase<strong>in</strong> gar nicht sich selbst erlaßt und auf sich reflektiert, zurück-<br />

und umgewendet ist, auch dann, wenn es im Se<strong>in</strong> bei<br />

Vorhandenem nicht an sich denkt. Das Se<strong>in</strong> bei ... also ist offenbar<br />

vor aller Vergegenständlichung durch andere und für<br />

sich selbst.<br />

Dies ist durch <strong>die</strong> Aufweisung e<strong>in</strong>es elementaren Tatbestandes,<br />

dar<strong>in</strong> wir uns als Daseiende ständig bewegen, sichtbar zu<br />

machen, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Grade alltäglich und selbstverständlich<br />

ist, daß er gar nicht da zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Nehmen wir<br />

unser Beispiel: E<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> ist neben e<strong>in</strong>em Ste<strong>in</strong> vorhanden, so<br />

auch Dase<strong>in</strong> bei Dase<strong>in</strong>, Se<strong>in</strong> bei ... neben Se<strong>in</strong> bei ... ; ganz<br />

und gar nicht, sondern wenn e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> neben e<strong>in</strong> anderes<br />

Dase<strong>in</strong> tritt, so tritt das e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den Raum der Offenbarkeit des<br />

anderen, genauer ihr Se<strong>in</strong> bei ... bewegt sich <strong>in</strong> demselben<br />

Umkreis von Offenbarkeit. Was ist damit geme<strong>in</strong>t?<br />

Das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem ist nicht etwa so etwas wie e<strong>in</strong><br />

Fühler, den das Dase<strong>in</strong> nach den D<strong>in</strong>gen ausstreckt und dann<br />

wieder e<strong>in</strong>zieht, sondern Dase<strong>in</strong> heißt Se<strong>in</strong> bei ... ; aber <strong>die</strong>ses<br />

wesenhafte Se<strong>in</strong> bei den D<strong>in</strong>gen ist nun auch wieder nicht so<br />

etwas wie e<strong>in</strong>e ständig angebrachte Röhre, <strong>in</strong> deren Innerem,<br />

d.h. e<strong>in</strong>gekapselt, sich das Subjekt zu den D<strong>in</strong>gen h<strong>in</strong>ausschleicht,<br />

und so jedes Dase<strong>in</strong> für sich, je <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Röhre,<br />

sondern <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei ... ist-als solches offenbar; es ist nie<br />

§ lZ Die qjfenbarkeit des Dase<strong>in</strong>s qua Da-sem 135<br />

elllgeschlossen, auch nicht, wenn Dase<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> ist bei etwas,<br />

sondern das Se<strong>in</strong> bei ... ist wesenhaft derart, daß jederzeit <strong>in</strong> es<br />

_ als offenbares - anderes Dase<strong>in</strong> treten kann. Soll das verh<strong>in</strong>dert<br />

werden, dann muß Dase<strong>in</strong> sich erst verschließen, d. h. es ist<br />

zuvor schon offen und wesenhaft offen, weil Verschlossenheit<br />

Immer nur Privation ist.<br />

Das Se<strong>in</strong> bei entdecktem Vorhandenen ist als solches nie e<strong>in</strong>geschlossen,<br />

sondern Erschlossenes; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit dem zum Vorhandenen<br />

h<strong>in</strong> offenen Se<strong>in</strong> bei ... ist <strong>die</strong>ses selbst unverborgen,<br />

und umgekehrt: nur e<strong>in</strong> als solches selbst offenbares Se<strong>in</strong> ist<br />

Sem bei ... Es ist, was es ist, nämlich Se<strong>in</strong> bei ... , als sich<br />

erschließendes; zum Wesen <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>s gehört Sich-erschließen.<br />

Das Se<strong>in</strong> bei ... ist erschließend erschlossenes, und sofern<br />

das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem wesenhaft zum Dase<strong>in</strong> gehört, heißt<br />

das: Das Dase<strong>in</strong> ist als solches erschlossenes.<br />

Was heißt das aber? Das Dase<strong>in</strong> ist erschlossenes nicht erst auf<br />

Grund des Erfaßtse<strong>in</strong>s durch e<strong>in</strong> anderes (schon deshalb nicht,<br />

weIl Erfassen von Dase<strong>in</strong> heißt: Erfassen e<strong>in</strong>es Seienden, das<br />

von Hause aus erschlossen ist). Das Dase<strong>in</strong> erschließt sich selbst,<br />

also, wird man sagen, wenn nicht für andere, dann für sich.<br />

Dann haben wir <strong>die</strong> altbekannte Tatsache: Der Mensch hat Bewußtse<strong>in</strong><br />

von Objekten und hat dabei auch e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> von<br />

sIch, Selbstbewußtse<strong>in</strong>. Jedes Bewußtse<strong>in</strong> ist auch Selbstbewußtse<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong> Satz, der im deutschen Idealismus bis zum<br />

Uberdruß erörtert wurde, den auch Kant zugrundelegt und den<br />

schon Descartes kennt, lautet: cogito aliquid = cogito me cogitare<br />

aliquid. Wenn gerade der Bewußtse<strong>in</strong>sbegriff verh<strong>in</strong>dert<br />

hat, den rechten Begriff der Subjektivität zu gew<strong>in</strong>nen, dann ist<br />

alle kritische Vorsicht geboten, auch dann und gerade dann,<br />

wenn von Selbstbewußtse<strong>in</strong> gesprochen wird. Aber wir sahen:<br />

Im Se<strong>in</strong> bei ... liegt gar nicht notwendig e<strong>in</strong> Wissen um sich<br />

selbst, e<strong>in</strong>e Rückwendung auf sich; ja gerade das elementare<br />

und unverfälschte Se<strong>in</strong> bei ... geht <strong>in</strong> den D<strong>in</strong>gen auf und ist<br />

lllcht durch Reflexion beschwert. Gleichwohl müssen wir sagen:<br />

Es erschließt sich gerade dann. Sich-erschließen, das wir


136 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

vom Se<strong>in</strong> bei ... als Wesens bestimmung aussagen, heißt nicht<br />

notwendig, sich für sich zum Gegenstand machen, nicht e<strong>in</strong>mal,<br />

sich sich selbst offenbar machen.<br />

Wir sagen: Das entdeckende Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem erschließt<br />

sich. Das besagt weder: »Das Dase<strong>in</strong> wird durch andere und für<br />

andere offenbar«, noch heißt es: »Das Dase<strong>in</strong> erfaßt außer dem<br />

entdeckten Vorhandenen auch sich selbst«. Die These: »Das entdeckende<br />

Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem erschließt sich« besagt etwas<br />

weit Ursprünglicheres. Es heißt: Im Se<strong>in</strong> bei ... und als solches<br />

br<strong>in</strong>gt das Dase<strong>in</strong> gerade allererst so etwas wie e<strong>in</strong>en Umkreis<br />

von Offenbarkeit mit sich. Dieses Seiende, das wir nicht ohne<br />

Grund Da-se<strong>in</strong> nennen, läßt, sofern es existiert, d.h. läßt <strong>in</strong> und<br />

durch se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> dergleichen wie e<strong>in</strong> »Da« erst se<strong>in</strong>. Das Dase<strong>in</strong><br />

ist dasjenige Seiende, das so etwas wie e<strong>in</strong> »Da« ist. Das »Da«:<br />

e<strong>in</strong> Umkreis von Offenbarkeit, auf den zu allererst auch Vorhandenes<br />

offenbar, d.h. entdeckt se<strong>in</strong> kann.<br />

Das »Da« ist nicht e<strong>in</strong>e Stelle, e<strong>in</strong> Platz im Unterschied von<br />

e<strong>in</strong>em »dort«; Da-se<strong>in</strong> heißt nicht, hier statt dort se<strong>in</strong>, auch<br />

nicht hier und dort, sondern ist <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Ermöglichung<br />

von orientiertem Hier- und Dortse<strong>in</strong>. Das »Da« ist unter<br />

anderem der <strong>in</strong> sich aufgebrochene und dabei doch nicht zerbrochene<br />

Raum. Da-se<strong>in</strong> ist E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> den Raum, nicht etwa<br />

nur <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, wie e<strong>in</strong> materielles, ausgedehntes D<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>en<br />

Raum e<strong>in</strong>nimmt, sondern so, daß <strong>die</strong>ser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Raum-haftigkeit<br />

offenbar ist; aber Da-se<strong>in</strong> ist nicht nur das. Genauer: Der so<br />

erbrochene Raum ist nur e<strong>in</strong>e wesentliche Bestimmung des Da,<br />

an der wir e<strong>in</strong>en Wesensbestand des Seienden, das wir s<strong>in</strong>d,<br />

primär demonstrieren. Freilich ist es ke<strong>in</strong> Zufall, daß viele Bedeutungen<br />

der Sprache, <strong>die</strong> gar nichts Räumliches me<strong>in</strong>en,<br />

gleichwohl Raumbedeutung haben. Es wird hier sichtbar, daß<br />

der Raum <strong>in</strong> der Metaphysik e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt, <strong>die</strong><br />

freilich nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglichen Zusammenhang mit der<br />

radikal begriffenen Zeit zum Problem gemacht werden kann.<br />

Das Wesen des Raumes enthüllt ke<strong>in</strong>e Physik und ke<strong>in</strong>e Geometrie;<br />

<strong>die</strong>se bleiben ewig auBerhalb <strong>die</strong>ser Problematik und<br />

§ 18. Dase<strong>in</strong> und Mit-se<strong>in</strong> 137<br />

fassen nur, metaphysisch gesprochen, etwas dem Raum Gleichgültiges.<br />

Der Naturwissenschaft, der Physik zeigt sich nur e<strong>in</strong><br />

ganz entleerter Ableger se<strong>in</strong>er Problematik. Ganz anders dagegen<br />

vermag <strong>die</strong> Kunst als Plastik oder Malerei gewissermaßen<br />

dpn Raum zu erobern.<br />

Da-se<strong>in</strong> ist Seiendes, das wesenhaft sich erschließt; das heißt:<br />

es ist Seiendes, das <strong>in</strong> und mit se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> erst e<strong>in</strong>e Sphäre von<br />

Offenbarkeit aufbricht, nicht nachträglich und zuweilen, sondprn<br />

sofern es existiert. Es bildet (doppeldeutig) <strong>die</strong>se Sphäre<br />

von Offenbarkeit: es qua Da-se<strong>in</strong> macht sie aus und bildet sie<br />

aus. Mit der Existenz des Menschen geschieht <strong>die</strong>ser aufbrechende<br />

E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> das Seiende, dergestalt, daß Seiendes <strong>in</strong> den<br />

UmkreIS von Offenbarkeit als offenbares here<strong>in</strong>steht, <strong>in</strong> das<br />

offenbare Da, als welches das Dase<strong>in</strong> nun auch sich selbst f<strong>in</strong>den<br />

kann.<br />

§ 18. Dase<strong>in</strong> und Mit-se<strong>in</strong><br />

Das Se<strong>in</strong> bei . . . ist erschließend erschlossenes. Es br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong><br />

Sphäre des Da mit sich und bewegt sich <strong>in</strong> ihr. Wenn nun e<strong>in</strong><br />

anderes:Dase<strong>in</strong> faktisch zugegen ist, dann ist <strong>die</strong>ses nie lediglich<br />

auch da, sondern se<strong>in</strong>em Wesen nach mit da, und zwar ist es<br />

mcht auch seiend, sondern mit seiend, weil es Da-se<strong>in</strong> ist, sich <strong>in</strong><br />

denselben Umkreis von Offenbarkeit stellt. E<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> mag noch<br />

so ähnlich oder gleich mit e<strong>in</strong>em anderen se<strong>in</strong>, sie s<strong>in</strong>d doch nie<br />

mit vorhanden, d.h. Vorhandenes kann überhaupt nicht mit<br />

emem anderen se<strong>in</strong>. Dase<strong>in</strong> ist im Zugegense<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em andem<br />

nicht deshalb mit ihm, weil es auch so beschaffen ist wie<br />

das erste, sondern weil es Dase<strong>in</strong> ist, d. h. weil es, sofern es ist, e<strong>in</strong><br />

Da mit sich br<strong>in</strong>gt und als e<strong>in</strong> Da Mitbr<strong>in</strong>gendes notwendig so<br />

m den Umkreis des anderen tritt, daß sie <strong>die</strong>sen mit sich teilen.<br />

Das »Mit« ist nur dort, wo e<strong>in</strong> »Da« ist. Jedes der mehreren<br />

Sp<strong>in</strong> bei ... ist Mitse<strong>in</strong>; nicht der e<strong>in</strong>e und der andere ist bei<br />

Vorhandenem, sondern das E<strong>in</strong>ander ist e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander. Da-


138 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong> und Da-se<strong>in</strong> können gar nicht anders faktisch se<strong>in</strong>, als daß<br />

sie je das Da s<strong>in</strong>d, wobei der faktische räumliche Abstand der<br />

Plätze des Aufenthalts völlig unwesentlich ist. Je das Da heißt<br />

aber gerade schon: weggeben <strong>in</strong> den seI ben Umkreis von Offenbarkeit.<br />

Am Phänomen des Se<strong>in</strong>s bei ... wurde schon mehrfach betont,<br />

daß Dase<strong>in</strong> sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Innensphäre hält und durch<br />

irgendwelche Manipulationen doch etwas von dem Draußen<br />

erfährt; Dase<strong>in</strong> ist vielmehr als solches schon draußen bei ... ,<br />

aus sich herausgetreten, besser heraustretend; es ist qua Dase<strong>in</strong><br />

nie anders und das freilich, ohne dabei sich zu verlassen; <strong>die</strong>ses<br />

Heraustreten zu ... ist das Dase<strong>in</strong> selbst, se<strong>in</strong> Wesen. Es braucht<br />

»sich« nicht zu verlassen, weil es als Heraustreten eSßelbst ist.<br />

»Heraus«: dem sche<strong>in</strong>t nun doch e<strong>in</strong> »Innen« zu entsprechen.<br />

Gewiß, <strong>die</strong> Frage ist nur, wie es bestimmt wird und ob es so<br />

gefaßt werden muß, wie <strong>die</strong> überlieferte Lehre von der Immanenz,<br />

dem Innebleiben des Bewußtse<strong>in</strong>s es tut. Die Art und<br />

Weise, wie das Dase<strong>in</strong> bei sich ist, wird wesentlich mitbestimmt<br />

durch <strong>die</strong> Art, wie es als bei sich seiendes gleichwohl wesenhaft<br />

heraustretendes ist.<br />

Wenn nun aber Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> nie neben dem anderen<br />

existiert, dann heißt das: Jedes ist als wesenhaft heraustretendes<br />

auch schon e<strong>in</strong>getreten <strong>in</strong> <strong>die</strong> Offenbarkeit des, anderen. Sie<br />

halten sich notwendig, auch wenn sie sich nicht ume<strong>in</strong>ander<br />

kümmern, als Da-se<strong>in</strong>, das sie s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> derselben Sphäre von<br />

Offenbarkeit; <strong>die</strong>se qua Dase<strong>in</strong> mit sich br<strong>in</strong>gen, heißt: sie mitteilen<br />

mit Seiendem se<strong>in</strong>esgleichen. Im Wesen e<strong>in</strong>es Da-se<strong>in</strong>s<br />

liegt das Mit-se<strong>in</strong>, auch dann, wenn faktisch e<strong>in</strong> anderes Seiendes<br />

gar nicht existiert. Dase<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt schon <strong>die</strong> Sphäre möglicher<br />

Nachbarschaft mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar<br />

zu ... , während z. B. zwei Ste<strong>in</strong>e nicht benachbart se<strong>in</strong> können.<br />

Im Mit-se<strong>in</strong> liegt aber Weg- und Freigabe des Da - als offenbarer<br />

Aufgebrochenheit, <strong>in</strong> der Seiendes je nach se<strong>in</strong>er Art<br />

se<strong>in</strong>erseits sich bekunden kann.<br />

Demnach ist <strong>die</strong> Entdecktheit von Vorhandenem, <strong>die</strong> im ent-<br />

§ 18. Dase<strong>in</strong> und Mit-se<strong>in</strong> 139<br />

deckenden Se<strong>in</strong> bei ... erwächst, solches, was zur Erschlossenheit<br />

des Da gehört. Nur e<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem besagten S<strong>in</strong>n sich<br />

erschließendes Seiendes kann, ja muß entdeckend se<strong>in</strong>. Jede<br />

Entdecktheit von Vorhandenem ist daher - als zugehörig zur<br />

Erschlossenheit e<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s - notwendig auch schon weggegeben<br />

und geteilt, weil <strong>die</strong> Erschlossenheit des Da, d.h. das<br />

Da -se<strong>in</strong> notwendig Mit-se<strong>in</strong> ist. Entdeckendse<strong>in</strong> gehört zur Erschlossenheit<br />

und somit zum Da-se<strong>in</strong>. Weil sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise<br />

zum Da-se<strong>in</strong> gehört und weil zur Erschlossenheit des Se<strong>in</strong>s Geme<strong>in</strong>sames<br />

und deshalb Anzeige des Mitse<strong>in</strong>s gehört, gerade<br />

deshalb ist sie nicht und nie e<strong>in</strong>gehegt, E<strong>in</strong>zelbesitz, sondern im<br />

sIch erschließenden Mit-se<strong>in</strong> solches, wore<strong>in</strong> sich jedes Dase<strong>in</strong><br />

schon teilt mit ...<br />

So ist <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s als e<strong>in</strong>er<br />

wesenhaften Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s aufgehellt. Dabei wurde gesehen,<br />

wie Wahrheit qua Unverborgenheit des Vorhandenen für<br />

em Mite<strong>in</strong>ander konstitutiv ist und ursprünglich zum Dase<strong>in</strong><br />

gehört, <strong>in</strong> der Weise, daß Entdecktheit ihrerseits nur möglich ist<br />

<strong>in</strong> der Erschlossenheit des Dase<strong>in</strong>s, d.h. derjenigen Unverborgenheit,<br />

<strong>die</strong> das Seiende, das wir Dase<strong>in</strong> nennen, mit sich br<strong>in</strong>gt.<br />

Wir haben das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> als Wesensstruktur des Dase<strong>in</strong>s<br />

'sichtbar gemacht, und zwar auf e<strong>in</strong>em bestimmten, mit<br />

Absicht gewählten Wege, der notwendig e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>seitigkeit <strong>in</strong><br />

sich schließt, <strong>die</strong> aber gleichwohl nicht <strong>in</strong>s Gewicht fällt. Auf<br />

<strong>die</strong>se, sche<strong>in</strong>bare E<strong>in</strong>seitigkeit müssen wir jetzt kurz zu sprechen<br />

kommen, weil sich leicht Mißverständnisse festsetzen können<br />

und weil <strong>die</strong> Bestimmung des Mite<strong>in</strong>ander als Wesensbestimmung<br />

des Dase<strong>in</strong>s zum Teil unterschätzt, zum Teil überschätzt<br />

wird.<br />

Wir haben das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> demonstriert an e<strong>in</strong>em<br />

nächstgelegenen Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei der vorhandenen Kreide.<br />

Gewiß wird Sie schon mehrfach der E<strong>in</strong>wand bewegt haben:<br />

Das Se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em selbigen Vorhandenen mag zwar e<strong>in</strong>en »Modus


140 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

lockeres Mite<strong>in</strong>ander. Gewiß, aber das verschlägt nichts dagegen,<br />

daß auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen lockeren Mite<strong>in</strong>ander se<strong>in</strong><br />

Wesen sichtbar wird bzw. e<strong>in</strong> Wesensstück. Denn das Se<strong>in</strong> bei<br />

e<strong>in</strong>em Selbigen ist, streng genommen, nicht e<strong>in</strong> Modus des<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s, also e<strong>in</strong>e besondere Art unter vielen anderen,<br />

sondern e<strong>in</strong> Wesens bestand e<strong>in</strong>es jeglichen Mite<strong>in</strong>ander; d. h.<br />

unser Se<strong>in</strong> bei der Kreide, dem Schwamm und dem, was hier<br />

vorhanden ist, gehört wesenhaft zu unserem Mite<strong>in</strong>ander, das<br />

noch durch anderes konstituiert wird - me<strong>in</strong>e Vorlesung, Ihr<br />

Hören derselben; aber zu <strong>die</strong>sem gehört das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem,<br />

wenn auch nicht notwendig gerade <strong>die</strong>ses; auch draußen<br />

im Gebirge irgendwo ist das Mite<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ...<br />

solchem, was da gerade offenbar ist am jederzeit Vorhandenen.<br />

Nun hörten wir schon: In dem traditionellen Subjektbegriff<br />

wird das Se<strong>in</strong> bei ... ausgelassen; es ist auch, wie wir noch sehen<br />

werden, noch nicht dadurch als Wesensmoment der Subjektivität<br />

gefaßt, wenn man das Subjekt als <strong>in</strong>tentionales Bewußtse<strong>in</strong><br />

nimmt. Intentionalität gew<strong>in</strong>nt nicht ihre wahre und zentrale<br />

Auswirkung, solange »Bewußtse<strong>in</strong>« bleibt und nicht gerade mit<br />

Hilfe der Intentionalität <strong>die</strong> Interpretation des Menschen vom<br />

Bewußtse<strong>in</strong> her gesprengt wird. Weil nun aber das Subjekt<br />

gleichsam beschnitten um <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei ... gedacht wird, e<strong>in</strong><br />

Rumpfsubjekt, kommt auch <strong>die</strong> Frage nach dem Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong><br />

und dessen Wesen auf e<strong>in</strong>e verkehrte Bahn. Weil beide<br />

Subjekte unterbestimmt s<strong>in</strong>d, muß gleichsam für <strong>die</strong> Vermittlung<br />

beider e<strong>in</strong>e reichere Veranstaltung getroffen werden, als<br />

dem Wesen nach notwendig ist. Die Unterbestimmung der Subjektivität<br />

verursacht e<strong>in</strong>e Überbestimmung der Beziehung von<br />

Subjekt zu Subjekt. Denn jetzt hat man zwei Subjekte - aber<br />

zunächst so, daß noch ke<strong>in</strong>e Kommunikation möglich ist - und<br />

orientiert das Problem darauf, wie <strong>die</strong>se beiden Rumpfsubjekte<br />

zusammenkommen.<br />

Das Subjekt, das man dabei sicher zu haben me<strong>in</strong>t, ist das<br />

eigene Ich, das Ich-Subjekt, das freilich nicht als alle<strong>in</strong>iges <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> angesetzt wiord; das andere wird daher zum<br />

§ 18. Dase<strong>in</strong> und Mit-se<strong>in</strong> 141<br />

Du-Subjekt, bei dem gleichfalls jene Bestimmung fehlt, d. h. e<strong>in</strong><br />

zweites- Ich. Nun erhebt sich <strong>die</strong> Frage, wie e<strong>in</strong> erstes Ich zu<br />

e<strong>in</strong>em zweiten Ich kommt, und wie durch <strong>die</strong>ses Zusammenkommen<br />

zweier Iche e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander entsteht. Wenn <strong>die</strong>se<br />

bei den zusammen s<strong>in</strong>d, läßt man sie beratschlagen, wie sie sich<br />

zu e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen D<strong>in</strong>g draußen verhalten können. Das<br />

Problem des Mite<strong>in</strong>ander wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ansatz das Problem<br />

der sogenannten Ich-Du-Beziehung, und <strong>die</strong> Weise der Konstitution<br />

derselben bezeichnet man als E<strong>in</strong>fühlung; sie ist das<br />

Fenster, durch das gleichsam e<strong>in</strong> Subjekt, das sich jeweils <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Gehäuse bef<strong>in</strong>det, zum anderen h<strong>in</strong>übersteigt.<br />

Aber sofern überhaupt das Mite<strong>in</strong>ander als Problem auf den<br />

Nenner der »E<strong>in</strong>fühlung« gebracht wird, ist - wie immer E<strong>in</strong>fühlung<br />

gefaßt werden mag - <strong>die</strong> entscheidende E<strong>in</strong>sicht nicht<br />

gewonnen, daß das Mite<strong>in</strong>ander zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s als<br />

solchem schon gehört, so zwar, daß <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong> als solches<br />

auch schon Se<strong>in</strong> bei ... ist.<br />

Dase<strong>in</strong> ist Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bei ... Wenn so das Mite<strong>in</strong>ander<br />

als zum Wesen jedes Dase<strong>in</strong>s gehörig gefaßt wird, so heißt das<br />

nicht, es sei ke<strong>in</strong> Problem, im Gegenteil, wir zeigen ja, wie nun<br />

gerade nach der <strong>in</strong>neren Möglichkeit des Mite<strong>in</strong>ander gefragt<br />

werden muß und wie <strong>die</strong>se Frage aus der Aufhellung des Dase<strong>in</strong>s<br />

als solchem ihre Antwort f<strong>in</strong>det.<br />

Nur weil jedes Dase<strong>in</strong> als solches von Hause aus - wie, wurde<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht gezeigt - e<strong>in</strong> Mitse<strong>in</strong> ist, d. h. Mite<strong>in</strong>ander, nur<br />

deshalb ist menschliche Geme<strong>in</strong>schaft und Gesellschaft möglich,<br />

<strong>in</strong> den verschiedenen Abwandlungen, Stufen und Graden<br />

der Echtheit und Unechtheit, Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit.<br />

Ob nicht aber das Se<strong>in</strong> bei ... doch e<strong>in</strong>en Vorrang hat? Wie<br />

läßt sich daraus das Mitdase<strong>in</strong> herausklauben, nämlich als<br />

Apriori des dar<strong>in</strong> (im Mitse<strong>in</strong>) Verstandenen? Es kann immer<br />

nur gezeigt werden, wie e<strong>in</strong> anderer als solcher ontisch erkannt<br />

wird. Aber selbst hierzu ist Husserls Weg ungangbar, erstens<br />

weil er noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e idealistisch unklar gedachte ego logische


142 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

Sphäre gebannt bleibt, und zweitens weil er am puren D<strong>in</strong>gund<br />

Datenerfassen orientiert ist statt an konkreten Existenzbezügen.<br />

Wenn man das Se<strong>in</strong> bei ... ganz weit faßt, als Se<strong>in</strong> bei »Anderem«,<br />

<strong>in</strong>different Seiendem, das wir nicht s<strong>in</strong>d, so ist eben<br />

<strong>die</strong>se Indifferenz nicht <strong>die</strong> Unbestimmtheit der Leere, sondern<br />

der Fülle; man nimmt dann den im Mitse<strong>in</strong> liegenden Entwurf<br />

schon h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Daß Mitse<strong>in</strong> mit ... Vorrang hat, belegt sich aus<br />

dem faktischen Verhältnis, wonach gerade der »Primitive« das<br />

»andere«, auch D<strong>in</strong>ge, personifiziert, lebendig nimmt.<br />

§ 19. Leibniz' Monadologie und <strong>die</strong> Interpretat(on<br />

des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s<br />

Das Problem des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s ist nicht erst e<strong>in</strong>e Frage der<br />

Beziehung von Subjekt zu Subjekt, sondern vordem e<strong>in</strong> Problem,<br />

das zur Wesensbestimmung e<strong>in</strong>es Subjekts als solchem<br />

gehört. Fakten des Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s waren immer bekannt.<br />

Schon Aristoteles spricht vom Menschen als ~ov JtOAL1:tXOV,<br />

e<strong>in</strong>em Lebewesen, das <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft se<strong>in</strong> kann. Nur.weil der<br />

Mensch e<strong>in</strong> solches Wesen ist, kann er auch e<strong>in</strong> Herdentier se<strong>in</strong>,<br />

wie Nietzsche zu sagen pflegt. Dieses Problem, der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

wurde also immer schon <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong>, im besonderen<br />

<strong>in</strong> der Ethik abgehandelt, aber als Problem der Metaphysik<br />

des Dase<strong>in</strong>s wurde es nicht gestellt.<br />

Nur <strong>in</strong>direkt und zum ersten Male wird bei Leibniz der gegenseitige<br />

Verkehr der Subjekte zur Frage <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Monadologie«!.<br />

Es geschieht <strong>in</strong>direkt, denn auch hier ist das erste <strong>die</strong><br />

[ Zu Leibniz »Monadologie« und <strong>die</strong> Interpretation des Mltemandersems<br />

vgl. LogIk-Vorlesung Sommersemester 1928, Manusknptselten 25-35. (Martm<br />

Heidegger, MetaphYSIsche Anfangsgrunde der LogIk 1m Ausgang von LeIbmz<br />

Marburger Vorlesung Sommersemester 1928. Gesamtausgabe Band 26, herausgegeben<br />

von Klaus Held. Frankfurt a. M. 1978; 2., durchgesehene Aufl<br />

1990. S. 86-122.)<br />

§ 19. Leibniz' Monadologte und das Mitemanderse<strong>in</strong> 143<br />

Bestimmung des Subjektbegriffes im traditionellen S<strong>in</strong>n als<br />

Rumpfsubjekt, aber freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er wesentlichen Vertiefung<br />

und Erweiterung. Zufolge <strong>die</strong>ser monadologischen InterpretatlOn<br />

des Subjekts kommt Leibniz zu e<strong>in</strong>er bestimmten Auffassung<br />

über das mögliche Commercium der Subjekte, ihren<br />

Verkehr unter sich. Das Mite<strong>in</strong>ander von Mensch und Mensch<br />

1st e<strong>in</strong> Fall des Verkehrs von Substanzen überhaupt.<br />

Die Leibnizsche »Monadologie« können wir nur kurz vornehmen,<br />

um gegen sie <strong>die</strong> vorstehende Interpretation des<br />

Dase<strong>in</strong>s und Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>s abzuheben und so das Gesagte<br />

durch Vergleich zusammenfassend zu verdeutlichen. Freilich<br />

heße sich auch zeigen, wie <strong>die</strong> »Monadologie« gerade erst den<br />

Reichtum und <strong>die</strong> Tiefe der Konzeption offenbart, wenn man<br />

sie nicht nur von dem traditionellen Subjektbegriff aus zu fassen<br />

sucht, den Leibniz selbst durch <strong>die</strong> »Monadologie« so wenig<br />

uberwunden hat, daß er ihn gerade hierzu voraussetzt. Von dem<br />

abgesehen, ist aber <strong>die</strong> Leibnizsche Monade e<strong>in</strong>e der kühnsten<br />

Ideen, <strong>die</strong> überhaupt seit Platon <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> lebendig<br />

wurden.<br />

Leibniz bezeichnet <strong>die</strong> Substanzen als Monaden - griechisch<br />

monas = E<strong>in</strong>heit -, als E<strong>in</strong>heiten. E<strong>in</strong>heit bedeutet: E<strong>in</strong>fachheit,<br />

das Ursprüngliche, das Ganze Bestimmende, E<strong>in</strong>zelheit; "tObE n,<br />

AristoteIes' ouaLa. EV - öv - ouaLa, vgl. Metaphysik r 2, 1003 b<br />

23/b 32. Jedes Seiende als Seiendes ist nach der antiken Lehre<br />

bel Platon und Aristoteles jeweils E<strong>in</strong>es; es ist durch e<strong>in</strong>e ganz<br />

spezifische E<strong>in</strong>heit konstituiert. Nach Leibniz ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser spezifischen<br />

E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>es jeden Seienden se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> eigentlich<br />

begründet. Monas ist für Leibniz das ursprünglich E<strong>in</strong>heit gebende,<br />

e<strong>in</strong>igende E<strong>in</strong>fache und als e<strong>in</strong>igendes Vere<strong>in</strong>zelndes.<br />

Deshalb bezeichnet er jedes für sich Seiende im H<strong>in</strong>blick auf<br />

dIese primäre Bestimmung der E<strong>in</strong>heit als Monade: <strong>die</strong> vorweg<br />

und e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>igende und <strong>in</strong>e<strong>in</strong>s damit vere<strong>in</strong>zelnde E<strong>in</strong>heit.<br />

Das Problem der Monade ist also nichts anderes als das wiederaufgenommene<br />

Problem der Substanzialität der Substanz<br />

oder, wie wir auch sagen können, der Subjektivität des Subjekts;


144 Wahrheit - Dasem - Mit-sem<br />

denn Subjekt heißt bei Leibniz, wie im Grunde auch noch bei<br />

Kant, subiectum, das Zugrundeliegende, U:n:OXdftEVOV, das, was<br />

von sich her ist. Nach Leibniz s<strong>in</strong>d alle Monaden, alle - auch <strong>die</strong><br />

körperlichen - Substanzen, also <strong>die</strong> Elementarteilchen e<strong>in</strong>es<br />

Körpers, beseelt.<br />

Daß <strong>die</strong> Monade beseelt ist, heißt: monas hat vis, Drang,<br />

nisus; appetitus, repraesentatio. Von Grund aus ist sie e<strong>in</strong>igend,<br />

vorweg <strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit nehmend und haltend, was sie vorstellt; jede<br />

Monade spiegelt je das Ganze des Seienden, aber jede von verschiedenem<br />

Augenpunkt her und verschieden nach Graden der<br />

Wachheit. Es gibt dumpfe, dämmernde, schlafende Monaden,<br />

<strong>die</strong> das Körperliche als solches konstituieren. Von <strong>die</strong>sen gibt es<br />

e<strong>in</strong>e Stufenleiter bis zur Zentralmonade Gott, Gott im S<strong>in</strong>ne der<br />

christlichen Theologie gedacht. Von da aus versteht man, weshalb<br />

Leibniz jede Monade als e<strong>in</strong> speculum vitale, e<strong>in</strong>en lebendigen<br />

Spiegel bezeichnet.<br />

Die Monade verschafft sich im Drang selbst, <strong>in</strong> dem, was und<br />

wie sie ist, jeweils <strong>die</strong>sen Anblick des Ganzen, gesehen aus<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Augenpunkt. Sofern jede Monade aus e<strong>in</strong>em<br />

bestimmten Augenpunkt von sich aus das Ganze vorstellt, ist sie<br />

<strong>in</strong> gewisser Weise das Universum. Daher bezeichnet Leibniz <strong>die</strong><br />

Monade als mundus concentratus.<br />

Jede Monade vere<strong>in</strong>zelt als solche sich selbst; jede Monade ist<br />

je für sich das Ganze »bildend«. Auch das Dase<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Menschen<br />

werden als Monaden gefaßt. Aus sich bildend bedürfen sie wesenhaft<br />

nicht des Empfangens, <strong>in</strong> ihrem Wesen liegt ke<strong>in</strong>e<br />

Receptivität von außen. Monaden haben ke<strong>in</strong>e Fenster, weil sie<br />

ke<strong>in</strong>e brauchen; sie brauchen ke<strong>in</strong>e, weil sie alles <strong>in</strong> sich haben,<br />

schlechth<strong>in</strong> geschlossen s<strong>in</strong>d, nicht offen. Sie bedürfen ke<strong>in</strong>es<br />

Kommerziums, ke<strong>in</strong>es Bezugs zu anderen, sondern <strong>in</strong> allen ist je<br />

das Ganze und alle s<strong>in</strong>d durch das Ganze im S<strong>in</strong>ne der höchsten<br />

Monade als entia creata. »E<strong>in</strong>fühlung« dagegen gibt der Monade<br />

Fenster, ja <strong>die</strong> E<strong>in</strong>fühlung ist gleichsam das Fenster.<br />

Dagegen besagt unsere Interpretation mit Leibniz: Die Monade,<br />

das Dase<strong>in</strong> hat ke<strong>in</strong>e Fenster, weil sie ke<strong>in</strong>e braucht. Aber<br />

§ 20. Gememschaft auf dem Grunde des Mite<strong>in</strong>ander 145<br />

<strong>die</strong> Begründung ist verschieden: Die Menschen brauchen ke<strong>in</strong>e,<br />

nicht, weil sie nicht h<strong>in</strong>aus zu gehen brauchen, sondern weil sie<br />

wesenhaft schon draußen s<strong>in</strong>d. Diese Begründung aber ist Index<br />

emer total anderen Wesensbestimmung des Subjekts. Es gilt<br />

nicht, den monadologischen Ansatz zu ergänzen und durch E<strong>in</strong>fuhlung<br />

zu verbessern, sondern zu radikalisieren.<br />

§ 20. Geme<strong>in</strong>schaft auf dem Grunde des Mite<strong>in</strong>ander<br />

Auf dem Grunde des Mite<strong>in</strong>ander wird Geme<strong>in</strong>schaft möglich,<br />

aber nicht konstituiert erst e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft von Ichen das<br />

Mite<strong>in</strong>ander. »Konstitution« des Mite<strong>in</strong>ander ist zweideutig,<br />

Wie der Begriff der Konstitution es leicht wird; a) besagt er, wie<br />

1m Neukantianismus, Aufbau im S<strong>in</strong>ne des Entstehenlassens<br />

aus e<strong>in</strong>fachen, freilich nicht psychologischen Elementen; dann<br />

wird er hier zum m<strong>in</strong>desten s<strong>in</strong>nlos; b) besagt er aber Nachweis<br />

des <strong>in</strong> sich immer schon ganzen und unzerteilbaren Wesensbaues;<br />

dann ist er berechtigt, aber freilich im methodischen Charakter<br />

zu begründen. Das Mite<strong>in</strong>ander ist nicht als etwas<br />

Elementares herzuleiten, wohl aber muß es h<strong>in</strong>sichtlich der ihm<br />

zugehörigen Wesensbestände, <strong>die</strong> alle gleichursprünglich s<strong>in</strong>d,<br />

aufgehellt werden. Innerhalb <strong>die</strong>ses Wesensbestandes, der zu<br />

Jedem e<strong>in</strong>zelnen Dase<strong>in</strong> gehört, bleibt für »E<strong>in</strong>fühlung« ke<strong>in</strong><br />

Platz. Denn wenn <strong>die</strong>ses Wort überhaupt noch e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n haben<br />

soll,1 dann nur auf Grund der Voraussetzung, daß eben das »Ich«<br />

zunächst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ichsphäre se<strong>in</strong> kann und dann von da <strong>in</strong> den<br />

anderen und dessen Sphäre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> muß. Das »Ich« bricht weder<br />

erst aus sich heraus (aus dem Fenster), weil es schon draußen ist,<br />

noch bricht es <strong>in</strong> den anderen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, weil es sich mit <strong>die</strong>sem<br />

schon draußen trifft und da gerade, wie sich zeigen läßt, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em echten S<strong>in</strong>ne.<br />

Das Mite<strong>in</strong>ander ist also nicht durch <strong>die</strong> Ich-Du-Beziehung<br />

und aus ihr zu erklären, sondern umgekehrt: Diese Ich-Du­<br />

Beziehung setzt für ihre <strong>in</strong>nere Möglichkeit voraus, daß je schon


146 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

das Dase<strong>in</strong>, sowohl das als Ich fungierende als auch das Du, als<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> bestimmt ist, ja noch mehr: Sogar <strong>die</strong> Selbsterfassung<br />

e<strong>in</strong>es Ich und der Begriff von Ichheit erwächst erst auf<br />

dem Grunde des Mite<strong>in</strong>ander, aber nicht als Ich-Du-Beziehung.<br />

Es ist gleich irrig, das Mite<strong>in</strong>ander erst von e<strong>in</strong>em Ichrumpf<br />

aus entstehen zu lassen, wie zu me<strong>in</strong>en, <strong>die</strong> Ich-Du-Beziehung<br />

sei <strong>die</strong> Basis, um von ihr aus das Dase<strong>in</strong> als solches zu bestimmen;<br />

statt des egoistischen solipsistischen Ansatzes e<strong>in</strong> Altruismus<br />

- so wird der Fehler nur verdoppelt, und es gibt e<strong>in</strong>en<br />

Solipsismus zu zweien. Ebenso irrig ist es, das Mite<strong>in</strong>ander als<br />

alle<strong>in</strong>iges Pr<strong>in</strong>zip anzusehen.<br />

In se<strong>in</strong>em Wesen ist das Seiende, das wir je s<strong>in</strong>d, der Mensch,<br />

e<strong>in</strong> Neutrum. Wir nennen <strong>die</strong>ses Seiende: das Dase<strong>in</strong>. Aber zum<br />

Wesen <strong>die</strong>ses Neutrums gehört es, daß es, sofern es je faktisch<br />

existiert, notwendig se<strong>in</strong>e Neutralität gebrochen hat, d.h. das<br />

Dase<strong>in</strong> ist als faktisches je entweder männlich oder weiblich, es<br />

ist Geschlechtswesen; das schließt e<strong>in</strong> ganz bestimmtes Mitund<br />

Zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>. Die Grenze und Weite der Auswirkung<br />

<strong>die</strong>ses Charakters ist faktisch je verschieden; es läßt sich<br />

nur zeigen, welche Möglichkeiten der menschlichen Existenz<br />

nicht notwendig durch das Geschlechtsverhältnis oestimmt<br />

s<strong>in</strong>d. Alle<strong>in</strong>, gerade <strong>die</strong>ses Geschlechtsverhältnis ist nur möglich,<br />

weil das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er metaphysischen Neutralität<br />

schon durch das Mite<strong>in</strong>ander bestimmt ist. Wäre nicht schon<br />

jedes Dase<strong>in</strong>, das faktisch je männlich oder weiblich ist, se<strong>in</strong>em<br />

Wesen nach mite<strong>in</strong>ander, dann bliebe e<strong>in</strong> Geschlechtsverhältnis<br />

als menschliches schlechth<strong>in</strong> unmöglich.<br />

Es ist daher der gröbste Widers<strong>in</strong>n, der sich ausdenken läßt,<br />

wenn man versucht, das Mite<strong>in</strong>ander als Wesensbestimmung<br />

des Dase<strong>in</strong>s umgekehrt aus dem Geschlechtsverhältnis zu erklären.<br />

Ludwig Feuerbach hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bl<strong>in</strong>den und unzureichenden<br />

Opposition gegen den deutschen Idealismus <strong>die</strong>sen<br />

Irrtum aufgebracht, e<strong>in</strong>en Irrtum, den man heute zu erneuern<br />

versucht, der aber nicht dadurch zur Wahrheit wird, daß man<br />

<strong>die</strong> groben Materialismen Feueri>achs mit Hilfe der heutigen<br />

§ 20. Geme<strong>in</strong>schaft auf dem Grunde des Mite<strong>in</strong>ander 147<br />

Phänomenologie schmackhafter zu machen sucht. Die Grundthese<br />

der Feuerbachsehen Anthropologie, se<strong>in</strong>er Lehre vom<br />

:vIenschen, lautet: Der Mensch ist, was er ißt. Diese These hat<br />

etwas Richtiges - aber immer, wenn etwas Halbwahres zu<br />

e<strong>in</strong>em universalen Pr<strong>in</strong>zip erklärt wird, entsteht Verwirrung.<br />

Zum Wesen des Menschen gehört <strong>die</strong>se gebrochene Neutralität<br />

se<strong>in</strong>es Wesens, d. h. aber, <strong>die</strong>ses Wesen kann nur primär von<br />

der Neutralität aus zum Problem gemacht werden, und nur mit<br />

Bezug auf <strong>die</strong>se Neutralität ist der Bruch der Neutralität selbst<br />

möglich. In <strong>die</strong>sem Problem ist <strong>die</strong> Geschlechtlichkeit nur e<strong>in</strong><br />

Moment und.zwar nicht das Primäre (Geworfenheit). Weil nun<br />

das Dase<strong>in</strong> als leibliches existiert, unterliegt <strong>die</strong> faktische Erfassung<br />

des anderen durch den e<strong>in</strong>en und des e<strong>in</strong>en durch den<br />

anderen bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen; aber <strong>die</strong> leiblich mitbed<strong>in</strong>gten<br />

Bezüge des Erfassens von Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> konstituieren<br />

nicht das Mite<strong>in</strong>ander, sondern setzen es voraus und s<strong>in</strong>d ihrerseits<br />

dadurch bestimmt.<br />

Um nun von Anfang deutlich zu machen, daß das Mite<strong>in</strong>ander<br />

primär weder auf dem Wege über e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>zeltes Ich<br />

zustande kommt, noch aus dem Ich-Du-Verhältnis erklärt werden<br />

kann, wurde <strong>die</strong> Analyse im Se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em Vorhandenen<br />

angesetzt. Aber wenn das Se<strong>in</strong> bei ... e<strong>in</strong> Wesensmoment des<br />

Mite<strong>in</strong>ander ist, dann muß das Se<strong>in</strong> bei ... auch bestimmend<br />

bleiben für <strong>die</strong> verschiedenen faktischen Möglichkeiten des<br />

Mite<strong>in</strong>ander, der Geme<strong>in</strong>schaft beispielsweise.<br />

Wir wissen zur Genüge, daß z.B. echte und große Freundschaft<br />

weder dadurch entsteht noch dar<strong>in</strong> besteht, daß e<strong>in</strong> Ich<br />

und e<strong>in</strong> Du <strong>in</strong> ihrer Ich-Du-Beziehung e<strong>in</strong>ander rührselig anschauen<br />

und sich mit ihren belanglosen Seelennöten unterhalten,<br />

sondern daß sie wächst und standhält <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er echten<br />

Leidenschaft für e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Sache, was nicht ausschließt,<br />

sondern vielleicht fordert, daß jeder je se<strong>in</strong> verschiedenes Werk<br />

hat und verschieden zu Werke geht. Es sei nur an <strong>die</strong> Freundschaft<br />

zwischen Goethe und Schiller er<strong>in</strong>nert.<br />

Andererseits ist nicht entscheidend, was e<strong>in</strong>er treibt, sondern


148 Wahrheit - Dase<strong>in</strong> - Mit-se<strong>in</strong><br />

wie<br />

.<br />

er es tut; aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Wie kann er n<br />

ur eXlstIeren,<br />

wenn er e<strong>in</strong> Was ergriffen hat, das durch das WIe<br />

durch waltet werden<br />

.<br />

soll. Immer aber ist das Se<strong>in</strong> bei Ge<br />

melh<br />

.<br />

samem wesentlIch für das Mite<strong>in</strong>ander.<br />

Freilich<br />

.<br />

ist<br />

.<br />

damit <strong>die</strong> Interpretation des Wesens des M·t<br />

1 elhand~rsems<br />

mcht erschöpft; <strong>in</strong> welcher Richtung sie auszuarbel_<br />

.<br />

ten 1st und uns noch beschäftigen wird, wurde schon deutlich<br />

Das Seiende qua Mensch ist solches, das se<strong>in</strong> »Da« mit sich·<br />

br<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong> Offenbarkeit, <strong>in</strong>nerhalb deren zuerst das Dase<strong>in</strong> aus<br />

drücklieh zu sich selbst sich verhalten und <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Weisen es selbst se<strong>in</strong> kann. Selbst und Ich s<strong>in</strong>d nicht das Gleiche.<br />

Dieses Selbstse<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s aber kommt wiederum nicht erst<br />

zustande durch Reflexion auf sich, auch das reflexionslose Aufgehen<br />

bei etwas ist e<strong>in</strong> Selbstse<strong>in</strong>. Daraus wird schon deutlich<br />

daß Dase<strong>in</strong> gleichursprünglich immer schon Se<strong>in</strong> bei ..., Mit:<br />

se<strong>in</strong> und Selbstse<strong>in</strong> ist. Es bleibt <strong>die</strong> Frage nach der E<strong>in</strong>heit<br />

<strong>die</strong>ser und noch anderer Wesens bestimmungen.<br />

Für unsere nächste Absicht muß es genügen, durch <strong>die</strong> vorläufige,<br />

aber immer auf das Ganze orientierte Interpretation des<br />

Mite<strong>in</strong>ander <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Zusammense<strong>in</strong>s von Dase<strong>in</strong> und<br />

und Dase<strong>in</strong> gegenüber dem Zusammen-Vorhandense<strong>in</strong> zweier<br />

D<strong>in</strong>ge verdeutlicht zu haben, <strong>die</strong> zwei extreme Arten des Se<strong>in</strong>s<br />

bilden.<br />

Gänzlich ausgeschaltet bleibt <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen des<br />

»Lebens«, der »Tierheit«, des pflanzlichen Se<strong>in</strong>s. Wenn wir<br />

ganz ehrlich s<strong>in</strong>d, so wissen wir heute nicht e<strong>in</strong>mal, wie Wlr<br />

eigentlich <strong>die</strong>se Frage stellen sollen, ganz abgesehen von der<br />

Antwort.<br />

FÜNFTES KAPITEL<br />

Der Wesens bereich der Wahrheit und das Wesen<br />

der Wissenschaft<br />

§ 21. Zusammenfassung der Interpretation der Wahrheit<br />

[)er Unterschied der Se<strong>in</strong>sart von Dase<strong>in</strong> und Vorhandenem<br />

sollte deutlich werden, um zu zeigen, daß entsprechend der<br />

Verschiedenheit der Se<strong>in</strong>sart <strong>die</strong> entsprechende Wahrheit über<br />

das betreffende Seiende verschieden ist. Das Wesen der WahrheIt<br />

wurde erfragt, um <strong>die</strong> Frage zu beantworten: Was ist<br />

\Vlsscnschaft? Nun ergab sich das Merkwürdige, daß sich uns<br />

dlese zweite Frage mit der ersten mit beantwortete. Wir fanden<br />

bezüglich der Zuordnung von Wahrheit und Seiendem (vertreten<br />

durch Dase<strong>in</strong> und Vorhandenes) e<strong>in</strong>e Reihe von wesentlichen<br />

E<strong>in</strong>slchten, <strong>die</strong> uns zugleich e<strong>in</strong>en ersten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das<br />

Wesen der Wahrheit überhaupt verschaffen.<br />

W Ir fassen das Bisherige <strong>in</strong> acht Thesen zusammen: 1<br />

1. Wahrheit ist dem Vorhandenen so zugeordnet, daß sie <strong>die</strong>sem<br />

Seienden zukommen kann, aber nicht muß, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Falle<br />

aber zum Wesensbestand des Vorhandenen gehört. Die Unverhorgenheü<br />

von Seiendem aber, das <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart der Vorhandenhelt<br />

hat, nennen wir Entdecktheit.<br />

2. VVenn Vorhandenes unverborgen ist, d.h. wenn Entdeckt­<br />

!]pit faktisch existiert, dann geschieht es nur so, daß e<strong>in</strong> entdekhpndes<br />

Dase<strong>in</strong> existiert, d. h. Seiendes, zu dessen Se<strong>in</strong>sverfas­<br />

"'mg es gehört, erschlossen, d.h. e<strong>in</strong> Da zu se<strong>in</strong>. Das Dase<strong>in</strong> ist<br />

:-'Plende~, das von sich aus unverborgen ist. Diese UnverborgenhPlt<br />

de~ Dase<strong>in</strong>s nennen wir Erschlossenheit.<br />

A ,I Im v?raus noch e<strong>in</strong>mal er<strong>in</strong>nern: Wahrheit ist Unverborgenheit, Qffenbar­<br />

'LI tofl 8ewfldem, von welcher Se<strong>in</strong>sart <strong>die</strong>ses immer seIn mag.


t 50 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

3. So ergeben sich zwei Grundweisen von Unverborgenheit<br />

des Seienden, Wahrheit als Erschlossenheit und als Entdeckt_<br />

heit. Sie s<strong>in</strong>d auch dem <strong>in</strong> ihm offenbaren Seienden <strong>in</strong> ganz<br />

verschiedener Weise zugeordnet.<br />

4. Diese Verschiedenheit der Zuordnung von Wahrheit <strong>in</strong><br />

Bezug auf Dase<strong>in</strong> und Vorhandenes geht darauf zurück, daß<br />

auch <strong>die</strong> Wahrheit des Vorhandenen, Entdecktheit, <strong>in</strong> der Erschlossenheit<br />

gründet, <strong>die</strong> ihrerseits zur Se<strong>in</strong>sverfassung des<br />

Dase<strong>in</strong>s gehört. Entdecktheit von Vorhandenem ist nur möglich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit, d. h. als zugehörig zur Erschlossenheit e<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s.<br />

5. Weil aber Da-se<strong>in</strong> wesenhaft erschlossenes ist, muß das<br />

Zusammen von Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> je e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander se<strong>in</strong>.<br />

Dase<strong>in</strong> ist qua Da-se<strong>in</strong> wesenhaft Mitse<strong>in</strong> mit ... Erst auf dem<br />

Grunde <strong>die</strong>ses Mit des je e<strong>in</strong>zelnen Dase<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Weisen des Zue<strong>in</strong>ander, Füre<strong>in</strong>ander, Gegen- und Ohnee<strong>in</strong>ander<br />

möglich.<br />

6. Weil aber <strong>die</strong> Entdecktheit wesensmäßig je erschlossene<br />

ist (und nur so se<strong>in</strong> kann, was sie ist), ist Unverborgenheit des<br />

Vorhandenen etwas, waS> das Dase<strong>in</strong> notwendig immer schon<br />

weg gegeben hat. Entdecktheit ist <strong>in</strong> der Offenheit des Dase<strong>in</strong>s<br />

geteilt mit ... , auch ohne daß e<strong>in</strong> Teilhaber faktisch zugegen ist.<br />

Durch <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen sechs Thesen zusammengezogene Interpretation<br />

der Wahrheit werden wir <strong>in</strong>stand gesetzt, das Wesen<br />

der Wahrheit schon grundsätzlicher, wenngleich immer noch<br />

nicht h<strong>in</strong>reichend radikal und universal zu bestimmen. Wir<br />

formulieren <strong>die</strong>se Bestimmungen <strong>in</strong> zwei weiteren Thesen:<br />

7. Das Dase<strong>in</strong> ist wesenhaft <strong>in</strong> der Wahrheit. (Vgl. unten<br />

S.204f.)<br />

8. Die Wahrheit existiert, d. h. ihre Se<strong>in</strong>sart ist <strong>die</strong> Existenz<br />

und das ist <strong>die</strong> Weise, <strong>in</strong> der so etwas wie Dase<strong>in</strong> ist.<br />

BeideThesen gehören aufs <strong>in</strong>nigste zusammen, besagen aber<br />

nicht dasselbe. Zunächst s<strong>in</strong>d sie nur so weit zu erläutern, als e,<br />

für <strong>die</strong> nächste Absicht gefordert ist, um dann sogleich <strong>die</strong> Wesensbestimmung<br />

der Wissenschaft zu versuchen.<br />

Ad 7. Der Satz kann zunäclrst bedeuten: Das Dase<strong>in</strong> ist im<br />

,~21. Zusammenfassung der Interpretation der Wahrheit 151<br />

. der Wahrheit, im Besitz der letzten und ersten entschei-<br />

Besltz ..' .<br />

d E 'rkenntnisse. Doch das 1st lllcht gememt. DIe These soll<br />

deD eD<br />

h darüber sagen, was das Dase<strong>in</strong> an Wahrheiten faktisch<br />

Me t5 . . .<br />

besltz<br />

. t<br />

, .<br />

sondern darüber, daß dIe Semsverfassung des Dasems<br />

der Ort des Wesens von Wahrheit ist. Die Wahrheit bedeutet<br />

hlE'r nicht das entscheidende Wahre und alles Wahre zusammen,<br />

sondern soviel wie Wesen der Wahrheit qua Unverborgenheit.<br />

Der Satz me<strong>in</strong>t: Das Dase<strong>in</strong> hält sich als solches <strong>in</strong> Unverborenheit<br />

von Seiendem, zu welchem Seienden zum<strong>in</strong>dest Vor­<br />

~andenes, Zuhandenes, anderes Dase<strong>in</strong> und das jeweilige<br />

Dase<strong>in</strong> als eigenes gehört. Aufgebrochenheit des Da, Unverborgenheit<br />

von Seiendem gehört zum Wesen des Se<strong>in</strong>s <strong>die</strong>ses<br />

Seienden.<br />

Damit ist noch nicht gesagt, <strong>in</strong> welcher Weise <strong>die</strong>ses grundsätzlich<br />

mit der Existenz von Dase<strong>in</strong> offenbare Seiende eigens<br />

erfaßt oder auch nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sart ausdrücklich unterschieden<br />

und geschieden ist. Daher ist mit dem Satz als e<strong>in</strong>er<br />

VVesensaussage nichts darüber ausgemacht, welche bestimmten<br />

Wahrheiten, <strong>in</strong> welcher Weise und <strong>in</strong> welcher Rechtfertigung<br />

und E<strong>in</strong>sicht gewonnen s<strong>in</strong>d.<br />

Bei <strong>die</strong>ser Gelegenheit können wir uns kurz <strong>die</strong> Zweideutigkeiten<br />

notieren, <strong>die</strong> im Begriff» Wahrheit« liegen und oft <strong>die</strong><br />

Diskussionen irreführen. Erstens kann <strong>die</strong> Wahrheit heißen: <strong>die</strong><br />

Wahrheit über etwas, d.h. e<strong>in</strong>e Wahrheit, das Wahre darüber.<br />

Zweitens kann <strong>die</strong> Wahrheit auch heißen: alles, was es an Wahrem<br />

gibt, das Ganze des Wahren. In <strong>die</strong>ser Bedeutung ist das<br />

VVort genommen, wenn man sagt: Gott ist <strong>die</strong> Quelle aller Wahrheit.<br />

Drittens besagt <strong>die</strong> Wahrheit das Wesen des Wahren als<br />

\'\ahren. In <strong>die</strong>sem dritten S<strong>in</strong>n gebrauchen wir das Wort Wahrhpit,<br />

wenn wir sagen, das Dase<strong>in</strong> ist se<strong>in</strong>em Wesen nach <strong>in</strong> der<br />

\'\dhrheit.<br />

Der Satz könnte aber ferner bedeuten: Das Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> der<br />

\\ahrheit und demnach außerhalb des Irrtums. Auch <strong>die</strong>se IntprprE'tation<br />

des Satzes trifft nicht se<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung. Weder sagt<br />

dpr Satz, das Dase<strong>in</strong> sei faktisch außerhalb des Irrtums, noch


152 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

gar, das Dase<strong>in</strong> könne se<strong>in</strong>em Wesen nach nicht irren. Viel:rnehr<br />

br<strong>in</strong>gt der Satz gerade allererst <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung der Möglichkeit<br />

von Irrtum und Un-wahrheit zum Ausdruck. Denn nur e<strong>in</strong> solches<br />

Seiendes, das von Hause aus sich <strong>in</strong> Unverborgenheit hält<br />

nur e<strong>in</strong>em solchen kann etwas verborgen bleiben.<br />

'<br />

Aber Verborgenheit als Gegenphänomen zu Unverborgenheit<br />

qua Wahrheit ist ihrerseits noch nicht notwendig Un-wahrheit<br />

qua Irrtum; gleichwohl müssen wir e<strong>in</strong>en wesentlichen Begriff<br />

von Un-wahrheit festhalten, wonach Un-wahrheit qua Verborgenheit<br />

so viel besagt wie Nicht-Unverborgenheit. Gegenüber<br />

<strong>die</strong>sem allgeme<strong>in</strong>en Begriff von Un-wahrheit gilt es nun, den<br />

spezifischen im S<strong>in</strong>ne von Falschheit, Irrtum, Lüge und Verlogenheit<br />

zu bestimmen. Denn <strong>in</strong> der gewöhnlichen Bedeutung<br />

besagt Un-wahrheit nicht nur das Fehlen von Unverborgenheit,<br />

d.h. Verborgenheit, sondern Un-wahrheit ist e<strong>in</strong>e mangelhafte<br />

Unverborgenheit, d.h. e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> sich als Unverborgenheit<br />

von etwas ausgibt und dafür gehalten wird, aber ke<strong>in</strong>e ist. Unwahrheit<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem engeren S<strong>in</strong>ne tritt immer auf mit dem<br />

Anspruch auf Wahrheit als Unverborgenheit, und dar<strong>in</strong> liegt ihr<br />

Sche<strong>in</strong>. Aber auch <strong>die</strong>se Un-wahrheit ist wiederum nicht notwendig<br />

Lüge,


154 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der WissenSchaft<br />

wird, je aus dem Dase<strong>in</strong> mit bestimmt, wird dann Wahrhei<br />

nicht e<strong>in</strong>e bloße Angelegenheit des Menschen, mag man nu t<br />

dessen Se<strong>in</strong> qua Subjekt oder als Dase<strong>in</strong> fassen? Wird dann nich~<br />

der Mensch das Maß aller D<strong>in</strong>ge? Ist <strong>die</strong> These »Wahrheit existiert,<br />

hat <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart des Menschen« nicht gleichbedeutend<br />

mit dem Satze, den schon der Sophist Protagoras ausgesprochen<br />

hat. und von dem uns Platon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Dialog Theätet (152a)<br />

berIchtet, wenn er dort Sokrates sagen läßt: qJTJaL YUQ Jtou JtUVtüJv<br />

XQTJllutffiv IlEtQov ävfrQffiJtOV dvm, tffiv IlEV OVtffiV w~ fan, tffiv öf f.l~<br />

OV'tffiV w~ oux fO"1;LV. 2 »Es sagt <strong>die</strong>ser Protagoras: aller D<strong>in</strong>ge Maß<br />

ist der Mensch, der Seienden, daß sie s<strong>in</strong>d, der Nichtseienden<br />

daß sie nicht s<strong>in</strong>d.«<br />

'<br />

Der Mensch als das Maß dessen, was und wie <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d -<br />

ist damit <strong>die</strong> Wahrheit nicht menschlicher Willkür und<br />

menschlichem Geschmack preisgegeben? Muß <strong>die</strong>se von den<br />

Griechen gezogene Konsequenz nicht gerade unsere Interpretation<br />

der Wahrheit treffen, <strong>die</strong> wir uns doch an der ursprünglichen<br />

Bedeutung des antiken Wortes orientieren? Alle<strong>in</strong> gerade<br />

der rechtverstandene S<strong>in</strong>n von Wahrheit qua Unverborgenheit<br />

macht <strong>die</strong>se Bedenken zunichte. Denn Dase<strong>in</strong> »ist« wesenhaft<br />

<strong>in</strong> der Unverborgenheit, heißt eben: Es kann gerad~ nur se<strong>in</strong>,<br />

sofern es sich zum Seienden verhält, das sich <strong>in</strong> der Unverborgenheit<br />

bekundet. Gerade weil Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Wahrheit ist, d. h.<br />

bei und zu offenbarem Seienden, wird alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>dung an<br />

Seiendes möglich und notwendig.<br />

Über<strong>die</strong>s erwähnten wir gleich bei der E<strong>in</strong>führung <strong>die</strong>ses<br />

Begriffes von Wahrheit, daß <strong>die</strong> Griechen selbst nicht vermochten,<br />

<strong>die</strong> Grunde<strong>in</strong>sicht, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> der Wortschöpfung clA.T)'ttflu<br />

ausprägt, festzuhalten und <strong>in</strong> ihrem Wesensgehalt auszuarbeiten.<br />

Vielmehr ist gerade der angeführte Satz des Protagoras e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliches Beispiel dafür, wie sich bei der Interpretation der<br />

Wahrheit <strong>die</strong> Orientierung an den physiologischen und psycho-<br />

2 Platonis Opera. Recognovit brevique adnotatione critica <strong>in</strong>struxit Ioan nc '<br />

Burnet. Oxonii e typographeo Claremtoniano 1899 sqq. Tomus 1.<br />

§' 21. Zusammenfassung der Interpretation der Wahrheit 155<br />

. h n Vermögen des Menschen dazwischen drängte, d.h.<br />

loglsC e .<br />

. 'eH' Die Griechen vermochten mcht - trotz der großen<br />

pnnZlpl .<br />

. . Ilten von Platon und Aristoteles - das Wesen von Wahr-<br />

I'>lD S1C .<br />

. 0 weit zu klären, daß nun dIeses geklärte Wesen der<br />

helt s .'<br />

\Yahrheit dazu führte, gerade von Ihm aus den BegrIff des Menschen<br />

und se<strong>in</strong>es,Wesens entsprechend zu bestimmen. Vielmehr<br />

('rät umgekehrt <strong>die</strong> Interpretation des Wesens der Wahrheit,<br />

~ ie wir zeigten, <strong>in</strong> ,<strong>die</strong> Bahn e<strong>in</strong>er psychologischen Erklärung<br />

!In weitesten S<strong>in</strong>ne.<br />

Die Thesen »Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> der Wahrheit« und »Wahrheit<br />

existiert«, besagen' nicht e<strong>in</strong>e schlechte Relativierung der<br />

Wahrheit auf den Menschen, sondern umgekehrt: sie stellen den<br />

\Ienschen se<strong>in</strong>em-Wesen nach vor das Seiende, dergestalt, daß<br />

er aHererst - als wesenhaft erschlossenes Seiendes - sich nach<br />

solchem richten kann, was mit der Erschlossenheit se<strong>in</strong>es Da<br />

notwendig offenbar geworden ist. Nur wenn Dase<strong>in</strong> als erschlossen<br />

entdeckendes sich nach Seiendem richten kann, kann<br />

es darüber angemessen aussagen. Aus <strong>die</strong>ser Klärung des ursprünglichen<br />

Wesens der Wahrheit wird ersichtlich, was das<br />

ursprünglich andere ist: Erschlossenheit des Da -, und daß und<br />

wie Aussage-wahrheit dar<strong>in</strong> gründet. Die Aussage über ... wird<br />


156 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

§ 22. Bestimmung des Wesens der Wissenschaft<br />

157<br />

Mö~l~chkeit bestimmt .wird. ~o ergibt sich <strong>die</strong> Rückführung des<br />

tradmonellen Wahrheltsbegnffs, der Satzwahrheit, auf <strong>die</strong> Ursprüngliche<br />

Unverborgenheit des Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> wir kurz <strong>die</strong><br />

Erschlossenheit nannten.<br />

Daß dem so ist, muß sich daran bewähren, ob und wie es nUn<br />

gel<strong>in</strong>gt, aus der gewonnenen Wesens bestimmung der Wahrheit<br />

heraus den Begriff der Wissenschaft zu umgrenzen. Diese Interpretation<br />

des Wesens der Wissenschaft muß derart se<strong>in</strong>, daß<br />

sie uns zu e<strong>in</strong>em wirklichen Verständnis dessen verhilft, was <strong>in</strong><br />

der anfangs gekennzeichneten Krisis der Wissenschaft an ungeklärten<br />

Fragen sich verbirgt: Es war gerade das mögliche<br />

Verhältnis der Wissenschaft zur Existenz des Menschen, des E<strong>in</strong>zelnen<br />

und der geschichtlichen Kulturgeme<strong>in</strong>schaft.<br />

§ 22. Die Bestimmung des Wesens der Wissenschaft aus dem<br />

ursprünglichen Wahrheitsbegriff<br />

Wir g<strong>in</strong>gen aus von der herrschenden Def<strong>in</strong>ition der Wissenschaft:<br />

Sie ist e<strong>in</strong> Begründungszusammenhang wahrer Sätze,<br />

<strong>die</strong> gelten, e<strong>in</strong> Zusammenhang von Wahrheiten, s~fern eben<br />

Wahrheit gleichbedeutend ist mit e<strong>in</strong>em wahren Satz. Wissenschaft<br />

ist e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit. Wir haben <strong>die</strong>se Kennzeichnung<br />

festgehalten, aber so, daß wir nun fragen, was Wahrheit<br />

selbst besage und ob Wahrheit primär Satzwahrheit sei. Nun<br />

ergab sich: Das Wesen der Wahrheit ist Unverborgenheit von<br />

Seiendem, und <strong>die</strong>se Unverborgenheit gehört zur Existenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s. Nur weil Wahrheit im ursprünglichen S<strong>in</strong>ne Unverborgenheit<br />

des Dase<strong>in</strong>s ist, kann sie im abgeleiteten S<strong>in</strong>ne auch<br />

e<strong>in</strong>e Bestimmung der Aussage über das Seiende werden, welche<br />

Aussagen das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> bei, zu und mit Seiendem<br />

vollzieht.<br />

So ergibt sich zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> vorgreifenden Überlegung:<br />

Wenn Wissenschaft überhaupt <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise e<strong>in</strong>e<br />

Art von Wahrheit ist, Wahrheit"'als Unverborgenheit jedoch zur<br />

verfassung des existierenden Dase<strong>in</strong>s gehört, dann ist<br />

,\esens .. .<br />

_. schaft im ursprünghchen Smne notwendIg solches, was<br />

\\ ISsen . ..<br />

Existenz des Dasems gehört. Das besagt: WIssenschaft 1st<br />

~~~ht nur beiläUfig und nachträglich auch noch auf menschliches<br />

Dase<strong>in</strong> bezogen, auch nicht nur durch das menschliche<br />

Dase<strong>in</strong> hervorgebracht, sondern sie ist als e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit<br />

e<strong>in</strong>e VVesensbestimmung des Dase<strong>in</strong>s; sie bedeutet nichts anderes<br />

als e<strong>in</strong>e besondere Art und Weise des In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>s.<br />

Damit ist nicht gesagt, daß jedes Dase<strong>in</strong> als solches notwendig<br />

Wissenschaft treiben müßte. Wissenschaft gehört zur Existenz<br />

des Menschen, besagt: Die <strong>in</strong>nere Möglichkeit, nicht erst <strong>die</strong><br />

faktische Hervorbr<strong>in</strong>gung von Wissenschaft gründet im Wesen<br />

der Wahrheit als e<strong>in</strong>em Wesensbestandstück der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Zum Wesen <strong>die</strong>ser <strong>in</strong>neren Möglichkeit<br />

gehört, daß <strong>die</strong> Wissenschaft selbst wieder e<strong>in</strong>e freie Möglichkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s"ist, d. h. nicht schlechth<strong>in</strong> notwendig; denn es<br />

ergab sich: In der Wahrheit se<strong>in</strong> ist wesenhaft und durch <strong>die</strong>ses<br />

ist schon Seiendes offenbar. Wahrheit besagt Unverborgenheit<br />

des Da-se<strong>in</strong>s, Wissenschaft e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit. Also ist Wissenschaft<br />

e<strong>in</strong>e Art der Unverborgenheit des Dase<strong>in</strong>s, d.h. e<strong>in</strong><br />

Wie der menschlichen Existenz. Hierdurch ist grundsätzlich der<br />

Horizont gewonnen für e<strong>in</strong>e Interpretation der Wissenschaft<br />

aus der Existenzverfassung des Dase<strong>in</strong>s oder kur.z, für e<strong>in</strong>en<br />

existenzialen Begriff der Wissenschaft. Die unverstandene Tendenz<br />

nach e<strong>in</strong>er solchen Klärung der Idee der Wissenschaft ist es<br />

aber, was <strong>die</strong> Krisis der Wissenschaft im Grunde hervorruft und<br />

durchherrscht.<br />

Es gilt jetzt, '<strong>die</strong>sen existenzialen Begriff der Wissenschaft<br />

auszuarbeiten, um durch <strong>die</strong> Ausarbeitung des Begriffes der<br />

V. issenschaft <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser selbst an e<strong>in</strong>e Grenze zu stoßen, um konkret<br />

zu sehen, daß <strong>die</strong> Wissenschaft gerade, um das zu se<strong>in</strong>, was<br />

'1f' ihrem Wesen nach se<strong>in</strong> kann, schon und noch etwas mehr,<br />

f'twas anderes und Ursprünglicheres se<strong>in</strong> muß. Dieses andere<br />

weist sich als <strong>Philosophie</strong> aus. Wir vergleichen also nicht, wie<br />

,('hon betontt, Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong> als feste Größen,


158 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wlssenschaft<br />

sondern <strong>in</strong> der und durch <strong>die</strong> Wesens<strong>in</strong>terpretation der W' ISsen<br />

schaft stoßen wir auf <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>.<br />

. Die folgende Wesens<strong>in</strong>terpretation ist zwar e<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>zipielle<br />

~a, der Ab~icht nach <strong>die</strong> pr<strong>in</strong>zipiellste, <strong>die</strong> überhaupt möglich'<br />

Ist; das heißt aber nicht, daß sie <strong>in</strong> aller H<strong>in</strong>sicht vOllständl<br />

wäre. Weder soll e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Systematik möglicher WI;­<br />

senschaften entworfen werden - Systematik der Wissenschaf<br />

ten ist nicht e<strong>in</strong>e Ordnung der vorhandenen, sondern e<strong>in</strong>e freie<br />

Konstruktion der möglichen, d.h. dem Wesen nach notwendi_<br />

gen -, noch auch kann es sich darum handeln, alle konkreten<br />

Fragen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Krisis der Wissenschaften sich aufdrängen, zu<br />

erörtern. Wohl aber muß mit Rücksicht auf <strong>die</strong>se das Entscheidende<br />

ans Licht kommen, und zwar deshalb, weil mit dem<br />

Nachweis des wesenhaften Existenzcharakters der Wissenschaft<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e Reihe von Fragen, <strong>die</strong> man sonst bezüglich des<br />

Verhältnisses des E<strong>in</strong>zelnen zur Wissenschaft zu stellen pflegt,<br />

sich von selbst erledigen.<br />

a) Wissenschaft e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit?<br />

Wissenschaft ist e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit. Wahrheit ab~r gehört<br />

wesenhaft zum Dase<strong>in</strong>. Dieses existiert <strong>in</strong> der Wahrheit; Wahrheit<br />

ist existent. Wissenschaft als Möglichkeit der Existenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s ist e<strong>in</strong>e Möglichkeit des In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>s. Wahrheit<br />

des Dase<strong>in</strong>s ist Unverborgenheit, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s Erschlossenheit<br />

und Entdecktheit; mit der Existenz von Dase<strong>in</strong> ist<br />

Seiendes offenbar, aber nicht Beliebiges, sondern Vorhandenes<br />

im weiteren S<strong>in</strong>n, »Natur«, auch Zuhandenes, Dase<strong>in</strong> und MIt<br />

dase<strong>in</strong>, all <strong>die</strong>ses Seiende aber immer <strong>in</strong> gewisser Weise im<br />

Ganzen. Faktisch ist <strong>die</strong>ses Ganze <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit verschie<br />

den bestimmt, oft auch unbestimmt gelassen, aber auch !ll<br />

<strong>die</strong>ser Unbestimmtheit gerade <strong>in</strong> charakteristischer Weise da<br />

Das offenbare Seiende selbst nun ist nicht notwendig schon<br />

unterschieden nach den verschiedenen Arten des Se<strong>in</strong>s, auch<br />

hier ist alles offenbare Seiende'"t1nbestimmt, <strong>in</strong>different unter<br />

§ 22. Bestimmung des Wesens der Wissenschaft 159<br />

Sich. Aber so ist alles Se~ende vom G~nzen h~r,. das. selb~t unmt<br />

bleibt durchstimmt. Unbestimmtheit Ist eme eigene<br />

besum '<br />

B summthelt (Mana-Vorstellung).<br />

e Ferner kann das Seiende jeweils ganz verschieden weit und <strong>in</strong><br />

chledenen Stufen der Klarheit und Deutlichkeit offenbar<br />

Je vers<br />

und all das V'Or aller Wissenschaft. Denn sofern Dase<strong>in</strong><br />

seIn,<br />

tl ' Drt 1st schon Seiendes im Ganzen offenbar. Weil WisseneXIS<br />

' ,<br />

schaft nur eme bestimmte freie Möglichkeit des Dase<strong>in</strong>s ist, und<br />

zwar eme solche, deren Vollzug unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen<br />

steht, erwächst Wissenschaft immer nur und schon auf dem<br />

(~runde e<strong>in</strong>er mit dem Dase<strong>in</strong> schon existenten Offenbarkeit<br />

des Seienden. Wenn wir daher von vor-wissenschaftlicher<br />

VVahrhelt sprechen, so me<strong>in</strong>en wir damit nicht irgendwelche<br />

zerstreute, rohe und nicht streng begründete Kenntnisse. Das<br />

Vor m vorwIssenschaftlieh bezeichnet auch nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en<br />

germgeren Grad von Wahrheit, als sei <strong>die</strong> wissenschaftliche<br />

WahrheIt ohne weiteres <strong>die</strong> höhere, sondern der Titel »vorwissenschaftlIch«<br />

besagt im Lichte des herausgestellten WahrheitsbegrIffes,<br />

daß das Dase<strong>in</strong> schon vor der Wissenschaft <strong>in</strong> der<br />

VVahrheIt ist. Vorwissenschaftliches Dase<strong>in</strong> ist dem wissenschafthchen<br />

notwendig vorgeordnet, aber nicht untergeordnet,<br />

1m Gegenteil, es gibt dem wissenschaftlichen erst den Grund.<br />

Vorwissenschaftliche Wahrheit drückt gerade aus, daß Wissenschaft<br />

keme existenzielle Notwendigkeit ist, daß durch <strong>die</strong><br />

'IV Issenschaft <strong>die</strong> Existenz des Menschen weder primär noch<br />

PlllZlg bestImmt se<strong>in</strong> könnte.<br />

Vor wissenschaftliches Dase<strong>in</strong> ist solches, das noch nicht<br />

durch Wissenschaft h<strong>in</strong>durchgegangen ist; wissenschaftliches<br />

I )asPlll solches, was durch Wissenschaft bestimmt ist, was nicht<br />

hplf3t, daß es Je selbst als e<strong>in</strong>zelnes <strong>die</strong> Wissenschaft als solche<br />

kpnnt oder sie gar ausdrücklich betreibt. Unser heutiges europalsch-abendländisches<br />

Dase<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> wissenschaftliches, sofern<br />

clIP Pnverborgenheit des Seienden mit durch wissenschaftliche<br />

Erkenntlllsse bestimmt und geprägt ist. Auch das Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es<br />

hputlgen lllcht wissenschaftlich gebildeten Menschen ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>-


160 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

sem S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong> wissenschaftliches. Der sogenannte Radiobastler<br />

arbeitet z. B. mit bestimmten Apparaten zu bestimmten Zwek<br />

ken, ohne daß er e<strong>in</strong>e Ahnung davon hat, was da eigentlich<br />

vorgeht. Oder wenn e<strong>in</strong> aufgeweckter Bauer etwa Lust hat<br />

,<br />

d<br />

as<br />

Nibelungenlied zu lesen, und man ihm e<strong>in</strong>e sogenannte gute<br />

Ausgabe davon verschafft, so ist <strong>die</strong> Art und Weise, wie er an<br />

<strong>die</strong>ses Werk herankommt, e<strong>in</strong>e wissenschaftliche, durchgegan<br />

gen durch philologische Arbeit. Auch das heutige Verständms<br />

des christlichen Glaubens ist durch e<strong>in</strong>e von den Wissenschaf_<br />

ten bee<strong>in</strong>flußte Theologie h<strong>in</strong>durchgegangen.<br />

b) Vorwissenschaftliches und wissenschaftliches Dase<strong>in</strong><br />

Wissenschaftliches Dase<strong>in</strong> heißt demnach: Dase<strong>in</strong>, dessen On<br />

verborgenheit des Seienden mit bestimmt ist durch wissen<br />

schaftliche Erkenntnis, ohne daß <strong>die</strong>se Bestimmtheit der<br />

Unverborgenheit als solche erkannt oder auch nur bekannt ist,<br />

geschweige denn von dem betreffenden Dase<strong>in</strong> selbst gewon<br />

nen ist. Vorwissenschaftliches und wissenschaftliches Dase<strong>in</strong><br />

deckt sich also ganz und gar nicht mit dem Unterschied von<br />

primitivem und nicht primitivem Dase<strong>in</strong>, ganz abg~sehen da<br />

von, daß <strong>die</strong>ser letztgenannte Unterschied selbst noch mehrdeu<br />

tig ist. Primitiv kann besagen: e<strong>in</strong>fach, im Unterschied von<br />

kompliziert; das ist aber nicht gleichbedeutend mit niedriger<br />

und höherer Kultur, mit Barbarei und Bildung. Primitives Dase<strong>in</strong><br />

kann sehr wohl e<strong>in</strong>en höheren Rang und e<strong>in</strong>e eigene<br />

Echtheit und Ursprünglichkeit haben und braucht nicht barba<br />

risch zu se<strong>in</strong>. Umgekehrt kann nicht-primitives, verwickeltes<br />

Dase<strong>in</strong> sehr wohl barbarisch und unecht dazu se<strong>in</strong>. Diese heiden<br />

selbst sich nicht deckenden Unterschiede von e<strong>in</strong>fach und ver<br />

wickelt, barbarisch und gebildet decken sich auch nicht mit<br />

vorwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem<br />

besonderen S<strong>in</strong>ne. Wissenschaftliches Dase<strong>in</strong> ist nicht notwen<br />

dig schon gebildetes, es braucht auch nicht e<strong>in</strong> verwickeltes ZU<br />

se<strong>in</strong>. Wissenschaftliches Daseirf ist demnach nicht notwendIg<br />

_~ 22. Bestimmung des Wesens der Wissenschaft 161<br />

I hes von hohem Rang und schließt Barbarei nicht aus. Trotz<br />

sO c Wissenschaft oder sogar vielleicht gerade mit ihrer Hilfe hat<br />

der ch heute bei uns e<strong>in</strong>e namen I' ose BarbareI b' reitgemac h t, d' Ie<br />

:Ilellelcht <strong>die</strong> wenigsten spüren, weil <strong>die</strong> meisten sich <strong>in</strong> ihr<br />

\,ohl fuhlen. Man braucht nicht gerade <strong>die</strong> Postkutsche zurücknschen<br />

, um sehen zu können, was <strong>die</strong> ohne Wissenschaft<br />

zuwu<br />

unnlOglIche Technik heute an <strong>in</strong>nerer Verrohung und Ge-<br />


162 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

e<strong>in</strong>er verallgeme<strong>in</strong>ernden Form vorgestellt werden, nicht n<br />

weil primitiv mit vorwissenschaftlich sich nicht deckt, sonde~<br />

weil auch dort, wo es sich decken könnte, <strong>die</strong> Berichte, schon dIe<br />

Art des Fragens und der sprachlichen Wiedergabe bereits h<br />

. eutlger<br />

Interpretation unterliegen, d.h. wissenschaftlich mitbe_<br />

stimmt s<strong>in</strong>d.<br />

Die Interpretation des vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong>s ist<br />

überhaupt ke<strong>in</strong>e empirische Frage der Prähistorie, sondern eth<br />

nologische Berichte und mythologische Überlieferung sprechen<br />

nur dann ihre Sprache, wenn schon zuvor <strong>die</strong> Wesensart des<br />

Dase<strong>in</strong>s bestimmt ist, von dem sie Kunde geben. Dafür s<strong>in</strong>d sie<br />

allerd<strong>in</strong>gs unentbehrliche F<strong>in</strong>gerzeige.<br />

Bei der Frage nach der Wesensverfassung des vorwissenschaftlichen<br />

Dase<strong>in</strong>s muß ferner geschieden werden zwischen<br />

der Auffassung, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> solches Dase<strong>in</strong> von sich selbst hat , und<br />

derjenigen Auffassung, <strong>die</strong> sich durch e<strong>in</strong>e rekonstruierende<br />

Interpretation ergibt. Für <strong>die</strong>se gehört jene mit zum Gegenstand<br />

als <strong>die</strong> zum vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong> gehörige und<br />

zwar ausdrückliche Selbstauslegung. Für uns kann es sich hier<br />

natürlich nicht um e<strong>in</strong>e ausführliche Aufrollung <strong>die</strong>ses Problems<br />

handeln, sondern lediglich um e<strong>in</strong>e Kenn;eichnung<br />

e<strong>in</strong>iger Hauptzüge des vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong>s, das uns<br />

zur Abhebung <strong>die</strong>nen soll.<br />

Wir verstehen unter vorwissenschaftlichem Dase<strong>in</strong> solches,<br />

dessen Wahrheit (Unverborgenheit) grundsätzlich nicht durch<br />

wissenschaftliche Erkenntnis mitbestimmt wird. Damit 1st<br />

nicht gesagt, daß solches Dase<strong>in</strong> nicht über Kenntnisse und<br />

Erkenntnisse verfügte, im Gegenteil, es hat solche ganz ursprünglicher<br />

Art. Entdeckt ist - <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, wie wir den<br />

Term<strong>in</strong>us gebrauchen - das Land <strong>in</strong> der Feldbestellung, das<br />

Meer <strong>in</strong> der Schiffahrt; Landbestellung wie Schiffahrt vermitteln<br />

Kenntnisse der Witterung, der Jahreszeiten, Sternenkunde,<br />

Zeitrechnung. Gleichfalls gehört zum Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong> Heilkunst des<br />

Menschen; alles ist <strong>in</strong> der direkten Ause<strong>in</strong>andersetzung des Dase<strong>in</strong>s<br />

mit dem Seienden erwachsen, an das es sich qua DaseID<br />

,~. 22. Bestimmung des Wesens der Wissenschaft 163<br />

schon verwiesen sieht. Was so zunächst aufgezählt wur­<br />

Jln mer<br />

t wedt'! das erste noch das e<strong>in</strong>zige; vordem und alles<br />

deo IS d G d S' d . . M h 1 .<br />

1<br />

'altend ist as anze es elen en meIner yt 0 ogle<br />

dure I\\'<br />

ff ba<br />

r dIe über Weltlauf und Menschenschicksale Kunde<br />

o en ,<br />

b Diese Kunde besteht nicht <strong>in</strong> gewissen Kenntnissen und<br />

§!1 t. f' d 'h . K k . . KId<br />

,a S t ze n ,<br />

sondern In et I re pnmäre on retlOn In u tus un<br />

o fer. Von <strong>die</strong>ser mythischen Grundauffassung des Dase<strong>in</strong>s im<br />

c;.~nzen sllld <strong>in</strong> der Frühzeit auch alle übrigen Verhaltungsweisen<br />

und Arten des Entdeckens von Seiendem wie Feldbestellung,<br />

Schiffahrt, Heilkunst, Sternkunde durchherrscht. Diese<br />

speZIfische vorwissenschaftliche Erschlossenheit des Dase<strong>in</strong>s ist<br />

Immer auch schon zum Wort gekommen, hat sich im Wort ausgesprochen,<br />

Ili}{to;,.und schafft sich als solches auch schon e<strong>in</strong>e<br />

eIgene Form der Überlieferung, vor aller Historie als Wissenschaft<br />

von der Geschichte. Imgleichen steht das, was wir Kunst<br />

nennen, ganz im Dienste <strong>die</strong>ser Dase<strong>in</strong>sbestimmung und -auslegung.<br />

Ferner ist das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Sippe und Stamm<br />

geregelt durch sakralen Brauch; Geburt, Tod und Fortleben f<strong>in</strong>den<br />

ihre Auslegung aus dem so erschlossenen Ganzen des<br />

SeIenden.<br />

So 1st 1m vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong> Vorhandenes, Zuhandenes,<br />

Mitdase<strong>in</strong> anderer, Selbstdase<strong>in</strong> offenbar, und all das<br />

durchwaltet vom Seienden im Ganzen und se<strong>in</strong>en je verschieden<br />

gefaßten mythischen Mächten (vgL Mana-Vorstellung). Das vorwIssenschaftliche<br />

Dase<strong>in</strong> hat so se<strong>in</strong>e spezifische Wahrheit.<br />

VVenn nun Wissenschaft e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit ist und wenn sie<br />

vorwlssenschaftliche Wahrheit voraussetzt, so muß sich mit ihr<br />

und dureh sie e<strong>in</strong> Wandel der Wahrheit vollziehen. Das Wesen<br />

der WIssenschaft wird demnach sichtbar, wenn wir den Umschlag<br />

vom vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong> zum wissenschaft­<br />

IU'hen ms Auge fassen. Wenn wir nach <strong>die</strong>sem Umschlag als<br />

PlrlPm Wandel der Wahrheit des Dase<strong>in</strong>s fragen, dann fragen wir<br />

nd( h der Entstehung der Wissenschaft. Doch untersuchen wir<br />

na ht, WIe e<strong>in</strong>zelne Wissenschaften im Verlaufe der Geschichte<br />

pntstanden s<strong>in</strong>d und sich ausgebildet haben. Wir fragen auch


164 Wesensberach der Wahrhelt - Wesen der Wtssenschaft<br />

nicht historisch nach den faktischen Veranlassungen, Motiven<br />

und den verschiedenen Sta<strong>die</strong>n der faktischen Ausbildung e<strong>in</strong>er<br />

Wissenschaft, ebenso wenig wie nach den Ursachen des faktl<br />

schen Stehenbleibens oder gar des Verfalls e<strong>in</strong>zelner Diszipl<strong>in</strong>en<br />

Nach der Entstehung der Wissenschaft fragen, heißt für Uns<br />

jetzt: Was gehört zur <strong>in</strong>neren Möglichkeit dessen, was wir WI S<br />

senschaft nennen? Was muß notwendig geschehen, damit W IS<br />

senschaft werden kann, ganz abgesehen davon, wie sie faktisch<br />

im e<strong>in</strong>zelnen gerade ist?<br />

Dieser Umschlag vom vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong> zum<br />

wissenschaftlichen läßt sich sche<strong>in</strong>bar leicht bestimmen; WIr<br />

brauchen nur Ausgangs- und Endstellung <strong>die</strong>ses Geschehens<br />

mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen, d. h. was uns am nächsten liegt, das<br />

vorwissenschaftliche Dase<strong>in</strong> von unserem wissenschaftlichen<br />

aus abzuschätzen. Wenn wir auch das vorwissenschaftliche Dase<strong>in</strong><br />

nur <strong>in</strong> der Rekonstruktion gew<strong>in</strong>nen, so verfügen wir doch<br />

über das wissenschaftliche, sofern wir selbst <strong>in</strong> unserem faktIschen<br />

Dase<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> solches bestimmt s<strong>in</strong>d. Aber hier schleIcht<br />

sich leicht e<strong>in</strong>e Täuschung e<strong>in</strong>. Denn damit, daß unser Dasem<br />

faktisch durch <strong>die</strong> Wissenschaft bestimmt ist, ist ja noch nicht<br />

verbürgt, daß wir auch wüßten und begriffen, was Wissenschaft<br />

heißt. Das, was wir heute so nennen, mag <strong>in</strong> der Tat echte<br />

Wissenschaft se<strong>in</strong>; doch gibt sie nicht ohne weiteres den Begnff<br />

der Wissenschaft her. Vielleicht ist e<strong>in</strong>e gewisse Kenntnis der<br />

Wissenschaft erforderlich, um ihr Wesen zu bestimmen; aber<br />

<strong>die</strong>se Kenntnis reicht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise aus. So s<strong>in</strong>d wir bezüglich<br />

des wissenschaftlIchen Dase<strong>in</strong>s im Grunde nicht besser gestellt<br />

als h<strong>in</strong>sichtlich des vorwissenschaftlichen, ja, vielleicht liegt dIe<br />

Gefahr der Fehl<strong>in</strong>terpretation des Wesens des wissenschafth<br />

chen Dase<strong>in</strong>s noch näher, gerade weil wir selbst als solches<br />

bestimmt s<strong>in</strong>d. Die Gefahr besteht, daß wir gewisse äußere und<br />

aufdr<strong>in</strong>gliche Kennzeichen der Wissenschaft für ihr Wesen hai<br />

ten. Wir müssen das Wesen der Wissenschaft und des wissen<br />

schaftlichen Dase<strong>in</strong>s nicht m<strong>in</strong>der konstruieren als das des<br />

vorwIssenschaftlichen Dase<strong>in</strong>s..-<br />

§ 22. Bestimmung des Wesens der Wtssenschaft 165<br />

Das Ist ewe merkwürdige Situation: Was wir vergleichen<br />

11 n<br />

haben wir gar nicht; für <strong>die</strong> Betrachtung <strong>die</strong>ses Um­<br />

\\ 0 e ,<br />

,C hlags vom vorwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen Da-<br />

,eIn haben wIr weder <strong>die</strong> Ausgangs- noch <strong>die</strong> Endstellung. Ich<br />

mache Jetzt nur beiläufig auf das ganz Eigentümliche unserer<br />

Lage und unseres' Vorgehens aufmerksam; wir wollen darüber<br />

nlcht weIter reflektieren, sondern wirklich vorgehen und das<br />

\uffallende wagen, durch Vergleichung dessen, was wir im<br />

(Jrunde noch nicht haben, das zu Vergleichende gew<strong>in</strong>nen.<br />

Bel der Vergleichung von vorwissenschaftlichem und von<br />

\\ Issenschafthchem Dase<strong>in</strong> liegt offensichtlich e<strong>in</strong>s zutage: Das<br />

\ orwlssenschaftliche Dase<strong>in</strong> beruht h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Wahrheit,<br />

d h. der Art der Unverborgenheit des Seienden, weitgehend<br />

auf naIven Irrtümern, Aberglaube, Willkür und UnbeholfenheIt.<br />

Erst <strong>die</strong> Wissenschaft br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> echte Wahrheit über<br />

das SeIende. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel kann das klar machen, etwa<br />

dIe Art und Weise, wie <strong>die</strong> Sonne entdeckt ist. Für <strong>die</strong> Griechen<br />

der Fruhzelt war sie der Gott Helios, der Gott, der auf se<strong>in</strong>em<br />

feungen Wagen durch den Himmelsraum fährt und im Okeanos<br />

versmkt Spater verliert <strong>die</strong>se Deutung an Kraft, <strong>die</strong> Sonne wird<br />

('me ScheIbe, <strong>die</strong> ihre Bahn zieht. Bald zeigt sich <strong>die</strong> Scheibe als<br />

"me feunge Kugel, e<strong>in</strong> Ball, der sich um <strong>die</strong> Erde bewegt. Danach<br />

wIrd umgekehrt <strong>die</strong> Erde e<strong>in</strong>e Kugel, <strong>die</strong> sich um <strong>die</strong><br />

:,onne als Zentrum bewegt, und schließlich ist <strong>die</strong>ses Sonnensystem<br />

nur e<strong>in</strong>es unter vielen anderen. Unsere Sonne wurde<br />

dann weitgehend durch das Sonnenspektrum erforscht.<br />

Wo Ist nun <strong>die</strong> Wahrheit? Vermag gerade <strong>die</strong> heutige Physik<br />

und Astronomie zu behaupten, sie entdecke den Kosmos so, wie<br />

er seI) Wo hegt das Kriterium dafür, daß <strong>die</strong> heutige Auffassung<br />

dpr Sonnensysteme <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zig wahre sei, daß sie mith<strong>in</strong> wahrer<br />

'PI als dIe fruhere und gar <strong>die</strong> mythische? Aber sprechen wir<br />

tlIcht auch noch vom Untergang der Sonne? Ist das nur e<strong>in</strong>e<br />

!{('dewelse? Sehen wir sie nicht wirklich untergehen, und behprr~cht<br />

dIese Unverborgenheit der Sonne nicht unser alltägllc<br />

hes Dasem?


166 Wesensbereuh der Wahrhelt - Wesen der Wlssenschafi<br />

c) Wissenschaftliche Wahrheit<br />

Mit welchem Recht dekretieren wir e<strong>in</strong>fach, der Mythos SeI<br />

Aberglaube? Wenn aber ke<strong>in</strong> Recht dazu besteht, gibt es dann<br />

bezüglich des Seienden verschiedene Wahrheiten, und wie ver<br />

halten sie sich zue<strong>in</strong>ander? Wenn wir zugeben bzw. grundsatz<br />

lich verstehen, daß auch im Mythos e<strong>in</strong>e eigene Wahrheit liegt<br />

dann besteht offenbar zwischen vorwissenschaftlicher und WI'i<br />

senschaftlicher Wahrheit ke<strong>in</strong> Wesensunterschied mehr, san<br />

dern beide s<strong>in</strong>d nur dem Grade nach verschieden, und zwar<br />

<strong>in</strong>sofern, als <strong>in</strong> der Wissenschaft mehr Kenntnisse vorliegen, da'i<br />

e<strong>in</strong>zelne genauer bestimmt und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zusammenhang bes<br />

ser begründet ist. Bei welchem Grade fängt dann aber <strong>die</strong><br />

wissenschaftliche Wahrheit an und wo hört <strong>die</strong> vorwissenschaft<br />

liche auf? Hat nicht gerade <strong>die</strong> Wahrheit des Mythos den Vorzug<br />

e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Geschlossenheit, und beruht nicht seme<br />

Macht gerade mit dar<strong>in</strong>, daß alles e<strong>in</strong>heitlich begründet Ist,<br />

während wir <strong>in</strong> manchen Wissenschaften vor lauter Tatsachen<br />

<strong>die</strong> Wirklichkeit des Seienden nicht mehr sehen?<br />

So ist <strong>die</strong> wissenschaftliche Wahrheit weder <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige noch<br />

<strong>die</strong> höchste. Auch kann das Wesen <strong>die</strong>ser Wahrheit ~icht dann<br />

liegen, daß <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong>e möglichst große Masse von Tatsachen<br />

offenbar wird und daß <strong>die</strong> Bestimmung derselben e<strong>in</strong>en hohe<br />

ren Grad von Genauigkeit bei sich führt. Durch solche Verglel<br />

che kommen wir nicht zum Wesen der Wissenschaft und zur<br />

Kennzeichnung des Wesens des wissenschaftlichen Dasems; wIr<br />

sehen höchstens, daß ihm gar nicht ohne weiteres <strong>die</strong> Auszelch<br />

nung zukommt, <strong>die</strong> man ihm auf dem Boden e<strong>in</strong>es gewissen<br />

Aufklärerturns beimessen möchte.<br />

Aber wie sollen wir anders <strong>in</strong> das Wesen der Wissenschaft und<br />

des wissenschaftlichen Dase<strong>in</strong>s Licht br<strong>in</strong>gen? Wissenschaft 1',(<br />

e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit; <strong>die</strong>se gehört zum Dase<strong>in</strong>. Sofern <strong>die</strong>se


168 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

des heutigen Dase<strong>in</strong>s aus dem Wege gehen, statt <strong>die</strong> freien 1\ f<br />

U e<br />

zu hören oder erst das Gehör dafür zu bilden.<br />

Der ßioS; frEO>Qrp;LXOS; als Problem erfordert mehrere Fragen: 1<br />

Wie entstand <strong>die</strong>se Dase<strong>in</strong>sgrundhaltung? 2. Wie vollzog sich'<br />

<strong>die</strong> Selbstauslegung <strong>die</strong>ses ßioS;? 3. Welche Auffassung Von Leben,<br />

Dase<strong>in</strong>, Existenz liegt der Entstehung und Auslegun<br />

zugrunde? 4. Wie wird <strong>die</strong>ser ßioS; gegen andere abgegrenzt, un~<br />

welche Rangstellung hat er unter den übrigen? 5. Welches s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> besonderen metaphysischen Voraussetzungen für <strong>die</strong> Auffassung<br />

<strong>die</strong>ses ßios; als des höchsten?<br />

Im Folgenden kann aus den fünf Fragen nur <strong>die</strong> Hauptsache<br />

geklärt werden. Zuvor s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige unumgängliche Worterläuterungen<br />

nötig, <strong>die</strong> schon F<strong>in</strong>gerzeige geben für das Sachverständnis.<br />

frEO>Ql]"tLXOS; ßioS;, vita contemplativa ist <strong>die</strong> betrachtende<br />

Grundhaltung des Dase<strong>in</strong>s. BioS; heißt »Leben«, daher das<br />

Wort »Biologie«; von ~o>Tj leitet sich »Zoologie« ab. Der Mensch<br />

ist das ~0ov Myov fXOV, das animal rationale. Bios; und ~O>tl nennen<br />

beide das Leben, aber oft hat ßioS; e<strong>in</strong>e betonte Bedeutung:<br />

Biographie, Lebensgeschichte, »Leben« nicht im biologischzoologischen<br />

S<strong>in</strong>ne, sondern qua »Dase<strong>in</strong>«, Existenz. BioS; 'Il]ooD.<br />

das »Leben Jesu« ist e<strong>in</strong>e Erzählung, Darstellung de; Geschichte<br />

se<strong>in</strong>es Lebens. In unserem Falle geht es nicht um <strong>die</strong><br />

Erzählung der Lebensgeschichte und nicht um <strong>die</strong>se selbst als<br />

faktische mit all ihren Vorkommnissen und Umständen, sondern<br />

um <strong>die</strong> Grundrichtung e<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s, sofern es durch e<strong>in</strong>e<br />

wesentliche Haltung, <strong>die</strong> es sich selbst geben kann, sich bestimmt,<br />

um e<strong>in</strong>e mögliche Grundhaltung menschlicher Exi<br />

stenz. Konstitutiv für <strong>die</strong>sen ßios; ist <strong>die</strong> :rtQOUiQEOLS;, Anticipation.<br />

<strong>die</strong> freie Vorwegnahme e<strong>in</strong>er bestimmten Möglichkeit des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Zum Dase<strong>in</strong> gehören mehrere ßim und <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

der Wahl zwischen verschiedenen Grundrichtungen.<br />

eEO>Qrp;LXOS;, frEO>QOS;, frEO>Qiu verweist etymologisch auf {}Eu und<br />

.fog (6QQOS; den Zuschauer bei etwas,<br />

was e<strong>in</strong>en Anblick bietet, z. B. den Festbesucher der Olympl<br />

sehen Spiele; frEO>QElv ist ansQElv das Schauen und Betrachten der s<strong>in</strong>nlirhen<br />

und übers<strong>in</strong>nlichen Welt. Der Begriff der platonischen<br />

Idee ist aus <strong>die</strong>ser Grundhaltung der theoria, des frEO>QELV, herausgewachsen.<br />

ewgl]"tLXOS; wird noch nicht von Platon gebraucht,<br />

erst von Aristoteles als das so sich verhalten können,<br />

(!leses Betrachten als Möglichkeit.<br />

Bloc; {tEWgTj1:LXOS; ist also e<strong>in</strong>e neue Grundhaltung des menschlichen<br />

Dase<strong>in</strong>s als verweilendes Betrachten des Ganzen der<br />

VYelt. Aristoteles gibt frEO>Qta den S<strong>in</strong>n des »theoretischen« (im<br />

griechischen S<strong>in</strong>ne) Verhaltens. Das Wort frEO>Ql]"tLXOS; ist se<strong>in</strong>e<br />

Prägung. Er sieht <strong>in</strong> der frEO>Qiu <strong>die</strong> eigentliche Lebensbewegtheit,<br />

den re<strong>in</strong>sten S<strong>in</strong>n der EVEQYELU, d. h. <strong>die</strong> »erste« Bewegung<br />

als solche, 1:0 frELoV'. Das Worauf ist das ad.<br />

Es ist charakteristisch für <strong>die</strong> Etymologie der antiken Philologen<br />

nach Aristoteles 2 , daß sie frEOS; und frEO>Qiu auf das Betrachten<br />

der göttlichen D<strong>in</strong>ge, auf das Überwältigende, auf Gott,<br />

frEOC;, bezogen haben. Der aristotelische Gottesbegriff selbst wird<br />

bald nach Aristoteles religiös-ethisch umgedeutet bzw. er gibt<br />

dafür <strong>die</strong> kategoriale Struktur her._Die Entwicklung von frEO>Qiu<br />

III der antiochenischen skeptischen Schule führt daI1-n dazu, daß<br />

»theoretisch« jetzt nicht nur gegen »praktisch« unterschieden<br />

wird, sondern gegen glaubensmäßige Deutung, d. h. verstanden<br />

als »aus bloßer Vernunft«. So ist <strong>die</strong> Etymologie, <strong>die</strong> Alexandros<br />

,\ phrodisias gibt, verständlich und e<strong>in</strong> wichtiges Dokument der<br />

Bedeutungsgeschichte des aristotelischen Gottesbegriffes wie<br />

des S<strong>in</strong>ns von frE:ffiQiu: "to YUQ frEO>QElv / XUL a:rt' uu"tou "tOU OVO!lu"tOS;<br />

/)~AOV / OlC; fon :rtEQL "ttlV "tWV frEiO>v Ö'I\'LV"tE XUL YVWOLV' / Ol]!lULVEL YUQ "to<br />

j I I["rmann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und<br />

'\'·"tsch. Erster Band, 4. Aufl., Berl<strong>in</strong> 1922. S. 582. Vgl. ferner <strong>die</strong> Berichte über<br />

"~xdgoraS (Leben und Lehre). A.a.O., S. 575 ff.<br />

)1 - \lpxandros Aphrodisias, In Aristot. analytica priora I, ed. Wallies, pag. 5,<br />

_J


111111<br />

170 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

oQuv'tcdteLa. 3 In der Antiochenischen Exegetenschule (<strong>die</strong> selbs<br />

philosophisch wieder unter re<strong>in</strong> aristotelischem E<strong>in</strong>fluß stand;<br />

ist {tewQLa gleich iO"toQLa; io'toQLa: Kunde vom Seienden, nicht im<br />

besonderen S<strong>in</strong>ne des »Geschichtlichen«, auch Naturereignl' SSE'<br />

Erdbeben und dergleichen zählen dazu. .<br />

{tewQLa gleich io'tOQLa ist wissenschaftliche Tatsachenforschun<br />

im Gegensatz zu aAlTJyoQLa als heils geschichtlich-mystische I;.<br />

terpretation, Origenes. Typologie OXUl 'tWV J1.EA.A.OV'tWV opp. OW[!U<br />

(das Wirkliche)4.<br />

Die late<strong>in</strong>ische Übersetzung von {tELa ist vita contemplativa;<br />

templum, 'tEJ1.VELV, 'tEJ1.EVOS; (tempus) ist der abgegrenzte Bezirk als<br />

Standort des Augur, zugleich das Himmelsgewölbe, an dem er<br />

<strong>die</strong> Bezirke ausgrenzte und <strong>die</strong> Götterzeichen bestimmte. Con.<br />

templari heißt: »den heiligen Bezirk auf der Erde und am Hirn·<br />

mel mit dem Blick umfassen«. Später ist der Himmel nicht das<br />

Letzte, sondern Gott; darum heißt es nun: Betrachten und An·<br />

schauen Gottes, Versenkung <strong>in</strong> das Licht der Gottheit. Contern·<br />

plari wird zu e<strong>in</strong>em spezifisch religiösen und theologischen<br />

Ausdruck; vita comtemplativa und vita activa bezeichnen reh·<br />

giöse Verhaltungen.<br />

Thomas von Aqu<strong>in</strong>: Contemplatio aliquando capitur stricte<br />

pro actu <strong>in</strong>tellectus div<strong>in</strong>a meditantis et sic contemplatio est<br />

sapientiae actus, alio modo communiter pro omni actu, quo quis<br />

a negotiis exterioribus sequestratus soli deo vacat, quod quidern<br />

cont<strong>in</strong>git dupliciter, vel <strong>in</strong>quantum homo Deum loquentem <strong>in</strong><br />

3 A.a.O., Prooem., pag. 3, 19.<br />

• Vgl. H. Kihn, Über itEOlQIa und al.l.T]yoQla nach den verlorenen hermeneu·<br />

tischen Schriften der Antiochier. Theolog. Quartalsschrift LXII (1880), S<br />

531-558); vgL H. Kihn: Theodorus Magnesia und Innitius Afr. als Exegeten<br />

1880. Instituta regularia div<strong>in</strong>ae legis (Bdtg.·f.M.A.)<br />

Literatur: Paul Boesch, »itEOlQO,«. Untersuchungen zur Epangelie griech 1<br />

scher Feste. Diss. Berl<strong>in</strong> 1908. Franz Boll, Vita contemplativa. (Sitzungsber. d<br />

Heidelb. Akademie der Wissenschaften, Phil. hist. Klasse, Jg. 1920, Abh. 8, bes.<br />

S. 23 ff.) - Georg Curtius br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en »Grundzügen der griechischen<br />

Etymologie« (4. Aufl., Leipzig 1873, 253) ita.F mit dem dorischen itii~aL<br />

itaEOf!UI, itEaofLUI »Staunen« <strong>in</strong> Verbimtung.<br />

,~2J. Wissenschaft als Grundhaltung der Existenz 171<br />

. . turis audit, quod fit per lectionem, vel <strong>in</strong>quantum Deo<br />

scnp . . 5<br />

. tur quod fit per oratlOnem.<br />

I oqUl , .,. .<br />

Die Betrachtung Wird emmal 1m strengen Smne gefaßt für<br />

denjenigen Akt des Intellekts, der, div<strong>in</strong>a meditantis, das Götthche<br />

bedenkt, wenn man so sagen will. So ist <strong>die</strong> contemplatio<br />

der eigentliche actus der Weisheit, der sapientia. In e<strong>in</strong>em weiteren<br />

S<strong>in</strong>ne aber. wird contemplatio für denjenigen Akt genom­<br />

Dlen, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>er; frei geworden von den äußeren Geschäften,<br />

sich frei gibt, se<strong>in</strong>e Zeit, für Gott alle<strong>in</strong>. Im engeren wie im<br />

weiteren S<strong>in</strong>ne besagt contemplari betrachten, Meditation der<br />

göttlichen D<strong>in</strong>ge. Die letztere Bedeutung von contemplari kann<br />

wiederum e<strong>in</strong>e zweifache se<strong>in</strong>, Lesung der Schrift und Gebet.<br />

Vom Begrifflder contemplatio unterschied sich schon im Mittelalter<br />

derjenige Begriff, der <strong>in</strong> der Neuzeit zur Bezeichnung<br />

des Theoretischen, gebraucht wird, nämlich der Begriff der speculatio,<br />

speculari. Wenn im deutschen Idealismus Fichte, Schell<strong>in</strong>g,<br />

Hegel von der Spekulation sprechen, me<strong>in</strong>en sie nichts<br />

anderes als das theoretische Erkennen. Der Unterschied zwischen<br />

contemplatio und speculatio besteht dar<strong>in</strong>, daß <strong>in</strong> der<br />

contemplatio als' e<strong>in</strong>er religiösen Haltung Gott direkt betrachtet<br />

wird, während <strong>die</strong> speculatio dadurch ausgezeichnet ist, daß sie<br />

div<strong>in</strong>a <strong>in</strong> creaturis <strong>in</strong>spicit, d.h. das Göttliche betrachtet, soweit<br />

es sich im Geschaffenen bekundet, quasi <strong>in</strong> speculo, gleichsam<br />

wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spiegel, als sei das Geschaffene e<strong>in</strong> Spiegel Gottes.<br />

Hier bekommt speculari, das auf das late<strong>in</strong>ische species, Anblick<br />

'- lauter Begriffe aus der Sphäre des Sehens - zurückgeht, obwohl<br />

noch auf göttliche D<strong>in</strong>ge orientiert, <strong>die</strong> Tendenz zu dem­<br />

Jenigen Erkennen, das der Mensch von sich aus vollzieht, das<br />

also nicht primär durch den Glauben bestimmt ist. Spekulation<br />

heißt dann das freie Nachs<strong>in</strong>nen über <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge. Spekulativ<br />

wird später, so auch bei Kant, e<strong>in</strong>fach zur Bezeichnung für das<br />

I . Thomas von Aqu<strong>in</strong>, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri<br />

.ombardl eplscopi Parisiensis (1253-1255). 4. sent., dist. 15, quaest. 4, art. 1,<br />

",IUtlO 2, dd primum.


172 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

Theoretische: spekulative Metaphysik im Unterschied zur prak_<br />

tischen Metaphysik.<br />

Man muß <strong>die</strong>se Grundbedeutungen des Wortes »theoretisch«<br />

und den Zusammenhang, <strong>in</strong> dem es erwachsen ist, vor Augen<br />

haben, e<strong>in</strong>mal um zu verstehen, <strong>in</strong> welcher Richtung sich <strong>die</strong><br />

Interpretation der Wissenschaft mit Hilfe der sogenannten<br />

theoretischen Haltung bewegt, sodann aber, um auch deutlich<br />

machen zu können, <strong>in</strong>wiefern <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Interpretation der Wissenschaft<br />

e<strong>in</strong>e Grenze liegt, und das heißt, um e<strong>in</strong>sichtig zu<br />

machen, daß wir entscheidende Schritte tun müssen, um gegenüber<br />

der seit der Antike üblichen und schlechth<strong>in</strong> selbstverständlich<br />

gewordenen Auslegung der Wissenschaft auf e<strong>in</strong><br />

ursprünglicheres Wesensverständnis zu stoßen.<br />

Zunächst gilt es zu verdeutlichen, was ~LO~ -ttEQ}Ql]LLXO~ im<br />

Unterschied zu anderen möglichen ~LOL besagt.<br />

Aristoteles kommt auf <strong>die</strong> ~LOL gleich zu Beg<strong>in</strong>n der Nikomachischen<br />

Ethik A 3 zu sprechen, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em charakteristischen<br />

Zusammenhang. Es ist <strong>die</strong> Aufgabe, das Ganze zu<br />

umgrenzen, was <strong>die</strong> Existenz des Menschen als solche ursprünglich<br />

und eigentlich bestimmt. "to aya-ttov, EUömllovLa, ~Q}tT' als<br />

3tQä~~, nicht 3tOLl]m~. 3tQä~L~ ist das Wirken, das zu Ende kommt<br />

im Wirkenden selbst; der Mensch ist Zweck se<strong>in</strong>er selbst. Aber<br />

was ist nun im Menschen und Menschse<strong>in</strong> das aXQo'{amv aya-tt6v,<br />

das Worumwillen, um <strong>die</strong> Grundmöglichkeit des Menschse<strong>in</strong>s<br />

se<strong>in</strong>em Wesen gemäß zu ergreifen und zu verwirklichen? Auf<br />

welchem Wege ist <strong>die</strong>ses aya-ttov zu f<strong>in</strong>den?<br />

Der ~L~ -ttEQ}Ql]"tLXO~ wird nicht im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er<br />

Klärung des Wesens der Wissenschaft ause<strong>in</strong>andergelegt, sondern<br />

<strong>in</strong> der Frage nach dem av-ttQumLVov aya-ttov; doch wird jenes<br />

auch <strong>in</strong> der »Metaphysik« A 1 und 2 erfragt. "toyaQ aya-ttovxai "t~v<br />

EuömllovLav oux aA.6yQ}~ EOLxamv, EX "tmv ~LQ}V imA.all~avELv ... (Nik.<br />

Eth. A 3, 1095 b 14 sq.)6. Das den ~LOL zugrunde Liegende, sie<br />

6 Aristotelis Ethica Nicomachea. Recognovit Franciscus Susemihl. Lipsiae<br />

<strong>in</strong> aedibus B.G. Teubneri 1882.<br />

§ 2J. Wissenschaft als Gro.ndhaltung der Existenz 173<br />

. rnrnende ist zu erfassen. Hierzu s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> ~LOL geeignet, <strong>die</strong><br />

Best!<br />

nders aus<br />

d"<br />

en u<br />

b<br />

ngen<br />

. h<br />

ervorragen.<br />

- . , . , '<br />

"tQEL~ yaQ WJL llall.La"ta OL<br />

bes o - , . [ " . ] " , ' ,<br />

. X OV 1:E' Ö 1:E VUV ELQllIlEVO~ a3tOll.aUaLLXO~ xm 0 3tOIl.LLLXO~ xm<br />

:TOOU ~,<br />

.~. 0' 0 {}EQ}Ql]"tLXO~ (1095 b 17-19). Von <strong>die</strong>sen "tEA.l] gilt ÖL' aU"ta<br />

tQIT ~<br />

. CtQ ayanä1:aL (1096 a 8 sq.).<br />

I Taya{}Ov öE OLXErOV "tL xai öuaa


174 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

fm:fQ Oll 'tl]V E:n:ioXE'i'LV EV 'tOt~ f:n:O!tEVOt~ :n:OtljOOIlE'fra (1096 a 4 sq.).<br />

Vgl. Nik. Ethik Z 13 und K 7 sqq.<br />

§ 24. Die ursprüngliche Zusammengehärigkeit von Theorie<br />

und Praxis im {}t;wC!elv als Offenbarmachen des Seienden<br />

Die theoretische Grundhaltung ist <strong>die</strong> höchste. Warum? In der<br />

Nikomachischen Ethik heißt es, K 6 (1176b 1 sqq.): [ElJöaLf.l,ovia 1<br />

Ei~ EVEQYEulV 'tLva 'frE'tEOV ... [1. xa'fr' afl'tu~, 2. ÖL' E'teQa. J xa'fr' au'ta~<br />

ö' dOLV alee,;at UIP' rov Illjöfv E:n:L~lj'tEt'taL :n:aQu 'tl]V EvEQYELav.<br />

K 7: EUöaLllOvia xa't' aQE'tl]V EVEQYELa, EUAOYOV xa'tu 'tl]V xQu'ti01:11V<br />

( 11 77 a 12 sq.). xQa'tiQLa nicht nur überhaupt<br />

e<strong>in</strong>e :n:QU1;L~, sondern <strong>die</strong> eigentlichste ist.<br />

Aristoteles mag gespürt haben, daß auf den ersten Blick hier<br />

etwas Unvere<strong>in</strong>bares liegt, <strong>die</strong> 'frEO>QLa als aQLQLa noch<br />

praktisch se<strong>in</strong>? Sie muß das doch se<strong>in</strong>, wenn äQLv XUQLV YLvollEva~ EX 'tov :1tQUUELV. al) .. o.<br />

:n:OAU IlUMOV 'tu~ aü'tO'tEA.E~ xat 'tu~ uv'twv EVEXEV 'frEO>Qiac; xaL ÖLaVOT](JElt;'<br />

tl YUQ eu:n:Qa1;La 'ttA.o~, W


176 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

deIn angewiesen auf solches, worauf es sich bezieht. Wir hörten<br />

ferner, das ayatl'ov aXQoLa1:Ov solle bleibend se<strong>in</strong>; aber das Seiende<br />

wechselt doch, entsteht und vergeht und bietet nicht ohne weiteres<br />

bleibenden Besitz. Wie müßte Aristoteles hierauf antworten?<br />

Gewiß, das tl'EffiQELV bezieht sich auf 'tu OVLa; aber im<br />

eigentlichen S<strong>in</strong>ne seiend ist nur, was nie nicht, d.h. was immer<br />

seiend ist, ad Ov. Nur sofern sich <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Betrachtung auf das<br />

Immerseiende richtet, gibt sie sich als <strong>die</strong>sem Verweilen beim<br />

Bleibenden selbst den Charakter der Beständigkeit.<br />

Aber freilich ist nur <strong>in</strong> verstärktem Maße gezeigt, daß <strong>die</strong><br />

tl'EffiQi.a als 3tQasL~ auf E'tEQOV, auf anderes angewiesen ist. Inwiefern<br />

kann sie dann au'to'teA:ll~ se<strong>in</strong> und auf Grund <strong>die</strong>ses Charakters erst<br />

e<strong>in</strong> OtXELOV ayatl'Ov avtl'Qo)3tou? Inwiefern ist <strong>die</strong> {l'effiQta e<strong>in</strong>e 3tQasL~<br />

aU1:O'tEAtl~, auf das Seiende gerichtet und doch 'tEAO~ im Dase<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />

sich <strong>die</strong> Vollendung, wo sie doch gerade auf das Seiende gerichtet<br />

ist, von sich, der Handlung weg? Gerade das Wesen der Handlung,<br />

damit sie selbst als 'tEAO~ se<strong>in</strong> kann, braucht zwar dabei nicht<br />

erfaßt zu se<strong>in</strong>. Die Gegenstände s<strong>in</strong>d aber doch E'tEQOV.<br />

Welchen Charakter hat dann das tl'EffiQELV? Aristoteles zeigt <strong>in</strong><br />

der Nikomachischen Ethik Z ganz klar, es besteht im,clATjtl'EuELv,<br />

im Offenbarmachen des Seienden; <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser 3tQas~ wird nicht<br />

Seiendes bearbeitet, sondern <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden<br />

erhandelt, d.h. das Handeln ist e<strong>in</strong> zum Geschehen-br<strong>in</strong>gen der<br />

Unverborgenheit, der Wahrheit. Diese aber ist e<strong>in</strong>e Wesensbestimmung<br />

des Dase<strong>in</strong>s - nach unserer Interpretation, nicht der<br />

traditionellen - als existierendem handelndem Dase<strong>in</strong> und Inder-Wahrheit-se<strong>in</strong>.<br />

tl'EffiQELV ist <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong> solches Handeln, das<br />

als offenbar machendes nur Offenbarkeit geschehen läßt, <strong>die</strong>,<br />

selbst zum Dase<strong>in</strong> gehörig, <strong>die</strong>ses zu dem br<strong>in</strong>gt, was es se<strong>in</strong> kann,<br />

sofern es qua existierendes <strong>in</strong> der Wahrheit ist, e<strong>in</strong>e Wesensmöglichkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Wenn <strong>die</strong>ses Geschehen selbst sich als<br />

»Ende« und Vollendung faßt, dann geschieht gerade Offenbarkeit<br />

des Seienden.<br />

Gewiß ist das tl'EffiQELV auf das Seiende gerichtet; gewiß ist so<br />

<strong>die</strong>ses Handeln auf etwas geridnet, was es nicht selbst ist, aber<br />

§ 24. Zusammengehöngkelt von Theorie und Praxis 177<br />

das tl'EOOQELV hat nicht zum Ziel, das Seiende gleichsam herzustellen<br />

bzw. <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>n zu gestalten, zu bearbeiten, sondern<br />

"ne <strong>die</strong> Bezeichnung sagt, es lediglich zu betrachten. Es kommt<br />

nur auf <strong>die</strong> Erkenntnis des Seienden als solchen an, d.h. auf <strong>die</strong><br />

Offenbarkeit des Seienden, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der nur betrachtenden Erkenntnis<br />

erwächst. Jetzt wird deutlich, wie entscheidend <strong>die</strong><br />

rechte Herausarbeitung des Wahrheitsbegriffes ist; jetzt erst wird<br />

EWguXEV, ÖQa verständlich: gerade das Seiende, so wie es ist, se<strong>in</strong> zu<br />

lassen, d.h. aber ihm <strong>die</strong> Unverborgenheit zu gewähren, als betrachtendes<br />

Dase<strong>in</strong> sich <strong>in</strong> solcher Offenbarkeit zu halten.<br />

Das 'seiende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Unverborgenheit, 'to ov aATjtl'E~ ist es,<br />

worumwillen das tl'EffiQELV handelt. Daher sagen <strong>die</strong> Griechen sehr<br />

oft, wenn sie davon sprechen, daß <strong>die</strong> betrachtende Erkenntnis<br />

das Seiende erforsche, sie erforsche <strong>die</strong> Wahrheit, d.h. aber griechIsch)<br />

das Seiende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Unverborgenheit. Die Wahrheit <strong>in</strong><br />

dlesem S<strong>in</strong>ne ist das 'tEAO~, das, wor<strong>in</strong> sich <strong>die</strong>ses Handeln als das<br />

In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> vollendet. ayatl'ov, ou EVExa, worumwillen<br />

gehandelt wird, ist Unverborgenheit, <strong>die</strong>se aber Wesensbestimmung<br />

des Dase<strong>in</strong>s selbst.<br />

Warum nun der ßtO~ {l'effiQTj'tLXO~ für <strong>die</strong> Griechen (Platon, Aristoteles)<br />

der höchste wurde und ob er das schlechth<strong>in</strong> ist und <strong>in</strong><br />

welchem S<strong>in</strong>ne, können wir im e<strong>in</strong>zelnen nicht erörtern. Für uns<br />

bleibt als wesentliches Resultat, daß {l'effiQeLV im Wesenszusammenhang<br />

mit 3tQasL~ (Existenz, Dase<strong>in</strong>) und Wahrheit, Unverborgenheit<br />

steht, und zwar Erkenntnis des ovals ad OV, des<br />

Immerseienden. E<strong>in</strong>e Zweideutigkeit besteht noch: a) nicht nur<br />

em bestimmtes Gebiet von Seiendem, das <strong>die</strong>se Se<strong>in</strong>sart hat -<br />

grundsätzliche Unklarheit über Ontologie als allgeme<strong>in</strong>e Ontik -,<br />

sondern b) das Se<strong>in</strong> jedes Seienden als »Wesen«, das Immerwährende<br />

an jedem Seienden, was immer schon angetroffen wird an<br />

lhm.<br />

Doch das haben wir schon ause<strong>in</strong>andergelegt im Anschluß an<br />

<strong>die</strong> traditionelle Def<strong>in</strong>ition der Wissenschaft, <strong>in</strong>dem wir den tradltlOnellen<br />

Wahrheitsbegriffradikaler faßten und sahen: Wissenschaft<br />

ist e<strong>in</strong>e Art von Wahrheit, e<strong>in</strong>e Weise des In-der-Wahrheit-


178 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

se<strong>in</strong>s. Aber gerade das Eigenartige <strong>die</strong>ser Art und Weise ist es, was<br />

wir suchen. Gibt <strong>die</strong> Kennzeichnung derselben als »theoretisch«<br />

h<strong>in</strong>reichend Aufschluß?<br />

Theoretisch heißt: betrachtendes Verhalten - aber nicht jedes<br />

Betrachten und Beschauen von etwas nennen wir schon Wissenschaft.<br />

(Beschauliches Dase<strong>in</strong> ist ke<strong>in</strong>e Wissenschaft.) Selbst<br />

wenn wir Betrachtung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgezeichneten S<strong>in</strong>ne als Schau<br />

und Versenkung nehmen, als Verhalten des Mystikers, so sagen<br />

wir schon mit der letzten Bezeichnung, daß gerade <strong>die</strong>se contemplatio<br />

von der Wissenschaft recht weit entfernt, ja grundsätzlich<br />

geschieden i~t, wenn anders Wissenschaft sogar der Fe<strong>in</strong>d aller<br />

Mystik bleibt.<br />

Aber selbst wenn man das theoretische Verhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

nicht mystischen S<strong>in</strong>ne faßt und »theoretisch« als bloßes Betrachten<br />

der D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong>terpretiert, trifft es nicht das wissenschaftliche<br />

Verhalten. Denn auch <strong>in</strong> den Wissenschaften gibt es »praktische«<br />

technische Hantierung - alle experimentelle Forschung ist Beleg,<br />

aber auch philologisch-historische Arbeit etwa bei Handschrifteneditionen<br />

oder archäologischen Grabungen. Solche Tätigkeiten<br />

gehören zu den genannten Wissenschaften; es ,s<strong>in</strong>d nicht<br />

äußere Vorkehrungen, sondern <strong>die</strong> Gegenstände der betreffenden<br />

Wissenschaft fordern solches.<br />

So zeigt sich erneut: Die Wissenschaft, <strong>die</strong> man theoretische<br />

E<strong>in</strong>stellung nennt, ist erstens praktisch als Handlung, zweitens<br />

praktisch im S<strong>in</strong>ne der technischen Bewerkstelligung und Hantierung.<br />

Die Bezeichnung »theoretisch« verdeckt gerade <strong>die</strong>sen<br />

doppelten Handlungscharakter der Wissenschaft. Aber <strong>die</strong> Bezeichnung<br />

kann gleichwohl nicht zufällig se<strong>in</strong>. Sie zeigt e<strong>in</strong><br />

Wesensmoment der Wissenschaft an, ohne es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kern zu<br />

fassen. Denn <strong>die</strong>ser ist nicht gefaßt, auch wenn wir »theoretisch«<br />

als >>nur betrachtend«, und zwar unter Mite<strong>in</strong>schluß des praktischen<br />

Charakters, <strong>in</strong>terpretieren, ja selbst dann nicht, wenn wir<br />

das »nur betrachten« auslegen als »um_ der Erkenntnis willen«,<br />

»um der Wahrheit willen«. Am Ende kommen wir dem »theoretischen«<br />

Verhalten und se<strong>in</strong>em Wesen nur dadurch nahe, daß<br />

§ 25. Konstruktion des Wesens der Wissenschaft 179<br />

wir nach der :7tQustt;, dem spezifischen Handlungscharakter der<br />

Erkenntnis um der Wahrheit willen fragen.<br />

§ 25. Konstruktion des Wesens der Wissenschaft<br />

a) In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der Wahrheit willen<br />

Alles Verhalten des Dase<strong>in</strong>s - so wissen wir schon - ist als solches<br />

e<strong>in</strong> In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>. Aber nicht jedes In-der-Wahrheitse<strong>in</strong><br />

ist eigens schon e<strong>in</strong> solches umwillen der Wahrheit. Sich <strong>in</strong><br />

der Offenbarkeit von Seiendem halten und zu <strong>die</strong>sem sich verhalten,<br />

besagt nicht notwendig, <strong>die</strong>se Offenbarkeit eigens als<br />

solche kennen oder gar sich um <strong>die</strong>se primär bemühen. Umwillen<br />

der Wahrheit erkennen ist demnach e<strong>in</strong> ganz spezifisches<br />

Sich-<strong>in</strong>-der-Unverborgenheit-halten - umwillen e<strong>in</strong>er Unverborgenheit<br />

des Seienden selbst.<br />

Damit stoßen wir auf das zentrale Problem e<strong>in</strong>er Wesens<strong>in</strong>terpretation<br />

der Wissenschaft. Es muß gefragt werden: Wor<strong>in</strong><br />

liegt das Auszeichnende derjenigen Existenzart des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong><br />

der so etwas wie das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der Wahrheit<br />

willen geschieht? Was besagt <strong>die</strong>ses? Wir können <strong>die</strong>ses Problem<br />

auch auf e<strong>in</strong>e Formel br<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> sichtbar macht, daß durch <strong>die</strong><br />

Orientierung am »Theoretischen« und se<strong>in</strong>em Worts<strong>in</strong>n das<br />

Problem nicht erreicht wird. Dann ist zu fragen: Welches ist <strong>die</strong><br />

ursprüngliche Handlung, Urhandlung des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> der so<br />

etwas wie <strong>die</strong> sche<strong>in</strong>bar praxisfreie, nur betrachtende E<strong>in</strong>stellung<br />

der Wissenschaft möglich wird? In der ersten Formel<br />

kommt nun auch <strong>die</strong> Frage nach e<strong>in</strong>em existenzialen Begriff der<br />

Wissenschaft zum deutlichen Ausdruck. Wir versuchen jetzt <strong>die</strong><br />

Konstruktion des Wesens der Wissenschaft.<br />

Wissenschaft besagt: In der Unverborgenheit des Seienden<br />

se<strong>in</strong> um der Unverborgenheit willen. Wir gehen von der letzten<br />

Bestimmung aus: um der Wahrheit willen heißt um der UnverbOrgenheit<br />

des Seienden willen. Dem existierenden Dase<strong>in</strong>


180 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

liegt daran, daß das Seiende unverborgen ist und es sich Zum<br />

Seienden <strong>in</strong> dessen Unverborgenheit verhält. Es geht um <strong>die</strong><br />

Wahrheit, d. h. nicht primär um e<strong>in</strong>en geltenden Satz, sondern<br />

um <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden selbst. Es gilt, das Seiende<br />

se<strong>in</strong> zu lassen, was und wie es ist.<br />

Doch haben wir <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen des Seienden nicht auch schon<br />

bei der Kennzeichnung unseres Aufenthalts bei den D<strong>in</strong>gen um<br />

uns herum angetroffen? Dabei kann <strong>die</strong>ses Verhalten zu den D<strong>in</strong>gen<br />

nicht e<strong>in</strong> wissenschaftliches genannt werden. Gewiß liegt <strong>in</strong><br />

allem Verhalten zu Seiendem e<strong>in</strong> gewisses Se<strong>in</strong>lassen desselben;<br />

jetzt aber g~ht es eigens um <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden,<br />

d.h. darum, daß das Seiende an ihm selbst sich offenbart und daß<br />

<strong>die</strong>ses Offenbarwerden geschieht. Das Se<strong>in</strong>lassen des Seienden<br />

liegt jetzt nicht nur im Verhalten des Dase<strong>in</strong>s, sondern das Dase<strong>in</strong><br />

als existierendes verlegt sich gerade <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen des Seienden.<br />

Das Dase<strong>in</strong> vollzieht e<strong>in</strong>e bestimmte existenzielle Grundbewegung,<br />

<strong>in</strong> der es sich eigens als Aufgabe vor-gibt, das Seiende<br />

an ihm selbst zu se<strong>in</strong>em Recht und zu Wort kommen zu lassen.<br />

Zwar ist das Seiende auch ohne und vor der Wissenschaft schon<br />

offenbar, ja dasjenige Se<strong>in</strong>lassen des Seienden, das di~ Wissenschaft<br />

auszeichnen soll, muß sogar, als e<strong>in</strong> ganz eigenartiges, schon<br />

immer von der Offenbarkeit des Seienden Gebrauch machen.<br />

Denn nur so kann es <strong>die</strong>ses, das Seiende nämlich, an ihm selbst se<strong>in</strong><br />

lassen. Vor dem spezifisch wissenschaftlichen Se<strong>in</strong>lassen und für<br />

<strong>die</strong>ses muß Seiendes schon offenbar se<strong>in</strong>. Wissenschaft muß Seiendes<br />

vorf<strong>in</strong>den können. Es gehört zu ihr, daß sie Seiendes immer<br />

schon, und zwar als irgendwie Offenbares vorliegen hat. Wir nennen<br />

<strong>die</strong>ses vorliegende und daher von der Wissenschaft immer<br />

schon vorf<strong>in</strong>dliche Seiende das Positum.<br />

Alle<strong>in</strong>, wenn doch schon das Seiende, und zwar als offenbares<br />

vorliegt, wozu dann noch Wissenschaft? Doch wenn Wissenschaft<br />

möglich ist, dann muß bei aller Offenbarkeit von Seiendem, <strong>in</strong><br />

der sich das Dase<strong>in</strong> immer schon hält, noch e<strong>in</strong>e spezifische Verborgenheit<br />

des Seienden existieren, <strong>die</strong> nur Wissenschaft als<br />

solche überw<strong>in</strong>det.<br />

, § 25. Konstruktion des Wesens der Wissenschaft 181<br />

Nehmen wir e<strong>in</strong> elementares Beispiel: In der Landbestellung<br />

wird unter vielem anderen auch offenbar, daß der Ackerboden<br />

beim Pflügen e<strong>in</strong>en Widerstand bietet und daß dementsprechend<br />

<strong>die</strong> Pflugschar e<strong>in</strong>e bestimmte Härte und Festigkeit haben muß.<br />

Dieser Zusammenhang von Ackerboden und Pflugschar aber<br />

wird als solcher gar nicht weiter beachtet oder gar betrachtet; er<br />

ist nur bekannt <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er bestimmten Nutznießung und<br />

Bearbeitung des Bodens, der Erde. Dasselbe Verhältnis von Druck<br />

und Gegendruck kann beim Hausbau begegnen, wo e<strong>in</strong>e entsprechende<br />

Festigkeit des Fundaments gefordert wird, ebenso<br />

beim Brücke:r;:tbau der Pfeiler und so noch <strong>in</strong> vielen anderen Zusammenhängen<br />

des gebrauchenden und herstellenden Umganges<br />

mit den D<strong>in</strong>gen.<br />

So bildet sich für den Umgang mit den D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong> gewisses<br />

Sich auskennen <strong>in</strong> ihnen: In der Regel ist es mit den D<strong>in</strong>gen so<br />

und so bestellt. Diese Regelhaftigkeit gibt sich aber weniger als<br />

e<strong>in</strong> Charakter der D<strong>in</strong>ge selbst, denn als Leitfaden des Verhaltens<br />

ihnen gegenüber. Zwar s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> gewisser Weise offenbar,<br />

gleichwohl brauchen sie dabei nicht das völlig herzugeben,<br />

was sie an ihnen selbst s<strong>in</strong>d. Denn es besteht <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong><br />

genannten Beziehungen von Druck und Gegendruck ohne Rücksicht<br />

darauf <strong>in</strong>s Auge zu fassen, daß ihnen <strong>in</strong> der Verwendung<br />

Rechnung getragen wird. Diese Beziehungen können sich als<br />

solche herausstellen, <strong>die</strong> jedem materiellen D<strong>in</strong>g, jeder Masse<br />

zukommen, und zwar so, daß sie dabei unter e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en<br />

Gesetz der Schwerkraft stehen.<br />

Wascist dann geschehen, wenn sich das Seiende, <strong>die</strong> materiellen<br />

D<strong>in</strong>ge, derart herausstellen? Was muß geschehen se<strong>in</strong>, damit <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge " sich derart offenbaren können? Genügt es zu sagen: Die<br />

praktische technische Erfahrung wurde erweitert über den engeren<br />

Gesichtskreis h<strong>in</strong>aus, den Landbestellung, Haus- und Brükkenbau<br />

bieten? Doch was heißt da erweitern, daß etwa an<br />

anderen Plätzen und Gegenständen auch entsprechende Pflugscharen<br />

und Fundamente hergestellt werden müssen, daß alle<br />

Menschen <strong>die</strong>ser Regel Rechnung zu tragen haben? Aber hier ist


182 Wesensberelch der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

ja nur der Anwendungsbezirk der Regel erweitert und dabei doch<br />

ke<strong>in</strong>e Rede von Masse, Dichte oder Schwerkraft. E<strong>in</strong>e bloße Erweiterung<br />

der praktisch-technischen Erfahrung hilft also nicht.<br />

Hier ist ja gar nicht mehr von e<strong>in</strong>er Regel für das Verhalten <strong>in</strong><br />

der technischen Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>die</strong> Rede. Demnach handelt<br />

es sich nicht um e<strong>in</strong>e Erweiterung des Anwendungsbezirks der<br />

Regel. Wenn überhaupt hier e<strong>in</strong>e Erweiterung primär e<strong>in</strong>e Rolle<br />

spielt, dann doch offenbar <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß gesagt wird: Diese<br />

Beziehungen s<strong>in</strong>d nicht nur da vorhanden, wo Boden und Geste<strong>in</strong><br />

uns bei der praktischen Bearbeitung zu schaffen machen, sondern<br />

auch dort, wo wir gar nicht h<strong>in</strong>gelangen mit unseren Geschäften,<br />

und woh<strong>in</strong> wir auch gar nicht h<strong>in</strong>zugelangen brauchen. Jetzt<br />

geht es nicht mehr bloß um e<strong>in</strong>e Erweiterung des Anwendungsbezirks<br />

der Verhaltungsregeln - denn auch von den D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong><br />

gar nicht von solcher Verhaltung betroffen werden können und<br />

brauchen, ist hier <strong>die</strong> Rede -, sondern der ganze Bezirk, von dem<br />

jetzt gesprochen wird, zeigt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Licht; das<br />

Gebiet der nächsten praktisch-technischen Bearbeitung ist jetzt<br />

nur noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Ausschnitt e<strong>in</strong>es umfassenderen. Es däm<br />

mert jetzt <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht, daß <strong>die</strong> praktischen Maßnahme:o. deshalb<br />

getroffen werden, weil am Ende alle materiellen D<strong>in</strong>ge solche<br />

Eigenschaften haben. .<br />

Bei der jetzigen Erweiterung handelt es sich so wenig um eme<br />

solche der praktischen Verhaltungsmaßregeln, daß gerade vom<br />

praktisch-technischen Verhalten abgesehen und nur da~auf hi~gesehen<br />

wird, wie eben <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge an ihnen selbst smd. MIt<br />

anderen Worten: Die verme<strong>in</strong>tliche Erweiterung der technischen<br />

Erfahrung ist im Grunde e<strong>in</strong>e völlige Verwandlung der Grundstellung<br />

zum Seienden. Doch was bedeutet <strong>die</strong>ses nur H<strong>in</strong>sehen<br />

auf <strong>die</strong> materiellen D<strong>in</strong>ge und Abstand nehmen von e<strong>in</strong>er praktisch<br />

-technischen Bearbeitung?<br />

§ 25. Konstruktion des Wesens der Wissenschaft 183<br />

b) Die Urhandlung. Das Se<strong>in</strong>lassen des Seienden<br />

Besagt <strong>die</strong>ses »Nur«, daß wir uns nicht mehr mit den D<strong>in</strong>gen zu<br />

schaffen machen und uns des praktischen Umgangs enthalten?<br />

Alle<strong>in</strong> dadurch, daß wir mit e<strong>in</strong>er Hantierung lediglich aussetzen,<br />

offenbart sich das Seiende, mit dem wir umgehen, nicht<br />

schon <strong>in</strong> der gekennzeichneten Weise an ihm selbst. Im GegenteIl,<br />

das Nichtstun als Aussetzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beschäftigung offenbart<br />

vi'elleicht <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge gerade um so e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher <strong>in</strong> der<br />

H<strong>in</strong>sicht, nach der sie erledigt se<strong>in</strong> wollen, d.h. als solche Gegenstände,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Bearbeitung fordern.<br />

Das >>nur H<strong>in</strong>sehen« auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge an ihnen selbst ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

mit dem bloßen Nichtstun identisch. Das »Nur« me<strong>in</strong>t<br />

uberhaupt nicht e<strong>in</strong> Weniger und e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung, etwas<br />

Negatives, sondern etwas em<strong>in</strong>ent Positives. Nur h<strong>in</strong>sehen auf<br />

heIßt e<strong>in</strong>zig sich darauf verlegen, daß sich <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge an ihnen<br />

selbst darbieten. Damit kommt zum Ausdruck, daß <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge<br />

dergleichen gar nicht von selbst tun, auch wenn sie noch so handfest<br />

an sich vorhanden s<strong>in</strong>d. Es muß ihnen gleichsam <strong>die</strong> Gelegenheit<br />

verschafft werden, daß sie sich als das Seiende, das sie<br />

smd, offenbaren. Dieses ist <strong>die</strong> Urhandlung. Das betrachtende<br />

Verweilen bei den D<strong>in</strong>gen ist ke<strong>in</strong> Müßiggang; wohl aber bedarf<br />

es der Muße, um e<strong>in</strong>e Aktivität im höchsten S<strong>in</strong>ne zu entwickeln.<br />

Was soll das aber heißen, daß wir den D<strong>in</strong>gen zur Offenbarkeit<br />

verhelfen müssen? Wenn das Seiende sich an ihm selbst<br />

zeIgen soll, dann dürfen wir uns nicht daran zu schaffen machen;<br />

wir dürfen am Seienden nichts ändern, sondern wir sollen<br />

gerade zurücktreten, damit es, das Seiende, von ihm selbst her<br />

SIch offenbaren kann. Gerade jetzt kommt es e<strong>in</strong>zig darauf an,<br />

daß wir das Seiende so lassen, wie es ist, und es so nehmen, wie<br />

es SIch gibt.<br />

E<strong>in</strong>e Aktivität liegt also im wissenschaftlichen Handeln, <strong>die</strong><br />

den Charakter des Zurücktretens vor dem Seienden hat. Diese<br />

merkwürdige Aktivität des Zurücktretens beg<strong>in</strong>nt uns heute<br />

fremd zu werden, weil wir immer mehr der Me<strong>in</strong>ung werden,


184 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

»Handeln« und »Aktivität« sei lediglich oder vorwiegend da,<br />

wo Betrieb gemacht wird, das Geschäft geht, Gewalt sich durchsetzt,<br />

und weil wir verlernen, daß <strong>die</strong> Ehrfurcht vor den D<strong>in</strong>gen<br />

e<strong>in</strong>e weit höhere Kraft der Zuwendung verlangt als alles Überrennen<br />

und Nivellieren.<br />

So bedarf am Ende gerade <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen des Seienden, bei<br />

dem es e<strong>in</strong>zig um <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden geht, e<strong>in</strong>er<br />

besonderen »Anstrengung«, wenn anders nicht schon das bloße<br />

»Aussetzen« (Nichtstun) das Seiende an ihm selbst offenbar<br />

werden läßt. Das bloß betrachtende Verweilen ist also ke<strong>in</strong> quietistisches<br />

Verhalten. Doch was heißt das, daß wir das Seiende <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ausgezeichneten S<strong>in</strong>n als das se<strong>in</strong> lassen sollen, was es ist?<br />

Wir können es doch nicht vernichten, und wenn das nicht möglich<br />

ist, dann hat auch das Se<strong>in</strong>-lassen ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Daß das<br />

Seiende ist, was und wie es ist, hat es ja nicht durch unsere<br />

Gnade. Es liegt schon vor, ist e<strong>in</strong> positum, und wir können es<br />

nur vorf<strong>in</strong>den. Was heißt dann noch: se<strong>in</strong> lassen?<br />

Es ist <strong>die</strong>selbe Frage, <strong>die</strong> wir schon oben stellten, als wir<br />

fragten: Was muß geschehen, damit <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> der gekennzeichneten<br />

neuen Weise offenbar werden sollen? Die D<strong>in</strong>ge<br />

zeigten sich nicht mehr als Acker, Fundament und Brückenpfeiler,<br />

sondern als materielle Körper, Massenpunkte, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

bestimmten Beziehungen stehen. Das Seiende zeigt sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em anderen Licht; das heißt, was das Seiende ist, ist jetzt<br />

anders bestimmt; es ist nicht mehr Acker, Fundament, Pfeiler,<br />

sondern »e<strong>in</strong>fach« materielles D<strong>in</strong>g. Dieses Was aber enthält <strong>in</strong><br />

sich e<strong>in</strong>e Reihe von Bestimmtheiten: materielles, bewegliches<br />

D<strong>in</strong>g, bewegt im S<strong>in</strong>ne der Veränderung des Ortes <strong>in</strong> der Zeit. In<br />

e<strong>in</strong>s mit <strong>die</strong>ser anderen Bestimmung des Wasse<strong>in</strong>s geht auch<br />

e<strong>in</strong>e andere Fassung des Wie: es ist nicht mehr zuhanden für <strong>die</strong><br />

praktisch-technische Bearbeitung, sondern - außerhalb <strong>die</strong>sere<strong>in</strong>fach<br />

nur vorhandener materieller Körper, das Seiende qua<br />

Natur. Das Wasse<strong>in</strong> und Wiese<strong>in</strong> der D<strong>in</strong>ge ist anders bestimmt;<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zusammengehörigkeit bezeichnen wir es kurz als das<br />

Se<strong>in</strong> des jeweiligen Seienden":"<br />

, § 26. Der Wandel des Se<strong>in</strong>sverständnisses<br />

im wissenschaftlichen Entwurf.<br />

Die neue Bestimmung des Seienden als Natur<br />

In welcher Weise vollzieht sich aber <strong>die</strong>se andersartige Bestimmung<br />

des Seienden? Wir sahen schon, mit ihr geht e<strong>in</strong>e merkwürdige<br />

Erweiterung des Bezirks zusammen, der nicht mehr<br />

auf <strong>die</strong>' nächsten Gebrauchsd<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>geschränkt ist; sondern<br />

Widerstand, Druck, Gewicht, Schwere werden von allen materiellen<br />

D<strong>in</strong>gen ausgesagt.<br />

Erwä'Chst nun <strong>die</strong> neue Bestimmung des Seienden als Natur<br />

durch <strong>die</strong> Erweiterung des Bezirks, oder ist umgekehrt <strong>die</strong> Erweiterung<br />

des Bezirks e<strong>in</strong>e notwendige Folge der neuen Bestimmung<br />

des Seienden? Offenbar gilt das letztere. Bloße Erweiterung<br />

des Erfahrungsbezirks führt stets nur zu Gebrauchsd<strong>in</strong>gen;<br />

aber <strong>in</strong> der besonderen Bestimmung qua Natur geschieht doch<br />

etwas anderes. Noch so viele Gebrauchsd<strong>in</strong>ge vergleichend kämen<br />

wir nie auf »Natur«, es sei denn, daß wir <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge im<br />

vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> schon so nehmen. Wie vollzieht sich aber dann <strong>die</strong>se<br />

neue Bestimmung des Seienden, wenn sie nicht erst aus der<br />

Erweiterung erwächst, sondern ihr sogar voraufgeht? Sie kann<br />

ihr doch nicht so voraufgehen, daß erst alles Seiende qua Naturd<strong>in</strong>ge<br />

verglichen wird; denn <strong>die</strong>ses Vergleichen setzt ja schon<br />

<strong>die</strong> neue Bestimmung voraus. Nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Licht wäre e<strong>in</strong><br />

solches Vergleichen möglich, wenn es überhaupt möglich wäre.<br />

Wenn wir deutlich zu machen versuchen, wie <strong>die</strong>se Neubestimmung<br />

des Seienden vorausgeht, müssen wir zuvor noch<br />

schärfer sehen, was da geschieht. Es ist e<strong>in</strong>e Bestimmung des<br />

Seienden qua Natur. Wir br<strong>in</strong>gen nicht neues Seiendes h<strong>in</strong>zu,<br />

wir wenden uns nicht anderen D<strong>in</strong>gen zu, sondern <strong>die</strong> schon<br />

offenbaren selbst werden neu bestimmt, und zwar h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihres Was- und Wie-se<strong>in</strong>s, h<strong>in</strong>sichtlich des Se<strong>in</strong>s. Das vorliegende<br />

Seiende wird nicht mehr als zuhandenes Gebrauchsd<strong>in</strong>g<br />

(Kreide), nicht mehr als Gegenstand der technischen Bearbeitung<br />

und Pflege genommen, sondern als vorhandener materiel-


186 WesensbereLch der WahrheLt - Wesen der WLssenschafi<br />

ler Körper. Was das Seiende ist und wie es ist, das Was- und<br />

Wie-se<strong>in</strong> des Seienden, se<strong>in</strong>e Se<strong>in</strong>sverfassung, das Se<strong>in</strong> wIrd<br />

anders bestimmt, und zwar so, daß nunmehr erst das Seiende als<br />

das Vorhandene an ihm selbst befragbar wird nach dem, was<br />

und wie es im besonderen und e<strong>in</strong>zelnen und unter bestimmten<br />

tatsächlichen Bed<strong>in</strong>gungen ist.<br />

Noch e<strong>in</strong>mal: Nicht e<strong>in</strong> anderes Seiendes wird beigezogen<br />

und entdeckt, sondern das Se<strong>in</strong> des schon offenbaren Seienden<br />

wird im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> anders gesehen, genommen und bestimmt, so<br />

zwar, daß <strong>die</strong>se Bestimmung des Se<strong>in</strong>s der Erfahrung des SeIenden<br />

voraufgeht. Dies können wir an e<strong>in</strong>em lehrreichen<br />

Beispiel illustrieren, nämlich an der Entstehung der mathematischen<br />

Physik <strong>in</strong> der Neuzeit, so wie sie durch Galilei begründet<br />

wird. Wir nehmen <strong>die</strong>ses Beispiel jedoch nicht als begründende<br />

Instanz für unsere Interpretation des Wesens der Wissenschaft,<br />

sondern nur als Beleg ihrer faktischen Entstehung.<br />

Man nennt <strong>die</strong> moderne Physik mathematische Physik und<br />

sieht e<strong>in</strong> besonderes Merkmal gegenüber der mittelalterlichen<br />

dar<strong>in</strong>, daß sie <strong>in</strong>duktiv vorgeht. Sie beobachtet <strong>die</strong> Tatsachen, so<br />

wie sie s<strong>in</strong>d, während <strong>die</strong> mittelalterliche Spekulati


196 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

c) Die Positivität der Wissenschaft.<br />

Der vorgängige, ungegenständliche, feldabsteckende Entwurf<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

Nun aber ist wichtig zu sehen, daß mit <strong>die</strong>sem Entwurf nicht<br />

nur im voraus das Se<strong>in</strong> des Seienden anders bestimmt wird,<br />

sondern daß <strong>in</strong> und mit <strong>die</strong>sem Entwurf des Se<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> Feld des<br />

Seienden umgrenzt, abgesteckt wird. Denn es ist damit im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

entschieden, was <strong>in</strong> das Feld Natur gehört, auch ohne daß<br />

faktisch zuvor <strong>die</strong>ses ganze Feld durchmessen würde oder auch<br />

nur bekannt wäre. Der vorgängige ungegenständliche Entwurf<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung ist e<strong>in</strong> Feld-absteckender Entwurf.<br />

Doch <strong>die</strong>ser Entwurf ist nicht e<strong>in</strong> äußerliches Ziehen e<strong>in</strong>er<br />

Grenzl<strong>in</strong>ie, sondern Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden.<br />

Das bedeutet: Was <strong>die</strong>ser Entwurf im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> über das Seiende<br />

»Natur« ausmacht, <strong>die</strong>se Bestimmungen kommen <strong>in</strong> jeder<br />

konkreten Erkenntnis e<strong>in</strong>es bestimmten Naturvorgangs zum<br />

Vorsche<strong>in</strong>, und zwar derart, daß alle physikalischen Begriffe und<br />

Sätze unausgesprochen auf <strong>die</strong>se Bestimmungen zurückgreifen.<br />

Das besagt: Die physikalischen Erkenntnisse f<strong>in</strong>deIl. dort ihre<br />

letzte bzw. erste Begründung, jeder spezielle physikalische Beweis<br />

gründet <strong>in</strong> der festgelegten Se<strong>in</strong>sverfassung. Der vorgängige<br />

ungegenständliche feldabsteckende Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

ist daher e<strong>in</strong> Grund gebender, begründender. Grundbegriffe<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>jenigen Vorstellungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrem verfassungsmäßigen<br />

Zusammenhang aller Erkenntnis des Seienden<br />

den Grund geben.<br />

So ergibt sich im Ganzen: Der vorgängig-ungegenständliche,<br />

aber doch feldabsteckend-begründende Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

läßt das Seiende, dessen Se<strong>in</strong> er bestimmt, durch <strong>die</strong>ses<br />

gekennzeichnete Bestimmen allererst zum Vorsche<strong>in</strong> kommen.<br />

Auf dem H<strong>in</strong>tergrund des im Entwurf entworfenen Se<strong>in</strong>s bekommt<br />

das so bestimmte Seiende erst Relief. In und mit <strong>die</strong>sem<br />

Entwurf des Se<strong>in</strong>s wird das betreffende Seiende erst als e<strong>in</strong> fur<br />

<strong>die</strong> konkrete Betrachtung vorf<strong>in</strong>dliches und d. h. vorliegendes<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverständnis im wissenschaftlichen Entwurf 197<br />

offenbar. Der Entwurf drängt das Seiende erst <strong>in</strong>s Licht, ohne<br />

am Seienden etwas zu ändern. Das Seiende wird offenbar als<br />

vorliegendes, das positum. Nur wenn das Seiende <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise<br />

als vorliegendes offenbar wird, ist es an ihm selbst erkennbar.<br />

Die Erkenntnis des Seienden an ihm selbst - so kennzeichneten<br />

wir <strong>die</strong> wissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist demnach Erkenntms<br />

des Seienden als positum oder positive Erkenntnis. Das<br />

Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis als positiver Erkenntnis<br />

besteht nun <strong>in</strong> dem, was <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit <strong>die</strong>ses<br />

»positiven« Charakters ausmacht, <strong>die</strong>ses offenbaren Vorliegens<br />

an ihm selbsr. Die <strong>in</strong>nere Möglichkeit <strong>die</strong>ses positiven Charakters<br />

der Wissenschaft nennen wir <strong>die</strong> Positivität. Das Wesen der<br />

WIssenschaft liegt <strong>in</strong> der Positivität. Diese aber ihrerseits besteht<br />

<strong>in</strong> dem, was eben das Vorliegen des Seienden an ihm selbst<br />

ermöglicht. Das ist der gekennzeichnete Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

des Seienden.<br />

Bei der ersten Abhebung des wissenschaftlichen Verhaltens<br />

gegenüber dem vorwissenschaftlichen sagten wir: Die Wissenschaft<br />

entdeckt nicht überhaupt erst Seiendes, dergestalt, daß<br />

vor dem nichts offenbar wäre und das Dase<strong>in</strong> erst auf Grund der<br />

WIssenschaft zu Seiendem sich verhielte, sondern alles wissenschaftliche<br />

Verhalten siedelt sich an auf dem Grunde e<strong>in</strong>es<br />

schon existenten Verhaltens zu Seiendem. Seiendes muß schon<br />

ugendwie offenbar vorliegen, so zwar, daß Wissenschaft das<br />

Seiende gerade als vorliegendes, positum, das es an ihm selbst<br />

1st, offenbar macht.<br />

Wie ist es möglich, daß Seiendes an ihm selbst als offenbares<br />

vorliegt? Wor<strong>in</strong> gründet <strong>die</strong> Möglichkeit der Positivität des PosItum?<br />

Der Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung ist nicht nur e<strong>in</strong><br />

vorgängiger, ungegenständlicher, feldabsteckender, sondern er<br />

1st zugleich begründender Entwurf. Er macht <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere MöglIchkeit<br />

- Möglichkeit = Wesen - der Erkenntnis von Seiendem<br />

als vorliegendem aus. Wissenschaft aber ist positive Erkenntnis.<br />

Also ist der besagte Entwurf das Wesen der Positivität der Wissenschaft.


188 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschqft<br />

dehnten, sich bewegenden Seienden. Die mathematische Physik<br />

ist deswegen e<strong>in</strong>e echte Wissenschaft geworden, weil sie<br />

durch den Charakter des Mathematischen im voraus <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

dessen bestimmt, was zu e<strong>in</strong>em Naturd<strong>in</strong>g gehört.<br />

Der mathematische Charakter der Physik legt allen ihren experimentellen<br />

Untersuchungen e<strong>in</strong>en geklärten Begriff der<br />

Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden, das hier bearbeitet wird, nämlich<br />

der Natur zugrunde. Von hier aus verstehen wir den Satz Kants:<br />

Jede besondere Naturlehre ist nur soweit Wissenschaft), als sie<br />

Mathematik enthält. Das heißt: e<strong>in</strong>e Wissenschaft ist nur <strong>in</strong>soweit<br />

Wissenschaft, als es ihr gel<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong> Wesensverfassung des<br />

Seienden, das sie zum Thema hat, vorgängig zu umgrenzen. Das<br />

ist der eigentlich mathematische Charakter der Physik.<br />

Wenn man den Satz Kants radikal versteht - nicht so, als<br />

müßten alle Wissenschaften sich <strong>die</strong> mathematische Methode<br />

zulegen -, dann besagt er: jede Wissenschaft muß darauf sehen,<br />

daß das Seiende, das sie zum Gegenstand macht, zuvor schon <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Wesen h<strong>in</strong>reichend bestimmt ist, damit jede konkrete<br />

Frage e<strong>in</strong>en Leitfaden dafür hat, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Wissenschaft<br />

Gegenstand ist. So ergibt sich am Beispiel der mathelpatischen<br />

Physik, daß erst auf Grund des so verstandenen mathematischen<br />

Charakters etwas wie e<strong>in</strong> Experiment möglich ist. Denn<br />

Experiment ist nicht e<strong>in</strong>e beliebige Beobachtung irgende<strong>in</strong>es<br />

Vorgangs, sondern Herstellung e<strong>in</strong>es Natur-Vorgangs unter solchen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> mit Hilfe geeigneter Instrumente gemessen<br />

werden können. Das Wesentliche des Experiments ist<br />

nicht <strong>die</strong> Beobachtung, sondern <strong>die</strong> Interpretation des Beobachteten,<br />

dessen, was hier vor sich geht. E<strong>in</strong>e solche Auslegung setzt<br />

voraus, daß der Vorgang, den ich beobachte, schon im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

als Naturvorgang begriffen ist. Das gilt nicht nur für <strong>die</strong> physikalischen<br />

Experimente, sondern schon für jedes Instrument,<br />

das ich <strong>in</strong> der Physik verwende. Messung heißt Konstatierung<br />

von Ko<strong>in</strong>zidenzen. Nehmen wir z.B. <strong>die</strong> Uhr. Wir sehen täglich<br />

auf <strong>die</strong> Uhr und stellen <strong>die</strong> Zeit fest. Soll das Zusammenfallen,<br />

<strong>die</strong> Ko<strong>in</strong>zidenz der Stellung 'e<strong>in</strong>es Stäbchens mit e<strong>in</strong>em be-<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverstandnis lm wissenschaftllchen Entwurf 189<br />

summten Strich auf dem Zifferblatt e<strong>in</strong> Messen der Zeit<br />

bedeuten? Dieses Messen der Zeit ist uns so selbstverständlich<br />

geworden, daß wir gar nicht merken, welche Welt von Voraussetzungen<br />

dar<strong>in</strong> liegt, wenn wir auf <strong>die</strong> Uhr sehen. Dieses<br />

Gebrauchen der Uhr ist nur dann e<strong>in</strong>e Zeitmessung, wenn ich<br />

dIeses D<strong>in</strong>g als Uhr nehme, d. h. orientiert auf <strong>die</strong> Zeitmessung,<br />

auf <strong>die</strong> Sonne. So ist e<strong>in</strong> Instrument, das der Messung <strong>die</strong>nt, nur<br />

zu gebrauchen, wenn dem Gebrauch desselben e<strong>in</strong> Verstehen<br />

von Natur zugrunde liegt.<br />

Was durch <strong>die</strong>se Erörterung deutlich gemacht werden soll, ist<br />

dIes, daß <strong>die</strong> Bestimmung des Seienden als Natur jeder konkreten<br />

Beobachtung vorausgeht. Ich kann <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nur als Naturd<strong>in</strong>ge<br />

vergleichen, wenn ich im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> schon weiß, was zu<br />

emem Naturd<strong>in</strong>g gehört. So zeigt sich, daß <strong>die</strong>ser Wandel der<br />

Bestimmung des Seienden sich offenbar vollzieht als e<strong>in</strong> Wandel<br />

der Bestimmung der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden, e<strong>in</strong><br />

Wandel der Bestimmung dessen, was Seiendes ist und wie es ist.<br />

Reides zusammen bezeichnen wir als das Se<strong>in</strong> des Seienden. Im<br />

Gnterschied zu den Gebrauchsd<strong>in</strong>gen zeigt sich plötzlich e<strong>in</strong><br />

universaler Bereich von materiellen D<strong>in</strong>gen, genannt physische<br />

Natur. Dieser Umschlag beruht also auf e<strong>in</strong>em Wandel der Bestimmung<br />

des Se<strong>in</strong>s des Seienden, und zwar e<strong>in</strong>em Wandel der<br />

Bestimmung des Se<strong>in</strong>s, der jeder konkreten Erfahrung <strong>die</strong>ses<br />

Seienden, Natur, vorausgeht.<br />

Bislang sprachen wir immer von der Unverborgenheit des<br />

Seienden, daß wir uns zu Seiendem verhalten und daß das Seiende<br />

am Ende auch Gegenstand der Wissenschaft werden<br />

kanne. Jetzt plötzlich ist nicht vom Seienden <strong>die</strong> Rede, sondern<br />

vomlSe<strong>in</strong> desselben und davon, daß das Fassen und Bestimmen<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden das letztere zugänglich mache<br />

für wissenschaftliche Erkenntnis. Weiter heißt es, daß <strong>die</strong>se<br />

neue Bestimmung der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden der konkreten<br />

wissenschaftlichen Erforschung des Seienden voraufgmge.


190 Wesensbereich der Wahrhelt - Wesen der Wissenschaft<br />

a) Die Vorgängigkeit des Verstehens von Se<strong>in</strong><br />

vor jedem Begreifen<br />

Was heißt hier: dergleichen wie Se<strong>in</strong> erfassen? und gar: Se<strong>in</strong> im<br />

vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> erfassen? Wie soll <strong>die</strong>s gerade <strong>die</strong> Erfassung und d. h.<br />

das Offenbarmachen des Seienden ermöglichen?<br />

Zunächst ersche<strong>in</strong>t es als e<strong>in</strong>e fremdartige Zumutung, das<br />

Se<strong>in</strong> des Seienden zu erfassen. Seiendes - gewiß, das kennen<br />

wir; wir verhalten uns ja jederzeit zu Seiendem mannigfacher<br />

Art. Seiendes können wir daher auch leicht und sicher vorweisen<br />

und so belegen, was wir mit Seiendem me<strong>in</strong>en. Seiendes, das<br />

s<strong>in</strong>d Häuser, Menschen, Bäume, Sonne, Erde, können wir uns<br />

vorstellig machen, aber das Se<strong>in</strong> - was sollen wir uns dabei<br />

denken? Das Se<strong>in</strong> unterscheidet sich offenbar vom Seienden<br />

und ist selbst nichts Seiendes; denn sonst müßten wir es ja auch<br />

als e<strong>in</strong> Seiendes bezeichnen. »Se<strong>in</strong>« - wenn wir ganz ehrlich<br />

s<strong>in</strong>d und uns nichts vormachen, dann müssen wir gestehen, daß<br />

wir uns darunter nichts denken können. Se<strong>in</strong> - das nimmt sich<br />

<strong>in</strong> der Tat aus wie das Nichts, wenn es doch nicht e<strong>in</strong> Seiendes<br />

se<strong>in</strong> soll. Das Nichtseiende ist das Nichts. Das Se<strong>in</strong> wäre dann<br />

das Nichts. Ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer als Hegel sagt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Wissenschaft<br />

der Logik«, se<strong>in</strong>er Metaphysik: Se<strong>in</strong> und Nichts ist<br />

dasselbe.!<br />

Jedenfalls ist unbestreitbar, daß wir, wenn wir uns ganz und<br />

gar nichts vormachen, gestehen müssen: beim Versuch, dergleichen<br />

wie Se<strong>in</strong> zu fassen, stossen wir <strong>in</strong>s Leere. Also gibt es<br />

dergleichen nicht. Das wäre e<strong>in</strong> voreiliger Schluß. Vielleicht ist<br />

es nur so, daß wir jetzt nicht imstande s<strong>in</strong>d, dergleichen wie Se<strong>in</strong><br />

zu fassen. Alle<strong>in</strong> - verstehen wir denn nicht dergleichen wie<br />

Se<strong>in</strong>? Wenn ich frage: Was ist das? so antwortet jeder unmittelbar:<br />

Das ist e<strong>in</strong>e Kreide. Daraus wird klar: Sie haben <strong>die</strong> Frage<br />

verstanden. Es wurde nach dem gefragt, was <strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g ist,<br />

1 Vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objectlVe<br />

LogIk. Nurnberg 1812. S. 75 (Erstes Buch, I. Kap., C. Werden, Anm. 2).<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverständnis im wissenschaftlichen Entwwf 191<br />

nach dem Was-se<strong>in</strong>. Wir verstehen, wenn ich sage: Heute ist<br />

Freitag. Das Buch »ist« gekommen. Wir verstehen <strong>die</strong>ses »ist«<br />

und ebenso se<strong>in</strong>e Abwandlungen war, wird se<strong>in</strong>, ist gewesen.<br />

Merkwürdiger Tatbestand: Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits außerstande,<br />

das Se<strong>in</strong> zu erfassen, und verstehen es andererseits gleichwohl.<br />

Wir verstehen es nicht etwa nur, wenn wir »ist« sagen und<br />

hören, sondern <strong>in</strong> allem Reden, Rufen, Bitten, Fragen. Wenn<br />

WIr den Ruf »Feuer«! hören, so heißt das, Feuer ist ausgebrochen,<br />

aber das nicht nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Konstatierung, etwa wie<br />

»hier ist es warm«, sondern der Ruf ist zugleich e<strong>in</strong> Ausdruck<br />

des Schreckens, <strong>in</strong> Schrecken-se<strong>in</strong>s I und e<strong>in</strong>e Aufforderung:<br />

bnngt Euch <strong>in</strong> Sicherheit bzw. kommt zu Hilfe, und das besagt:<br />

Verhaltet Euch so und so, d.h. seid <strong>in</strong> Eurem momentanen Se<strong>in</strong><br />

so und so. Wir verstehen demnach im Hören <strong>die</strong>ses Rufens: Das<br />

Se<strong>in</strong> .von Feuer und e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>s ollen unserer selbst, und wir verstehen<br />

Vorhandense<strong>in</strong> und Da-se<strong>in</strong>. Aber wir verstehen es auch,<br />

wenn wir uns nicht aussprechen und uns schweigend zu Seiendem<br />

verhalten. Wir müssen uns <strong>die</strong>se merkwürdige Situation<br />

ganz klar machen: Wir erklären es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atem für e<strong>in</strong>e<br />

hoffnungslose Zumutung, dergleichen wie Se<strong>in</strong> im Unterschied<br />

von Seiendem zu erfassen, und doch verstehen wir es. Verstehen<br />

des Se<strong>in</strong>s von Seiendem besagt demnach nicht schon Erfassen<br />

<strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>s und besagt schon gar nicht Begreifen des so erfaßten<br />

Se<strong>in</strong>s.<br />

Doch bei der ersten Kennzeichnung der andersartigen Bestimmung<br />

des Seienden als Natur - im Unterschied von den<br />

Gebrauchsd<strong>in</strong>gen - wurde nicht nur darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß<br />

<strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden anders bestimmt wurde, sondern<br />

auch, daß <strong>die</strong>ses Bestimmen des Se<strong>in</strong>s der konkreten<br />

Erfahrung des Seienden voraufg<strong>in</strong>ge. Wir verstehen also nicht<br />

nur dergleichen wie Se<strong>in</strong>, sondern <strong>die</strong>ses Verstehen von Se<strong>in</strong><br />

(Se<strong>in</strong>sverständnis) ist derart, daß es der Erfahrung vom Seienden<br />

voraufgeht. Wir sagen: Das Se<strong>in</strong>sverständnis ist gegenüber<br />

der Erfahrung von Seiendem vor-gängig. Es geht so voraus, daß<br />

wir gleichsam erst <strong>in</strong> der Helle, <strong>die</strong> dadurch erwächst, daß das


§ 27. Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung 199<br />

SECHSTES KAPITEL<br />

Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

,<br />

§ 27. Der Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden als <strong>in</strong>nere<br />

Ermöglichung der Positivität, tL h des Wesens der Wissenschaft.<br />

Vorontologisches und ontologisches Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

Zwar gelang uns jetzt e<strong>in</strong>e Erhellung des Wesens der Wissenschaft:<br />

Sie ist positive Erkenntnis und hat den Charakter der<br />

Positivität. Aber s<strong>in</strong>d wir nun nicht mit <strong>die</strong>ser Wesenserhellung<br />

der Wissenschaft als positiver Erkenntnis völlig von unserer<br />

leitenden Fragestellung abgekommen? Die leitende Frage war<br />

doch (vgl. oben S. 179 f.): Wor<strong>in</strong> liegt das Auszeichnende derjenigen<br />

Existenzart des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> der so etwas wie das Inder-Wahrheit-se<strong>in</strong><br />

um der Wahrheit willen geschieht? Die Frage<br />

g<strong>in</strong>g nach e<strong>in</strong>em existenzialen Begriff der Wi~senschaft.<br />

Hierzu setzten wir mit e<strong>in</strong>er Erörterung dessen e<strong>in</strong>, was besagt:<br />

um der Wahrheit willen, d.i. um der Unverborgenheit des Seienden<br />

willen, umwillen dessen, daß Seiendes an ihm selbst<br />

offenbar sei. Wir sahen früher allgeme<strong>in</strong>: Das geschieht m<br />

e<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong>lassen des Seienden. Beim wissenschaftlichen Verhalten<br />

als dem In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der Wahrheit willen<br />

muß es sich dabei um e<strong>in</strong> ganz spezifisches Se<strong>in</strong>lassen des Seienden<br />

handeln. Wir haben <strong>die</strong> Frage auch so formuliert: Welches<br />

ist <strong>die</strong> Urhandlung des Dase<strong>in</strong>s (ltQäSLI:;), <strong>in</strong> der so etwas wie<br />

<strong>die</strong> theoretische E<strong>in</strong>stellung möglich wird? Was ist das ursprüngliche<br />

Wesen des Theoretischen?<br />

Statt nun <strong>die</strong> Antwort darauf zu geben, was <strong>die</strong>ses spezifische<br />

Se<strong>in</strong>lassen des Seienden als wissenschaftliche Erkenntnis sei,<br />

s<strong>in</strong>d wir zur Charakteristik der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

als e<strong>in</strong>er positiven gelangt. SoU damit etwa das gefunden se<strong>in</strong>,<br />

was wir suchen, <strong>die</strong> Urhandlung des Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> theoretische<br />

E<strong>in</strong>stellung ermöglicht? Soll das Wesen des Theoretischen damit<br />

geklärt se<strong>in</strong>, daß wir jetzt sagen: Theoretische E<strong>in</strong>stellung<br />

1st positive Erkenntnis, d.h. Erkenntnis des Seienden an ihm<br />

selbst, Offenbarmachen um der Offenbarkeit willen?<br />

In der Tat. Denn wir sagen ja nicht e<strong>in</strong>fach: Wissenschaftliche<br />

Erkenntnis als theoretische ist positive, sondern wir haben herausgestellt,<br />

was zur Positivität gehört, d.h. wir haben das gefunden,<br />

was <strong>die</strong> Positivität als solche ermöglicht. Es ist der vorgängige,<br />

ungegenständliche, feldabsteckende, begründende Entwurf<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden. Dieser gekennzeichnete Entwurf<br />

ilSt als Entwerfen des Se<strong>in</strong>s des Seienden nichts anderes als<br />

das Se<strong>in</strong>lassen des Seienden, dem wir nachfragten. Dieses Entwerfen<br />

als Se<strong>in</strong>lassen des Seienden ist <strong>die</strong> gesuchte Urhandlung<br />

des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> der theoretische E<strong>in</strong>stellung, d.h. Offenbarmachen<br />

des Seienden umwillen se<strong>in</strong>er Unverborgenheit alle<strong>in</strong><br />

ermöglicht wird. Im Entwurf, der <strong>die</strong> Positivität ermöglicht, liegt<br />

dIe ursprüngliche ltQäs~, der ursprünglich praktische Charakter<br />

des Theoretischen. Mehr noch: Der Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

des Seienden als <strong>in</strong>nere Ermöglichung der Positivität, d. h. des<br />

Wesens der Wissenschaft, ist nichts anderes als das ursprünglich<br />

gefaßte Wesen des Theoretischen. Das Auszeichnende derjenigen<br />

Existenzart, <strong>in</strong> der das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> umwillen der Wahrheit<br />

geschieht, d.h. der Wissenschaft, liegt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Urhandlung,<br />

dIe wir als den Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung kennzeichneten.<br />

Doch wird man sagen: Gewiß, <strong>die</strong>ser Entwurf ermöglicht <strong>die</strong><br />

Positivität, das Wesen der Wissenschaft; aber was ist <strong>die</strong>ser Entwurf<br />

selbst? Mit welchem Recht nennen wir ihn e<strong>in</strong>e Urhandlung<br />

'des Dase<strong>in</strong>s, das Auszeichnende e<strong>in</strong>er Existenzart? Was ist<br />

dIeser Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung selbst, daß er so etwas wie<br />

das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der Wahrheit willen ermöglicht?<br />

Er muß dann doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Beziehung zum Wesen der<br />

Wahrheit stehen. In welcher Beziehung steht <strong>die</strong>ser Entwurf der<br />

Semsverfassung zu dem, was wir als Wesen der Wahrheit kennen<br />

lernten?


192 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

vorgängige Se<strong>in</strong>sverständnis uns e<strong>in</strong> Licht vorhält, Seiendes anzutreffen<br />

vermögen. Wir verstehen Se<strong>in</strong> und verstehen es<br />

vorgängig.<br />

Wenn das aber zutrifft, dann ist das Se<strong>in</strong>sverständnis nicht<br />

erst dann da, wenn wir Naturwissenschaft oder sonst e<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

treiben, sondern jederzeit und überall, wo wir uns zu<br />

Seiendem verhalten, wo Seiendes offenbar ist, demnach auch<br />

schon im vorwissenschaftlichen Dase<strong>in</strong>, ebenso im wissenschaftlichen<br />

Dase<strong>in</strong>, ohne daß <strong>die</strong>ses eigens schon Wissenschaft<br />

treibt. In unserem alltäglichen und belanglosesten, äußerlichsten<br />

Umgang mit den D<strong>in</strong>gen liegt schon und muß liegen e<strong>in</strong><br />

vorgängiges Se<strong>in</strong>sverständnis. Wenn wir z. B. e<strong>in</strong>e weiter gar<br />

nicht beachtete Handlung vollziehen wie das Öffnen e<strong>in</strong>er Tür,<br />

was wir täglich mehrmals tun, liegt dar<strong>in</strong> das Anfassen der<br />

Kl<strong>in</strong>ke. Verständen wir nicht im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, was e<strong>in</strong> Gebrauchsd<strong>in</strong>g<br />

- Werkzeug, Fahrzeug, Schreibzeug, Meßzeug, Feuerzeug,<br />

d. h. überhaupt Zeug - besagt, dann wären wir nicht imstande,<br />

von der Kl<strong>in</strong>ke als solcher Gebrauch zu machen.<br />

Aber: e<strong>in</strong> geschickter Affe oder Hund vermag ebenso, <strong>die</strong> Tür<br />

zu öffnen und aus- und e<strong>in</strong>zugehen. Gewiß, <strong>die</strong> Frage i~t nur, ob<br />

er, wenn er da etwas betastet und drückt, e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ke anfaßt und<br />

ob er dergleichen wie e<strong>in</strong>e Tür öffnet. Wir reden so daher, als<br />

vollziehe der Hund dasselbe wie wir; aber es ist nj.cht das m<strong>in</strong>deste<br />

Kriterium dafür vorhanden, daß der Hund <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong>e<br />

Kl<strong>in</strong>ke gebraucht, ja noch mehr, es ist nicht das m<strong>in</strong>deste Kriterium<br />

dafür da zu sagen, er verhält sich zu Seiendem, obzwar er<br />

sich auf solches bezieht, was wir als e<strong>in</strong> Seiendes kennen.<br />

Wir vermöchten e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das wir mit Recht Messer nennen,<br />

nie als Messer, als D<strong>in</strong>g zum Schneiden, zu erkennen und könnten<br />

es nie gebrauchen, wenn wir nicht dergleichen verständen<br />

wie: e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, um zu ... , e<strong>in</strong> Zeug zum Schneiden. Wir lernen<br />

nicht, was e<strong>in</strong> Zeug ist, dadurch daß wir Messer, Schreibzeug,<br />

Nähzeug benutzen, sondern umgekehrt, wir können dergleichen<br />

Seiendes nur vorf<strong>in</strong>den, weil wir und sofern wir so etwas<br />

wie Zeug verstehen. Dies verstehen wir im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, wir br<strong>in</strong>-<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverständnis im wissenschaftlichen Entwuif 193<br />

gen solches Verstehen schon mit, und nur deshalb können wir<br />

lernen, mit derartigem Zeug umzugehen. Wir verstehen vorgängig<br />

dergleichen wie Zeug und Zuhandense<strong>in</strong>, und doch s<strong>in</strong>d<br />

wir weit entfernt, sagen zu können, was Zeug als solches bedeutet,<br />

als was es zu begreifen sei. Verständnis von Se<strong>in</strong> ist noch<br />

nicht Begreifen des Se<strong>in</strong>s. Im Verhalten zum Seienden, welcher<br />

Art immer, bewegen wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vorgängigen, und zwar<br />

vorbegrifflichen Se<strong>in</strong>sverständnis.<br />

Weil wir uns auch schon im nichtwissenschaftlichen Verhalten<br />

zu Seiendem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vorgängigen Verständnis des Se<strong>in</strong>s<br />

<strong>die</strong>ses Seienq.en bewegen, deshalb merken wir gewissermaßen<br />

zunächst und langeh<strong>in</strong> gar nicht, was da im Grunde vor sich<br />

geht, wenn wir, statt Gebrauchsd<strong>in</strong>ge zu gebrauchen, materielle<br />

Körper auf ihre Bewegungszusammenhänge und Gesetze erforschen.<br />

Wir merken nicht, daß sich e<strong>in</strong> Wandel des vorgängigen<br />

Se<strong>in</strong>sverständnisses vollzogen hat. Es sieht vielmehr so aus, als<br />

sei eben das Seiende anders geworden. Ja, selbst <strong>die</strong>jenigen Forscher,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Wissenschaft erstmals begründen und <strong>in</strong> Gang<br />

br<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> also gleichsam erstmals <strong>die</strong>sen Wandel des vorgängigen<br />

Se<strong>in</strong>sverständnisses vollziehen - während <strong>die</strong> anderen<br />

ihn nur mit- und nachvollziehen -, selbst <strong>die</strong>se haben ke<strong>in</strong><br />

Wissen von dem, was sich da im Grund ereignet; jedenfalls<br />

brauchen sie nicht notwendig e<strong>in</strong> solches zu haben.<br />

b) Wandel des Se<strong>in</strong>sverständnisses: e<strong>in</strong> Beispiel aus der Physik<br />

Der Wandel des Se<strong>in</strong>sverständnisses stellt sich ihnen vielmehr<br />

<strong>in</strong> derjenigen Form dar, <strong>die</strong> alle wissenschaftlichen Vorstellungen<br />

haben, als Umgrenz,ung von Begriffen; nur s<strong>in</strong>d es jetzt <strong>die</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>sten Grundbegriffe und Vorstellungen, <strong>die</strong> bestimmt<br />

werden: Masse, Kraft, Geschw<strong>in</strong>digkeit, Bewegung, Ort, Zeit;<br />

im H<strong>in</strong>blick auf das Feld der betreffenden Wissenschaft geben<br />

sie h<strong>in</strong>reichende Charakteristik derselben. Aber es bleibt dunkel,<br />

was <strong>die</strong>se Begriffe im Grunde me<strong>in</strong>en; sie figurieren eben<br />

als <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>sten Begriffe bezüglich des Seienden (Natur


194 Wesensbereich der Wahrheit - Wesen der Wissenschaft<br />

z.B.). Dem, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Begriffen geme<strong>in</strong>t ist, wird selbst<br />

nicht weiter nachgefragt; <strong>in</strong> den Def<strong>in</strong>itionen kommen <strong>die</strong>se<br />

Grundbegriffe vor, aber <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition selbst gibt nur Rahmen<br />

und Regel für <strong>die</strong> Erforschung des betreffenden Seienden.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Bestimmung aus der Physik vornehmen:<br />

s = c· t (Weg gleich Geschw<strong>in</strong>digkeit mal Zeit), so ist<br />

das e<strong>in</strong>e bestimmte Umgrenzung dessen, was <strong>in</strong> der Physik als<br />

Weg verstanden wird. Auf <strong>die</strong> Frage: was ist e<strong>in</strong> Weg? wird nicht<br />

irgende<strong>in</strong>e Überlegung über <strong>die</strong> Möglichkeit des Durchmessens<br />

e<strong>in</strong>es Raumes angestellt, sondern der Weg wird h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er<br />

räumlich-quantitativen Erstreckung def<strong>in</strong>iert, weil von<br />

vornhere<strong>in</strong> der Körper, der e<strong>in</strong>en Weg durchläuft, als quantitativ<br />

bestimmbares D<strong>in</strong>g gefaßt ist, das den Ort verändert. Umgekehrt<br />

können wir c durch den Quotienten s/t bestimmen. Wenn wir<br />

t = 1 setzen, haben wir den Begriff der Geschw<strong>in</strong>digkeit. Schon<br />

daß wir <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition der Zeit durch e<strong>in</strong>en Quotienten bzw. e<strong>in</strong><br />

Produkt ausdrücken, zeigt, daß von vornhere<strong>in</strong> der Naturvorgang<br />

als homogene E<strong>in</strong>heit bewegter materieller D<strong>in</strong>ge gefaßt<br />

ist. Wenn der Physiker über se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition, <strong>die</strong> für se<strong>in</strong>e physikalische<br />

Fragestellung notwendig ist, h<strong>in</strong>ausgeht, dann ist auch<br />

<strong>die</strong> weiterdr<strong>in</strong>gende Bestimmung dessen, was er def<strong>in</strong>iert, von<br />

dem Blickpunkt aus bestimmt, der hier durch <strong>die</strong> mathematische<br />

Physik gegeben ist. Das ist bei Newton <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>cipia (1714),<br />

S. 7 und 5 zu sehen: Tempora et spatia sunt sui ipsorum et rerum<br />

omnium quasi loca. In tempore quoad ord<strong>in</strong>em successionis, <strong>in</strong><br />

spatio quod ord<strong>in</strong>em situs locantur universa. De illorum essentia<br />

est, ut s<strong>in</strong>t loca, et loca primaria moveri absurdum est ... Tempus,<br />

spatium, locus et motus sunt omnibus notissima. Tempus absolutum,<br />

verum et mathematicum, <strong>in</strong> se et natura sua si ne relatione<br />

ad externum quodvis, aequabiliter fluit, alioque nom<strong>in</strong>e dicitur<br />

duratio. 2 »Die Zeiten und <strong>die</strong> Räume s<strong>in</strong>d gleichsam <strong>die</strong> Platzhalter<br />

ihrer selbst und aller D<strong>in</strong>ge, <strong>in</strong> der Zeit werden alle D<strong>in</strong>ge<br />

z Isaac Newton, Philosophiae naturalis pr<strong>in</strong>cipia mathematica. Amsterdam<br />

1714. -<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverständnis im wissenschaftlichen Entwwf 195<br />

untergebracht im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Ordnung des Nache<strong>in</strong>ander,<br />

1m Raum dagegen im Blick auf <strong>die</strong> Ordnung der gegenständlichen<br />

Lage.«<br />

Daraus ergibt sich, daß Raum wie Zeit als das genommen<br />

werden, wor<strong>in</strong>nen <strong>die</strong> Gegenstände als bewegte geordnet werden,<br />

und zwar so, daß sie mathematisch bestimmbar s<strong>in</strong>d. Dies<br />

wirkt noch <strong>in</strong> der kantischen These nach: Zeit und Raum s<strong>in</strong>d<br />

das Wor<strong>in</strong>nen der Ordnung.<br />

Newton fügt allerd<strong>in</strong>gs noch bei, es gehört zum Wesen von<br />

Raum und Zeit, daß sie loca, Örter, gewissermaßen Platzhalter<br />

s<strong>in</strong>d, aber solche Plätze, Me<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> selbst nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

anderen s<strong>in</strong>d, sondern sie s<strong>in</strong>d das Medium für sich selbst. Weil<br />

sie <strong>die</strong> loca primaria, <strong>die</strong> letzten und äußersten Me<strong>die</strong>n s<strong>in</strong>d,<br />

können sie selbst nicht mehr bewegt werden, obzwar gerade <strong>die</strong><br />

Zeit duTch den gleichmäßigen Fluß des Nache<strong>in</strong>ander gekennzeichnet<br />

ist. Newton sagt: tempus aequabiliter fluit, <strong>die</strong> Zeit<br />

flIeßt gleichmäßig. Er leitet <strong>die</strong> Bestimmung <strong>die</strong>ser Grundbegriffe<br />

wie tempus, spatium, locus damit e<strong>in</strong>, daß er sagt, das s<strong>in</strong>d<br />

solche Gegenstände, <strong>die</strong> allen am bekanntesten s<strong>in</strong>d; sie werden<br />

von ihm nur soweit def<strong>in</strong>iert, als sie im Rahmen des Grundansatzes<br />

e<strong>in</strong>er Natur als e<strong>in</strong>es Bewegungszusammenhanges ausgewählter<br />

D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Frage kommen.<br />

Dergleichen wird nur so weit und <strong>in</strong> der Form erörtert, daß<br />

vorweg ausgemacht ist für jede konkrete naturwissenschaftliche<br />

Frage, was da unter Natur und Naturvorgang verstanden wird.<br />

Das Wesen von Natur wird <strong>in</strong> gewisser vorgängiger Weise umgrenzt;<br />

aber <strong>die</strong>se Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden (Natur) ist<br />

nicht eigens Gegenstand e<strong>in</strong>es Fragens. Aber wie wird denn von<br />

der Zeit und dem Raum Gebrauch gemacht? Im Wandel des<br />

Se<strong>in</strong>sverständnisses, im Übergang vom Erfassen der Gebrauchsdmge<br />

zum Erfassen von Natur, vollzieht sich e<strong>in</strong> vorgängiger<br />

Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung, aber so, daß <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

nicht Gegenstand wird, also e<strong>in</strong> ungegenständlicher Entwurf<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung.


200 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

So stehen wir bei e<strong>in</strong>er neuen zentralen Frage. Kaum, daß wir<br />

<strong>die</strong> Antwort gewonnen haben auf <strong>die</strong> Frage nach dem existenzialen<br />

Wesen der Wissenschaft, ist <strong>die</strong>se Antwort selbst e<strong>in</strong>e<br />

Frage geworden.<br />

Was ist mit <strong>die</strong>sem Entwurf, der <strong>die</strong> Positivität der Wissenschaft,<br />

d.h. ihr Wesen, ermöglicht, und se<strong>in</strong>em Verhältnis zur<br />

Wahrheit? Wir sahen: In all unserem Dase<strong>in</strong> verstehen wir dergleichen<br />

wie »ist«, »war«, »wird se<strong>in</strong>«, überhaupt »Se<strong>in</strong>«, aber<br />

begreifen es nicht, so wenig, daß wir nicht e<strong>in</strong>mal imstande<br />

s<strong>in</strong>d, das <strong>in</strong> gewisser Weise verstandene Se<strong>in</strong> selbst zu fassen.<br />

Dieses Verstä,ndnis von Se<strong>in</strong> ermöglicht aber eben doch, daß wir<br />

überhaupt Seiendes als Seiendes erfassen können. Das Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

versteht das Se<strong>in</strong> des Seienden, d. h. es hat immer schon<br />

und im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> das Seiende als Seiendes, h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es<br />

Se<strong>in</strong>s »angesprochen.«.<br />

Etwas als etwas ansprechen, nennen <strong>die</strong> Griechen MYELv,<br />

A.6yoC;; dabei ist nicht notwendig an Verlautbarung, »äußeres<br />

Gespräch« gedacht, an E~o) gegenüber EGO) A.oyoC;; sondern A.oyoC;<br />

wird auch als A.EyOttEVOV genommen. Dieser Ausdruck A.6yoC; hat<br />

<strong>die</strong>selbe Doppeldeutigkeit wie unsere entsprechenden Begriffe.<br />

Unter »Spruch« verstehen wir e<strong>in</strong>mal das Gesprochene, zweitens<br />

das Sprechen selbst. Das »Ansprechen« des Seienden als<br />

Seienden, der Anspruch des Seienden, des OV h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es<br />

Se<strong>in</strong>s läßt sich bezeichnen als A.oyoC; des OV, A.oyoC; "tou OVWC; ~<br />

onto-Iogos, ontologia neuzeitlicher Prägung. Verständnis des<br />

Se<strong>in</strong>s ist ontologisches Verständnis. Erkenntnis des Seienden, OV,<br />

an ihm selbst ist ontische Erkenntnis.<br />

»Ansprechen von etwas als etwas« besagt nicht schon, das so<br />

Angesprochene <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen begreifen; etwas als Seiendes<br />

h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s verstehen, heißt nicht schon, das Wesen<br />

von Se<strong>in</strong> erfassen. Wir gebrauchen freilich den Ausdruck<br />

»ontologisch« - »Ontologie« für das thematische Erfassen und<br />

Begreifen des Se<strong>in</strong>s selbst. Ja, im Grunde ist bis heute, und<br />

gerade heute, der Sprachgebrauch unbestimmt und vieldeutig;<br />

ontologisch wird oft gebrauchtfür ontisch - und <strong>die</strong>ses wieder 1ll<br />

§ 27. Entwurf der Semsverfassung 201<br />

dem S<strong>in</strong>ne, daß man das Seiende an sich gelten läßt und nicht<br />

Idealistisch verflüchtigt. Ontologische Tendenz <strong>in</strong> der heutigen<br />

<strong>Philosophie</strong> heißt dann: Tendenz zum Realismus. Aber <strong>die</strong>se<br />

ontologische Tendenz ist dadurch ausgezeichnet, daß sie das<br />

Problem der Ontologie gerade nicht stellt, nicht e<strong>in</strong>mal versteht.<br />

Anders noch: Onto-Iogie, Bio-Iogie; jene wie <strong>die</strong>se gilt als<br />

positive Wissenschaft, nur jene von allem Seienden im allgeme<strong>in</strong>en.<br />

Von da aus gesehen ist das Se<strong>in</strong>sverständnis, das all<br />

unser Verhalten zu Seiendem erhellt und leitet, noch ke<strong>in</strong> ontologisches,<br />

ke<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>sbegreifen. Wir nennen daher das noch<br />

mcht begreifende und zum Begriff gekommene Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

das vorontologische.<br />

Diese sche<strong>in</strong>bar nur term<strong>in</strong>ologische Erörterung wollen wir<br />

zusammenfassend festlegen: Erkenntnis von Seiendem, OV, ist<br />

ontische Erkenntnis. Wissenschaftliche Erkenntnis, positive Erkenntnis<br />

des Vorliegenden, ist e<strong>in</strong>e bestimmte Art von ontischer<br />

Erkenntnis. Denn auch <strong>in</strong> der technischen Hantierung mit den<br />

D<strong>in</strong>gen, im Umgang mit ihnen liegt e<strong>in</strong> Erkennen, das wir als<br />

Umsicht und Sichauskennen bezeichnen; allgeme<strong>in</strong> ist jedes<br />

Verhalten zu Seiendem, OV, ontisches Verhalten. Diesem liegt<br />

aber als Licht gebend und führend e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>sverständnis zugrunde,<br />

das nicht schon »Begreifen« des Se<strong>in</strong>s ist - vor-ontologisches<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis. Dieses kann sich ausbilden Zll e<strong>in</strong>em ausdrücklichen<br />

Erfassen und Begreifen des Se<strong>in</strong>s selbst: zu ontologIschem<br />

Verständnis. Diese Hauptunterschiede s<strong>in</strong>d festzuhalten.<br />

Am Ende gibt es hier noch Zwischenstufen, und e<strong>in</strong>e solche<br />

1st gerade der Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung, sofern er z. B. vom<br />

Naturforscher vollzogen, das Feld Natur umgrenzt. Denn <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Entwurf spricht weder nur e<strong>in</strong> vorontologisches Se<strong>in</strong>sverständnis,<br />

noch aber schon e<strong>in</strong> ausdrückliches Erfassen und<br />

Begreifen des Se<strong>in</strong>s selbst; er ist e<strong>in</strong> eigentümliches Zwischen<br />

nnt Bezug auf vorontologisches und ontologisches Verständnis,<br />

('me Art des ausdrücklichen Se<strong>in</strong>sverständnisses, was nicht e<strong>in</strong>schließt,<br />

daß es auch schon als solches erkannt und verstanden


202 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

se<strong>in</strong> müßte. Aber mit <strong>die</strong>sen Festsetzungen ist mehr gewonnen<br />

als e<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologie; wir haben e<strong>in</strong> Problem so verschärft, daß<br />

es nicht länger mehr übersehen werden kann.<br />

Wir haben zuletzt gefragt: In welcher Beziehung steht der<br />

Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung zu dem, was wir als Wesen der<br />

Wahrheit herausstellten? Diese Beziehung muß recht eng se<strong>in</strong>,<br />

wenn gerade <strong>die</strong>ser Entwurf das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der<br />

Wahrheit willen ermöglicht. Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung ist<br />

allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> vorontologisches Se<strong>in</strong>sverständnis. Se<strong>in</strong> wird verstanden,<br />

wenngleich nicht eigens erfaßt. Nun wissen wir, daß<br />

auch Seiendes für uns offenbar se<strong>in</strong> kann, ohne daß wir eigens<br />

darauf gerichtet s<strong>in</strong>d und es erfassen; ja, weith<strong>in</strong> ist Seiendes <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser Weise offenbar. Unverborgenheit des Seienden besteht<br />

nicht im Erfaßtwerden des Seienden; <strong>die</strong>ses Erfaßt~erden ist<br />

nur auf dem Grund jener möglich; jene kann bestehen ohne<br />

<strong>die</strong>ses. Nun sagen wir: Verständnis des Se<strong>in</strong>s, nicht Erkenntnis<br />

des Seienden, hat den Charakter des Entwurfs. Das Auszeichnende<br />

des Entwerfens liegt dar<strong>in</strong>, daß sich das Dase<strong>in</strong> damit<br />

etwas zu verstehen gibt wie Se<strong>in</strong>, Bewegung, Ort, Zeit. Was es<br />

sich im Entwurf zu verstehen gibt, ist dabei nicht, eigens Gegenstand<br />

e<strong>in</strong>er darauf e<strong>in</strong>gestellten Erfassung; der Physiker z. B.<br />

spekuliert nicht über <strong>die</strong> Zeit als solche und ihr Wesen, aber<br />

zugleich arbeitet er doch mit der Zeit, weil sie <strong>in</strong> jedem se<strong>in</strong>er<br />

Sätze steckt; er arbeitet mit ihr, sie ist <strong>in</strong> gewisser Weise, und<br />

zwar notwendig, gegeben und doch nicht Gegenstand.<br />

Wenn daher im Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung dergleichen wie<br />

Se<strong>in</strong> verstanden und gegeben, obzwar nicht auch begriffen ist,<br />

dann liegt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Verstandenwerden und Gegebenwerden<br />

des Se<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>e gewisse Unverborgenheit des Se<strong>in</strong>s selbst. Im<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis ist das Se<strong>in</strong> selbst unverborgen, d. h. das Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

ist wahr und hat se<strong>in</strong>e Wahrheit. Wir bezeichneten<br />

nun <strong>die</strong> Unverborgenheit des Seienden als Offenbarkeit, und<br />

zwar unterschieden wir Offenbarkeit des Seienden qua Dase<strong>in</strong>,<br />

Erschlossenheit, und Offenbarkeit des Vorhandenen, Entdecktheit.<br />

Unverborgenheit des Sei.enden, Wahrheit des ov, können<br />

§ 28. Ontlsche und ontologische Wahrhelt 203<br />

wir daher allgeme<strong>in</strong> ontische Wahrheit nennen. Unverborgenheit<br />

des Se<strong>in</strong>s heißt dann entsprechend ontologische oder vorontologische<br />

Wahrheit.<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit Wahrheit und<br />

Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s<br />

Es ergibt sich also folgende Unterscheidung:<br />

1. Wahrheit des Se<strong>in</strong>s: Unverborgenheit qua Enthülltheit;<br />

vorontologische, ontologische Wahrheit.<br />

2. Wahrheit des Seienden: Unverborgenheit qua Offenbarkelt;<br />

ontische Wahrheit.<br />

a) Offenbarkeit qua Erschlossenheit: Unverborgenheit des<br />

Dase<strong>in</strong>s.<br />

b) Offenbarkeit qua Entdecktheit: Unverborgenheit des Vorhandenen,<br />

Zuhandenen.<br />

Wenn nun das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> um der Wahrheit willen,<br />

d. h. ontische positive Wahrheit der Wissenschaft nur möglich<br />

1st m und durch den Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung, <strong>die</strong>ser vorgangige<br />

Entwurf aber e<strong>in</strong>e Art von Se<strong>in</strong>sverständnis ist, <strong>die</strong>ses<br />

als Verstehen von Se<strong>in</strong> dergleichen wie Se<strong>in</strong> enthüllt, also wahr<br />

1st, so gründet das spezifische In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> als Wissenschaft,<br />

<strong>die</strong>se ontische Wahrheit, <strong>in</strong> der ontologischen Wahrheit.<br />

Nun ist aber <strong>die</strong> wissenschaftliche Wahrheit nur e<strong>in</strong>e Art und<br />

Möglichkeit des Offenbannachens des Seienden, und das Dasem<br />

verhält sich zu Seiendem weith<strong>in</strong>, ohne Wissenschaft als<br />

solche zu vollziehen. Alles und jedes Verhalten zu Seiendem,<br />

Jede ontische Wahrheit jeglicher Art ist nur möglich auf dem<br />

Grunde der ontologischen Wahrheit. Ferner ergab sich uns, daß<br />

ps zum Wesen des menschlichen Dase<strong>in</strong>s gehört, <strong>in</strong> der Wahrheit<br />

zu se<strong>in</strong>, d. h. als erschlossenes Seiendes sich zu offenbarem<br />

Splenden zu verhalten; ja, wir versuchten an Hand <strong>die</strong>ser Kennzeichnung<br />

der Wahrheit e<strong>in</strong>e erste Umgrenzung des auszeichnenden<br />

Wesens des Dase<strong>in</strong>s selbst - im Unterschied zum


204 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

Vorhandenen. Diesem kann Wahrheit zukommen, dem Dase<strong>in</strong><br />

aber muß sie zugehören, d.h. sie gehört zum Wesen se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sverfassung.<br />

Wie, wurde nicht gesagt. Diese Wahrheit, <strong>in</strong> der<br />

Dase<strong>in</strong> sich wesenhaft hält, stellt sich jetzt als ontische Wahrheit<br />

heraus, d. h. aber als solche, <strong>die</strong> ihrerseits zu ihrer eigenen<br />

Möglichkeit e<strong>in</strong>e ursprüngliche Wahrheit fordert: <strong>die</strong> Unverborgenheit<br />

von Se<strong>in</strong> im Se<strong>in</strong>sverständnis.<br />

Demnach liegt im Wesen des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> noch ursprünglicheres<br />

In-der Wahrheit-se<strong>in</strong> bzw. umgekehrt: Das Wesen des<br />

Dase<strong>in</strong>s selbst muß im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong>se ursprüngliche Wahrheit<br />

des Se<strong>in</strong>sverständnisses noch radikaler gefaßt werden, so<br />

radikal, daß wir sagen können: Der Mensch ist dasjenige Seiende,<br />

zu dessen Wesen, d. h. Se<strong>in</strong>sverfassung es ursprünglich<br />

gehört, dergleichen wie Se<strong>in</strong> zu verstehen. Existenz ist von<br />

Grund aus nur möglich <strong>in</strong> und durch Se<strong>in</strong>sverständnis. Denn<br />

nur <strong>die</strong>ses ermöglicht, daß Dase<strong>in</strong> sich zu Seiendem verhält und<br />

im Verhalten zu Seiendem, das es selbst nicht ist, sich zu sich<br />

selbst als Seiendem verhält.<br />

Angesichts der jetzt gewonnenen E<strong>in</strong>sichten bedarf es e<strong>in</strong>er<br />

kurzen Er<strong>in</strong>nerung an das früher Erörterte. Wir g<strong>in</strong>g.en aus von<br />

e<strong>in</strong>er Kennzeichnung der Wissenschaft, wonach sie sei e<strong>in</strong> »Begründungszusammenhang<br />

wahrer Sätze«. Das erforderte <strong>die</strong><br />

Analyse der Satz-Aussagewahrheit. Sie ergab: Der ,Satz ist nicht<br />

der ursprüngliche Ort der Wahrheit, sondern <strong>die</strong>se gehört wesenhaft<br />

zum Dase<strong>in</strong> und ist umgekehrt der Ort (<strong>in</strong>nere Möglichkeit)<br />

für Sätze.<br />

Die gewonnenen E<strong>in</strong>sichten wurden <strong>in</strong> acht Thesen zusammengefaßt.<br />

Die achte These lautete: Wahrheit existiert. Nunmehr<br />

ergab sich: Die Wahrheit ist nicht nur nicht primär<br />

Aussagewahrheit, sondern auch <strong>die</strong> Interpretation der Wahrheit<br />

als Unverborgenheit des Seienden trifft noch nicht ihr ursprüngliches<br />

Wesen. So kommen wir zu e<strong>in</strong>er neunten These<br />

(vgl. oben S. 149f., Thesen 1-8):<br />

9. Wahrheit jedoch, als Unverborgenheit des Seienden genommen,<br />

existiert nur, wenn-..das existierende Dase<strong>in</strong> derglei-<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 205<br />

ehen wie Se<strong>in</strong> versteht, d. h. wenn zum Wesen der Existenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s Enthüllen von Se<strong>in</strong>, ontologische Wahrheit, gehört.<br />

(Vgl. unten S. 209, These 10.)<br />

Ursprünglicher als <strong>die</strong> ontische Wahrheit ist <strong>die</strong> ontologische;<br />

dIese ist <strong>die</strong> Ermöglichung jener. Aber <strong>die</strong>se ontologische WahrheIt<br />

- Entwurf von Se<strong>in</strong> - haben wir <strong>in</strong> der Abhebung gegen <strong>die</strong><br />

ontIsche nur roh gekennzeichnet. Was <strong>die</strong> ontologische Wahrheit<br />

selbst sei, ist nicht geklärt. Die Antwort auf <strong>die</strong> Frage nach<br />

dem ursprünglichen Wesen der Wahrheit, sie sei <strong>die</strong> ontologische,<br />

wird selbst wieder zur Frage, wenn anders e<strong>in</strong>e weiter<br />

drmgende Aufhellung dessen möglich ist,<br />

So ergibt sich: Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit treibt<br />

zu immer ursprünglicheren Interpretationen, und zwar so, daß<br />

damit, weil eben Wahrheit zur Se<strong>in</strong>sverfassung des Dase<strong>in</strong>s gehort,<br />

e<strong>in</strong>e jeweilig radikalere Interpretation des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s<br />

zusammen geht. Was heißt: Verstehen von Se<strong>in</strong>, sich zu verstehen<br />

geben dergleichen wie Se<strong>in</strong> des Seienden im Entwurf?<br />

Was heißt und wie ist dergleichen Entwerfen möglich?<br />

Dabei er<strong>in</strong>nern wir uns erneut an das mehrfach gekennzeichnete<br />

Grundfaktum des menschlichen Dase<strong>in</strong>s: Wir verstehen<br />

dergleichen wie Se<strong>in</strong> und begreifen es nicht. Se<strong>in</strong> ist enthüllt<br />

und doch verborgen. Der Versuch aufzuhellen, was Se<strong>in</strong> besagt,<br />

WIe es zu begreifen ist und wie der Entwurf von, Se<strong>in</strong> dergleichen<br />

wie Se<strong>in</strong> zu verstehen gibt, was Se<strong>in</strong>sverständnis heißt, -<br />

<strong>die</strong> Aufhellung alles dessen, was so das Wesen menschlicher<br />

Existenz bestimmt, führt von neuem <strong>in</strong> Abgründe.<br />

Wir müssen <strong>die</strong> Urhandlung des Se<strong>in</strong>lassens von Seiendem<br />

lhrerseits <strong>in</strong> ihrem Wesen zu fassen versuchen, d. h. nach ihrer<br />

eigensten <strong>in</strong>neren Möglichkeit fragen, uns dabei E<strong>in</strong>sicht verschaffen,<br />

was da <strong>in</strong> solchem Entwerfen von Se<strong>in</strong> geschieht. Zu<br />

dIesem Zweck wollen wir vorläufig nur erst von fern <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Abgrund h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>leuchten, um das e<strong>in</strong>e zu verstehen, daß es hier<br />

noch Probleme gibt und <strong>die</strong>se <strong>die</strong> zentralsten s<strong>in</strong>d.<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis ist e<strong>in</strong> Sich-zu-verstehen-geben-von-Se<strong>in</strong>,<br />

dleses als Entwurf. Dar<strong>in</strong> liegt erstens e<strong>in</strong> Charakter des Han-


206 Zum Unterschted von Wtssenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

delns und zweitens doch zugleich e<strong>in</strong> Handeln, das sich etwas<br />

gibt, sich etwas zu verstehen gibt, h<strong>in</strong>nimmt und d.h. sich daran<br />

hält. Handeln, Tun heißt hier aber nicht ontisch herstellen,<br />

sondern übersteigend zeigen. Dieses Entwerfen von Se<strong>in</strong> haben<br />

wir uns näher gebracht durch e<strong>in</strong>e Kennzeichnung des Wandels<br />

vorwissenschaftlich-ontischer Wahrheit zu wissenschaftlich ontischer,<br />

d.h. positiver. Wir sagten, <strong>die</strong> Positivität der Wissenschaft<br />

werde ermöglicht durch <strong>die</strong>ses spezifische Se<strong>in</strong>lassen; e<strong>in</strong><br />

solches Se<strong>in</strong>lassen liegt aber <strong>in</strong> jedem Verhalten zu Seiendem.<br />

E<strong>in</strong> Entwurf ist nicht erst bei der Ausbildung von Wissenschaft<br />

Voraussetzung, sondern jederzeit und überall, wo und wenn Dase<strong>in</strong><br />

zu Seiendem sich verhält. Das geschieht aber im Dase<strong>in</strong><br />

nicht gelegentlich und zuweilen, sondern wesenhaft und ständig,<br />

sofern Dase<strong>in</strong> faktisch existiert. Dar<strong>in</strong> liegt: Das Dase<strong>in</strong> ist<br />

als solches entwerfend. Dieser Entwurf - ergab sich ferner - ist<br />

vorgängiger. Dase<strong>in</strong> muß sich schon dergleichen wie Se<strong>in</strong> zu<br />

verstehen gegeben haben, um sich zu Seiendem verhalten zu<br />

können.<br />

Der Entwurf ist <strong>in</strong> gewisser Weise früher, er geht voraus, und<br />

das Seiende offenbart sich uns derart, daß wir - verhüllterweise<br />

- von dem schon verstandenen Se<strong>in</strong> her erst auf solches stoßen,<br />

was wir nun erst, eben im Lichte des Se<strong>in</strong>sverständnisses, als<br />

Seiendes begegnen lassen. Aus dem vorweg verstandenen Se<strong>in</strong><br />

kommen wir allererst auf Seiendes zurück, genauer: Sofern wir<br />

uns ständig schon zu Seiendem verhalten, s<strong>in</strong>d wir immer schon<br />

<strong>in</strong> und aus e<strong>in</strong>em vorgängigen Se<strong>in</strong>sentwurf auf Seiendes zurückgekommen.<br />

Im vorgängigen Entwurf von Se<strong>in</strong> übersteigen wir zuvor<br />

schon immer das Seiende. Nur aufgrund <strong>die</strong>ser Erhöhung, e<strong>in</strong>es<br />

solchen Überstiegs wird Seiendes als Seiendes offenbar. Sofern<br />

aber der Se<strong>in</strong>sentwurf zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s gehört, muß auch<br />

schon immer <strong>die</strong>ser Überstieg des Seienden geschehen se<strong>in</strong> und<br />

im Grund des Dase<strong>in</strong>s geschehen.<br />

Wir bezeichnen <strong>die</strong>ses vorgängige Übersteigen von Seiendem<br />

mit dem Fremdwort traI1$cendere und nennen den Über-<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 207<br />

stIeg <strong>die</strong> Transzendenz. Das Dase<strong>in</strong> als solches ist transzen<strong>die</strong>rend<br />

- transzendent. Das Grundwesen der Se<strong>in</strong>sverfassung des<br />

Seienden, das wir je selbst s<strong>in</strong>d, ist der Überstieg von Seiendem.<br />

VIit <strong>die</strong>sem Überstieg, der Transzendenz, liegt im Dase<strong>in</strong> als<br />

solchem e<strong>in</strong>e ureigene Erhöhung se<strong>in</strong>er selbst. Nur weil <strong>in</strong> der<br />

Existenz des Dase<strong>in</strong>s wesenhaft <strong>die</strong>se Erhöhung liegt, kann das<br />

existierende Dase<strong>in</strong> fallen, und d.h. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Weise zu se<strong>in</strong><br />

durch das bestimmt se<strong>in</strong>, was wir (»Se<strong>in</strong> und Zeit«) das Verfallen<br />

nennen.<br />

Wenn nun <strong>die</strong> ontologische Wahrheit im eigentlichen S<strong>in</strong>ne<br />

als vorgängiger Entwurf von Se<strong>in</strong> ihrerseits nur möglich ist auf<br />

dem Grunde des Überstiegs, d. h. der Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s,<br />

dann gründet <strong>die</strong> ontologische Wahrheit <strong>in</strong> der Transzendenz,<br />

d. h. sie ist transzendental. Hierunter verstehen wir erstens alles,<br />

was zur Transzendenz als solcher gehört; zweitens nennen wir<br />

transzendental all das, was se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Möglichkeit nach auf<br />

Transzendenz zurückweist. Was transzendental besagt, ist nur zu<br />

erörtern, wenn das Wesen der Transzendenz bestimmt ist.<br />

Bei Kant geschieht das <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>ne beiläufig und ohne<br />

Klarheit über <strong>die</strong> Voraussetzungen und Erfordernisse e<strong>in</strong>er zurE'lchenden<br />

Aufhellung des Wesens der Transzendenz. »Transzendent«<br />

heißt für Kant: »überfliegend«. Es wird gebraucht<br />

von Begriffen (Vorstellungen), <strong>die</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit der Erfahrung,<br />

der ontischen Erkenntnis, übersteigen, und zwar zu Unrecht<br />

überschreiten, <strong>die</strong> etwas über das Seiende an sich<br />

ausmachen, ohne daß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entsprechenden Anschauung<br />

gegeben wäre (wobei »an sich« hier heißt: relativ auf Gott).<br />

»Transzendental« dagegen ist e<strong>in</strong>e Art von Erkenntnis, <strong>in</strong> der es<br />

»Begriffe« gibt, <strong>die</strong> sich nicht auf Gegenstände - an sich -<br />

beZIehen, sondern auf <strong>die</strong> Möglichkeit der ontischen Erkenntms,<br />

auf <strong>die</strong> Möglichkeit der synthetischen Erkenntnisse apriori,<br />

emer wesenhaft zur ontischen Erkenntnisart gehörenden Erkenntnis;<br />

hier geht es also um <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihre Schranken gewiesene<br />

Erkenntnis des Seienden bzw. deren Ermöglichung, und das<br />

heIßt eben positiv: E<strong>in</strong>schränkung.


208 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

Transzendentale Erkenntnis ist ontologische Erkenntnis. Das<br />

ist freilich noch zweideutig; es kann me<strong>in</strong>en 1. vorontologisches<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis als konstitutiv für <strong>die</strong> ontische Erkenntnis, 2.<br />

ausdrückliche Interpretation <strong>die</strong>ses vorontologischen Se<strong>in</strong>sverständnisses<br />

als solche ontologische Erkenntnis im strengen<br />

S<strong>in</strong>ne.<br />

Warum aber ist ontologisch gleich transzendental? Weil Ontologie<br />

mit Transzendenz zusammengeht. Inwiefern? »Transzendental«<br />

wird bei Kant oft noch mehr e<strong>in</strong>schränkend gebraucht;<br />

es me<strong>in</strong>t auch das unrechtmäßige Überfliegen. Bei<br />

Kant ist es mehr e<strong>in</strong> kritisch-negativer Begriff gegenüber theologisch-dogmatischer<br />

Metaphysik. Wir verstehen ihn positiv,<br />

aus dem Wesen der Transzendenz selbst, <strong>die</strong> Kant nicht eigens<br />

zum Problem gemacht hat.<br />

Transzendenz ist <strong>die</strong> Ermöglichung derjenigen Erkenntnis,<br />

<strong>die</strong> nicht zu Unrecht <strong>die</strong> Erfahrung überfliegt, nicht »transzendent«,<br />

sondern Erfahrung selbst ist. Das Transzendentale gibt<br />

<strong>die</strong> obzwar e<strong>in</strong>schränkende, aber hierdurch zugleich positive<br />

Wesensdef<strong>in</strong>ition der nicht transzendenten, d. h. der als solchen<br />

möglichen ontischen Erkenntnis.<br />

Gegenüber dem traditionellen Begriff von Transzendenz ist<br />

folgendes anzumerken: 1. Er ist nicht ursprünglich, sondern<br />

beruht auf ungeklärten Vorbestimmungen, »Subjekt« (vgl. oben<br />

und zum Ganzen S.S. 1927); 2. außerdem bleibt er noch <strong>in</strong> der<br />

Enge und Beschränkung auf das Erkennen, und <strong>die</strong>ses wieder<br />

wird als theoretisches und <strong>die</strong>ses noch e<strong>in</strong>mal als Erforschen<br />

gefaßt. Transzendenz heißt hier: H<strong>in</strong>aussteigen aus dem Subjekt<br />

und h<strong>in</strong>über zu e<strong>in</strong>em Objekt. Das Transzendente ist das Objekt,<br />

das Woraufh<strong>in</strong> h<strong>in</strong>aus, das Worauf der Beziehung.<br />

Für uns heißt Transzendenz nicht h<strong>in</strong>aus zu e<strong>in</strong>em Objekt;<br />

das Subjekt ist schon draußen, und es ist nur draußen bei Seiendem,<br />

sofern es selbst erschlossen ist. Das Seiende, das es selbst<br />

ist, und anderes Seiendes ist im voraus schon überstiegen. Transzendent<br />

im rechten S<strong>in</strong>ne des Transzen<strong>die</strong>renden ist das Dase<strong>in</strong>,<br />

und nur weil es im Grunde-se<strong>in</strong>es Wesens transzen<strong>die</strong>rt,<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 209<br />

kann zunächst Seiendes qua Vorhandenes und Seiendes qua Dase<strong>in</strong><br />

nicht unterschieden se<strong>in</strong>. Mythische Identifizierung setzt<br />

gerade Transzendenz voraus.<br />

Nebenbei bemerkt: Hier wird e<strong>in</strong> grundsätzlicher, ursprünglicherer<br />

und ausdrücklicherer Begriff des Transzendentalen<br />

entwickelt als bei Kant. Kant hat zwar zum erstenmal, wenngleich<br />

nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em recht engen Gesichtskreis und nicht ursprünglich<br />

genug, das Transzendentale gesehen. Aber gerade<br />

weil er <strong>die</strong> Transzendenz nicht zentral eigens bestimmte und<br />

zum Problem machte, kann se<strong>in</strong> Begriff des Transzendentalen<br />

nicht genüg~n.<br />

Von vornhere<strong>in</strong> ist pr<strong>in</strong>zipiell zu sagen, daß das Problem der<br />

Transzendenz und des Transzendentalen mit Idealismus und<br />

Realismus gar nichts zu tun hat, sondern viel ursprünglicher ist<br />

als <strong>die</strong> Dimension, <strong>in</strong> der <strong>die</strong>ser Unterschied auftritt, so sehr,<br />

daß er erst auf dem Grunde der recht verstandenen Transzendenz<br />

entscheidbar wird. Ebenso wenig hat Transzendenz primär<br />

etwas zu tun mit Erkenntnis und Erkenntnistheorie. Wir kommen<br />

so zu e<strong>in</strong>er 10. These bezüglich des Wesens der Wahrheit,<br />

nachdem <strong>in</strong> den Thesen 1-8 (oben S. 149-156) der Übergang von<br />

der Aussagewahrheit zur ursprünglichen echten ontischen<br />

Wahrheit dargelegt, <strong>in</strong> der 9. <strong>die</strong> ontische Wahrheit auf <strong>die</strong><br />

ontologische zurückgeführt wurde (oben S. 205).<br />

10. Die ontologische Wahrheit (Unverborgenheit von Se<strong>in</strong>)<br />

ist ihrerseits nur möglich, wenn das Dase<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen nach<br />

Seiendes zu übersteigen vermag, d.h. als faktisch existierendes<br />

das Seiende immer schon überstiegen hat. Ontologische Wahrheit<br />

gründet <strong>in</strong> der Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s; sie ist transzendental.<br />

Die Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s aber erschöpft sich<br />

umgekehrt nicht <strong>in</strong> der ontologischen Wahrheit. (Vgl. These 11,<br />

unten S. 210.)<br />

Der ontologischen Wahrheit liegt wiederum <strong>die</strong> Transzendenz<br />

als Wesensverfassung des Dase<strong>in</strong>s zugrunde. Auf Grund<br />

der Transzendenz alle<strong>in</strong> wird das möglich, was wir früher den<br />

E<strong>in</strong>bruch des Dase<strong>in</strong>s als existierenden <strong>in</strong> das Seiende nannten.


210 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

Nur weil das Dase<strong>in</strong> im Grunde se<strong>in</strong>es Wesens transzendent ist<br />

deshalb ist ontologische Wahrheit »und« ontische Wahrhei:<br />

möglich. Wir sagen mit Absicht ontologisch und ontisch. Denn<br />

es ist nicht so, daß hier nur e<strong>in</strong>e Reihe von Bed<strong>in</strong>gungen nebene<strong>in</strong>ander<br />

aufgerollt würde, ontisch auf ontologisch und <strong>die</strong>se<br />

auf Transzendenz. Sondern vor-ontologische Wahrheit, d. h. entwerfendes<br />

Verstehen des Se<strong>in</strong>s ist als solches e<strong>in</strong> Verstehen des<br />

Se<strong>in</strong>s von Seiendem, mag <strong>die</strong>ses Seiende faktisch tatsächlich<br />

existieren oder vorhanden se<strong>in</strong> oder nicht. Umgekehrt ist Erfahrung<br />

von Seiendem, ontische Wahrheit, solche nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Verstehen von Se<strong>in</strong>.<br />

Ontologische Wahrheit und ontische Wahrheit stehen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ursprünglichen Zusammenhang ~ entsprechend dem<br />

Unterschied von Se<strong>in</strong> und Seiendem. Das s<strong>in</strong>d nicht zwei Reiche,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>fach durch »und« nebene<strong>in</strong>ander gesetzt s<strong>in</strong>d, sondern<br />

<strong>die</strong> spezifische E<strong>in</strong>heit und der Unterschied beider <strong>in</strong> der<br />

Zusammengehörigkeit ist das Problem. Sie selbst, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Unterschied Unterschiedenen, können <strong>in</strong> ihrem Wesen nur begriffen<br />

werden aus dem, was <strong>die</strong>ses Unterscheiden als solches<br />

ermöglicht. Mit anderen Worten: Die Transzendenz ist Jücht nur<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit für <strong>die</strong> ontologische Wahrheit und <strong>in</strong>direkt<br />

dann auch für <strong>die</strong> ontische, sondern gerade <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung<br />

der Möglichkeit für <strong>die</strong>ses »und auch«, für deren<br />

Zusammenhang, ja, für <strong>die</strong> Möglichkeit des Unterscheidens von<br />

Se<strong>in</strong> und Seiendem, auf Grund dessen wir überhaupt von Ontologie<br />

sprechen können. Diesen Unterschied bezeichnen wir<br />

als »ontologische Differenz«, »ontologisch« im dargelegten S<strong>in</strong>ne<br />

(vgl. oben S.200ff.). So ergibt sich <strong>die</strong> weitere Grundthese:<br />

11. Die Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s ist <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung der Möglichkeit<br />

der ontologischen Differenz, dafür, daß Unterschied<br />

von Se<strong>in</strong> und Seiendem überhaupt aufbrechen kann, daß es<br />

<strong>die</strong>sen Unterschied geben kann. Aber auch hier<strong>in</strong> erschöpft sich<br />

nicht das Wesen der Transzendenz.<br />

So unbestimmt <strong>die</strong>ses für uns jetzt noch se<strong>in</strong> mag, das e<strong>in</strong>e<br />

und e<strong>in</strong>zige, dem wir zunächst zustrebten, muß deutlich gewor-<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 211<br />

den se<strong>in</strong>: Wir fragten, was ist das Wesen der Wissenschaft, und<br />

<strong>in</strong>wiefern hat sie e<strong>in</strong>e Grenze? Nunmehr wird deutlich, daß <strong>die</strong><br />

Wissenschaft nicht etwas ist, was es eben unter vielem anderen,<br />

womit man sich beschäftigen kann, auch gibt, sondern daß sie,<br />

um zu se<strong>in</strong>, was sie ist, ihre Wurzeln im ursprünglichen Wesen<br />

des Dase<strong>in</strong>s selbst, <strong>in</strong> der Transzendenz, geschlagen haben muß.<br />

Jetzt wird schon konkreter verständlich, was wir früher als vorgreifende<br />

Def<strong>in</strong>ition der Wissenschaft anzeigten: Sie ist e<strong>in</strong>e<br />

:v1öglichkeit der Existenz des Dase<strong>in</strong>s. Wenn sie e<strong>in</strong>e echte Möglichkeit<br />

ist, muß <strong>die</strong> Wissenschaft sich aber auch notwendig<br />

bt'grenzen, wenn anders jede Möglichkeit ihre Grenze <strong>in</strong> sich<br />

selbst trägt, ja, <strong>die</strong> Begrenzung ihrer selbst mitbr<strong>in</strong>gt. Die Frage<br />

nach,dem Wesen der Wissenschaft wurde ja für uns nur deshalb<br />

brennend, um aus ihrem Wesen zu ersehen, <strong>in</strong> welcher Weise<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft sich selbst begrenzt.<br />

Offenbar handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>e Begrenzung derart,<br />

daß <strong>die</strong> Wissenschaft gleichsam lediglich an etwas anderes<br />

stößt, davon sie durch e<strong>in</strong>en Zaun geschieden ist, nicht um e<strong>in</strong>e<br />

Umzäunung, <strong>die</strong> ihr gleichgültig se<strong>in</strong> kann, sondern um e<strong>in</strong>e<br />

Begrenzung, <strong>die</strong> gerade als solche ihr das eigene Wesen verleiht.<br />

Wissenschaft muß sich selbst notwendig <strong>die</strong> Grenze nehmen<br />

und e<strong>in</strong>e Begrenzung geben. Die Grenze liegt <strong>in</strong> ihr selbst als<br />

das andere, das sie ist und dessen sie gerade als Wissenschaft<br />

nicht mehr mächtig ist. Dieses andere aber gibt der Wissenschaft<br />

<strong>die</strong> Kraft ihres Wesens, so zwar, daß <strong>die</strong>ses andere reicher<br />

1st und noch anderes vermag, als gerade nur <strong>die</strong> Möglichkeit der<br />

Wissenschaft zu tragen.<br />

Die spezifisch wissenschaftliche Zuwendung zum Seienden<br />

an s~ch selbst im Wollen se<strong>in</strong>er Wahrheit geschieht im gekennzeIchneten<br />

Entwurf; nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem wird das Seiende als Vorliegendes<br />

offenbar. Nur wenn es so offenbar vorliegt, kann es zum<br />

Ci-egenstand e<strong>in</strong>es Befragens gemacht werden. Nur wenn es Frage<br />

gegenstand geworden ist, kann es Thema möglicher Untersuchung<br />

werden. Untersuchung verlangt Themastellung, Thematisierung,<br />

<strong>die</strong>se verlangt zuvor Vergegenständlichung, <strong>die</strong>se


212 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

zuvor e<strong>in</strong> offenbares Vorliegendes, und <strong>die</strong>ses ist nur möglich im<br />

Entwurf. Dieses Entwerfen aber, das so alle Leidenschaft der<br />

wissenschaftlichen Zuwendung zur Sache trägt, gründet <strong>in</strong> der<br />

Transzendenz als der Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Wissenschaft macht das Seiende zum Gegenstand urid; kann<br />

das nur durch den ontologischen Entwurf, das Transzen<strong>die</strong>ren,<br />

<strong>in</strong> dem sich das Dase<strong>in</strong> zum »Se<strong>in</strong>« (Welt u. a.) »verhält«. Das<br />

Transzen<strong>die</strong>ren ist das andere, dessen <strong>die</strong> Wissenschaft als solche<br />

nicht mächtig ist und dessen sie gerade bedarf, um zu se<strong>in</strong>, was<br />

sie se<strong>in</strong> kann. Das Transzen<strong>die</strong>ren vollzieht <strong>die</strong> Begrenzung der<br />

Wissenschaft, und br<strong>in</strong>gt sie dadurch gerade zu sich selbst. Die<br />

Wissenschaft geht nur auf Seiendes als ihren Gegenstand, und<br />

zwar kann sie das auf Grund des ontologischen Entwurfs. Wir<br />

hörten aber, daß <strong>die</strong>ser auch schon immer e<strong>in</strong> Feld absteckt und<br />

damit eo ipso jede Wissenschaft je auf e<strong>in</strong> Gebiet festlegt und<br />

e<strong>in</strong>schränkt. Jede Wissenschaft muß sich auf Grund dessen, was<br />

ihr das Wesen gibt (Entwurf), auf e<strong>in</strong> Gebiet beschränken. Die<br />

Wissenschaft ist wesenhaft E<strong>in</strong>zelwissenschaft, d. h. es liegt im<br />

Wesen der Wissenschaft als ontologischer positiver Erkenntnis,<br />

daß es ke<strong>in</strong>e sogenannte allgeme<strong>in</strong>e Wissenschaft geben kann.<br />

Der Ausdruck »E<strong>in</strong>zel wissenschaft« ist daher schon e<strong>in</strong>e Tautologie<br />

und mißverständlich, weil er den Gedanken e<strong>in</strong>er Allgeme<strong>in</strong>wissenschaft<br />

nahelegt.<br />

So vollzieht der ontologische Entwurf e<strong>in</strong>e doppelte, <strong>in</strong> sich<br />

e<strong>in</strong>heitliche Begrenzung: 1. Wissenschaft ist Erkenntnis von<br />

Seiendem und nicht solche des Se<strong>in</strong>s; 2. als Wissenschaft von<br />

Seiendem ist sie je solche e<strong>in</strong>es bestimmten Gebiets und nie<br />

vom Seienden im Ganzen. Diese Begrenzung geschieht im Transzen<strong>die</strong>ren'<br />

und sie geschieht notwendig, wenn Wissenschaft<br />

existent, wirklich werden soll. Gerade dadurch, daß <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

sich aufgibt, das Seiende an ihm selbst offenbar zu<br />

machen, muß sie den ontologischen Entwurf vollziehen, d. h. im<br />

Wesen zu solchem sich verhalten, was ihr selbst mit ihren Mitteln<br />

nicht mehr zugänglich, im Grunde also verborgen ist. So<br />

muß <strong>die</strong> Wissenschaft notwendig sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 213<br />

Gmkreis des Verborgenen, der sie ständig umgibt. Das In-der­<br />

Wahrheit-se<strong>in</strong> der Wissenschaft ist gerade e<strong>in</strong> Umstelltse<strong>in</strong> von<br />

Verborgenheit. Selbst <strong>die</strong>se Verborgenheit des Se<strong>in</strong>s ist für jede<br />

Wissenschaft je nur e<strong>in</strong>e beschränkte. Die Wissenschaft ist derart<br />

und notwendig begrenzt, daß sie nicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Grenzverborgenheit<br />

um sich hat, <strong>die</strong> mit der Wirklichkeit von<br />

Wissenschaft sich gerade e<strong>in</strong>stellt.<br />

So zeigt sich zugleich, was früher nur vorläufig angezeigt<br />

wurde, daß mit der Unverborgenheit je notwendig Verborgenheit<br />

zusammengeht. Was der Wissenschaft <strong>die</strong> Helle gibt, im<br />

S<strong>in</strong>ne der Offenbarkeit von Seiendem, versetzt sie zugleich <strong>in</strong>s<br />

Dunkel - im S<strong>in</strong>ne der Verborgenheit des Se<strong>in</strong>s. Die relative<br />

Helle wissenschaftlicher Erkenntnis des Seienden ist umdrängt<br />

vom Dunkel des Se<strong>in</strong>sverständnisses. Denn auch im ontologischen<br />

Entwurf, der geschieht bei der Gründung und Ausbildung<br />

und überhaupt <strong>in</strong> der Geschichte der Wissenschaft, ist zwar Se<strong>in</strong><br />

verstanden und <strong>in</strong> gewisser Weise um-grenzt, aber nicht erfaßt,<br />

d. h. nicht eigens als Se<strong>in</strong> begriffen. Das Verstehen von Se<strong>in</strong> aber<br />

geschieht im Transzen<strong>die</strong>ren. Wenn <strong>die</strong>ses Verständnis des Se<strong>in</strong>s<br />

sich zum Bestimmen und gar Begreifen des Se<strong>in</strong>s als solchen<br />

ausbilden kann, dann müssen im Transzen<strong>die</strong>ren selbst verschiedene<br />

Möglichkeiten liegen, gemäß denen es unausdrücklieh<br />

oder ausdrücklich geschieht. Wenn das Transzen<strong>die</strong>ren<br />

ausdrücklich und eigens vollzogen wird, dann heißt das zunächst<br />

und unter anderem: Es wird gefragt, was <strong>die</strong>ses im<br />

Sf'<strong>in</strong>sentwurf entworfene Se<strong>in</strong> selbst besage und wie dergleichen<br />

Verständnis möglich werde. Wenn nun <strong>die</strong> Transzendenz<br />

das Grundwesen des menschlichen Dase<strong>in</strong>s überhaupt ausmacht,<br />

so geschieht im ausdrücklichen Transzen<strong>die</strong>ren nichts<br />

Ger<strong>in</strong>geres als das, daß das wesenhaft transzen<strong>die</strong>rende Dase<strong>in</strong><br />

im ausdrücklichen Geschehenlassen der Transzendenz wesentlich<br />

wird. Dieses Wesentlichwerden des Dase<strong>in</strong>s im ausdrücklichen<br />

Transzen<strong>die</strong>ren, das ausdrückliche Fragen nach dem Se<strong>in</strong><br />

als solchen, ist nichts anderes als das <strong>Philosophie</strong>ren.


214 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

§ 29. <strong>Philosophie</strong>ren als Transzen<strong>die</strong>ren gehärt zum Wesen<br />

des menschlichen Dase<strong>in</strong>s<br />

12. Transzen<strong>die</strong>ren ist <strong>Philosophie</strong>ren, geschehe es unausdrücklich<br />

verborgen, oder werde es ausdrücklich ergriffen.<br />

Wir zeigten, das Wesen des Theoretischen liege im Se<strong>in</strong>lassen<br />

des Seienden an ihm selbst und nannten <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>lassen e<strong>in</strong>e<br />

Ur-handlung des Dase<strong>in</strong>s. Nun wird klar, mit welchem Reichtum<br />

das Se<strong>in</strong>lassen im ontologischen Entwurf, im Transzen<strong>die</strong>ren<br />

geschieht; <strong>die</strong>ses aber ist das Grundgeschehen der Existenz<br />

selbst. Dieses Se<strong>in</strong>lassen des Seienden nannten wir früher <strong>die</strong><br />

metaphysische Gleichgültigkeit, e<strong>in</strong>e eigentümliche Gelassenheit,<br />

<strong>in</strong> der das Seiende an ihm selbst zu Wort kommt. Diese<br />

Gelassenheit aber muß e<strong>in</strong>em ursprünglichen Handeln entspr<strong>in</strong>gen,<br />

sie ist nichts anderes. Handeln aber ist Freise<strong>in</strong>. Damit<br />

<strong>die</strong> eigentliche Verb<strong>in</strong>dlichkeit möglich werde, <strong>die</strong> von dem an<br />

sich offenbaren Seienden ausgeht und <strong>die</strong> spezifische Sachlichkeit<br />

fordert, muß e<strong>in</strong> ontologischer Entwurf (Transzen<strong>die</strong>ren)<br />

geschehen, d. h. e<strong>in</strong>e freie Handlung. Nur wo Freiheit ist, wird<br />

B<strong>in</strong>dung und Notwendigkeit möglich. So ist das aus


216 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

Denselben Gedanken Platons, daß der Philosoph ud<br />

JtQOO'%E4J.EV~ .TI .OU ov'tOC; tÖEC;t, hat Aristoteles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er nüchternen,<br />

aber um nichts weniger radikalen Art ausgesprochen<br />

(Met. Z 1, 1028 b2 sq.): xat öt'J xat .0 miA.ut .E xat vuv xat ud<br />

~T]'tOl)IlEVOV xat ud UJtOQOUIlEVOV, .t .0 ov, .ou.o Ecrn, .tc; ~<br />

ouata. 3 »Und so ist dasjenige, was von alters her und jetzt und <strong>in</strong><br />

alle künftigen Zeiten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> gesucht ist, und dasjenige, wobei<br />

das Suchen und Fragen immer wieder scheitert, nichts anderes<br />

als <strong>die</strong> Frage, was ist das Se<strong>in</strong>.«<br />

Hier tritt <strong>die</strong> wichtige E<strong>in</strong>sicht zu Tage, daß <strong>die</strong>ses Fragen,<br />

was das Se<strong>in</strong> sei, immer wieder <strong>in</strong> Lagen führt, aus denen es<br />

ke<strong>in</strong>en Ausweg zu geben sche<strong>in</strong>t. Mit anderen Worten: Die<br />

Grundfrage des <strong>Philosophie</strong>rens »Was ist das Se<strong>in</strong> selbst?« ist <strong>die</strong><br />

Frage, <strong>die</strong> immer wieder Frage werden will und muß. Wir haben<br />

meist e<strong>in</strong>e irrige Vorstellung von der griechischen <strong>Philosophie</strong>,<br />

von Platon und Aristoteles im besonderen, als seien hier<br />

runde und geschlossene Systeme geschaffen worden, <strong>die</strong> künftigen<br />

Zeiten als dogmatischer Lehrgehalt überliefert werden.<br />

Doch f<strong>in</strong>det sich nichts, was darauf deutet, daß sie der Me<strong>in</strong>ung<br />

gewesen wären, nunmehr für alle kommenden Geschlechter das<br />

Wesentliche erledigt zu haben. Was Platon und Aristoteles <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>nere Größe verleiht, ist <strong>die</strong>ses sich selbst überlegene, freie<br />

Überlassen derselben Grundaufgabe an <strong>die</strong> Nachkommenden.<br />

(Heute, wo Sche<strong>in</strong>philosophie und Metaphysik auf allen Gassen<br />

ausgerufen wird, gilt es mehr denn je, <strong>die</strong> Grundfrage des<br />

<strong>Philosophie</strong>rens zur Frage werden zu lassen, d. h. <strong>die</strong> Frage nach<br />

dem Se<strong>in</strong> erst wieder als solche auszubilden. Wir müssen jetzt<br />

begreifen, daß schon und gerade <strong>die</strong>ses Ausbilden <strong>die</strong>ser Frage<br />

das <strong>Philosophie</strong>ren selbst ist.)<br />

Ausdrücklich Transzen<strong>die</strong>ren als <strong>Philosophie</strong>ren ist sich wiederholendes<br />

Fragen nach dem Se<strong>in</strong> des Seienden; das Se<strong>in</strong> als<br />

solches befragen, heißt, es zu begreifen suchen. <strong>Philosophie</strong>ren<br />

3 Aristotelis Metaphysica. Recognovit W. Christ. Lipsiae <strong>in</strong> aedibus B. G.<br />

Teubneri 1886.<br />

•<br />

§ Jo. Der unterschiedliche Fragebereich 217<br />

fragt nach dem Begriff dessen, was wir immer schon verstehen.<br />

Von da wird sichtbar, daß gerade das <strong>Philosophie</strong>ren umlagert<br />

ist von den E<strong>in</strong>flüsterungen se<strong>in</strong>er hartnäckigsten Widersacher<strong>in</strong>,<br />

der verme<strong>in</strong>tlichen Selbstverständlichkeit der D<strong>in</strong>ge.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren heißt das Se<strong>in</strong> als solches zu begreifen suchen,<br />

das Se<strong>in</strong>sverständnis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Möglichkeit ausbilden<br />

und auf se<strong>in</strong>en Grund br<strong>in</strong>gen, Verständnis ausbilden, Verstehen<br />

als Entwerfen, den Entwurf ausdrücklich vollziehen, und das<br />

besagt:' <strong>die</strong>sen Entwurf selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Möglichkeit bestimmen,<br />

so daß er vollziehbar wird als begreifendes Entwerfen,<br />

als Ausbildung des vorontologischen Se<strong>in</strong>sverständnisses zum<br />

ontologischen, dergestalt, daß von <strong>die</strong>sem aus jenes erst Licht<br />

bekommt.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren heißt das Se<strong>in</strong> als solches zu begreifen suchen<br />

und <strong>die</strong> Ontologie als Problem grundsätzlich begründen. Doch<br />

wir sagen nicht e<strong>in</strong>fach: <strong>Philosophie</strong> ist Ontologie, und sagen<br />

das vor allem nicht <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß irgende<strong>in</strong> tra<strong>die</strong>rter Begriff<br />

von Ontologie übernommen und dem Wesen der <strong>Philosophie</strong><br />

aufgeredet wird. <strong>Philosophie</strong> ist Ontologie, besagt höchstpns:<br />

Sie ist <strong>in</strong> ihrem Wesen e<strong>in</strong> Problem, das dem entquillt, was<br />

das Grundwesen der Existenz des Dase<strong>in</strong>s ausmacht; <strong>Philosophie</strong><br />

ist ontologisch, besagt dann: Gel<strong>in</strong>gt es, das zu begreifen,<br />

dann muß sich von da und von da primär und alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> volle<br />

<strong>in</strong>nere Richtung des Wesens des <strong>Philosophie</strong>rens enthüllen lasspn.<br />

§ JO. Der unterschiedliche Fragebereich von <strong>Philosophie</strong><br />

und Wissenschaft<br />

Damit ist gesagt: Mit der jetzigen Kennzeichnung des <strong>Philosophie</strong>rens<br />

als Fragen nach dem Begriff des Se<strong>in</strong>s haben wir das<br />

Wesen des <strong>Philosophie</strong>rens ke<strong>in</strong>eswegs erschöpft, nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Kern gefaßt; <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>e Weg zur vorläufigen Charakteristik<br />

des <strong>Philosophie</strong>rens ist zwar methodisch der unumgänglich


218 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

erste, aber mit Bedacht haben wir drei Wege angesetzt. Das<br />

Durchmessen der heiden anderen kann uns erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit dem<br />

jetzt durchlaufenen <strong>in</strong>s Ziel br<strong>in</strong>gen.<br />

Etwas Wesentliches aber ist ans Licht gekommen: <strong>Philosophie</strong>ren<br />

ist als Ausbildung des Se<strong>in</strong>sverständnisses Transzen<strong>die</strong>ren,<br />

d.h. Geschehen-lassen dessen, was Existenz im _Grunde<br />

ermöglicht. <strong>Philosophie</strong>ren ist e<strong>in</strong> Existieren aus dem Wesensgrunde<br />

des Dase<strong>in</strong>s. <strong>Philosophie</strong>ren heißt: Wesentlich werden <strong>in</strong><br />

der Transzendenz. Denn nur <strong>die</strong> Transzendenz ermöglicht u.a.<br />

den Entwurf des Se<strong>in</strong>s. Dieser bedarf daher wesenhaft der Transzendenz<br />

als Horizont des Entwerfens. Die Frage nach dem Se<strong>in</strong><br />

bedarf des transzendentalen Horizontes.<br />

(Das fordert aber, <strong>die</strong> Transzendenz <strong>in</strong> ihrem Wesen zu enthüllen.<br />

Transzendenz ist das Grundwesen des Dase<strong>in</strong>s selbst, des<br />

Seienden, das wir selbst s<strong>in</strong>d. Demnach bedarf es e<strong>in</strong>er Enthüllung<br />

der Se<strong>in</strong>sverfassung des Dase<strong>in</strong>s und des Wesens der<br />

Existenz. Nun läßt sich zeigen: Die ursprüngliche Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s und d. h. zugleich der Grund der <strong>in</strong>neren<br />

Möglichkeit der Transzendenz ist <strong>die</strong> Zeitlichkeit. Also muß <strong>die</strong><br />

Zeit den transzendentalen Horizont bestimmen für <strong>die</strong> Grundfrage<br />

des <strong>Philosophie</strong>rens, <strong>die</strong> Frage nach dem Se<strong>in</strong>. Die Fundamentalfrage<br />

der <strong>Philosophie</strong> ist <strong>die</strong> nach Se<strong>in</strong> und Zeit.<br />

Daher ist der erste Teil der so betitelten Untersuchung überschrieben:<br />

»Die Interpretation des Dase<strong>in</strong>s auf <strong>die</strong> Zeitlichkeit<br />

und <strong>die</strong> Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes<br />

der Frage nach dem Se<strong>in</strong>.«)'<br />

Im Rohen m<strong>in</strong>destens muß jetzt e<strong>in</strong>sichtig geworden se<strong>in</strong>,<br />

<strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> entscheidende These, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der ersten Stunde<br />

<strong>die</strong>ser Vorlesung ausgesprochen wurde, zurecht besteht: Wir haben<br />

nicht und nie den Standort außerhalb der <strong>Philosophie</strong>,<br />

sondern existieren schon immer, weil wesenhaft, <strong>in</strong> ihr, sofern<br />

I Anm. d. Hg.: Dieser Absatz f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> den Nachschriften ke<strong>in</strong>e Entsprechung.<br />

Auch <strong>die</strong> eckigen Klammern im Manuskript deuten darauf h<strong>in</strong>, daß<br />

Heidegger <strong>die</strong>sen Absatz nicht vorgetragen hat.<br />

§ JO. Der unterschiedliche Fragebereich 219<br />

wir 'ehen als Menschen transzen<strong>die</strong>ren. <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

ist daher nicht H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gebiet außerhalb<br />

der übrigen, sondern E<strong>in</strong>leiten, <strong>in</strong> Gang br<strong>in</strong>gen des <strong>Philosophie</strong>rens.<br />

Das besagt jetzt: ausdrückliches Geschehenlassen der<br />

Transzendenz, Bereitung und B<strong>in</strong>dung dessen, was unser Wissen<br />

trägt, Mitfragen nach dem Wesen des Se<strong>in</strong>s. Aber <strong>die</strong>ses bisherige<br />

E<strong>in</strong>leiten ist nur e<strong>in</strong> erster Anlauf - im Durchgang durch<br />

e<strong>in</strong>e' Erhellung des Wesens der Wissenschaft.<br />

Jetzt muß auch deutlich geworden se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>wiefern der Begriff<br />

e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong> Unbegriff ist, gleich<br />

dem Gedanken e<strong>in</strong>es »rundlichen Kreises«. Wissenschaft ist positive<br />

Erkenntnis, d. h. 1. auf Seiendes gerichtet, 2. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s damit<br />

notwendig je auf e<strong>in</strong>en Bezirk des Seienden. <strong>Philosophie</strong> aber ist<br />

beides gerade nicht, 1. nicht auf Seiendes, sondern auf das Se<strong>in</strong><br />

gerichtet, 2. nicht auf e<strong>in</strong>en Bezirk, auch nicht auf alle zusammen,<br />

sondern wenn auf Seiendes, dann von der Frage nach dem<br />

Se<strong>in</strong> her, auf das Seiende im Ganzen. E<strong>in</strong>e Wissenschaft vom<br />

Seienden im Ganzen aber ist wesenhaft unmöglich. Warum?<br />

Das' wird später klar, auf dem zweiten Weg.<br />

Doch <strong>Philosophie</strong>ren unterscheidet sich nicht e<strong>in</strong>fach nur<br />

von der Wissenschaft, sondern mehr noch: Was das Wesen der<br />

Wissenschaft ermöglicht, nämlich <strong>die</strong> Positivität, das liegt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Transzen<strong>die</strong>ren, und <strong>die</strong>ses als solches ist <strong>Philosophie</strong>ren.<br />

Im Transzen<strong>die</strong>ren hat <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> ursprünglich und ausdrücklich<br />

das, was der Wissenschaft nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht<br />

zukommt, und zwar so, daß sie dessen, was ihr Wesen trägt,<br />

selbst nicht mächtig ist.<br />

Wenn anders das Wesen der Wissenschaft als der Positivität<br />

im Transzen<strong>die</strong>ren liegt, dann ist <strong>Philosophie</strong>ren als Transzen<strong>die</strong>ren<br />

wissenschaftlicher, als je e<strong>in</strong>e Wissenschaft nur se<strong>in</strong><br />

kann. So ist das Beiwort »wissenschaftlich« zu <strong>Philosophie</strong> nicht<br />

nur überflüssig - das könnte noch h<strong>in</strong>gehen -, sondern e<strong>in</strong><br />

'V1ißverständnis, und zwar e<strong>in</strong> solches, das e<strong>in</strong>er grundsätzlichen<br />

Unklarheit über das Wesen der Wissenschaft und erst recht das<br />

Wesen der <strong>Philosophie</strong> entspr<strong>in</strong>gt.


220 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> ist Transzen<strong>die</strong>ren, d.h. <strong>Philosophie</strong>ren. Wie<br />

weit Sie das verstanden haben, kann sich daran bewähren, daß<br />

Sie versuchen, aus der durchgeführten Interpretation de~ Wesens<br />

der Wissenschaft zu erkennen, <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> dreifache<br />

Krisis der Wissenschaft e<strong>in</strong>e notwendige ist und daß sie 'Sich<br />

gerade im <strong>Philosophie</strong>ren <strong>die</strong>ser Krisis im echten S<strong>in</strong>ne verschärft,<br />

d.h. e<strong>in</strong>e wesentliche wird, <strong>die</strong> deshalb auch nicht zum<br />

Gegenstand journalistischer Erörterungen gemacht werden<br />

darf.<br />

Freilich - je ernstlicher wir uns um das <strong>Philosophie</strong>ren bemühen,<br />

umso deutlicher wird, daß das <strong>Philosophie</strong>ren, obwohl<br />

es im Wesen des Dase<strong>in</strong>s geschieht, ja gerade, weil es da und nur<br />

da geschieht, e<strong>in</strong>er eigenen Befreiung und Führung bedarf,<br />

e<strong>in</strong>er Befreiung, bei der das Dase<strong>in</strong> gegen sich Gewalt b;auchen<br />

muß. Alle Gewalt aber birgt <strong>in</strong> sich den Schmerz. Und das, was<br />

im <strong>Philosophie</strong>ren verstanden [?] und begriffen wird, darüber<br />

läßt sich nicht reden wie über alles übrige, nämlich das, was<br />

am Seienden zu lernen und erlernen ist. Platon wußte um all<br />

das, was <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als Zuwendung des Blickes zum Se<strong>in</strong><br />

selbst <strong>in</strong> sich trägt, und er hat das oft, vor allem im Phaidon,<br />

Phaidros, Symposion, <strong>in</strong> der Politeia und im 7. Brief mehrfach<br />

dargestellt.<br />

Phaidros (247 b): Der Aufschwung der Seele zum Erblicken<br />

des Se<strong>in</strong>s br<strong>in</strong>gt :7t6vOe;'E xul. aymv, Beschwerde und Kampf der<br />

Seele z ; Phaidon (79 d, 81 a): :7tAUVOe;, Irrfahrt der Seele 3 • Im 7.<br />

Brief (341 c), den er im Alter geschrieben hat, heißt es: QE'OV yag<br />

OUÖUl-twe; fonv we; äAAU l-tu1'hlI-tULU, aAA' fX :7tOAAfje; ouvouotae;<br />

YlYVOI-tEVl]e; :7tEQl. .0 :7tQawa uu't() xat 'tOU ou~fjv fl;attpvl]e;, oLov a:7tO<br />

:7tugoe; :7tl]öT'Joav'tOe; fl;alVfrev


222 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

überhaupt erst ermöglicht. Was aber der Wissenschaft <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

ihrer selbst gibt - und nicht nur ihr - ist etwas Höheres<br />

und Ursprünglicheres. Deshalb kann <strong>Philosophie</strong> nicht von dem<br />

her wesensmäßig bestimmt werden, was ihr gerade den Ursprung<br />

verdankt.<br />

Es war daher das Ziel der Erörterung des Verhältnisses von<br />

Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong>, aufzuzeigen aus dem <strong>in</strong>neren<br />

Wesen der Wissenschaft selbst, daß <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong>e notwendige<br />

Grenze liegt, e<strong>in</strong>e Grenze aber, durch <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wissenschaft gerade<br />

<strong>in</strong> ihrem Wesen begrenzt, d. h. ermöglicht wird; e<strong>in</strong>e<br />

Begrenzung ferner, <strong>die</strong> sich vollzieht <strong>in</strong> dem, was wir dann als<br />

<strong>Philosophie</strong> angesprochen haben.<br />

Es galt daher zunächst, um im Wesen der Wissenscb.aft <strong>die</strong><br />

notwendige Grenze zu sehen, <strong>die</strong>ses Wesen selbst zu bestimmen,<br />

ausgehend vom traditionellen Wissenschaftsbegriff: Begründungszusammenhang<br />

wahrer Sätze. Das führte zur Erörterung<br />

des Wesens der Wahrheit. Satzwahrheit ist e<strong>in</strong> abgeleitetes Phänomen<br />

gegenüber der ursprünglichen Wahrheit im S<strong>in</strong>ne der<br />

Unverborgenheit von Seiendem, <strong>die</strong> zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst gehört. Über <strong>die</strong> Idee der Wahrheit als Offenbarkeit von<br />

Seiendem <strong>in</strong> dem doppelten S<strong>in</strong>ne des Entdecktse<strong>in</strong>s von Vorhandenem<br />

und der Erschlossenheit des Dase<strong>in</strong>s wurden wir<br />

h<strong>in</strong>aus- und zurückgeführt zu e<strong>in</strong>er ursprünglicheren Wahrheit,<br />

der Unverborgenheit des Se<strong>in</strong>s. Dase<strong>in</strong> ist immer schon und<br />

notwendig <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser urspünglichsten Wahrheit; das wurde demonstriert<br />

am Se<strong>in</strong>sverständnis. Se<strong>in</strong>sverständnis als Grundverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s ist ebenso selbstverständlich wie rätselhaft.<br />

Aber von hier aus zeigt sich uns Wesen und Genesis der Wissenschaften<br />

als Erkenntnis von Seiendem, und zwar je e<strong>in</strong>es<br />

schon offenbaren Vorliegenden und notwendig gebietsmäßig<br />

umgrenzten. Positivität gründet im vorgängigen, ungegenständlichen,<br />

feldabsteckenden Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung.<br />

E<strong>in</strong>e bestimmte wissenschaftliche Untersuchung bewegt sich<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es bestimmten Problems, e<strong>in</strong>er bestimmten Frage<br />

an das, was zum Thema gemacht wird. Thematisierung, The-<br />

§ 31. Se<strong>in</strong>sverständnis und ontologische Differenz 223<br />

mastellung setzt Gegebenheit e<strong>in</strong>es Gegenstandes voraus. E<strong>in</strong><br />

Gegenstand ist mir aber als Gegenstand nur gegeben im Akt der<br />

Vergegenständlichung. Etwas vergegenständlichen kann ich<br />

nur, wenn <strong>die</strong>ses Etwas mir zuvor schon als Offenbares vorliegt;<br />

offenbares vorliegendes Seiendes kann aber als Seiendes nur<br />

offenbar vorliegen, wenn zuvor schon <strong>die</strong>ses Seiende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Seih, auf se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> h<strong>in</strong> verstanden, d. h. entworfen ist. So sehen<br />

wirte<strong>in</strong>e ganz bestimmte Stufenfolge <strong>in</strong>nerhalb der Struktur der<br />

Wissenschaft. Das zentrale Phänomen ist <strong>die</strong>ser Entwurf der<br />

Se<strong>in</strong>sverfassung.<br />

Das entscheidende Phänomen, auf das wir damit gestoßen<br />

s<strong>in</strong>d, ist das Urfaktum im Wesen des Dase<strong>in</strong>s selbst, daß wir so<br />

etwas wie Se<strong>in</strong> verstehen, oder schärfer gesagt, daß wir den<br />

Unterschied von Seiendem und Se<strong>in</strong> des Seienden vollziehen.<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis ist nichts anderes als <strong>die</strong> Möglichkeit des Vollzugs-<br />

<strong>die</strong>ses Unterscheidens von Seiendem und Se<strong>in</strong> oder kurz<br />

gesagt <strong>die</strong> Möglichkeit der ontologischen Differenz.<br />

Wir zeigten schließlich, <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es solchen Unterscheidens<br />

von Seiendem und Se<strong>in</strong> beruht auf dem, was wir als<br />

Transzendenz bezeichnen. Wenn anders Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> der ursprünglichsten<br />

Wahrheit sich hält, muß es als solches transzen<strong>die</strong>ren;<br />

nur als solches kann es sich überhaupt zu Seiendem verhalten<br />

und nur deshalb von Seiendem als anderem sich selbst als Seiendes<br />

unterscheiden und es selbst als Seiendes se<strong>in</strong>, existieren.<br />

Selbstse<strong>in</strong> qua Existenz ist nur auf dem Grunde der Transzendenz<br />

möglich. Hier eröffnet sich e<strong>in</strong>e neue und fundamentale<br />

Möglichkeit des Fragens: Transzen<strong>die</strong>ren als Se<strong>in</strong>sverstehen<br />

und Se<strong>in</strong>sbegreifen. Dieses Transzen<strong>die</strong>ren als ausdrückliches<br />

ist nichts anderes als <strong>Philosophie</strong>ren. So lautete <strong>die</strong> 12. These:<br />

Transzen<strong>die</strong>ren ist <strong>Philosophie</strong>ren. Transzendenz ist aber Wesensverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s; ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren qua<br />

<strong>Philosophie</strong>ren ist Wesentlichwerden des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Existenz,<br />

In allem Wesentlichen aber - das ist se<strong>in</strong>e Auszeichnung -<br />

gibt es ke<strong>in</strong>en Fortschritt und demnach auch ke<strong>in</strong>e Entwertung.


224 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

Wirkliches <strong>Philosophie</strong>ren kann se<strong>in</strong>em Wesen nach nie überholt<br />

werden, sondern muß selbst immer neu wiederholt werden.<br />

Wo und wann wirkliches <strong>Philosophie</strong>ren geschieht, kommt es<br />

von selbst direkt <strong>in</strong> das Gespräch mit der geschichtlichen Vergangenheit<br />

der <strong>Philosophie</strong> und sieht dann, daß es <strong>in</strong> der<br />

<strong>Philosophie</strong> ke<strong>in</strong>e Neuigkeit, daher aber auch nichts Veraltetes<br />

geben kann; es steht jenseits von Alt und Neu. Es galt daher,<br />

kurz aus dem entscheidenden Anfang der <strong>Philosophie</strong>, Platon<br />

und Aristoteles, zu verdeutlichen, daß <strong>die</strong> Frage nach dem Begriff<br />

des Se<strong>in</strong>s <strong>die</strong> zentrale der <strong>Philosophie</strong> ist - 1:L 1:0 OV - und daß<br />

es zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s (Seele) gehört, Se<strong>in</strong> zu verstehen-1]<br />

'ljJuXTJ 1:f{}EaLm 1:(1 OVLa, - und daß nur deshalb faktische Existenz<br />

des Dase<strong>in</strong>s möglich ist. Allerd<strong>in</strong>gs wird <strong>die</strong> Geschichte nur zum<br />

Reden gebracht, wenn man nicht nachredet, d.h. sich dogmatisch<br />

auf e<strong>in</strong>e frühere <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>fach beruft, sei es Aristoteles<br />

oder Kant; <strong>die</strong> Geschichte gibt nur das Wesentliche wieder,<br />

wenn sie durch lebendiges <strong>Philosophie</strong>ren selbst zum Mitphilosophieren<br />

gebracht wird.<br />

Durch <strong>die</strong> Erörterung des Verhältnisses von Wissenschaft und<br />

<strong>Philosophie</strong> ist <strong>die</strong>se noch nicht ausdrücklich im Ganzen bestimmt,<br />

sondern nur soweit sie zur Wissenschaft <strong>in</strong> Beziehung<br />

gesetzt wurde. Diese hat e<strong>in</strong>e doppelte Grenze: Erstens ist <strong>die</strong><br />

Wissenschaft Erkenntnis des Seienden und nicht des Se<strong>in</strong>s,<br />

zweitens ist <strong>die</strong> Erkenntnis von Seiendem immer und notwendig<br />

als e<strong>in</strong> abgestecktes Gebiet und nicht das Seiende im<br />

Ganzen. Weder das Se<strong>in</strong> als solches noch das Seiende im Ganzen<br />

als solches, noch der <strong>in</strong>nere Zusammenhang zwischen Se<strong>in</strong> und<br />

Seiendem ist je e<strong>in</strong>er Wissenschaft oder ihnen allen zusammen<br />

zugänglich, aber nicht nur e<strong>in</strong>fach unzugänglich, sondern so,<br />

daß auf dem Grunde <strong>die</strong>ser Unzugänglichkeit und <strong>in</strong> dem so<br />

begrenzten Umkreis Wissenschaft alle<strong>in</strong> forschen kann. E<strong>in</strong>e<br />

Allgeme<strong>in</strong>wissenschaft ist e<strong>in</strong> Unbegriff. Bei <strong>die</strong>ser Begrenzung<br />

der Wissenschaft wird vor allem der Widers<strong>in</strong>n offenbar, der<br />

<strong>Philosophie</strong> das Beiwort »wissenschaftlich« <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>em<br />

S<strong>in</strong>ne zuzuweisen.<br />

§ 31. Se<strong>in</strong>sverständnis und ontologische Differenz 225<br />

Mit <strong>die</strong>ser Interpretation des Wesens der Wissenschaft haben<br />

wir vielleicht den Kern getroffen, aber damit ist <strong>die</strong> Interpretation<br />

nicht vollständig. Früher haben wir schon gezeigt, daß<br />

der Charakter des »Theoretischen« nicht nur unbestimmt ist,<br />

sondern überhaupt nicht ausreicht zur vollen Wesensbestimmung<br />

der Wissenschaft, vor allem dann nicht, wenn wir fragen:<br />

Was gehört wesentlich dazu, daß Wissenschaft faktisch sich verwirklicht?<br />

Entscheidend ist e<strong>in</strong>mal der Entwurf der Se<strong>in</strong>sverfassung;<br />

aber Se<strong>in</strong>sverständnis ist immer Verständnis des Se<strong>in</strong>s von Seiendem.<br />

In und bei <strong>die</strong>sem Entwurf muß auch schon e<strong>in</strong> Verhältnis<br />

zum Seiendem bestehen, und zwar e<strong>in</strong> eigenes, das<br />

gekennzeichnet ist durch <strong>die</strong> Tendenz der Bearbeitung, Beherrschung<br />

und Lenkung des Seienden. 1:EXVlJ ist nicht nur Vorform<br />

der bttO"t'ijlllJ, sondern geht wesentlich <strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>; Beherrschung,<br />

Lenkung und Nutzbarmachung der Erkenntnis wird nicht nur<br />

<strong>in</strong> der Technik im engen S<strong>in</strong>ne, sondern <strong>in</strong> aller beruflichen<br />

Praxis erstrebt. Wissenschaft zielt immer auf »Leistung«, <strong>Philosophie</strong><br />

auf »Bildung« ,<strong>in</strong> dem grundsätzlichen S<strong>in</strong>n der platonischen<br />

:n:möda. In der Wissenschaft, <strong>die</strong> immer unabgeschlossen<br />

ist, gibt es daher notwendig Fortschritt und Entwicklung,<br />

Resultate, d. h. solches, was veraltet, während <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong><br />

ke<strong>in</strong>e Resultate verbucht werden können und sie daher auch<br />

nicht veralten kann.<br />

Aber gerade durch <strong>die</strong>se scharfe Abgrenzung der Wissenschaft<br />

gegenüber der <strong>Philosophie</strong> wird der notwendige Zusammenhang<br />

der Wissenschaft mit der <strong>Philosophie</strong> offenkundig.<br />

E<strong>in</strong>e fruchtbare wechselseitige Bestimmung aber ist nur da<br />

sichergestellt, wo der wesenhafte Unterschied bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Existenz<br />

des wissenschaftlichen Forschers und des Philosophen sich<br />

erstreckt und dort ergriffen wird. <strong>Philosophie</strong> im produktiven<br />

S<strong>in</strong>ne des <strong>Philosophie</strong>rens ist ganz anders <strong>in</strong> der <strong>in</strong>nersten und<br />

gan'ten Existenz des Philosophen verwurzelt als <strong>die</strong> wissenschaftliche<br />

Untersuchung im Forscher. Grundsätzlich ist wissenschaftliche<br />

Arbeit des e<strong>in</strong>en immer vertretbar durch e<strong>in</strong>en


226 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />

anderen; wissenschaftliche Entdeckungen des e<strong>in</strong>en hätte auch<br />

der andere machen können. Nie so <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong>; jeder ist<br />

<strong>in</strong> sich ganz und e<strong>in</strong>malig. Daher wird das <strong>Philosophie</strong>ren nUr<br />

lebendig und wirksam, wenn es von anderen wiederum ursprünglich<br />

und selbständig geweckt und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne wiederholt<br />

wird. Die wiederholende Erneuerung aber ist, wenn sie<br />

echt ist, nicht und nie e<strong>in</strong>e bloße Dublette.<br />

Daher ist auch das Verhältnis des Schülers zum wissenschaftlichen<br />

Forscher e<strong>in</strong> wesentlich anderes als das des Mitphilosophierenden<br />

zum Philosophen. Jenes auf <strong>die</strong>ses übertragen<br />

wollen, bedeutet e<strong>in</strong> Verkennen des Wesens des <strong>Philosophie</strong>rens<br />

von Grund aus. Die Tendenz zu solcher Übertragung aber liegt<br />

dadurch bei uns gerade vor allem ständig nahe, weil Philosoph<br />

und Forscher an der Universität äußerlich <strong>in</strong> derselben soziologischen<br />

Gestalt und <strong>in</strong> gleichem Rahmen sich bewegen und<br />

weil <strong>die</strong> soziale und amtliche Stellung der Professoren der <strong>Philosophie</strong><br />

noch nicht verbürgt, daß der, der über <strong>Philosophie</strong><br />

erzählt, e<strong>in</strong> Philosoph ist. Aber mit dem Gesagten wurde schon<br />

e<strong>in</strong> wenig zu viel über Philosophen geredet, doch e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis<br />

ist nicht zu umgehen. Max Scheler vor allem hat -<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Arbeit »Probleme e<strong>in</strong>er Soziologie des Wissens«' <strong>die</strong>sem Problem<br />

se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Wichtiger aber ist, das <strong>Philosophie</strong>ren selbst <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen,<br />

ebenso wie <strong>in</strong> <strong>die</strong> jeweilige bestimmte Wissenschaft konkret<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuwachsen; denn nur dann werden <strong>die</strong>se Unterschiede<br />

recht erfahren und nachhaltig wirksam.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>die</strong>ser Vorlesung, <strong>in</strong> der ersten Stunde (vgl. oben<br />

S. 5) sagten wir: Wir wissen jetzt nur, und zwar mehr im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er Behauptung: Das <strong>Philosophie</strong>ren gehört zum menschlichen<br />

Dase<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem als solchem geschieht es. Dase<strong>in</strong>, sofern<br />

es existiert, philosophiert, wenngleich nur unausdrücklich und<br />

§ 31. Se<strong>in</strong>sverständnis und ontologische DijJerenz 227<br />

meist uneigentlich. Das Dase<strong>in</strong> existiert aber nie so im allgeme<strong>in</strong>en,<br />

sondern als konkretes existiert es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Lage und verschafft sich selbst je nachdem wesentliche und<br />

unwesentliche Situationen. Wir müssen daher, wenn wir im<br />

<strong>Philosophie</strong>ren den Begriff der <strong>Philosophie</strong> entwickeln, aus den<br />

Perspektiven unserer jetzigen Situation heraus fragen, im Blick<br />

auf <strong>die</strong> bestimmenden Mächte unseres jetzigen Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Zugehörigkeit zur Universität.<br />

Die <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> soll das <strong>Philosophie</strong>ren <strong>in</strong> uns frei werden<br />

lassen, jetzt <strong>in</strong> uns, sofern unser Dase<strong>in</strong> durch <strong>die</strong> beiden Mächte<br />

VVissenschaft und Führerschaft bestimmt ist. Wir s<strong>in</strong>d den ersten<br />

Weg durch <strong>die</strong> Wissenschaft gegangen, und wir sahen:<br />

<strong>Philosophie</strong>re& als Transzen<strong>die</strong>ren geschieht nicht als e<strong>in</strong>e beliebige<br />

Verhaltung unter anderen, sondern im Grunde des<br />

Dase<strong>in</strong>s als solchen.<br />

Was zu Anfang e<strong>in</strong>e Behauptung war, ist jetzt E<strong>in</strong>sicht geworden,<br />

freilich e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sicht, der das volle Wesen der <strong>Philosophie</strong><br />

noch verschlossen bleibt - allerd<strong>in</strong>gs nicht so, als hätten<br />

wir e<strong>in</strong> Stück des Begriffes, dem andere Stücke sich anfügen<br />

heßen. Deshalb haben wir von vornhere<strong>in</strong> zwei weitere Wege<br />

angesetzt, <strong>die</strong> uns dazu verhelfen sollen, den vollen Begriff der<br />

<strong>Philosophie</strong> ausdrücklich zum Verständnis zu br<strong>in</strong>gen: <strong>die</strong> Erörterung<br />

des Verhältnisses von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

und des Verhältnisses von <strong>Philosophie</strong> und Geschichte.<br />

Wenn »Weltanschauung« etwas total anderes ist als Wissenschaft,<br />

dann wird auch der zweite Weg e<strong>in</strong>en anderen Charakter<br />

haben. Gleichwohl können und müssen uns E<strong>in</strong>sichten, <strong>die</strong> wir<br />

auf dem ersten Weg gewannen, den zweiten erleuchten und<br />

erleichtern.<br />

I Max Scheler: Probleme e<strong>in</strong>er Soziologie des Wissens. In: Versuche zu emer<br />

Soziologie des WIssens, hrsg. von Max Scheler. Mimchen 1924. Überarbeitete<br />

Fassung m Max Scheler: Die Wissensformen und <strong>die</strong> Gesellschaft. LeIpZIg<br />

1926.


ZWEITER ABSCHNITT<br />

PHILOSOPHIE UND WELTANSCHAUUNG<br />

ERSTES KAPITEL<br />

Weltanschauung und Weltbegriff<br />

§ 32. Was ist Weltanschauung?<br />

Di,e Entsprechung zum ersten Weg besteht auch für den zweiten<br />

dar<strong>in</strong>, daß wir wiederum nicht <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

als feste Größen nebene<strong>in</strong>ander halten und vergleichen,<br />

sondern im Durchgang durch <strong>die</strong> Frage: »Was ist Weltanschauung?«<br />

das Verhältnis zu ihr bestimmen.<br />

Auf dem ersten Weg, der Kennzeichnung der <strong>Philosophie</strong> im<br />

Durchgang durch <strong>die</strong> Frage: »Was ist Wissenschaft?« ergab sich:<br />

<strong>Philosophie</strong> ist <strong>die</strong> Grenze des Wesens der Wissenschaft; <strong>die</strong>se<br />

verdankt jener <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit. <strong>Philosophie</strong> liegt wesensmäßig<br />

jeder Wissenschaft zugrunde, aber <strong>Philosophie</strong> geht<br />

dar<strong>in</strong> nicht auf.<br />

Nicht so ist das Verhältnis von Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong>.<br />

Wir können nicht ohne weiteres sagen: Zur <strong>in</strong>neren<br />

Möglichkeit von Weltanschauung gehört notwendig und ausdrücklich<br />

<strong>Philosophie</strong>, eher umgekehrt: In der <strong>in</strong>neren Möglichkeit<br />

von <strong>Philosophie</strong> liegt schon Weltanschauung, und<br />

demzufolge ist auch abgeleiteterweise Wissenschaft immer nur<br />

aufgrund e<strong>in</strong>er bestimmten Weltanschauung möglich.<br />

Doch alle derartig zugespitzten Antithesen und handlichen<br />

Formeln s<strong>in</strong>d verderblich, werden leicht zu Irrtümern und geben<br />

Veranlassung zu Mißgriffen. Jetzt sollte nur angedeutet werden,


230 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

daß der zweite Weg durchaus nicht parallel geht mit dem ersten,<br />

weder nach Gehalt noch nach Behandlungsart des Problems. Äußerlich<br />

haben sie nur <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>samkeit, daß wir auch hier<br />

zunächst fragen müssen: Was ist Weltanschauung? Schon wenn<br />

wir <strong>die</strong> Frage nur obenh<strong>in</strong> stellen, merken wir: Das, wonach da<br />

gefragt wird, Weltanschauung, ist e<strong>in</strong> sehr viel breiteres" vielgestaltigeres,<br />

universaleres, aber auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Grenzen wieder<br />

verschwimmenderes Phänomen als <strong>die</strong> Wissenschaft.<br />

a) Das Wort >Weltanschauung<<br />

Schon <strong>die</strong> Bezeichnung »Weltanschauung« ist dunkel und leicht<br />

irreleitend. Dazu kommt, daß das Wort selbst e<strong>in</strong>e spezifisch<br />

deutsche Prägung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist. Es hat<br />

<strong>in</strong> anderen Sprachen und <strong>in</strong> früheren Zeiten ke<strong>in</strong>e Entsprechung,<br />

was freilich nicht heißt, daß das, was damit geme<strong>in</strong>t ist,<br />

nicht auch außerhalb des deutschen Sprachgebiets und <strong>in</strong> früherer<br />

Zeit, vor der Prägung, wirklich gewesen wäre. Denn daß<br />

<strong>die</strong> nächste Wortbedeutung nicht ohne weiteres schon den eigentlich<br />

geme<strong>in</strong>ten S<strong>in</strong>n hergibt, zeigt <strong>die</strong> erste Verwendung<br />

des Wortes, <strong>die</strong> noch nicht <strong>die</strong> Bedeutung kennt, <strong>die</strong> es heute<br />

hat.<br />

Soweit wir sehen, taucht das Wort zum erstenmal <strong>in</strong> Kants<br />

Kritik der Urteilskraft auf, und zwar als Anschauung und Betrachtung<br />

der s<strong>in</strong>nlich gegebenen Welt, des mundus sensibilis,<br />

also schlichte Auffassung der Natur im weitesten S<strong>in</strong>ne. In <strong>die</strong>ser<br />

Bedeutung gebrauchen das Wort Goethe und Alexander von<br />

Humboldt. Dieser Gebrauch des Wortes im S<strong>in</strong>ne von Betrachtung<br />

der Natur stirbt bald ab, und zwar unter dem E<strong>in</strong>fluß e<strong>in</strong>er<br />

Bedeutung des Wortes, <strong>die</strong> es durch <strong>die</strong> Romantik erhält. Das<br />

wird sichtbar aus e<strong>in</strong>em Gebrauch des Ausdrucks Weltanschauung<br />

bei Schell<strong>in</strong>g im »Entwurf e<strong>in</strong>es Systems der Naturphilosophie«,<br />

1799: »Die Intelligenz [d.h. der Geist] ist auf doppelte<br />

Art, entweder bl<strong>in</strong>d und bewußtlos, oder frei und mit Bewußtseyn<br />

produktiv; bewußtlos produktiv <strong>in</strong> der Weltanschauung,<br />

§ J2. Was ist Weltanschauung? 231<br />

mit Bewußtseyn <strong>in</strong> dem Erschaffen e<strong>in</strong>er ideellen Welt.«! Hier<br />

ist also Weltanschauung nicht dem s<strong>in</strong>nlichen Betrachten der<br />

Natur zugewiesen, sondern sie ist e<strong>in</strong>e Handlung der Intelligenz,<br />

wenngleich der bewußtlosen, aber doch e<strong>in</strong>e produktive<br />

Handlung, d.h. e<strong>in</strong> produktives Bilden e<strong>in</strong>es Weltbildes. Schell<strong>in</strong>g<br />

spricht sogar von e<strong>in</strong>em Schematismus der Weltanschauung,<br />

'von e<strong>in</strong>er schematischen Form für verschiedene mögliche<br />

Weltanschauungen, d. h. Weisen des produktiven Auffassens und<br />

Deutens des Ganzen des Seienden. Dabei ist <strong>die</strong>se produktive<br />

Bildung e<strong>in</strong>es Weltbildes nicht etwa nur e<strong>in</strong> theoretischer Akt.<br />

Hegel spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Phänomonologie des Geistes e<strong>in</strong>ige Jahre<br />

später von e<strong>in</strong>er moralischen Weltanschauung. So sehen wir,<br />

daß der Titel Weltanschauung nichts mehr geme<strong>in</strong> hat mit der<br />

Bedeutung des Wortes bei Kant. Görres gebraucht <strong>die</strong> Wendung<br />

»politische Weltanschauung«. Der Historiker Ranke spricht von<br />

e<strong>in</strong>er religiösen und christlichen Weltanschauung. Bald ist dann<br />

auch <strong>die</strong> Rede von demokratischer, pessimistischer oder mittelalterlicher<br />

Weltanschauung. Bismarck sagt: »Es gibt doch wunderliche<br />

Weltanschauungen bei sehr klugen Leuten.« In <strong>die</strong>ser<br />

Redeweise sehen wir schon den heutigen Gebrauch <strong>in</strong> der weiten,<br />

aber auch dunklen und zunächst schwer faßbaren Bedeutung-des<br />

Wortes Weltanschauung.<br />

Es wird <strong>die</strong> Aufgabe se<strong>in</strong>, uns zunächst durch <strong>die</strong>sen verschwimmenden<br />

und vieldeutigen Begriff h<strong>in</strong>durchzutasten zu<br />

dem, was wir unbestimmt, doch mit e<strong>in</strong>er gewissen Sicherheit<br />

me<strong>in</strong>en, wenn wir von Weltanschauung heute sprechen. Zwar<br />

wissen wir alle, was wir me<strong>in</strong>en, wenn wir etwa bestimmte<br />

Aussagen von anderen als Ausdruck ihrer Weltanschauung erkennen,<br />

als Überzeugungen, <strong>die</strong> sich nicht mehr objektiv wissenschaftlich<br />

diskutieren und beweisen lassen. Wir merken<br />

1 F.W.J. Schell<strong>in</strong>g, <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> zu dem Entwurf e<strong>in</strong>es Systems der NaturphIlosphie<br />

(1799). Fnedrich Wilhelm Joseph von Schell<strong>in</strong>gs sämmtliche<br />

Wt'rke. Herausgegeben von Karl Friedrich August Schell<strong>in</strong>g (1856-1861). Erste<br />

\bteIlung, Dritter Band. J. G. Cotta'scher Verlag, Stuttgart und Augsburg 1858,<br />

S 271.


232 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

auch mit mehr oder m<strong>in</strong>der sicherem Takt, wo wir von wissenschaftlichen<br />

Erörterungen zu weltanschaulichen Thesen übergehen<br />

und umgekehrt. Wir s<strong>in</strong>d über<strong>die</strong>s heute nicht nur<br />

überaus tolerant gegenüber der Vielfältigkeit von Weltanschauungen,<br />

sondern auch aufgeschlossen und fe<strong>in</strong>hörig für deren<br />

Verschiedenartigkeit <strong>in</strong> Kunst, Religion, <strong>Philosophie</strong>, Politik. Ja,<br />

wir machen uns schon e<strong>in</strong>en besonderen geistigen Genuß daraus,<br />

solche Unterschiede aufzuspüren, zu beobachten, und wir<br />

neigen dazu, es uns als besonderes Ver<strong>die</strong>nst anzurechnen, wenn<br />

wir e<strong>in</strong>e entsprechende Duldsamkeit aufbr<strong>in</strong>gen und alles und<br />

jedes gelten lassen. Alles Gelten-lassen und alles Verstehen gilt<br />

sogar als besonderes Zeichen e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlichen Überlegenheit<br />

und Freiheit, wo es im Grunde nur e<strong>in</strong>e versteckte Feigheit<br />

und Ohnmacht ist, der Mangel an Mut zur Wahrhaftigkeit, <strong>die</strong><br />

als menschliches Wollen immer und notwendig »e<strong>in</strong>seitig« ist<br />

und den Kampf fordert, der heute schon be<strong>in</strong>ahe als unanständig<br />

gilt. Dar<strong>in</strong> zeigt sich <strong>die</strong> ru<strong>in</strong>ierende Wirkung Nietzsches<br />

bzw. se<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Nachbeter, <strong>die</strong> das, was ihm Mittel der<br />

Kritik war, zum Selbstzweck machen.<br />

Über<strong>die</strong>s ist charakteristisch: Ausdrückliches Aufmerken auf<br />

Weltanschauung, Begriff derselben, Erörterungen darüber, Bemühung<br />

darum tauchen immer da und dann auf, wo und wann<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitlich geschlossene und alle<strong>in</strong>herrschende - und eben<br />

als solche dann gar nicht merkliche - Weltanschauung verloren<br />

geht, zerbrochen ist. Ob e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche und durchgängig<br />

herrschende Weltanschauung wirklich e<strong>in</strong> Ideal ist, läßt sich<br />

nicht ohne weiteres sagen. Tatsache ist, daß immer mit dem<br />

Zerbrechen e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Weltanschauung und Kultur das<br />

Problem der Weltanschauung lebendig wird.<br />

Aber trotzdem, ja gerade deshalb, weil alles sich uns <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

weltanschaulichen Färbung aufdrängt und wir <strong>in</strong> solchen Auffassungen<br />

uns bewegen, automatisch fragen, was für e<strong>in</strong>e Weltanschauung<br />

steckt dah<strong>in</strong>ter, wird <strong>die</strong> Verlegenheit besonders<br />

groß, wenn wir sagen sollen, was denn nun Weltanschauung sei.<br />

Der Grund <strong>die</strong>ser Verlegenheitr der man meist sehr prompt<br />

§ J2. Was ist Weltanschauung? 233<br />

ausweicht, liegt zunächst <strong>in</strong> der Unsicherheit des Horizontes,<br />

auS dem heraus wir umgrenzen, was Weltanschauung sei. Daß<br />

<strong>die</strong>ser Horizont der Bestimmbarkeit des Wesens der Weltanschauung<br />

schwankend ist, hat mehrfache Gründe, denen wir im<br />

e<strong>in</strong>zelnen hier nicht nachgehen. Das Faktum besteht.<br />

Bei der Frage nach dem Wesen der-Wissenschaft ist der Bestimmungshorizont<br />

von Anfang an e<strong>in</strong>deutiger: Wissenschaft ist<br />

eme Art von Erkenntnis - aber Weltanschauung? Zwar sche<strong>in</strong>en<br />

wir IZU verstehen, was »Welt« heißt und was »Anschauung«<br />

besagt. Aber es zeigt sich auch sofort, daß wir mit Weltanschauung<br />

nicht me<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Anschauen, Betrachten als Beobachten,<br />

weder e<strong>in</strong> vorwissenschaftliches noch e<strong>in</strong> wissenschaftliches Betrachten<br />

- ß-ewQLu; Schauen me<strong>in</strong>t auch nicht aesthetisches,<br />

künstlerisches Betrachten, <strong>die</strong>s so wenig, daß wir eben dem<br />

Künstler selbst je e<strong>in</strong>e Weltanschauung zusprechen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> und<br />

auS se<strong>in</strong>em Werk spricht. Anschauung ist auch nicht irgend e<strong>in</strong><br />

besonders geheimnisvoller Akt von Intuition, e<strong>in</strong> besonderes<br />

Vermögen, D<strong>in</strong>ge zu sehen, <strong>die</strong> anderen verborgen s<strong>in</strong>d. Weltanschauung<br />

ist ke<strong>in</strong> bloßes Betrachten der D<strong>in</strong>ge, ebensowenig<br />

e<strong>in</strong>e Summe von Wissen über sie; Weltanschauung ist immer<br />

Stellungnahme, und zwar solche, <strong>in</strong> der wir uns aus eigener<br />

Überzeugung halten, sei es aus eigener und eigens gebildeter,<br />

sei es aus solcher, <strong>die</strong> wir lediglich mit- und nachmachen, <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

wir h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten s<strong>in</strong>d.<br />

Mehr noch: Diese Überzeugung ist nicht etwas, was wir lediglich<br />

»haben«, wovon wir gelegentlich Gebrauch machen, <strong>die</strong><br />

wir anbr<strong>in</strong>gen, so wie e<strong>in</strong>e gewonnene E<strong>in</strong>sicht, e<strong>in</strong>en bewiesenen<br />

Satz, sondern <strong>die</strong> Weltanschauung ist <strong>die</strong> bewegende<br />

Grundkraft unseres HandeIns und ganzen Dase<strong>in</strong>s, auch dann<br />

und gerade dann, wenn wir uns nicht ausdrücklich auf sie berufen<br />

und im ausdrücklichen bewußten Rückgang auf sie e<strong>in</strong>e<br />

Entscheidung treffen.<br />

»Anschauung« hat hier eher <strong>die</strong> Bedeutung von »Ansicht«,<br />

wenn wir sagen: Ich b<strong>in</strong> der und der Ansicht, wobei wir uns auf<br />

etwas berufen, wovon wir gewiß überzeugt s<strong>in</strong>d, was wir dem


234 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

anderen aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er theoretischen Argumentation e<strong>in</strong>fach<br />

beweisen und aufdrängen können, e<strong>in</strong>e Ansicht, <strong>die</strong>(nicht<br />

auf beliebige e<strong>in</strong>zelne D<strong>in</strong>ge geht, sondern auf das Ganze des<br />

Seienden.<br />

Das kommt im Ausdruck» Welt« zum Vorsche<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

ist auch <strong>die</strong>ses Wort vieldeutig, und vorwiegend me<strong>in</strong>t es auch<br />

heute noch das Ganze des Seienden im S<strong>in</strong>ne des Kosmos, der<br />

Natur. Allerd<strong>in</strong>gs sprechen wir auch von Weltgeschichte und<br />

me<strong>in</strong>en damit <strong>die</strong> Geschichte im Ganzen, Universalgeschichte,<br />

aber doch mit Ausscheidung des Naturablaufs als solchen. Daß<br />

Weltanschauung sehr leicht und oft <strong>die</strong> engere Bedeutung von<br />

naturwissenschaftlichem Weltbild nahelegt, bekundet sich dar<strong>in</strong>,<br />

daß wir gern ergänzend sagen: Welt- und Lebensanschauung.<br />

Damit zeigt sich, daß <strong>die</strong> charakterisierte Anschauung<br />

auch, ja sogar zentral, das »Leben«, d. h. das Dase<strong>in</strong> betrifft.<br />

Weltanschauung betrifft daher das nichtdase<strong>in</strong>smäßige Seiende<br />

(Natur <strong>in</strong> praktischer H<strong>in</strong>sicht u.s.f.) und das Dase<strong>in</strong>, aber<br />

nicht nur beide Bezirke nebene<strong>in</strong>ander und zusammen genommen,<br />

sondern <strong>in</strong> ihrer wechselseitigen Beziehung. Bei der<br />

Anschauung des Seienden im Ganzen steht im Zentrum <strong>die</strong><br />

»Lebensanschauung«, so zwar, daß <strong>die</strong> Lebensanschauung zugleich<br />

<strong>die</strong> wirkende und richtunggebende Kraft des Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst ist.<br />

Aus <strong>die</strong>ser vorläufigen Kennzeichnung dessen, was wir mit<br />

Weltanschauung me<strong>in</strong>en, ersehen wir, daß <strong>die</strong>ses Phänomen<br />

nicht e<strong>in</strong>fach ist und daß wir zunächst noch weit entfernt s<strong>in</strong>d<br />

von e<strong>in</strong>er klaren und scharfen begrifflichen Umgrenzung se<strong>in</strong>er<br />

Struktur. Diese selbst werden wir aber auch nur erst dann gew<strong>in</strong>nen,<br />

wenn festgelegt ist, wonach wir bereits fragten, nach<br />

dem Horizont der Bestimmbarkeit von so etwas wie Weltanschauung.<br />

Woh<strong>in</strong> gehört dergleichen? Als »Anschauung« ist sie<br />

e<strong>in</strong>e Verhaltung - oder besser - e<strong>in</strong>e Haltung des Dase<strong>in</strong>s, und<br />

zwar e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> das Dase<strong>in</strong> von Grund aus trägt und bestimmt,<br />

<strong>in</strong> der Weise, daß das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Haltung sich zum<br />

Ganzen des Seienden gestellt si@ht und weiß. Die Aufhellung<br />

§ 32. Was lst Weltanschauung? 235<br />

und begriffliche Bestimmung der Wesensstruktur und Funktion<br />

von' so etwas wie Weltanschauung wird also~nur dann h<strong>in</strong>reich~nd<br />

gel<strong>in</strong>gen, wenn wir e<strong>in</strong>en entsprechend ursprünglichen<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wesensverfassung des Dase<strong>in</strong>s haben.<br />

b) Interpretationen von Weltanschauung:<br />

Dilthey - Jaspers - Scheler<br />

So ergibt sich hier e<strong>in</strong>e entsprechende Sachlage wie auf dem<br />

ersten Weg; <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen der Wissenschaft führte<br />

zurioFrage nach dem Wesen der Wahrheit, <strong>die</strong>se aber ist e<strong>in</strong>e<br />

Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s selbst. Das konnte aber nur dadurch<br />

sichtbar werden, daß wir uns von dem überlieferten<br />

Begriff des Subjekts und der Subjektivität frei machten, d. h.<br />

durch e<strong>in</strong>e radikalere Interpretation der Se<strong>in</strong>sverfassung des<br />

Dase<strong>in</strong>s. Demnach ist zu vermuten, daß das noch viel undurchsichtigere<br />

und dabei doch zentralere Phänomen, das wir »Weltanschauung«<br />

nennen und das <strong>in</strong> <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung des<br />

Dase<strong>in</strong>s zurückweist, erst recht e<strong>in</strong>e ontologische Interpretation<br />

des Dase<strong>in</strong>s notwendig macht. Der Mangel e<strong>in</strong>er solchen Ontologie<br />

des Dase<strong>in</strong>s verschuldet es denn auch, daß das Phänomen<br />

der Weltanschauung noch so weitgehend unbestimmt ist,<br />

daß <strong>die</strong> Frage des Verhältnisses von Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong><br />

noch ganz im argen liegt. Aber wenn es e<strong>in</strong> zum Wesen<br />

der <strong>Philosophie</strong> gehöriges Problem ist, dann ist es so alt wie<br />

<strong>die</strong>se selbst; das ist leicht zu zeigen aus Platons »Politeia« z.B.,<br />

Buch V-VII. Die Frage liegt im argen trotz wichtiger Anläufe zu<br />

e<strong>in</strong>er Wesens <strong>in</strong>terpretation der Weltanschauung, <strong>die</strong> <strong>in</strong> neuester<br />

Zeit <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von Dilthey, so dann von Jaspers und<br />

Scheler unternommen wurden.<br />

So sagt Dilthey: »In jedem Moment unseres Dase<strong>in</strong>s besteht<br />

e<strong>in</strong> Verhältnis unseres Eigenlebens zur Welt, <strong>die</strong> uns als e<strong>in</strong><br />

anschauliches Ganzes umgibt. Wir fühlen uns, den Lebenswert<br />

des e<strong>in</strong>zelnen Momentes und <strong>die</strong> Wirkungswerte der D<strong>in</strong>ge auf<br />

uns, <strong>die</strong>s aber im Verhältnis zur gegenständlichen Welt. Im Fort-


236 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

schreiten der Reflexion erhält sich <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung von Erfahrung<br />

über das Leben und Entwicklung des Weltbildes.«2 Diese<br />

Interpretation der Wirklichkeit vom Innenleben her nennt Dilthey<br />

<strong>die</strong> Weltanschauungen. »In der Struktur der Weltanschauung<br />

ist immer e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Beziehung der Lebenserfahrung zum<br />

Weltbilde enthalten, e<strong>in</strong>e Beziehung, aus der stets e<strong>in</strong> Lebensideal<br />

abgeleitet werden kann.«3<br />

Nach <strong>die</strong>ser Kennzeichnung haben wir also e<strong>in</strong> Dreifaches <strong>in</strong><br />

der Struktur der Weltanschauung: Lebenserfahrung, Weltbild<br />

und, aus der Beziehung beider entspr<strong>in</strong>gend, Lebensideal. »Sonach<br />

ist <strong>die</strong> Struktur der Weltanschauung e<strong>in</strong> Zusammenhang,<br />

<strong>in</strong> welchem Bestandteile von verschiedener Provenienz und verschiedenem<br />

Charakter vere<strong>in</strong>igt s<strong>in</strong>d.«4 Dilthey nimmt dabei<br />

<strong>die</strong> Wortbedeutung von Weltanschauung noch im S<strong>in</strong>ne von<br />

Betrachten des Vorhandenen im weitesten S<strong>in</strong>ne, »Welterkenntnis«,<br />

theoretische Haltung, - denn nur dann hat es S<strong>in</strong>n, den<br />

Gebrauch des Titels für das gekennzeichnete verwickelte Phänomen<br />

noch ausdrücklich zu rechtfertigen: »Die Anwendung<br />

des Namens Weltanschauung auf e<strong>in</strong> geistiges Gebilde, das<br />

Welterkenntnis, Ideale, Regelgebung und oberste Zwecksetzung<br />

e<strong>in</strong>schließt, rechtfertigt sich dadurch, daß nie <strong>in</strong> ihr <strong>die</strong> Intention<br />

zu bestimmten Handlungen gesetzt ist, sie sonach nie<br />

bestimmtes praktisches Verhalten e<strong>in</strong>schließt.«5 Dilthey will sagen:<br />

Weltanschauung ist nie direkt praktisch; deshalb kann sie<br />

als e<strong>in</strong>e Art theoretischer Haltung benannt werden. Doch das ist<br />

e<strong>in</strong>e reichlich künstliche Begründung und e<strong>in</strong>e Verkennung der<br />

eigentlichen und zentralen Bedeutung von »Welt«. Dilthey hält<br />

sich an <strong>die</strong> äußerlichste Bedeutung des Wortes.<br />

Dilthey unterscheidet drei Grundformen der Weltanschauung:<br />

<strong>die</strong> religiöse, <strong>die</strong> künstlerische und <strong>die</strong> philosophische. Die<br />

2 Wilhelm Dilthey, Das Wesen der <strong>Philosophie</strong>. In: Kultur der Gegenwart I,<br />

4; 1907. S. '57 f. (Gesammelte Schriften V, S. '579 f.).<br />

3 A.a.O., S. '58 (S. '580).<br />

4 Ebd.<br />

5 Ebd.<br />

§ 32. Was ist Weltanschauung? 237<br />

letztere nennt er Metaphysik 6 und unterscheidet drei Typen<br />

philosophischer Weltanschauung: Erstens den Materialismus<br />

und den auf <strong>die</strong> Naturerkenntnis gegründete,n Positivismus,<br />

zweitens den objektiven Idealismus, drittens den Idealismus der<br />

Freiheit. Auf e<strong>in</strong>e nähere Analyse der Weltanschauung bei Dilthey<br />

können wir hier nicht weiter e<strong>in</strong>gehen.<br />

In e<strong>in</strong>er umfassenderen und philosophisch anders orientierten<br />

Weise hat dann Karl Jaspers das Problem der Weltanschauung<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Psychologie der Weltanschauungen« (1919; 3.<br />

Aufl. 1925) behandelt. Dieses Werk zeichnet sich vor allem gegenüber<br />

der Dilthey'schen Arbeit durch den Reichtum und <strong>die</strong><br />

Fülle möglicher Weltanschauungen, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichkeit der<br />

Interpretation und <strong>die</strong> Breite der Darstellung aus. Aber <strong>in</strong> der<br />

Wesensbestimmung der Weltanschauung ist Jaspers an Dilthey<br />

orientiert. Drei Momente werden untersucht: E<strong>in</strong>stellung,<br />

Weltbild und Leben des Geistes; entsprechend ist <strong>die</strong> Gliederung<br />

des Werkes. Auch hierauf ist nicht weiter e<strong>in</strong>zugehen.<br />

Zuletzt hat dann, vor allem nach der soziologischen Seite,<br />

Max Seheler Wesentliches zur Aufhellung des Wesens der Weltanschauung<br />

beigetragen.<br />

Wir fragen vielmehr <strong>in</strong> der Richtung, nach der <strong>die</strong> grundsätzlichen<br />

Probleme liegen, <strong>die</strong> vor allem der Erörterung bedürfen.<br />

Was ist Weltanschauung - nicht <strong>die</strong>se oder jene<br />

bestimmte Weltanschauung und <strong>die</strong> Möglichkeit ihrer Abwandlung,<br />

sondern was ist das Wesen und <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit<br />

von so etwas wie Weltanschauung überhaupt? Wir fragen,<br />

nicht um nur e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Leitbegriff zu haben für das<br />

Studium der konkret und faktisch möglichen Weltanschauungen;<br />

sondern wir drängen mit <strong>die</strong>ser Wesens frage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

zentrale Dimension des Problems. Es geht uns nicht um <strong>die</strong><br />

»Psychologisierung« der Welt (Jaspers), ebenso wenig um <strong>die</strong><br />

6 Nur auf Grund <strong>die</strong>ser wiederum äußerlichen Auffassung des Wesens von<br />

Metaphysik kann Dilthey zu semer Skepsis bezüglich deren Moghchkeit kommen.


238 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Struktur des »Seelenlebens« (Dilthey), auch nicht um <strong>die</strong> Frage<br />

der Psychologie oder der Anthropologie, was der Mensch sei,<br />

sondern um <strong>die</strong> Frage nach dem Dase<strong>in</strong>.<br />

Schon bei dem verhältnismäßig bestimmten Phänomen<br />

»Wissenschaft« schien es geboten, für <strong>die</strong> Wesens<strong>in</strong>terpretation<br />

als Ausgang und Leitfaden e<strong>in</strong>e vorgegebene Auffassung zugrundezulegen,<br />

um sie dann freilich nachher als äußerlich und<br />

abgeleitet zu erkennen. E<strong>in</strong>er gewissen Handhabe bedürfen wir<br />

aber noch viel mehr bei e<strong>in</strong>em so leicht verfließenden und<br />

schwer faßbaren Gebilde wie Weltanschauung. Hier gibt es<br />

nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e gewissermaßen vulgäre bestimmte Me<strong>in</strong>ung<br />

darüber. Daher ist es geboten, e<strong>in</strong>e bestimmtere Auffassung von<br />

Weltanschauung zugrundezulegen.<br />

Bei dem folgenden Versuch e<strong>in</strong>er radikaleren Wesensbestimmung<br />

der Weltanschauung als solcher halten wir als Leitfaden<br />

Diltheys Charakteristik fest: »In der Struktur der Weltanschauung<br />

ist immer e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Beziehung der Lebenserfahrung zum<br />

Weltbilde enthalten, e<strong>in</strong>e Beziehung, aus der stets e<strong>in</strong> Lebensideal<br />

abgeleitet werden kann.«7 Drei Grundbestandteile werden<br />

genannt, verschiedener Herkunft und verschiedeneh Charakters'<br />

aber doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zusammenhang stehend, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

»<strong>in</strong>neren Beziehung«; das Lebensideal ist aus den bei den ersten<br />

ableitbar.<br />

Hier erheben sich folgende sieben Fragen:<br />

1. S<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Grundbestandteile <strong>in</strong> sich h<strong>in</strong>reichend ursprünglich<br />

bestimmt?<br />

2. S<strong>in</strong>d sie verschiedener Herkunft oder nicht?<br />

3. Wie ist ihr Zusammenhang möglich?<br />

4. S<strong>in</strong>d sie zusammengeraten, oder erwachsen sie notwendig<br />

e<strong>in</strong>er ursprünglicheren Struktur, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e solche des Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst ist?<br />

5. Welches ist <strong>die</strong>se Urstruktur des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>nere Möglichkeit von Weltanschauung begründet?<br />

7 Dilthey, Das Wesen der Philosophi@'. A.a.O., S. 38 (S. 380).<br />

§ JJ. Was heijJt Welt? 239<br />

6 ..


240 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

lich gefaßt ist. Welt ist ke<strong>in</strong> regionaler Titel, me<strong>in</strong>t nicht <strong>die</strong>ses<br />

oder jenes Seiende, sondern das Wie des Seienden im Ganzen;<br />

aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Bedeutung ist» Welt« oft so auf das Dase<strong>in</strong> bezogen,<br />

daß <strong>die</strong>ses selbst direkt als Welt bezeichnet wird. Welt ist<br />

also das Wie des Seienden im Ganzen und doch bezogen auf<br />

Dase<strong>in</strong>, das doch nur e<strong>in</strong> Seiendes unter anderen ist. Wie ist<br />

Welt zu Dase<strong>in</strong> bezogen, und umgekehrt: Wie verhält sich Dase<strong>in</strong><br />

zu Welt, und was besagt denn nun Welt?<br />

These: Wir behaupten: das Dase<strong>in</strong> verhält sich nicht gelegentlich,<br />

dann und wann zur Welt, sondern der Weltbezug<br />

gehört zum Wesen von Dase<strong>in</strong> als solchem, zum Existieren als<br />

Se<strong>in</strong> qua Dase<strong>in</strong>; »Dase<strong>in</strong>« heißt im Grunde nichts anderes als<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong>; <strong>die</strong>ses ist als Grundverfassung dem Dase<strong>in</strong><br />

zuzusprechen.<br />

Alles liegt daran, wie wir und wie weit wir das Wesen von<br />

Welt dabei recht verstehen. Die genauere Erörterung des Inder-Welt-se<strong>in</strong>s,<br />

das wir dem Dase<strong>in</strong> als solchem zusprechen,<br />

muß uns das Problem des Weltbegriffes verschärfen. In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> ist <strong>die</strong> Struktur der Transzendenz, des Überstiegs.<br />

Das Übersteigende ist das Dase<strong>in</strong>; was überstiegen wird, ist<br />

das Seiende im Ganzen; woraufzu der Überstieg erfolgt, ist <strong>die</strong><br />

Welt. Das» Woraufzu« ist aber ke<strong>in</strong> Seiendes. Überhaupt ist es<br />

nicht dergleichen, wozu sich das Dase<strong>in</strong>, streng genommen,<br />

verhalten könnte - und doch sprechen wir vom Weltbezug. Wie<br />

und was ist da Welt?<br />

a) Der Weltbegriff <strong>in</strong> der antiken <strong>Philosophie</strong><br />

und im frühen Christentum<br />

Schon <strong>in</strong> den entscheidenden Anfängen der antiken <strong>Philosophie</strong><br />

zeigt sich etwas Wesentliches. 3 Koo!lOe; me<strong>in</strong>t nicht so sehr das<br />

andrängende und umfangende Seiende selbst, auch nicht <strong>die</strong>ses<br />

3 Karl Re<strong>in</strong>hardt, Parmemdes und dIe Geschlchte der gnechIschen PhIlosophIe.<br />

Bonn 1916. S. 174 f. und S. 216 Anm.<br />

§ }}. Was heißt Welt? 241<br />

alles zusammengenommen, sondern bedeutet »Zustand«, d. h.<br />

das Wie, <strong>in</strong> dem das Seiende, und zwar im Ganzen ist.<br />

KooftO5 ist, hat sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bezirk erst zusammengeschoben,<br />

sondern ist durch <strong>die</strong> Welt im Ganzen durchgängig<br />

vorbestimmt. Schließlich zeigt sich bei Heraklit 6 e<strong>in</strong> weiterer<br />

Wesenscharakter des KOG!lOe;: 0 'HQUKA.et1:0e;


242 Weltanschauung und Weltbegnff<br />

streitbar fungiert das Wort doch zugleich immer als Nennung<br />

des <strong>in</strong> solchem Wie erfahrenen Seienden selbst (wie z.B. »Fluß«<br />

das fließende Wasser selbst nennt, aber auch das Fließen als<br />

solches bedeuten kann), e<strong>in</strong> Unterschied, der h<strong>in</strong>ter dem möglichen<br />

Wandel des Bedeutens, Vordrängens und Zurückbleibens<br />

der existenzialen Bedeutung vor der anderen auf e<strong>in</strong>e ontologisch<br />

fundamentale Differenz, <strong>die</strong> von Se<strong>in</strong> und Seiendem<br />

überhaupt, zurückweist.<br />

Es ist aber ke<strong>in</strong> Zufall, daß im Zusammenhang mit dem<br />

neuen ontischen Existenzverständnis, das im Christentum<br />

durchbrach, <strong>die</strong> Beziehung von xo<br />

~v, xai. 0 xooflO~ ÖL' au'tOv EYEVE'tO, xai. 0 XOOflO~ au'tov oux EYVffi e<strong>in</strong>e<br />

Auslegung von mundus, bei der er den zweimaligen Gebrauch<br />

von mundus <strong>in</strong> »mundus per ipsum factus est« und »mundus<br />

eum non cognovit« als e<strong>in</strong>en zweifachen nachweist. In der ersten<br />

Bedeutung besagt mundus soviel wie ens creatum. In der<br />

zweiten me<strong>in</strong>t mundus das habitare corde <strong>in</strong> mundo als amare<br />

mundum, was sich deckt mit non cognoscere Deum. Im Zusammenhang<br />

lautet <strong>die</strong> Stelle: Quid est, mundus factus est per<br />

lspum? Coelum, terra, mare et omnia quae <strong>in</strong> eis sunt, mundus<br />

dH'itur. Iterum alia significatione, dilectores mundi mundus dicItur.<br />

Mundus per ipsum factus est, et mundus eum non cogno­<br />

VIt. Num enim coeli non cognoverunt Creatorem suum, aut<br />

7 Augustmus, Opera omma, accurante J.P. MIgne, Pans 1845-1849 Tomus<br />

IV


244 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

angeli non cognoverunt Creatorem suum, aut non cognoverunt<br />

Creatorem suum sidera, quem confitentur daemonia? Omnia<br />

undique testimonia perhibuerunt. Sed qui non cognoverunt?<br />

Qui amando mundum dicti sunt mundus. Amando enim habitamus<br />

corde: amando autem, hoc appellari meruerunt quod ille,<br />

ubi habitabant. Quomodo dicimus, mala est illa domus, aut,<br />

bona est illa domus, non <strong>in</strong> illa quam dicimus malam, parietes<br />

accusamus, aut <strong>in</strong> illa, quam dicimus bonam, parietes laudamus,<br />

sed malam domum: <strong>in</strong>habitantes malos, et bonam domum: <strong>in</strong>habitantes<br />

bonos. Sic et mundum, qui <strong>in</strong>habitant amando mundum.<br />

Qui sunt? Qui diligunt mundum, ipsi enim corde habitant<br />

<strong>in</strong> mundo. Nam qui non diligunt mundum, carne versantur <strong>in</strong><br />

mundo, sed corde <strong>in</strong>habitant coelum. 8<br />

»Welt« bedeutet demnach: das Seiende im Ganzen und zwar<br />

als das entscheidende Wie, gemäß dem sich menschliches Dase<strong>in</strong><br />

zum Seienden stellt und hält. Ebenso gebraucht Thomas<br />

von Aqu<strong>in</strong> mundus e<strong>in</strong>mal als gleichbedeutend mit universum,<br />

universitas creaturarum, dann aber auch <strong>in</strong> der Bedeutung von<br />

saeculum (weltliche Ges<strong>in</strong>nung), quod mundi nom<strong>in</strong>e amatores<br />

mundi significantur. Mundanus (saecularis) ist dei Gegenbegriff<br />

zu spiritualis.<br />

b) Der Weltbegriff <strong>in</strong> der Schulmetaphysik<br />

Ohne E<strong>in</strong>gehen auf den Weltbegriff bei Leibniz sei <strong>die</strong> Bestimmung<br />

der Welt <strong>in</strong> der Schulmetaphysik erwähnt, <strong>die</strong> unmittelbar<br />

für Kant von Bedeutung wurde.<br />

Die zwei philosophischen Zeitgenossen Kants, <strong>die</strong> von besonderem<br />

E<strong>in</strong>fluss auf se<strong>in</strong>e philosophische Problemstellung waren,<br />

s<strong>in</strong>d Baumgarten und Crusius. Beide haben e<strong>in</strong>e Metaphysik<br />

verfaßt, Werke, <strong>die</strong> Kant zeitlebens herangezogen, se<strong>in</strong>en<br />

Vorlesungen zugrunde gelegt und mehrfach kommentiert hat.<br />

8 August<strong>in</strong>us, Tractatus <strong>in</strong> Ioannis Evangelium. A.a.O., Tomus 111, Tract. H,<br />

cap. 1, n. 11.<br />

§ JJ. Was heißt Welt? 245<br />

Charakteristisch ist, wie <strong>in</strong> der Schulmetaphysik der Weltbegriff<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung wieder ganz neigt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung des<br />

vulgären Begriffes im S<strong>in</strong>ne des Ganzen des geschaffenen Seienden.<br />

Von da aus verstehen wir den Titel der Diszipl<strong>in</strong>en, wie<br />

sie <strong>die</strong> Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft bestimmen.<br />

Die Metaphysik gliedert sich im Verlauf der schulmäßigen<br />

Ausbildung im 16., 17. und 18. Jahrhundert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e metaphysica<br />

generalis und e<strong>in</strong>e metaphysica specialis. Die Metaphysik als<br />

solche hat das Seiende als solches und im Ganzen zum Thema.<br />

Die metaphysica generalis fragt nach dem, was überhaupt zum<br />

Seienden gehört. Sie stellt allgeme<strong>in</strong> <strong>die</strong> Frage nach dem Se<strong>in</strong><br />

des Seienden. Sie ist Ontologie. In der kantischen Fortbildung<br />

bzw. <strong>in</strong> der radikaleren Fragestellung nach der Möglichkeit der<br />

YIetaphysik <strong>in</strong> der Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft wird <strong>die</strong> Ontologie<br />

zu Transzendentalphilosophie. Die metaphysica specialis<br />

handelt nicht vom Seienden überhaupt, sondern vom Seienden<br />

im besonderen, d. h. von den Hauptgebieten des Seienden selbst,<br />

und als solche Hauptgebiete werden drei unterschieden: Natur,<br />

:vIensch und Gott. Dementsprechend gibt es drei Diszipl<strong>in</strong>en:<br />

Die Kosmologie, <strong>die</strong> von der Natur handelt, faßt den Kosmos <strong>in</strong><br />

engerer Bedeutung der Natur, des Seienden, das zwar den Menschen<br />

als geschaffenes Wesen auch e<strong>in</strong>schließt, aber gleichwohl<br />

nicht den Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Menschheit zum Thema macht.<br />

Der Mensch ist Thema der Psychologie, sofern se<strong>in</strong>e Grundbestimmung<br />

<strong>in</strong> der Seele gesehen wird, oder auch der Pneumatologie.<br />

Die dritte Diszipl<strong>in</strong> ist <strong>die</strong> Theologie, <strong>in</strong> der von Gott,<br />

Mensch und Natur ~ aber nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er empirischen<br />

W issenschaft ~ gehandelt wird. Diese Naturphilosophie ist nicht<br />

Naturwissenschaft, <strong>die</strong> Psychologie ist nicht heutige Psychologie,<br />

<strong>die</strong> Theologie ist nicht Offenbarungstheologie, sondern<br />

<strong>die</strong>se drei Grundgebiete der metaphysica specialis werden h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihres Wesens bestimmt. Der Begriff »Wesen« wird <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser Zeit ratio genannt. Daher ist <strong>die</strong>se Kosmologie e<strong>in</strong>e cosmologia<br />

rationalis, entsprechend <strong>die</strong> Psychologie e<strong>in</strong>e psychologia<br />

rationalis, <strong>die</strong> Theologie e<strong>in</strong>e theologia rationalis. Sie ist


246 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

ke<strong>in</strong>e Theologie der Schrift, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Offenbarung als Erkenntnisquelle<br />

hat, sondern e<strong>in</strong>e Erkenntnis Gottes aus bloßer Vernunft.<br />

Wir sehen, daß <strong>die</strong>se Schulmetaphysik dem Grundproblem<br />

der Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft zugrundeliegt und daß ohne den<br />

Aufriß <strong>die</strong>ser Metaphysik <strong>die</strong> Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft nicht<br />

zu verstehen ist. Dieser Aufriß enthält <strong>in</strong> sich <strong>in</strong> der speziellen<br />

Metaphysik <strong>die</strong> Kosmologie oder, wie Crusius deutsch sagt, <strong>die</strong><br />

Weltlehre. Daraus ist zu entnehmen, daß der Weltbegriff gegenüber<br />

der existenziellen Bedeutung bei August<strong>in</strong>us und Thomas<br />

e<strong>in</strong>e Verengung erfahren hat. So def<strong>in</strong>iert Baumgarten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Metaphysik den Begriff mundus so: Mundus - dafür setzt er<br />

auch universum oder ndv - est series (multitudo, totum) actualium<br />

f<strong>in</strong>itorum, quae non est pars alterius. 9 Welt ist hier das All,<br />

das Ganze oder <strong>die</strong> Summe der endlichen D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> Gesamtheit,<br />

<strong>die</strong> nicht mehr Teil e<strong>in</strong>es anderen ist. Dieser Def<strong>in</strong>ition<br />

entnehmen wir e<strong>in</strong> Doppeltes: 1. Welt ist der Titel für das endliche,<br />

d. h. geschaffene Seiende im S<strong>in</strong>ne des ens creatum. 2.<br />

Welt ist e<strong>in</strong> solcher Bereich, der selbst nicht mehr Teil e<strong>in</strong>es<br />

anderen ist.<br />

In der entsprechenden Weise, nur e<strong>in</strong>gehender und philosophisch<br />

selbständiger entwickelt Christian August Crusius den<br />

Begriff der Welt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Metaphysik: »E<strong>in</strong>e Welt heißt e<strong>in</strong>e<br />

solche reale Verknüpfung endlicher D<strong>in</strong>ge, welche nicht selbst<br />

wiederum e<strong>in</strong> Teil von e<strong>in</strong>er andern ist, zu welcher sie vermittelst<br />

e<strong>in</strong>er realen Verknüpfung gehörte.«10 Sofern es sich bei der<br />

Welt um <strong>die</strong> endlichen D<strong>in</strong>ge handelt, ist auch <strong>die</strong>ser Weltbegriff<br />

orientiert am Gegenbegriff Gott. Die Welt ist nun aber<br />

auch unterschieden von e<strong>in</strong>em »e<strong>in</strong>zelnen Geschöpf«, nicht<br />

m<strong>in</strong>der von »mehreren zugleich seienden Geschöpfen«, sofern<br />

9 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica (1739). Zweite Ausgabe<br />

Halle 1743. § 354, S. 87.<br />

10 Chnstian August Crusius, Entwurf der notwendigen VernunftwahrheIten,<br />

<strong>in</strong>wiefern SIe den zufälligen entgegengesetzet werden [d. h. Entwurf aller<br />

rationalen Wahrheiten]. Leipzig 1745,"'§ 350, S. 657.<br />

§ JJ. Was heißt Welt? 247<br />

sie »<strong>in</strong> gar ke<strong>in</strong>er Verknüpfung stehen«. Welt ist ebensowenig<br />

e<strong>in</strong> Zusammenhang von mehreren zugleich seienden endlichen<br />

D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> zwar <strong>in</strong> Verknüpfung stehen, aber gleichwohl Teil<br />

e<strong>in</strong>er höheren Verknüpfung s<strong>in</strong>d. Welt ist e<strong>in</strong>e reale Verknüpfung<br />

endlicher D<strong>in</strong>ge so, daß <strong>die</strong> Verknüpfungse<strong>in</strong>heit nicht<br />

mehr Teil e<strong>in</strong>es anderen ist.<br />

Es ist nun charakteristisch für <strong>die</strong> Auffassung der Welt bei<br />

Crusius, wie er das Problem e<strong>in</strong>er Weltlehre bestimmt: das Wesen<br />

der Welt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>n kann nur aufgeklärt werden auf<br />

Grund von Sätzen aus der allgeme<strong>in</strong>en Metaphysik, d. h. aus der<br />

Ontologie. Sofern es sich nämlich bei der Welt um seiende D<strong>in</strong>ge<br />

handelt, muß <strong>die</strong>ser Gesamtheit der wirklich seienden D<strong>in</strong>ge<br />

als Grundbestimmung all das zukommen, was jedem Seienden<br />

zukommt. Man kann wesentliche Momente dessen, was zu e<strong>in</strong>er<br />

Welt gehört, deduktiv gew<strong>in</strong>nen aus bestimmten Sätzen der<br />

allgeme<strong>in</strong>en Metaphysik. Sofern aber <strong>die</strong> Welt e<strong>in</strong>e Verknüpfung<br />

endlicher, d.h. von Gott geschaffener D<strong>in</strong>ge ist, kann<br />

weiteres ausgemacht werden <strong>in</strong> Orientierung an der rationalen<br />

Theologie, sofern man aus dem Begriff Gottes deduktiv erörtern<br />

kann', was zu e<strong>in</strong>em Seienden gehört, sofern es durch Gott geschaffen<br />

wird. So haben wir hier klar und deutlich den Typus<br />

der rationalen Theologie, <strong>die</strong> Kant e<strong>in</strong>er grundsätzlichen Kritik<br />

unterwirft. Die Weltlehre ist nur möglich, sofern sie gegründet<br />

1st auf <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Lehre vom Wesen des Seienden, <strong>die</strong> Ontologie,<br />

und dann auf <strong>die</strong> natürliche Theologie. Welt ist der<br />

regionale Titel für <strong>die</strong> höchste Verknüpfungse<strong>in</strong>heit der Allheit<br />

des geschaffenen Seienden.<br />

Wir wollen <strong>in</strong> der nächsten Stunde <strong>in</strong> Kürze deutlich machen,<br />

wie Kant <strong>die</strong>sen traditionellen Weltbegriff, den <strong>die</strong> Schulmetaphysik<br />

<strong>in</strong> der Kosmologie entwickelt, zugrundelegt, aber<br />

zugleich wesentlich weitergeht, und wie andererseits bei Kant<br />

auf e<strong>in</strong>e merkwürdige Art und Weise der Weltbegriff zum Vorsche<strong>in</strong><br />

kommt, wie ihn August<strong>in</strong>us als existenziellen exponiert<br />

hat, freilich ohne spezifisch christliche Bestimmung des Menschen.<br />

Wir werden zugleich sehen, wie bei Kant <strong>die</strong>se bei den


248 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Weltbegriffe nebene<strong>in</strong>ander stehen, ohne daß <strong>die</strong> Frage nach<br />

der ursprünglichen E<strong>in</strong>heit beider gestellt wäre. Im Anschluß<br />

an <strong>die</strong> historische Orientierung wollen wir dann versuchen, positiv<br />

<strong>die</strong> Grundstruktur der Welt zu entwickeln.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff<br />

S<strong>in</strong>n und Gehalt des Weltbegriffes <strong>in</strong> der Schulmetaphysik ist<br />

aus der Stellung der »Weltlehre« (Kosmologie) im Rahmen der<br />

Diszipl<strong>in</strong>en der traditionellen Metaphysik abzulesen. Zur<br />

Kennzeichnung des Problems der Weltlehre ist also weiter auszuholen:<br />

Problem der Metaphysik überhaupt. Innerhalb <strong>die</strong>ser<br />

Metaphysik bewegt sich zunächst und langeh<strong>in</strong> das <strong>Philosophie</strong>ren<br />

Kants, und zwar mit <strong>in</strong> der Absicht (vgl. Brief an Johann<br />

He<strong>in</strong>rich Lambert vom 2.9.1770 1 ), <strong>in</strong> <strong>die</strong>se metaphysischen Erkenntnisse,<br />

vor allem <strong>in</strong> <strong>die</strong> höchsten und wesentlichsten,<br />

Sicherheit und E<strong>in</strong>mütigkeit der Zustimmung zu br<strong>in</strong>gen. Vergleiche<br />

<strong>die</strong> Titel der vorkritischen Schriften: _<br />

»Pr<strong>in</strong>cipiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio.«<br />

1755 (Habilitationsschrift)<br />

»Der e<strong>in</strong>zig mögliche Beweisgrund zu e<strong>in</strong>er Demonstration<br />

des Dase<strong>in</strong>s Gottes.« 1765<br />

»Versuch, den Begriff der negativen Größen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Weltweisheit<br />

e<strong>in</strong>zuführen.« 1765<br />

»Untersuchung über <strong>die</strong> Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen<br />

Theologie und der Moral.« 1764<br />

Aber gerade bei <strong>die</strong>sen Bemühungen um <strong>die</strong> Metaphysik<br />

wird ihm <strong>die</strong>se mehr und mehr fragwürdig, d. h. Kant erklärt<br />

<strong>die</strong> Metaphysik nicht e<strong>in</strong>fach für unmöglich, er verhält sich<br />

nicht als Skeptiker zu ihr, sondern er fragt nach ihrem Wesen.<br />

Die konkrete Frage nach dem Wesen der Metaphysik stellen,<br />

t Immanuel Kants Werke, hrsg. von Ernst Cassirer. Band IX, Erster Teil:<br />

Briefe von und an Kant 1749-1789. B€H<strong>in</strong> 1918, S. 73 ff.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 249<br />

heißt 'aber, zunächst <strong>in</strong>s Klare kommen über den Charakter<br />

dessen, was sich zu se<strong>in</strong>er Zeit als Metaphysik anbietet und <strong>in</strong><br />

Herrschaft ist.<br />

Den Rahmenbau der traditionellen Metaphysik haben wir<br />

bereits gekennzeichnet, auch schon ihr Verfahren, z.B. bei Crusius,<br />

gesehen. Doch muß über den Charakter <strong>die</strong>ser Metaphysik<br />

zuvor noch etwas Wesentliches gesagt werden. Die Idee derselben<br />

ist bestimmt durch <strong>die</strong> antike <strong>Philosophie</strong>, vor allem durch<br />

Platdn und Aristoteles. Wir können sagen: Metaphysik ist Erkenntnis<br />

des Seienden als solchen (öv TI ov) im Ganzen (x.m'toAou).<br />

Auf Grund der E<strong>in</strong>sichten, <strong>die</strong> wir auf unserem ersten Weg<br />

gewannen, können wir <strong>die</strong>se traditionelle Idee der Metaphysik<br />

noch verdeutlichen. Erkenntnis von Seiendem, und zwar theoretische<br />

Erkenntnis von Seiendem, das ist Wissenschaft. Aristoteles<br />

nennt sie daher auch bttm;~!L1'J. Aber sie ist Wissenschaft<br />

vom Seienden als solchen im Ganzen, allgeme<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

von Seiendem. Nun haben wir schon gesehen - aus dem Wesen<br />

der Wissenschaft -, daß e<strong>in</strong>e solche allgeme<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

widers<strong>in</strong>nig, <strong>in</strong> sich unmöglich ist. Aber daraus folgt nicht, daß<br />

<strong>die</strong> Metaphysik unmöglich ist, sondern daß ihr Begriff e<strong>in</strong> Problem<br />

ist, daß eben gefragt werden muß, was <strong>die</strong>se Erkenntnis<br />

des Seienden als solchen im Ganzen besage, welche Problematik<br />

hieI'vorliege, wie sie überhaupt möglich und als solche notwendig<br />

'rst. So weit hat Kant freilich das Problem der Metaphysik<br />

nicht getrieben, wohl aber entscheidend dafür vorgearbeitet.<br />

K'ant nimmt <strong>die</strong> überlieferte Idee der Metaphysik vielmehr<br />

zunächst zustimmend auf und fragt nur ausdrücklich nach ihrem<br />

Wesen, d.h. ihrer <strong>in</strong>neren Möglichkeit. Metaphysica specialis<br />

ist <strong>die</strong> eigentliche Metaphysik, <strong>die</strong> Metaphysik im Endzweck;<br />

ihr vorgeordnet ist <strong>die</strong> Ontologie als Vorhof, Propädeutik.<br />

Er muß demnach zunächst fragen nach dem Wesen, der <strong>in</strong>neren<br />

\1öglichkeit der Grunddiszipl<strong>in</strong> der Metaphysik, d.h. der Ontologie,<br />

und aus der Wesensbestimmung <strong>die</strong>ser erwächst dann<br />

<strong>die</strong> Vorzeichnung der Möglichkeit der Metaphysica specialis.<br />

Diese Doppelfrage nach dem Wesen der Metaphysik, der Me-


250 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

taphysica generalis und der Metaphysica specialis, ist '~estellt<br />

und beantwortet <strong>in</strong> der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«, und zwar<br />

<strong>in</strong> der »Elementarlehre«. Diese zerfällt <strong>in</strong> transzendentale Aesthetik<br />

und transzendentale Logik, <strong>die</strong> letzte <strong>in</strong> Analytik und<br />

Dialektik. Die transzendentale Aesthetik und transzendentale<br />

Analytik s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> neue und erste eigentliche Bestimmung der<br />

Metaphysica generalis (Ontologie), <strong>die</strong> transzendentale Dialektik<br />

<strong>die</strong> der Metaphysica specialis.<br />

Die »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« ist e<strong>in</strong>e Grundlegung der<br />

Metaphysik. Sie ist weder deren Zertrümmerung noch - was der<br />

Neukantianismus sagt - e<strong>in</strong>e Erkenntnistheorie der mathematischen<br />

Naturwissenschaften, sondern, wie Kant selbst sagt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Brief bei Übersendung des eben erschienenen Werkes an<br />

se<strong>in</strong>en Freund Marcus Herz 1781: <strong>die</strong> Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft<br />

ist <strong>die</strong> Metaphysik von der Metaphysik. Es ist das Problem, das,<br />

seitdem Aristoteles <strong>die</strong> Abhandlungen niedergeschrieben hat,<br />

<strong>die</strong> wir als Metaphysik rund E kennen, nicht mehr von der<br />

Stelle gekommen ist, ja, was noch verhängnisvoller war, überhaupt<br />

nicht mehr als Problem lebendig war und <strong>die</strong> Schärfe<br />

e<strong>in</strong>er wirklichen Frage hatte. Zwar wurden e<strong>in</strong>zeln'e metaphysische<br />

Fragen wiederholt gestellt, z.B. bei Leibniz <strong>die</strong> Frage<br />

nach der Substanz, ja, sogar schon <strong>die</strong> nach e<strong>in</strong>er neuen Grundlegung<br />

der prima philosophia bei Descartes - und doch f<strong>in</strong>det<br />

sich <strong>die</strong> Frage nach der Metaphysik als solcher, ihrem Wesen,<br />

Ursprung und ihrer Notwendigkeit erst bei Kant.<br />

Jede echte Wiederaufnahme solcher Grundprobleme ist e<strong>in</strong>e<br />

radikalisierende Verwandlung dessen, was zur Erörterung steht;<br />

<strong>in</strong> und durch <strong>die</strong> kantische (und jede) Grundlegung der Metaphysik<br />

verwandelt sich deren Wesen. Das besagt aber für unsere<br />

besondere Frage: Das Problem der Metaphysica generalis und<br />

zugleich das der Metaphysica specialis, der Kosmologie, verwandelt<br />

sich und damit das Problem des Weltbegriffes. Nach<br />

dem, was über <strong>die</strong> »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« angedeutet<br />

wurde, heißt das: das Problem des Weltbegriffs wird allererst<br />

gestellt.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 251<br />

Bevor wir versuchen, <strong>in</strong> Kürze das Problem des Weltbegriffs<br />

auS der Fragestellung der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« zu entwickeln,<br />

bedarf es e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>weisung auf <strong>die</strong> Abhandlung Kants,<br />

<strong>die</strong> den Übergang darstellt zwischen der vorkritischen Periode<br />

se<strong>in</strong>es Denkens und dem Ersche<strong>in</strong>en der »Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft«. Es ist <strong>die</strong> Abhandlung von 1770: »De mundi sensibilis<br />

atque <strong>in</strong>telligibilis forma et pr<strong>in</strong>cipiis.« Mit <strong>die</strong>ser Schrift<br />

hat sich Kant als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik<br />

an der Universität Königsberg e<strong>in</strong>geführt. Wie schon der<br />

Titel anzeigt, kommt der Begriff »mundus« zur Erörterung. Im<br />

ersten Abschnitt, sectio I, behandelt Kant den Weltbegriff im<br />

allgeme<strong>in</strong>en: De notione mundi generatim. Vergleiche <strong>in</strong>sbesondere<br />

§ 2: »Momenta, <strong>in</strong> mundi def<strong>in</strong>itione attendenda, haec<br />

sunt: 1. materia, 2. forma, 3. universitas.«2<br />

Ad 1. Unter materia ist nach dem gefragt, woraus e<strong>in</strong>e Welt<br />

besteht. Kant antwortet: »Materia (<strong>in</strong> sensu transcendentali)<br />

h.e. partes, quae hic sumuntur esse substantiae.«~ Welt besteht<br />

aus ,für sich bestehenden, seienden D<strong>in</strong>gen. Der Plural ist zu<br />

beachten. »Verum vis vocis mundi, quatenus usu vulgari celebratur,<br />

ultro no bis occurrit. Nemo enim accidentia, tanquam<br />

partes, accenset mundo, sed, tanquam determ<strong>in</strong>ationes, statui.<br />

H<strong>in</strong>c mundus sic dictus egoisticus, qui absolvitur unica substantia<br />

simplici, cum suis accidentibus, parum apposite vocatur<br />

mundus, nisi forte imag<strong>in</strong>arius.«4 In wenig angebrachter Weise<br />

wird sie »Welt« genannt; e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zig existierendes Wesen ist<br />

ke<strong>in</strong>e Welt.<br />

Ad 2. Welches ist <strong>die</strong> Form dessen, was wir mundus nennen,<br />

d.h. wie ist <strong>die</strong> Mehrheit von Substanzen als solche bestimmt?<br />

Forma mundi »consistit <strong>in</strong> substantiarum coord<strong>in</strong>atione, non<br />

subord<strong>in</strong>atione. Coord<strong>in</strong>ata enim se <strong>in</strong>vicem respiciunt ut complementa<br />

ad totum, subord<strong>in</strong>ata ut causaturn et causa, s. gene-<br />

, A.a.O., Band 11. Vorkritische Schnften, hrsg. von Artur Buchenau. Berl<strong>in</strong><br />

1912. S. 402 ff.<br />

3 A.a.O., S. 405.<br />

4 Ebd.


252 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

ratim ut pr<strong>in</strong>cipium et pr<strong>in</strong>cipiatum.«5 Coord<strong>in</strong>atio ist e<strong>in</strong> nexus<br />

realis, d.h. aus dem Wesensgehalt der Substanzen sich bestimmend,<br />

nicht e<strong>in</strong> unum ideale, e<strong>in</strong>e gedachte E<strong>in</strong>heit, <strong>in</strong> quod<br />

mens multitud<strong>in</strong>em cogit, <strong>in</strong> der lediglich e<strong>in</strong> Denken <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge<br />

zusammenzw<strong>in</strong>gt. Daher: »Nexus autem, formam mundi<br />

essentialem constituens, spectatur ut pr<strong>in</strong>icipium <strong>in</strong>fluxuum<br />

possibilium substantiarum mundum constituentium.«6 Nexus<br />

ist commercium. Die Form der Welt ist der nexus realis als<br />

commercium der substantiae.<br />

Ad 3. Universitas: Hier ist <strong>die</strong> Frage nach der E<strong>in</strong>heit der<br />

Bestimmtheit (forma + materia) der Welt. Die Frage nach dem<br />

Charakter <strong>die</strong>ses dritten Wesensmoments im Weltbegriff ist, wie<br />

Kant betont, das Kreuz des Philosophen, und hier ist denn auch<br />

<strong>die</strong> Stelle, wo <strong>die</strong> Problematik des Weltbegriffes <strong>in</strong> der »Kritik<br />

der re<strong>in</strong>en Vernunft« e<strong>in</strong>setzt. Zunächst bestimmt Kant <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit<br />

der Bestimmtheit der mehreren Substanzen: »Universitas<br />

.. est omnitudo compartium absoluta,« absolute, unbed<strong>in</strong>gte<br />

Allheit dessen, was je unter sich gegenseitig Charakter des<br />

Teiles hat. Er nennt - vgl. »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« A 324, B<br />

38Off. - das Moment universitas kurz totalitas absoluta. Dieser<br />

Begriff der absoluten Totalität ist wohl zu denken, aber nicht zu<br />

geben. Was für e<strong>in</strong> Begriff ist der Begriff der Welt, d. h. was ist<br />

Welt überhaupt ihrem <strong>in</strong>nersten Wesen nach? Damit ist schon<br />

das Problem der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« vorweg genommen,<br />

und es wird sich zeigen, daß Kant auf dem Wege e<strong>in</strong>er<br />

Kritik des Weltbegriffs zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung e<strong>in</strong>es radikaleren<br />

Verständnisses des Weltphänomens vorstößt.<br />

a) Kants Weltbegriff <strong>in</strong> der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

Der Begriff der Welt wird <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> des 17. und 18.<br />

Jahrhunderts <strong>in</strong> der Cosmologia rationalis als Diszipl<strong>in</strong> der Me-<br />

5 A.a.O., S. 406.<br />

6 Ebd.<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 253<br />

taphysica specialis behandelt. Dieser so angesetzte Weltbegriff<br />

wird ,bereits <strong>in</strong> der Dissertation von 1770 problematisch, und<br />

zwar h<strong>in</strong>sichtlich des Moments der universitas sowohl als auch<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>s damit der forma. Hier wird mundus gefaßt als »totum,<br />

quod non est pars«, und zwar »qua term<strong>in</strong>us syntheseos


254 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

solchen im Ganzen, Erkenntnis des Seienden im allgeme<strong>in</strong>en,<br />

d. h. <strong>in</strong> Begriffen, und das besagt zugleich: aus Begriffen und<br />

lediglich aus Begriffen. Dieser Charakter der Metaphysik hat<br />

sich <strong>in</strong> der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong> seit Descartes dadurch<br />

verschärft, daß <strong>die</strong>se allgeme<strong>in</strong>e rationale Erkenntnis des Seienden<br />

im Ganzen der mathematischen Erkenntnis angeglichen<br />

wird, <strong>die</strong> völlig erfahrungsfrei aus e<strong>in</strong>igen Grundsätzen, d. h.<br />

Axiomen, das Ganze ihrer Erkenntnisse deduktiv entwickelt.<br />

Die größte Anstrengung <strong>in</strong> Absicht auf e<strong>in</strong>e solche rationale<br />

Metapyhsik vollzieht sich bei Leibniz, so weit, daß er versucht,<br />

auch Tatsachenwahrheiten, veritates facti, auf Vernunftwahrheiten,<br />

veritates rationis, zurückzuführen, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen zu begründen.<br />

Freilich hat Leibniz nur e<strong>in</strong>zelne Beiträge, Ansätze und<br />

H<strong>in</strong>weise gegeben; es gelang ihm ke<strong>in</strong> Gesamtentwurf <strong>in</strong> Absicht<br />

auf das Ganze der Metaphysik. Diese Aufgabe haben se<strong>in</strong>e<br />

Schüler - Wolff, Baumgarten, Crusius - übernommen, <strong>in</strong>dem<br />

sie <strong>die</strong> Resultate der Leibniz'schen <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> den Rahmen<br />

der Schulphilosophie e<strong>in</strong>bauten. Kant weist auf den Widerstreit<br />

der Me<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> Unsicherheit der Ergebnisse h<strong>in</strong>.<br />

Ad 2. In welcher Richtung geht <strong>die</strong> Aufhellung? Sie zielt auf<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit der Erkenntnis des Seienden im allgeme<strong>in</strong>en.<br />

Eigentliche Metaphysik ist das Ziel, »Metaphysik und Endzweck«.<br />

Die Frage ist: Woher nimmt <strong>die</strong>se Metaphysik ihre<br />

Ausweisung und Bewährung, wo doch e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> Erfahrung<br />

immer nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes Seiendes zu Gesicht bekommt und<br />

andererseits <strong>die</strong> re<strong>in</strong>en Begriffe nicht ohne weiteres auf das<br />

Seiende bezogen s<strong>in</strong>d? Es handelt sich also bei der Frage nach<br />

der Möglichkeit der Metaphysik als Erkenntnis von Seiendem<br />

als solchen im Ganzen um <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen e<strong>in</strong>er<br />

Erkenntnis von Seiendem, um <strong>die</strong> Möglichkeit und das Wesen<br />

der Metaphysik, das Problem der Möglichkeit von Erkenntnis<br />

des Seienden überhaupt. Was heißt das, und was gehört dazu?<br />

Gibt es dergleichen?<br />

Ja, sagt Kant. Wir haben das Beispiel der wissenschaftlichen<br />

Erkenntnis der Natur <strong>in</strong> der mathematischen Physik von Galilei<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 255<br />

und Newton. Kants Frage ist grundsätzlich gerichtet auf <strong>die</strong> Erkenntnis<br />

von Seiendem. Das Charakteristische <strong>die</strong>ser Erkenntnis<br />

von Seiendem im S<strong>in</strong>ne der mathematischen Physik liegt dar<strong>in</strong>,<br />

daß allen Naturforschern, d.h. allen denen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Erkenntnis<br />

wesentlich von der Stelle brachten, e<strong>in</strong> Licht aufg<strong>in</strong>g. Es g<strong>in</strong>g<br />

ihnen.auf, daß <strong>die</strong> Natur nur dann erkannt werden könne, genauer<br />

<strong>die</strong> Natur nur dann befragt werden könne im Experiment,<br />

wenn zuvor e<strong>in</strong> Plan von ihr selbst entworfen ist. Der Erkenntnis<br />

von Seiendem muß also e<strong>in</strong>e eigentümliche Erkenntnis vor aller<br />

Erfahrung vorausgehen, <strong>in</strong> der ausgemacht wird, was zu e<strong>in</strong>er<br />

Natur überhaupt gehört. E<strong>in</strong>e solche Erkenntnis, <strong>die</strong> vor aller<br />

Erfahrung des Seienden gerade <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden<br />

bestimmt, nennt Kant e<strong>in</strong>e Erkenntnis apriori, <strong>die</strong> früher ist <strong>in</strong><br />

dem S<strong>in</strong>n, daß sie vorhergeht <strong>in</strong> der Ordnung der Begründung<br />

der empirischen Erfahrung. Diese merkwürdige Erkenntnis, deren<br />

grundsätzliche Bedeutung der Naturforscher kennt, ist e<strong>in</strong>e<br />

apriorische; sie bestimmt, was zu e<strong>in</strong>er Natur gehört. Sie bestimmt<br />

das Wesen der Natur, ihre Sachheit oder Realität. Realität<br />

heißt für Kant nicht, wie wir den Term<strong>in</strong>us heute gebrauchen,<br />

Wirklichkeit, Existenz des Seienden, sondern Realität gebraucht<br />

er im S<strong>in</strong>ne der Scholastik als das, was e<strong>in</strong>e res, e<strong>in</strong>e Sache <strong>in</strong><br />

ihrem Wasgehalt bestimmt. Realität ist also gleichbedeutend mit<br />

essentia. Der ganze Neukantianismus hat <strong>die</strong>sen Begriff vollkommen<br />

verkannt und wurde daher zum Teil zu widers<strong>in</strong>nigen<br />

Fragestellungen getrieben.<br />

Es handelt sich <strong>in</strong> der Erkenntnis von Seiendem um e<strong>in</strong>e vorgängige,<br />

apriorische Erkenntnis des Wesens des betreffenden<br />

Seienden, der Sache, um e<strong>in</strong>e apriorische sachhaltige Erkenntnis,<br />

e<strong>in</strong>e solche Erkenntnis, <strong>die</strong> mir Aufschluß gibt über das, was<br />

zu e<strong>in</strong>er Sache gehört; e<strong>in</strong>e Erkenntnis, <strong>die</strong> das Wissen erweitert,<br />

nennt Kant synthetische. E<strong>in</strong>er Erkenntnis von Seiendem muß<br />

also e<strong>in</strong>e sachhaltige Erkenntnis der Se<strong>in</strong>sverfassung derselben<br />

vorausgehen, e<strong>in</strong>e synthetische Erkenntnis und, sofern sie vorausgehend<br />

= apriori ist, e<strong>in</strong>e synthetische Erkenntnis apriori.<br />

Synthetische Erkenntnis apriori ist mögliche Erkenntnis von


264 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

stand e<strong>in</strong>er absoluten Erkenntnis. Der Unterschied von beiden<br />

bezieht sich auf den Unterschied der möglichen Gegenstandswerdung<br />

des betreffenden Seienden für Gott oder e<strong>in</strong> endliches<br />

Wesen. Es gibt nicht zwei Schichten des Seienden, sondern dasselbe<br />

Seiende ist als Gegenstand der endlichen Erkenntnis<br />

Ersche<strong>in</strong>ung und als Gegenstand der absoluten Erkenntnis das<br />

D<strong>in</strong>g an sich.<br />

ß) Die Durchführung<br />

Wir wollen nun <strong>die</strong> Schritte der Durchführung <strong>die</strong>ser Grundlegung<br />

vierfach gliedern. Es handelt sich um das Wesen der<br />

re<strong>in</strong>en Erkenntnis.<br />

In der 1. Stufe muß Kant <strong>die</strong> Elemente e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Erkenntnis<br />

behandeln.<br />

Auf der 2. Stufe fragt er nach dem <strong>in</strong>neren Zusammenhang<br />

oder nach der <strong>in</strong>neren E<strong>in</strong>heit <strong>die</strong>ser Elemente e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en<br />

Erkenntnis. Es ist <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen <strong>die</strong>ser Erkenntnis<br />

selbst.<br />

Auf der 3. Stufe wird gefragt nach dem Grund <strong>die</strong>ses Wesens<br />

oder der <strong>in</strong>neren Möglichkeit e<strong>in</strong>er ontologischen Erkenntnis.<br />

Auf e<strong>in</strong>er 4. Stufe entwickelt Kant <strong>die</strong>se ontologischen Erkenntnisse<br />

selbst <strong>in</strong> ihrer Systematik, oder wie er sagt, dIe<br />

transzendentalen, d.h. <strong>die</strong> ontologischen Grundsätze.<br />

Bis zu <strong>die</strong>ser Stelle reicht <strong>die</strong> positive Grundlegung der Kritik<br />

der re<strong>in</strong>en Vernunft, <strong>die</strong>, traditionell gesprochen, e<strong>in</strong>e Grundlegung<br />

der metaphysica generalis ist. Daran schließt sich dann<br />

<strong>die</strong> kritische Grundlegung der metaphysica specialis, <strong>die</strong> es<br />

nicht mehr mit der transzendentalen Wahrheit zu tun hat, sondern<br />

mit dem transzendentalen Sche<strong>in</strong>, mit der Unwahrheit, <strong>die</strong><br />

notwendig mit <strong>die</strong>ser transzendentalen Wahrheit verknüpft ist.<br />

Wir kommen zur 1. Stufe: Die Elemente der re<strong>in</strong>en Erkenntnis.<br />

Schon aus <strong>die</strong>sen ersten Schritten des Problems sehen Sie,<br />

warum e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Charakteristik vorausgeschickt ist.<br />

Wenn wir bei den drei Thesen von Erkennen sprechen, ist noch<br />

nicht <strong>die</strong> Rede davon, ob es-erfahrungsmäßiges oder erfah-<br />

§ ]4. Kants Weltbegriff 265<br />

rungsfreies Erkennen ist. Jetzt aber ist das Problem e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es,<br />

d. h. e<strong>in</strong> erfahrungsfreies Erkennen; genauer <strong>die</strong> Elemente e<strong>in</strong>er<br />

solch~n re<strong>in</strong>en Erkenntnis. Wir wissen aus der Grundthese, daß<br />

7U e<strong>in</strong>er Erkenntnis Anschauung und Denken gehören. Wir<br />

sagten, Anschauung hat den Charakter der Rezeptivität, Anschauung<br />

ist immer e<strong>in</strong> sich Geben lassen von etwas. Deshalb<br />

sagt Kant für <strong>die</strong> Anschauung auch Rezeptivität, sofern es sich<br />

um endliche Anschauung handelt. Denken ist nicht e<strong>in</strong> sich<br />

Geben lassen dessen, was sich zeigt, sondern ist e<strong>in</strong> Bestimmen<br />

des sich Gebenden, das spontan frei aus dem handelnden Sub­<br />

Jekt kommt. Daher wird das Denken als freie Handlung Spontanei'ltät<br />

genannt. Diese beiden Elemente der Erkenntnis nennt<br />

Kant auch <strong>die</strong> zwei Stämme der Erkenntnis, <strong>die</strong> aus e<strong>in</strong>er gememsamen,<br />

aber uns unbekannten Wurzel heraus wachsen.<br />

Kant weist besonders am Schluß der <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> der Kritik der<br />

re<strong>in</strong>en Vernunft auf <strong>die</strong> unbekannte Wurzel der beiden h<strong>in</strong>. Er<br />

bezeichnet <strong>die</strong>se beiden Vermögen als zwei Grundquellen unseres'<br />

Gemüts, wobei Gemüt für mens im S<strong>in</strong>ne von Descartes,<br />

Leibniz und August<strong>in</strong>us gebraucht wird. Nun ist das Problem<br />

nicht irgende<strong>in</strong> Erkennen, sondern <strong>die</strong> ontologische Erkenntnis,<br />

d. h. e<strong>in</strong> apriorisches, e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Erkennen. Das heißt also, Problem<br />

ist <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung und das re<strong>in</strong>e Denken, genauer,<br />

gemäß dem ersten Satz der Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft ist das<br />

Erkennen e<strong>in</strong> Anschauen, das sich durch das Denken bestimmt.<br />

Das denkende Bestimmen steht im Dienste des Anschauens.<br />

Erkennen ist immer denkendes Anschauen.<br />

Die 2. Stufe fragt nach der E<strong>in</strong>heit oder dem Wesen e<strong>in</strong>er<br />

re<strong>in</strong>en Erkenntnis, also nach der Möglichkeit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung.<br />

Anschauung, griechisch aLoihlOt~, ist Gegenstand der<br />

Asthetik. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e apriori mögliche Anschauung,<br />

d.h. also um e<strong>in</strong>e transzendentale Untersuchung der Anschauung.<br />

Daher ist <strong>die</strong> HeraussteIlung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung<br />

'der Gegenstand e<strong>in</strong>er transzendentalen Ästhetik. Entsprechend<br />

ist <strong>die</strong> Herausarbeitung des re<strong>in</strong>en Denkens Gegenstand<br />

der transzendentalen Analytik.


256 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Seiendem. Die Frage nach der Möglichkeit der ontischen Erkenntnis<br />

wird so zur Frage nach der Möglichkeit der synthetischen<br />

Erkenntnis apriori, d.h. der ontologischen. Wie ist<br />

Erkenntnis von Se<strong>in</strong> möglich? Das Problem der Möglichkeit der<br />

Metaphysik wird zum Problem der Möglichkeit der Ontologie,<br />

d.h. der Metaphysica generalis. In der Bemühung um <strong>die</strong><br />

Grundlegung der eigentlichen Metaphysik (metaphysica specialis)<br />

wird Kant durch das Problem selbst auf <strong>die</strong> metaphysica<br />

generalis zurückgeworfen, und <strong>die</strong>se wird erstmals seit Aristoteles<br />

Problem. Das Grundproblem der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

ist <strong>die</strong> Ontologie als solche; ganz und gar nicht ist sie e<strong>in</strong>e<br />

Erkenntnistheorie oder gar e<strong>in</strong>e Theorie der Naturwissenschaft,<br />

wie der Neukantianismus vorgeben will. Wenn es überhaupt um<br />

e<strong>in</strong>e Theorie der Erkenntnis geht, dann um e<strong>in</strong>e solche der<br />

ontologischen Erkenntnis; aber auch <strong>die</strong>se Fassung ist schief<br />

und wegführend vom zentralen Problem.<br />

Ad 3. Inwiefern ist <strong>die</strong> Wesensbestimmung der Metaphysik<br />

e<strong>in</strong>e Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft? Vernunft ist das Höchste im<br />

Menschen, das Vermögen, apriori zu erkennen; aber das Wesen<br />

<strong>die</strong>ser Erkenntnis ist zu umgrenzen; <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Umgrenzung erfolgt<br />

e<strong>in</strong>e Begrenzung gegenüber Anmaßungen und Grenzüberschreitungen;<br />

dafür ist <strong>die</strong> traditionelle Metaphysik e<strong>in</strong> Beispiel.<br />

Kritik ist also e<strong>in</strong>e Wesensumgrenzung, damit zugleich<br />

e<strong>in</strong>e Begrenzung, E<strong>in</strong>schränkung; daher ist sie zugleich polemisch<br />

gerichtet und von da mitbestimmt. Es ist e<strong>in</strong>e Kritik der<br />

endlichen menschlichen re<strong>in</strong>en Vernunft. Das »Geschäft <strong>die</strong>ser<br />

Kritik« ist, »das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern«.<br />

Kant nennt <strong>die</strong> Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft auch e<strong>in</strong>en<br />

»Traktat von der Methode«, d.h. aber, sie »verzeichnet gleichwohl<br />

den ganzen Umriß... als auch den ganzen <strong>in</strong>neren<br />

Gliederbau derselben«.8 Methode me<strong>in</strong>t hier nicht Technik,<br />

8 Immanuel Kant, Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft. Nach der ersten und zweIten<br />

Orig<strong>in</strong>al-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt. LeipzIg 1926.<br />

Vorrede, B XXII f.<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 257<br />

sondern <strong>die</strong> Frage nach der möglichen vollständigen Bestimmung<br />

e<strong>in</strong>es Gegenstandes, <strong>die</strong> grundsätzliche Frage nach <strong>die</strong>sem<br />

selbst.<br />

Ad 4. Welches ist der Ansatz und Aufriß der Grundlegung der<br />

\1etaphysik? Gefragt wird nach der Möglichkeit re<strong>in</strong>er Erkenntnis,<br />

der Erkenntnis überhaupt, nach Anschauung und<br />

Begriff und der E<strong>in</strong>heit beider, und zwar re<strong>in</strong>er Anschauung<br />

und re<strong>in</strong>er Begriffe. Das ist e<strong>in</strong>e transzendentale Frage.<br />

Wenn wir das Inhaltsverzeichnis der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

uns ansehen, dann zeigt sich <strong>die</strong> Grunde<strong>in</strong>teilung <strong>in</strong><br />

Elementarlehre und Methodenlehre. Die Elementarlehre entwickelt<br />

<strong>die</strong> Elemente, <strong>die</strong> Grundrnomente. Wir können uns auf<br />

<strong>die</strong>sen Teil beschränken. Die Elementarlehre, und zwar <strong>die</strong><br />

transzendentale Elementarlehre - transzendental ist hier wesentlich<br />

- hat zwei Teile. Der erste Teil ist <strong>die</strong> transzendentale<br />

Ästhetik, der zweite <strong>die</strong> transzendentale Logik. Wie es zu <strong>die</strong>ser<br />

Scheidung kommt, werden wir noch sehen. Die transzendentale<br />

Logik gliedert sich wiederum <strong>in</strong> zwei Abteilungen, deren erste<br />

<strong>die</strong> transzendentale Analytik ist. Die zweite Abteilung ist <strong>die</strong><br />

transzendentale Dialektik.<br />

Wenn wir das Schema der Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft so nehmen,<br />

ist ohne weiteres nicht zu sehen, wie <strong>die</strong>ses Werk mit dem<br />

Problem der traditionellen Metaphysik <strong>in</strong> Zusammenhang stehen<br />

soll. Wenn wir aber von vornhere<strong>in</strong> das Werk nicht nach der<br />

äußeren Disposition verstehen, sondern umgekehrt <strong>die</strong> Disposition,<br />

wie sie vorliegt, aus dem Grundproblem des Werkes<br />

heraus, dann wird ohne weiteres deutlich, um was es sich hier<br />

handelt. Was nämlich Kant <strong>in</strong> der transzendentalen Ästhetik,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise noch auf <strong>die</strong> traditionellen Probleme h<strong>in</strong>weist,<br />

und <strong>in</strong> der transzendentalen Analytik behandelt, <strong>die</strong>ses<br />

Ganze ist nichts anderes als <strong>die</strong> Grundlegung der metaphysica<br />

generalis, und was er <strong>in</strong> der transzendentalen Dialektik behandelt,<br />

ist <strong>die</strong> Grundlegung und Kritik der metaphysica specialis.<br />

Daß gerade hier der Schnitt h<strong>in</strong>durchgeht, ist besonders merkwürdig<br />

für <strong>die</strong> kantische Fragestellung selbst und ist mit e<strong>in</strong>


258 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Moment, daß sie von uns e<strong>in</strong>er wesentlichen Kritik unterworfen<br />

werden muß. Das hängt mit dem E<strong>in</strong>fluß der traditionellen<br />

Logik auf Kants Werk zusammen. Diese Teilung der traditionellen<br />

Metapyhsik spiegelt sich im Aufriß der transzendentalen<br />

Elementarlehre wider.<br />

b) Exkurs: Kants Grundlegung der Metaphysik<br />

Ad 5. Welches s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Hauptthesen und <strong>die</strong> Schritte <strong>die</strong>ser<br />

Grundlegung? Wir unterscheiden <strong>die</strong> Hauptthesen und <strong>die</strong><br />

Durchführung.<br />

a) Die Hauptthesen<br />

Es ist charakteristisch für alle philosophischen Untersuchungen,<br />

daß sie mit sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>fachen und elementaren Sätzen beg<strong>in</strong>nen,<br />

daß aber h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>sen Sätzen e<strong>in</strong>e ganze Welt von Voraussetzungen<br />

lebt; für den Laien und für den Literaten <strong>in</strong> der<br />

<strong>Philosophie</strong> sieht das so aus, als wären das unbewiesene Voraussetzungen.<br />

Was wir jetzt erörtern, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sichten, <strong>die</strong> Kant<br />

von vornhere<strong>in</strong> der Diskussion des Problems der Metaphysik<br />

zugrundelegt, <strong>die</strong> er gar nicht thematisch erörtert, von denen er<br />

aber e<strong>in</strong>e sichere E<strong>in</strong>sicht hat. Das heißt, das, was Kant nicht<br />

~us~ührlich ausspricht, und das, was <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> nicht sagt,<br />

1st Immer das Wesentliche.<br />

Wir können <strong>die</strong>se Grundthesen auf drei br<strong>in</strong>gen:<br />

1. These, was Erkenntnis überhaupt sei,<br />

2. Problem ist <strong>die</strong> Endlichkeit der Erkenntnis des Menschen<br />

3. Gegenstand solcher Erkenntnis ist das Erkennbare selbs:<br />

als Ersche<strong>in</strong>ung, nicht als D<strong>in</strong>g an sich.<br />

t. Was zur Erkenntnis überhaupt gehört, darüber gibt der<br />

erste Satz der Kritik Aufschluß: »Auf welche Art und durch<br />

welche Mittel sich auch immer e<strong>in</strong>e Erkenntnis auf Gegenstände<br />

beziehen mag, so ist doch <strong>die</strong>jenige, wodurch sie sich auf<br />

<strong>die</strong>selben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als<br />

Mittel ab zweckt, <strong>die</strong> Anschauung«. (A 19, B 33) Diesem Satz<br />

§ J4. Kants Weltbegriff<br />

entnehmen wir e<strong>in</strong> Doppeltes: erstens, daß das Wesen der Erkenntnis<br />

<strong>in</strong> der Anschauung liegt.<br />

Dieser erste Satz der Kritik spricht radikal gegen <strong>die</strong> Auffassung<br />

des Neukantianismus. Man kann sagen, daß der Grundmangel<br />

des Neukantianismus dar<strong>in</strong> besteht, daß er den ersten<br />

Satz der Kritik nicht gelesen hat. In der Marburger Schule ist<br />

ubertrieben worden, daß das Wesen der Erkenntnis nach Kant<br />

das Denken ist. Er sagt ausdrücklich: Das Wesen der Erkenntnis<br />

ist Anschauung, und alles Denken zweckt ab als Mittel auf <strong>die</strong><br />

Anschauung. Auf <strong>die</strong>sen ersten Satz ist <strong>die</strong> ganze Kritik aufgebautl.'<br />

Anschauung heißt griechisch at(Jthjat~. Ästhetik heißt <strong>die</strong><br />

Lehre von der at(J{}TJ(J~. Das Denken ist nach der Tradition Gegenstand<br />

der Logik. Wenn <strong>die</strong> Erkenntnis aus Anschauung und<br />

Denken besteht, dann ist <strong>die</strong> Ästhetik <strong>die</strong> Lehre von der Anschauung<br />

und <strong>die</strong> Logik <strong>die</strong> Lehre vom Denke~. Daher ist <strong>die</strong><br />

Folgerung der Marburger, <strong>die</strong> transzendentale Asthetik aus der<br />

Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft h<strong>in</strong>auszu<strong>in</strong>terpretieren. Nicht nur<br />

für den Aufriß des Werkes, sondern für das ganze Problem ist<br />

also'das Entscheidende, daß man den allgeme<strong>in</strong>en Erkenntnisbegriff<br />

von e<strong>in</strong>em im Denken sich erläuternden und sich<br />

ause<strong>in</strong>anderlegenden Anschauen festhält, d. h. jede Wahrheit<br />

des Denkens ist notwendig angewiesen auf <strong>die</strong> Ausweisung und<br />

Bewährung <strong>in</strong> der Anschauung. Wir werden sehen, daß <strong>die</strong>s <strong>die</strong><br />

zentrale Frage der Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft ist, wo es sich um<br />

das Problem der ontologischen Erkenntnis handelt.<br />

Die 2. These betrifft <strong>die</strong> Endlichkeit der Erkenntnis. Es ist<br />

wesentlich, daß nicht von irgende<strong>in</strong>er Vernunft gehandelt wird<br />

- e<strong>in</strong>e Unbestimmtheit, <strong>die</strong> heute weith<strong>in</strong> herrscht -, während<br />

Kaut deutlich im nachfolgenden Satze sagt: »Diese f<strong>in</strong>det nur<br />

statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird. Dieses aber ist<br />

wlederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich,<br />

daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.« (Ebd.)<br />

Die E<strong>in</strong>fügung »uns Menschen wenigstens« stammt aus der<br />

zweiten Auflage. Was heißt das nun, daß <strong>in</strong> der Kritik der re<strong>in</strong>en


266 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das Wesen der re<strong>in</strong>en Anschauung ist e<strong>in</strong>e der<br />

fundamentalsten Entdeckungen, <strong>die</strong> Kant für sich <strong>in</strong> Anspruch<br />

nehmen darf. Anschauung heißt Sichgebenlassen von etwas, so<br />

daß dasjenige, was sich gibt, an ihm selbst anschaubar wird;<br />

Anschauung des Empfangenen = Rezeption. Die Rezeption ist<br />

angewiesen auf <strong>die</strong> Affektion, d. h. darauf, daß dasjenige, was<br />

ich anschauen soll, sich bei mir von sich selbst her meldet. Hier<br />

handelt es sich um das Problem e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung, d. h.<br />

e<strong>in</strong>er Anschauung apriori, oder, wie er sagt, ohne und vor aller<br />

Erfahrung. E<strong>in</strong>e Anschauung ohne Rezeptivität ist das Problem,<br />

das Kant nicht <strong>in</strong> aller Schärfe herausgestellt hat, e<strong>in</strong>e Anschauung,<br />

<strong>die</strong> als solche rezeptiv ist, weil sie ja menschliche Anschauung<br />

ist, gleichwohl apriori, d.h. aus dem Subjekt entspr<strong>in</strong>gend,<br />

aus se<strong>in</strong>er Spontaneität, nicht darauf angewiesen, daß das Anschaubare<br />

von sich her sich meldet. Die Idee der re<strong>in</strong>en Anschauung<br />

hat e<strong>in</strong>en Doppelcharakter. In ihr liegt <strong>die</strong> Idee e<strong>in</strong>es<br />

Vermögens vor, <strong>in</strong> dem der Mensch <strong>in</strong> gewisser Weise produktiv<br />

ist, sofern er nicht auf e<strong>in</strong> sich selbst Gebendes angewiesen ist,<br />

sondern auf etwas, was er sich selbst vorgibt, umßs anzuschauen.<br />

Es besteht also e<strong>in</strong>e Analogie zur Schöpfungsanschauung des<br />

<strong>in</strong>tuitus orig<strong>in</strong>arius.<br />

Welches ist nun <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung? Die beiden re<strong>in</strong>en<br />

Anschauungen, <strong>die</strong> zum endlichen Wesen gehören, s<strong>in</strong>d Raum<br />

und Zeit. Das ist zunächst überraschend, sofern man nicht recht<br />

e<strong>in</strong>sieht, <strong>in</strong>wiefern der Raum oder gar <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e Anschauung<br />

se<strong>in</strong> sollen. Ich entwickle nur kurz e<strong>in</strong>e Charakteristik der Idee<br />

der re<strong>in</strong>en Anschauung an der Zeit, weil nach Kant <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e<br />

umfassendere Anschauung ist als der Raum; dabei gehe ich <strong>in</strong><br />

der Interpretation über Kant h<strong>in</strong>aus.<br />

Die Zeit selbst spielt e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> der Kritik der<br />

re<strong>in</strong>en Vernunft. Sie ist für Kant das re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander, <strong>die</strong><br />

re<strong>in</strong>e Sukzession als solche, <strong>die</strong> jetzt, vorher und nachher <strong>in</strong><br />

ihrem eigentümlichen Flusse etwas ist, was wir nicht unter den<br />

D<strong>in</strong>gen vorf<strong>in</strong>den. Es ist aber gleichwohl e<strong>in</strong> solches, wodurch<br />

alles, was wir von den D<strong>in</strong>gen erfahren, bestimmt ist; jedes<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 267<br />

Anschaubare, alles was sich <strong>in</strong> der Rezeptivität gibt, ist bestimmt<br />

als jetzt, damals oder dann gegeben. In e<strong>in</strong>er Zeitbestimmung<br />

ist alles Erfahrbare g~geben. Die Zeit, das re<strong>in</strong>e<br />

Nache<strong>in</strong>ander, ist e<strong>in</strong>e Form der Gegebenheit, worauf wir im<br />

vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> immer schon h<strong>in</strong>blicken, wenn wir Gegenstände,<br />

D<strong>in</strong>ge erfahren, ohne daß wir e<strong>in</strong> ausdrückliches Bewußtse<strong>in</strong><br />

davon hätten, ohne daß wir das Nache<strong>in</strong>ander zum Gegenstand<br />

e<strong>in</strong>er Betrachtung machen. Wir s<strong>in</strong>d ungegenständlich auf das<br />

re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> gerichtet. Vor aller Erfahrung<br />

und nicht auf Grund der Erfahrung, d. h. apriori, schauen wir<br />

<strong>die</strong> Zeit an, bzw. <strong>die</strong> Zeit selbst ist nur und gibt sich nur als das<br />

re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> und für <strong>die</strong>ses Anschauen. Deshalb ist<br />

<strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung <strong>in</strong> doppelter Bedeutung: e<strong>in</strong> a<br />

priori Angeschautes und zugleich e<strong>in</strong> solches, was gewissermaßen<br />

nur im Anschauen selbst ist. So haben wir <strong>die</strong> Zeit als re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung Raum <strong>in</strong> gewisser Weise<br />

um greift.<br />

Die entsprechende Betrachtung richtet sich auf das re<strong>in</strong>e<br />

Denken. Denken ist für Kant gemäß der Tradition soviel wie<br />

Urteilen. Ich denke = ich urteile. Ich urteile heißt: ich verb<strong>in</strong>de<br />

e<strong>in</strong> Subjekt mit e<strong>in</strong>em Prädikat. Ich denke ist also soviel wie ich<br />

verb<strong>in</strong>de; <strong>die</strong> Denkhandlung hat den Charakter der Synthesis.<br />

Nun handelt es sich für Kant um das re<strong>in</strong>e Denken, d. h. um e<strong>in</strong><br />

solches Denken, das vor aller Erfahrung gleichwohl etwas<br />

denkt, nicht e<strong>in</strong>fach Form des Denkens ist, sondern als Denken<br />

dem, was im Denken bestimmbar ist, der Anschauung, e<strong>in</strong>e<br />

Bestimmung von sich aus zuweist.<br />

Die Frage ist also: Liegt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Handlung des Menschen,<br />

<strong>die</strong> wir Denken nennen, <strong>in</strong> der Möglichkeit des Urteilens, zugleich<br />

e<strong>in</strong>e Quelle <strong>in</strong>haltlicher Erkenntnis? Wenn ich formal<br />

a =0 h verb<strong>in</strong>de, so liegt nach Kant <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Verb<strong>in</strong>den schon<br />

e<strong>in</strong>e ,ganz bestimmte Erkenntnis, <strong>in</strong>sofern jedes Verb<strong>in</strong>den von<br />

etwas- mit etwas angewiesen ist auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, im H<strong>in</strong>blick<br />

worauf verbunden wird. Nun f<strong>in</strong>det Kant <strong>in</strong> der traditionellen<br />

Urteilstafel Formen der H<strong>in</strong>blicknahme. In jeder <strong>die</strong>ser Urteils-


260 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Vernunft <strong>die</strong> endliche Erkenntnis oder <strong>die</strong> menschliche Erkenntnis<br />

als solche Gegenstand ist?<br />

Wenn Kant von der endlichen und der menschlichen Erkenntnis<br />

spricht, so ist im H<strong>in</strong>tergrund der Unterschied gegenüber der<br />

unendlichen oder absoluten Erkenntnis. Als solche gilt <strong>die</strong> Erkenntnis<br />

Gottes, der im S<strong>in</strong>ne der christlichen Gottesauffassung<br />

gedacht ist, wonach er primär der Schöpfer ist. Die Erkenntnis<br />

Gottes ist nach der traditionellen Auffassung, <strong>die</strong> Kant zum<br />

Zwecke der Erläuterung der endlichen Erkenntnis noch verschärfte,<br />

<strong>in</strong>tuitive Erkenntnis oder re<strong>in</strong>e Anschauung, oder »nur«<br />

Anschauung. Schon <strong>in</strong> der Scholastik, bei Thomas z. B., herrscht<br />

Klarheit darüber, freilich aus e<strong>in</strong>em vielleicht nicht stichhaltigen<br />

Grund, daß Gott nicht denken kann, denn alles Denken ist der<br />

Index der Endlichkeit. Er begründet das so: Im Denken wird<br />

geurteilt, hier setze ich e<strong>in</strong> Prädikat zu e<strong>in</strong>em Subjekt. Ich durchlaufe<br />

also durch Bestimmungen bestimmte Schritte, d. h. das<br />

Denken ist notwendig als Prädikation successive, braucht Zeit.<br />

Gott ist aber nicht <strong>in</strong> der Zeit. Das Nichtdenkenkönnen ist also<br />

ke<strong>in</strong> MangeL Gottes Erkenntnis ist re<strong>in</strong>e Anschal}ung, d. h. er<br />

erkennt das Seiende im Ganzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Augenblick - »totum<br />

simul« -, was vordem war und künftig kommen wird. Diese absolute<br />

Anschauung ist zugleich <strong>die</strong> Anschauung, <strong>in</strong> der das Seiende,<br />

sowohl das faktisch wirkliche, als auch das mögliche, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Wesen von vornhere<strong>in</strong> erkannt ist. Gott erkennt alles Seiende <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Wesen, weil er ja der Schöpfer ist, weil er selbst das Seiende<br />

herstellt. Se<strong>in</strong>e Anschauung ist e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong>, sofern sie<br />

vollzogen wird, gewissermaßen dem, was angeschaut wird, das<br />

Se<strong>in</strong> verleiht. Zu se<strong>in</strong>em Wesen gehört e<strong>in</strong>e Anschauung, durch<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge allererst werden; sie werden für Gott nicht, für Gott<br />

s<strong>in</strong>d sie immer, sie werden <strong>in</strong> der Zeit. Diese Anschauung, <strong>die</strong> dem<br />

Anschaubaren den Ursprung se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s gibt, nennt Kant <strong>in</strong>tuitus<br />

orig<strong>in</strong>arius, <strong>die</strong> als Anschauung dem Anschaubaren zu se<strong>in</strong>em<br />

Ursprung verhilft. E<strong>in</strong> solches Erkennen als absolutes Anschauen<br />

ist schlechth<strong>in</strong> unabhängig vom angeschauten Was. Denn <strong>die</strong>ses<br />

entspr<strong>in</strong>gt aus dem Anschauen Siillbst.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 261<br />

Gegenüber <strong>die</strong>ser absoluten Anschauung, <strong>die</strong> Gott bestimmt,<br />

ist <strong>die</strong> Anschauung alles endlichen Wesens e<strong>in</strong> Intuitus derivatus,<br />

d.h. e<strong>in</strong>e Anschauung, <strong>die</strong> als Anschauung abhängig ist von<br />

etwas; als endliche Anschauung, <strong>die</strong> nicht immer schon ist, ist<br />

sie angewiesen darauf, daß eben <strong>die</strong>ses Seiende von sich her<br />

vorhanden ist und daß der endlichen Anschauung das Anschaubare<br />

gegeben werden muß, weil sie selbst es nicht schafft. Daher<br />

sagt der zweite Satz: »Diese f<strong>in</strong>det nur statt, sofern uns der<br />

Gegenstand gegeben wird«. Folglich ist e<strong>in</strong> Wesen, das endlich<br />

1st, das endliche Anschauung besitzt, se<strong>in</strong>em Wesen nach so<br />

bestimmt, daß ihm etwas gegeben werden kann, daß es empfänglich<br />

ist für etwas. Es muß Empfänglichkeit - Rezeptivität -<br />

haben. Diese Empfänglichkeit für etwas als Rezeptivität bezeichnet<br />

Kant auch als S<strong>in</strong>nlichkeit. Er ist es, der den Begriff der<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit zum ersten Mal gerade aus <strong>die</strong>sem Gegensatz zwischen<br />

absoluter und endlicher Erkenntnis bestimmte. E<strong>in</strong>e<br />

endliche Anschauung ist ihrem Wesen nach durch Empfänglichkeit<br />

charakterisiert. Das, was da gegeben werden soll, muß<br />

von sich aus gewissermaßen sich melden, oder, wie Kant sagt,<br />

das Seiende muß das empfängliche Subjekt affizieren. Aus dem<br />

Wesen der Rezeptivität folgt, daß sie bestimmt ist durch Affektion.<br />

Das empfängliche Wesen muß also so strukturiert se<strong>in</strong>, daß<br />

es affizierbar ist. Die Organe und Strukturen der Affektion bezeIchnen<br />

wir als S<strong>in</strong>ne. Der Mensch hat, wie wir heute glauben,<br />

fünf S<strong>in</strong>ne. Daß der Mensch gerade Augen und Ohren hat, ist<br />

absolut zufällig. Absolut notwendig für das endliche Wesen ist,<br />

daß es Rezeptivität hat und mögliche Organe. Daher ist der<br />

Begriff der S<strong>in</strong>nlichkeit nicht aus den S<strong>in</strong>nesorganen zu bestimmen.<br />

S<strong>in</strong>nesorgane haben wir nur, weil unser Wesen endlich ist.<br />

Diesen Sachverhalt hat Kant zum erstenmal deutlich gesehen.<br />

Man kann nicht sagen, daß das bis heute <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Tragweite<br />

e<strong>in</strong>gesehen wäre. Endliche Anschauung ist also notwendig als<br />

Smnlichkeit bestimmt, wobei <strong>die</strong> Art der Affektion e<strong>in</strong>e sekundäre<br />

Frage ist.<br />

Wir wissen, daß er sagt: Erkenntnis ist bestimmt durch An-


262 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

schauen und Denken. Endliches Erkennen ist nicht nur Anschauen<br />

als S<strong>in</strong>nlichkeit, sondern ist auch angewiesen auf das<br />

Denken. Das Denken selbst ist etwas Endliches, und zwar aus<br />

e<strong>in</strong>em wesentlich tieferen Grund als dem, den Thomas von<br />

Aqu<strong>in</strong> anführt, daß nämlich das Denken durch <strong>die</strong> Sukzession<br />

charakteri~iert ist, daß das Denken, aber auch <strong>die</strong> Anschauung<br />

<strong>in</strong> der Sukzession verläuft. Vielmehr besteht <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Endlichkeit<br />

des Denkens im Folgenden: Alles Denken ist Urteilen<br />

oder Bestimmen von etwas als etwas. Wenn ich im Denken<br />

etwas bestimme, so kann ich das zu Bestimmende, d. h. den<br />

Gegenstand, nicht so bestimmen, daß ich lediglich ihn als solchen<br />

anstarre, s~ndern ich muß ihn bestimmen im H<strong>in</strong>blick auf<br />

etwas. Wenn ich sage, <strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g ist rot, so schöpfe ich <strong>die</strong>sen<br />

Charakter, daß es rot ist, aus dem anschaulich gegebenen D<strong>in</strong>g<br />

selbst. Aber ich verstehe <strong>die</strong>se Erkenntnis nur, wenn ich weiß,<br />

was Farbe ist, ohne daß ich den Begriff der Farbe habe, d. h.<br />

wenn ich <strong>in</strong> der Anschauung den Satz expliziere, so nehme ich<br />

den H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Farbe, etwas als etwas. Alles denkende<br />

Bestimmen als Bestimmen von etwas als etwas m1)ß notwendig<br />

den H<strong>in</strong>blick nehmen auf etwas, mit Bezug worauf der vorliegende<br />

Gegenstand bestimmbar wird. Das Denken ist nicht<br />

Anschauung, sondern muß den Umweg über den H<strong>in</strong>blick machen,<br />

aus dem her es bestimmt ist. Das Denken als Prädizierung<br />

ist nach Kant nicht unmittelbar, sondern mittelbar. Es ist se<strong>in</strong>em<br />

Wesen nach umwegig. So ergibt sich e<strong>in</strong>e doppelte Endlichkeit<br />

<strong>in</strong> der Erkenntnis, nicht nur Endlichkeit der Anschauung<br />

und Endlichkeit des Denkens als solche, sondern, was <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>s damit ist, e<strong>in</strong>e Angewiesenheit aufe<strong>in</strong>ander.<br />

3. These: Was ist das Erkennbare selbst, sofern es durch endliche<br />

Erkenntnis erkennbar ist, und was ist das Erkennbare der<br />

endlichen Erkenntnis im Unterschied zum Erkennbaren der<br />

göttlichen Erkenntnis? Wir haben e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> endliche Erkenntnis,<br />

andererseits <strong>die</strong> absolute Erkenntnis. Der Gegenstand<br />

der endlichen Erkenntnis wird von Kant Ersche<strong>in</strong>ung genannt.<br />

Den Gegenstand der absoluten:--Erkenntnis nennt er D<strong>in</strong>g an<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 263<br />

sich. Dieses Verhältnis drückt sich dar<strong>in</strong> aus, daß das D<strong>in</strong>g nicht<br />

relativ auf e<strong>in</strong> endliches Wesen ist, sondern das D<strong>in</strong>g an sich ist<br />

relativ auf das Absolute. Der Gegenstand der endlichen Erkenntnis<br />

ist Ersche<strong>in</strong>ung. Um <strong>die</strong>sen Begriff wurde aber e<strong>in</strong>e<br />

große Verwirrung angestiftet, zumal da sich <strong>die</strong> Psychologie<br />

<strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>ges an sich bemächtigte.<br />

Kant nennt den Gegenstand der endlichen Erkenntnis deshalb<br />

Ersche<strong>in</strong>ung, weil das Seiende für e<strong>in</strong> endliches Wesen nur<br />

dadurch zugänglich ist, daß es sich zeigt. Der Gegenstand der<br />

endlichen Erkenntnis ist Ersche<strong>in</strong>ung, heißt, er ist das sich Zeigende,<br />

d. h. e<strong>in</strong> solches, das notwendig sich zeigen muß. Dar<strong>in</strong><br />

1st beschlossen, daß das endliche Wesen das Seiende soweit erkennen<br />

kann, als das Seiende sich zeigen kann, und wie es sich<br />

für <strong>die</strong>ses bestimmte Wesen Mensch zeigen kann. Aber nun ist<br />

für das Verständnis des ganzen Problems <strong>die</strong> Frage des Verhältnisses<br />

von Ersche<strong>in</strong>ung und D<strong>in</strong>g an sich wichtig, und damit<br />

begirmt erst <strong>die</strong> Konfusion. Das D<strong>in</strong>g an sich und <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ung<br />

dürfen nur verstanden werden <strong>in</strong> Bezogenheit auf <strong>die</strong><br />

endliche und absolute Erkenntnis. Wenn man das herausstreicht,<br />

ist es hoffnungslos, etwas zu verstehen. Die Probe dafür<br />

liegt dar<strong>in</strong>, Aufschluß zu geben, welches Verhalten sich beiden<br />

zuordnet. Man spricht gewöhnlich von Ersche<strong>in</strong>ungen wie<br />

Himmelsersche<strong>in</strong>ungen, Phantomen, Kometen. H<strong>in</strong>ter den Ers{'he<strong>in</strong>ungen<br />

liegt eigentlich das D<strong>in</strong>g an sich. Daß wir nicht<br />

dah<strong>in</strong>terkommen, das hat Kant geleugnet. In der Tat liegt <strong>die</strong>ser<br />

Unterschied nicht so ganz zu Tage. Aber <strong>die</strong> entscheidende E<strong>in</strong>sicht<br />

liegt nun dar<strong>in</strong>: Ersche<strong>in</strong>ung ist das sich zeigende Seiende<br />

selbst, also nicht etwas, was auftaucht, sondern das Seiende<br />

selbst. Kant sagt: <strong>die</strong>se Kreide ist e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung, etwas für<br />

sich selbst Vorhandenes. Kant ist es nie e<strong>in</strong>gefallen, daß <strong>die</strong><br />

Kreide nicht wirklich wäre, sondern e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>bildung des SubjE'kts.<br />

Diese Kreide ist etwas Vorhandenes, das sich zeigt, e<strong>in</strong><br />

Ersche<strong>in</strong>endes, e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung. Das D<strong>in</strong>g an sich nun ist nicht<br />

etwas, 'was h<strong>in</strong>ter der Kreide ist, sondern das D<strong>in</strong>g an sich ist<br />

<strong>die</strong>se selbe Kreide, <strong>die</strong> wir sehen, nur jetzt gedacht als Gegen-


268 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

formen muß jeweils e<strong>in</strong>e entsprechende H<strong>in</strong>blicknahme auf<br />

e<strong>in</strong>e entsprechende E<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>. Im Satz >a = b< liegt e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick<br />

auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, d. h. auf e<strong>in</strong> für sich subsistierendes D<strong>in</strong>g,<br />

e<strong>in</strong>e Substanz. Den Begriff e<strong>in</strong>er solchen E<strong>in</strong>heit nennt Kant<br />

Kategorie. Das re<strong>in</strong>e Denken repräsentiert sich also <strong>in</strong> den Kategorien,<br />

genauer gesprochen: Ich denke e<strong>in</strong>e Kategorie, d. h.<br />

ich bewege mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Form des Verb<strong>in</strong>dens, bei dem ich<br />

notwendig auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit h<strong>in</strong>blicken muß, <strong>die</strong> mir e<strong>in</strong>en Leitfaden<br />

gibt für <strong>die</strong> Art des E<strong>in</strong>igens. Kant formuliert das an e<strong>in</strong>er<br />

versteckten Stelle nachträglich, wo es nicht Thema ist: »Die<br />

transzendentale Analytik gab uns e<strong>in</strong> Beispiel, wie <strong>die</strong> bloße<br />

logische Form unserer Erkenntnis den Ursprung von re<strong>in</strong>en<br />

Begriffen apriori enthalten könne, welche vor aller Erfahrung<br />

Gegenstände vorstellen, oder vielmehr <strong>die</strong> synthetische E<strong>in</strong>heit<br />

anzeigen, welche alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e empirische Erkenntnis von Gegenständen<br />

möglich macht.« (A 321, B 377). Denn um empirische<br />

Gegenstände zu erkennen, muß ich nicht nur empirisch anschauen,<br />

sondern sie als D<strong>in</strong>ge mit Eigenschaften denken.<br />

Das Grundproblem der Kritik der re<strong>in</strong>en Veqmnft ist aber<br />

nun <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung mit e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en<br />

Denken, d. h. e<strong>in</strong>er möglichen apriorischen E<strong>in</strong>igung von Zeit<br />

und Kategorie. Kant erörtert auf der 2. Stufe das Wesen e<strong>in</strong>er<br />

solchen <strong>in</strong>neren Möglichkeit von re<strong>in</strong>er Anschauung und Kategone.<br />

Die Synthesis apriori und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Rezeptivität<br />

mit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Spontaneität muß möglich se<strong>in</strong>. Re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung und re<strong>in</strong>es Denken müssen sich e<strong>in</strong>igen. Jedes der<br />

beiden muß zum andern e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Verwandtschaft haben.<br />

Re<strong>in</strong>e Anschauung als Rezeptivität muß <strong>in</strong> gewisser Weise den<br />

Charakter des Denkens haben, sie muß spontan se<strong>in</strong>. Umgekehrt,<br />

wenn das re<strong>in</strong>e Denken mit der Anschauung sich e<strong>in</strong>igen<br />

soll, muß das re<strong>in</strong>e Denken nicht nur spontan se<strong>in</strong>, sondern e<strong>in</strong>e<br />

Verwandtschaft mit der Anschauung haben, d. h. rezeptiv se<strong>in</strong>.<br />

Wenn also beide Vermögen zu sich e<strong>in</strong>e Verwandtschaft haben<br />

und e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung möglich seiH: soll, dann muß es e<strong>in</strong> Zwi-<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 269<br />

schengebilde geben, das den Charakter der spontanen Rezeptivität<br />

und zugleich den der rezeptiven Spontaneität hat. Dies ist<br />

nach Kant <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft. Sie ist das<br />

merkwürdige Vermögen e<strong>in</strong>er spontanen Rezeptivität und e<strong>in</strong>er<br />

rezeptiven Spontaneität; und das Wesen der ontologischen Erkenntnis<br />

liegt <strong>in</strong> der transzendentalen E<strong>in</strong>bildungskraft.<br />

Wie weit <strong>die</strong>se Interpretation sich von der bisherigen entfernt,<br />

können Sie daraus ersehen, daß <strong>die</strong>ses Vermögen vom<br />

Neukantianismus konsequent heraus<strong>in</strong>terpretiert wurde, weil<br />

man dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Rest von Psychologie sah. Man hat <strong>in</strong> der<br />

Marburger Schule das Problem so aufgerollt, daß man alles aus<br />

dem 're<strong>in</strong>en Denken entwickelte; W<strong>in</strong>delband und Rickert haben<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit bei der - Anschauung und Denken - ohne<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft gesucht. Wir müssen aber zeigen, daß <strong>in</strong> der<br />

Tat <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft <strong>die</strong>sen Charakter hat,<br />

und'daß daher <strong>die</strong> Zeit auf <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

zurückgeht ebenso wie <strong>die</strong> Kategorie. Das, wonach wir zu<br />

Anfang gefragt haben, <strong>die</strong> unbekannte Wurzel, wie er sagt, ist<br />

<strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft selbst. Es ist charakteristisch,<br />

daß Kant vor der transzendentalen E<strong>in</strong>bildungskraft e<strong>in</strong>e<br />

metaphysische Angst bekam und sie aus se<strong>in</strong>em Werk auszumer:ren<br />

versuchte.<br />

Soviel ist klar, daß Kant im Zentrum se<strong>in</strong>es eigenen Problems<br />

unter dem Titel der transzendentalen E<strong>in</strong>bildungskraft auf e<strong>in</strong><br />

Phänomen stößt, das - was er auch merkte - dem, was der<br />

Tradition und se<strong>in</strong>er eigenen Überzeugung gemäß als GrundphänQmen<br />

des menschlichen Dase<strong>in</strong>s anzusetzen ist, vollkommenrzuwiderläuft.<br />

Sobald man <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft als zentrales<br />

Vermögen e<strong>in</strong>führt, stürzt <strong>die</strong> ganze bisherige Idee der<br />

<strong>Philosophie</strong> - deshalb das Ausweichen Kants. Für uns ist es nun<br />

wichtig zu sehen, wie <strong>die</strong>se transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

aussieht.<br />

Die E<strong>in</strong>bildungskraft überhaupt ist gemäß der traditionellen<br />

Anthropologie e<strong>in</strong> Vermögen, das <strong>in</strong>nerhalb der allgeme<strong>in</strong>en<br />

Klassifizierung <strong>in</strong> <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nlichkeit gehört, als Vermögen der


270 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit noch untergeordnet ist. Gleichwohl bekommt unter<br />

dem Zwang des zentralen Problems der Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft e<strong>in</strong>e Funktion, <strong>die</strong> ihr nach Kants<br />

systematischen Gesichtspunkten nicht zukommen dürfte. Kant<br />

hält sich an <strong>die</strong> traditionelle Psychologie. Er nimmt wörtlich <strong>die</strong><br />

Bestimmung auf, wie sie bei Wolff sich f<strong>in</strong>det und auf den<br />

aristotelischen Begriff der q>uv-taa!.a zurückgeht (Kants Anthropologie<br />

§ 28): »Die E<strong>in</strong>bildungskraft (facultas imag<strong>in</strong>andi), als<br />

e<strong>in</strong> Vermögen der Anschauung, auch ohne Gegenwart des Gegenstandes<br />

ist entweder produktiv, d.i. e<strong>in</strong> Vermögen der ursprünglichen<br />

Darstellung des letzteren, exhibitio orig<strong>in</strong>aria,<br />

welche also vor der Erfahrung vorhergeht.«9 Die E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

ist e<strong>in</strong> Vermögen des Anschauens, d. h. e<strong>in</strong> Vermögen, das<br />

etwas zu geben vermag, und zwar gibt <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft uns<br />

e<strong>in</strong>en Anblick von etwas, ohne daß dasjenige, was wir anblikken,<br />

selbst gegenwärtig anwesend wäre. Das ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />

und treffende Def<strong>in</strong>ition der E<strong>in</strong>bildungskraft.<br />

Aufgrund <strong>die</strong>ses Vermögens wird der Mensch gewissermaßen<br />

wie Gott, d. h. <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Vermögen hat er <strong>die</strong> Möglichkeit, sich<br />

selbst etwas Anschaubares zu geben, re<strong>in</strong> von sich her, freilich<br />

so, daß das, was da als Anblick gegeben wird, selbst nicht e<strong>in</strong><br />

seiender Gegenstand ist, so wie bei Gott <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nicht nur als<br />

anschau bare s<strong>in</strong>d, sondern <strong>in</strong> ihrem D<strong>in</strong>gse<strong>in</strong> wirklich werden.<br />

Das ist der wesentliche Unterschied zwischen der exhibitio orig<strong>in</strong>aria<br />

und dem <strong>in</strong>tuitus orig<strong>in</strong>arius. Wir müssen daher unseren<br />

guten deutschen Ausdruck »E<strong>in</strong>bildung« <strong>in</strong> doppeltem S<strong>in</strong>n<br />

verstehen, gemäß e<strong>in</strong>er doppelten Bedeutung des Ausdruckes<br />

»bilden«: bilden heißt erstens herstellen, zweitens, wir können<br />

uns e<strong>in</strong> Bild, e<strong>in</strong>en Anblick von etwas verschaffen; Bild hier<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Abbildes. E<strong>in</strong>bilden heißt sich e<strong>in</strong> Bild<br />

derart verschaffen, daß <strong>die</strong>ser Anblick von uns selbst gebildet<br />

wird. Dieses Bilden ist also e<strong>in</strong>e gewisse Art des Gestaltens der<br />

9 Kant, WW (Cassirer). Band VIII, Berl<strong>in</strong> 1923. Anthropologie <strong>in</strong> pragmatischer<br />

H<strong>in</strong>sicht. Hrsg. von Otto Schöndorffer. § 28, S. 54.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 271<br />

Synthesis. Daher nennt Kant auch <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

<strong>in</strong> late<strong>in</strong>ischer Term<strong>in</strong>ologie synthesis speciosa. Speeies<br />

heißt Bild, d.h. <strong>die</strong> Gestaltung, <strong>die</strong> uns e<strong>in</strong> Bild verschafft,<br />

ohne daß das, was wir anblicken, anwesend wäre. In deutscher<br />

Ausdrucksweise bezeichnet er <strong>die</strong>se synthesis speciosa als figürliche<br />

Synthesis. Das ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Charakteristik der transzendentalen<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft, <strong>die</strong> er zugrunde legt bei der<br />

Herausarbeitung des Wesens der Beziehung von e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en<br />

Denken auf e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung.<br />

Damit kommen wir zur 3. Stufe: Grund der <strong>in</strong>neren Möglichkeit<br />

der Erkenntnis. Bei <strong>die</strong>sem Problem kann es sich um<br />

nichts anderes handeln als um <strong>die</strong> Frage: Wie soll re<strong>in</strong>es Denken,<br />

d. h. <strong>die</strong> re<strong>in</strong>en Verstandesbegriffe, auf re<strong>in</strong>e Anschauung<br />

bezogen werden? Sich auf e<strong>in</strong>e Anschauung beziehen bzw. als<br />

Bestimmung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung fungieren, heißt nichts<br />

anderes als <strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Anschauung sich darstellen. Das Problem<br />

e<strong>in</strong>er möglichen Beziehung der Kategorien auf <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung,<br />

genannt Zeit, ist das Problem der möglichen apriorischen<br />

Darstellbarkeit der Kategorien <strong>in</strong> der Zeit. Wie können<br />

re<strong>in</strong>e Verstandesbegriffe, d.h. Kategorien, apriori <strong>in</strong> der Zeit<br />

angeschaut werden, oder wie kann <strong>die</strong> Zeit das re<strong>in</strong>e Bild der<br />

Kategorien se<strong>in</strong>? Das ist <strong>die</strong> Formel, auf <strong>die</strong> das Problem der<br />

synthetischen Erkenntnis apriori gebracht wird. Dieses Problem<br />

löst Kant im Schematismus-Kapitel, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Abschnitt<br />

von zehn Seiten. Das Verfahren unseres Gemütes, <strong>in</strong> dem sich so<br />

etwas wie <strong>die</strong> anschauliche Darstellung der Kategorien <strong>in</strong> der<br />

Zeit vollzieht, ist der Schematismus. Schema = Bild = Anblick.<br />

Schematismus ist das Vermögen, den re<strong>in</strong>en Begriffen e<strong>in</strong> Bild<br />

zu verschaffen, sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Bild zu br<strong>in</strong>gen. Mit anderen<br />

Worten: Der <strong>in</strong>nerste Grund der Möglichkeit der synthetischen<br />

Erkenntnis apriori ist <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft als<br />

Schematismus.<br />

Kant nennt <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung. Als Anschauung<br />

ist sie Rezeptivität, sie gibt, läßt empfangen. Sie ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung, d.h. e<strong>in</strong>e apriorische Rezeptivität oder e<strong>in</strong>e spon-


272 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

tane Rezeptivität, d.h. e<strong>in</strong> freies Sichselbstgeben; <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung nämlich gibt sich selbst <strong>die</strong> Zeit als re<strong>in</strong>e Sukzession<br />

frei. Wenn man sich <strong>die</strong>sen Zusammenhang phänomenologisch<br />

ause<strong>in</strong>anderlegt, so ergibt sich ohne weiteres, daß das<br />

Sichgeben des Jetzt, Soeben, Sogleich nur möglich ist, wenn<br />

<strong>die</strong>se re<strong>in</strong>e Anschauung e<strong>in</strong> freies Gestalten nach allen drei<br />

Grunddimensionen der Zeit ist. Für <strong>die</strong>se freie Gestaltung<br />

kommt alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft <strong>in</strong> Frage.<br />

E<strong>in</strong>e weiterdr<strong>in</strong>gende Interpretation muß zeigen, daß das,<br />

was Kant <strong>in</strong> der Ästhetik als re<strong>in</strong>e Anschauung entwickelt, im<br />

Grunde <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft ist. Umgekehrt ist<br />

das re<strong>in</strong>e Denken zunächst charakterisiert als Spontaneität, aber<br />

als solche, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Weise des E<strong>in</strong>igens zugleich auf <strong>die</strong> leitende<br />

Idee von E<strong>in</strong>heit h<strong>in</strong>blicken muß. Im Denken als Spontaneität<br />

liegt notwendig e<strong>in</strong> Charakter von Rezeptivität im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er apriorischen Rezeptivität. Nun ist der Zusammenhang<br />

des re<strong>in</strong>en Denkens mit der E<strong>in</strong>bildungskraft das Dunkelste<br />

bei Kant. Nur ganz weniges steht <strong>in</strong> der 1. Auflage<br />

darüber. Alles aber bleibt im Rohen und ist nicht als eigenes<br />

Problem gestellt: Wie kann man <strong>die</strong> Verwurzelung von re<strong>in</strong>er<br />

Anschauung und Denken <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>bildungskraft zeigen? Daraus<br />

ergibt sich <strong>die</strong> Konsequenz, <strong>die</strong> Jacobi gezogen hat. Zeit und<br />

Denken werden zurückgeführt auf <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft, also ist<br />

<strong>die</strong> Zeit etwas E<strong>in</strong>gebildetes. Die Frage ist hier aber, was <strong>die</strong>se<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft selbst sei, ob <strong>die</strong>se selbst etwas E<strong>in</strong>gebildetes<br />

ist oder ob wir sie nicht <strong>die</strong> Urwirklichkeit des Menschse<strong>in</strong>s<br />

nennen müssen.<br />

Diese Interpretation Kants bekommt erst ihren S<strong>in</strong>n und ihr<br />

Recht, wenn systematisch gezeigt ist, daß das, worauf Kant<br />

stößt, <strong>die</strong> Zeit selbst ist, freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne, wie er für Kant<br />

nicht mehr zugänglich war. Dieses Fungieren der transzendentalen<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft ist also das, wodurch den Kategorien<br />

e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung verschafft wird. Sofern nun <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung Zeit <strong>die</strong> Bestimmung ist, <strong>die</strong> von vornhere<strong>in</strong> jeden<br />

Gegenstand der Erfahrung bestHnmt, ist mit der möglichen<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 273<br />

Beziehbarkeit der re<strong>in</strong>en Verstandesbegriffe auf <strong>die</strong> Zeit <strong>die</strong><br />

Beziehbarkeit der Kategorien auf <strong>die</strong> Gegenstände selbst gewährleistet.<br />

So ,ergibt sich <strong>die</strong> eigentliche Frage der transzendentalen Deduktion:<br />

Wie können apriorische Begriffe des Verstandes objektive<br />

Realität haben, d.h. wie können sie zum Sachgehalt e<strong>in</strong>es<br />

Objekts apriori gehören? Dieser Schematismus muß von Kant<br />

jedenfalls so weit ause<strong>in</strong>andergelegt werden, daß er zu zeigen<br />

versucht, wie für jede Kategorie <strong>die</strong> Zeit <strong>in</strong> bestimmter H<strong>in</strong>sicht<br />

das 'Schema, d. h. <strong>die</strong> mögliche Darstellbarkeit ausmacht. Im<br />

Schematismus-Kapitel A 141, B 181 f. sagt er: »Dieser Schematlsmus<br />

unseres Verstandes, <strong>in</strong> Ansehung der Ersche<strong>in</strong>ungen und<br />

ihrer bloßen Form, ist e<strong>in</strong>e verborgene Kunst <strong>in</strong> den Tiefen der<br />

meIl'Schlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur<br />

schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen<br />

werden.«<br />

So kann man sprechen, wenn man wie Kant <strong>die</strong> Basis der<br />

Fragestellungen von vornhere<strong>in</strong> auf <strong>die</strong> Psychologie legt, was<br />

<strong>die</strong> Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft nicht weiter diskutiert. Sieht man<br />

aber das Problem e<strong>in</strong>er Grundlegung der Metaphysik wesentlich<br />

radikaler, dann ist <strong>die</strong> Frage, ob man <strong>die</strong> transzendentale<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft lediglich als verborgene Kunst der Seele ansprechen<br />

darf oder ob sie nicht gerade das ist, mit Hilfe dessen<br />

wir den Begriff e<strong>in</strong>er Seele gew<strong>in</strong>nen. Im e<strong>in</strong>zelnen kann ich<br />

auf <strong>die</strong>ses Problem nicht e<strong>in</strong>gehen.<br />

4. Stufe. Unmittelbar an <strong>die</strong>se grundsätzliche Erörterung der<br />

lVIöglichkeit der synthetischen Erkenntnis apriori und ihres<br />

Grundes schließt Kant e<strong>in</strong>e systematische Darstellung <strong>die</strong>ser<br />

synthetischen Erkenntnisse apriori, d.h. der synthetischen<br />

Grundsätze des Verstandes an. Er gliedert <strong>die</strong>se Grundsätze am<br />

Leitfaden der Kategorientafel <strong>in</strong> 4 Klassen:<br />

1. Axiome der Anschauung<br />

2. Antizipationen der Wahrnehmung<br />

3. Analogien der Erfahrung<br />

4. Postulate des empirischen Denkens überhaupt.


274 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Was für uns an <strong>die</strong>ser Vierteilung wichtig ist, ist <strong>die</strong> Scheidung<br />

<strong>die</strong>ser Grundsätze <strong>in</strong> mathematische und dynamische<br />

Grundsätze. Die mathematischen Grundsätze gehen auf <strong>die</strong> Anschauung,<br />

<strong>die</strong> dynamischen auf das Dase<strong>in</strong>. Kant bemerkt<br />

ausdrücklich: »Man wird aber wohl bemerken: daß ich hier<br />

ebensowenig <strong>die</strong> Grundsätze der Mathematik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Falle,<br />

als <strong>die</strong> Grundsätze der allgeme<strong>in</strong>en (physischen) Dynamik im<br />

andern, sondern nur <strong>die</strong> des re<strong>in</strong>en Verstandes im Verhältnis auf<br />

den <strong>in</strong>neren S<strong>in</strong>n (ohne Unterschied der dar<strong>in</strong> gegebenen Vorstellungen)<br />

vor Augen habe, dadurch denn jene <strong>in</strong>sgesamt ihre<br />

Möglichkeit bekommen. Ich benenne sie also mehr <strong>in</strong> Betracht<br />

der Anwendung, als um ihres Inhalts willen.« (A 162, B 201 f.)<br />

Er will sagen: Die Tafel der Grundsätze umgreift <strong>die</strong> ontologischen<br />

Erkenntnisse, d.h. <strong>die</strong> Erkenntnisse, <strong>die</strong> überhaupt bestimmen,<br />

was zum ontologischen Wesen der Natur gehört. Nun<br />

wissen wir aber, daß e<strong>in</strong> Seiendes, z.B. <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>mal durch<br />

das Wesen = Wasse<strong>in</strong> = essentia bestimmt ist und zum andern<br />

durch <strong>die</strong> bestimmte Art des Wiese<strong>in</strong>s = existentia, <strong>in</strong> der kantischen<br />

Term<strong>in</strong>ologie durch das Dase<strong>in</strong>. Entsprechend <strong>die</strong>ser<br />

Doppelung <strong>in</strong> essentia und existentia muß auch das System der<br />

ontologischen Grundsätze <strong>in</strong> mathematische und dynamische<br />

Grundsätze gegliedert werden.<br />

Diese Ausdrücke mathematisch und dynamisch bedeuten ontologisch<br />

soviel wie essential und existential im S<strong>in</strong>ne von<br />

Leibniz. Ich erwähne <strong>die</strong>se Teilung deshalb, weil aus ihr erneut<br />

heraustritt, <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Tafel der Grundsätze nichts anderes ist<br />

als das Ganze der ontologischen Erkenntnisse der Natur oder <strong>die</strong><br />

Möglichkeit e<strong>in</strong>er Natur überhaupt. Wie aber <strong>die</strong> Natur von<br />

Kant gedacht ist <strong>in</strong> Korrelation der Erkenntnis, <strong>die</strong> er Erfahrung<br />

nennt, so ist <strong>die</strong> Herausarbeitung der Erkenntnis e<strong>in</strong>er Natur<br />

überhaupt zugleich <strong>die</strong> Umgrenzung des Wesens der Erfahrung.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Herausstellung der Möglichkeit der Erfahrung und<br />

der Möglichkeit der Natur ist zunächst der positive Teil der<br />

Kritik als Grundlegung der metaphysica generalis abgeschlossen.<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 275<br />

Gleichwohl stellt <strong>die</strong>ses Phänomen der Möglichkeit der Erfahrung<br />

<strong>in</strong> zwei Richtungen e<strong>in</strong> eigentümliches neues Problem,<br />

das wir nicht so sehr negativ wie Kant, sondern positiv formulieren.<br />

Zur Erfahrung, d. h. zur endlichen Erkenntnis gehört,<br />

daß das, was erkannt wird, uns affiziert. Zum Wesen der Erfahrung<br />

im S<strong>in</strong>ne der Affektion und Rezeptivität gehört <strong>die</strong><br />

Zufälligkeit. Jede Erfahrung ist zufällig, d. h. angewiesen auf<br />

das E<strong>in</strong>treten des bestimmten Faktums, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Lage von bestimmten D<strong>in</strong>gen affiziert werden. Dar<strong>in</strong><br />

ist beschlossen, daß <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit der Erfahrung immer vom jeweiligen<br />

empirischen Bestande dessen abhängig ist, was gerade<br />

zugänglich geworden ist. Diese empirische E<strong>in</strong>heit der Erfahrung<br />

jedoch ist selbst als E<strong>in</strong>heit nur denkbar, wenn sie bestimmt<br />

ist durch e<strong>in</strong>e höhere. Gerade <strong>die</strong> Möglichkeit der<br />

Erfahrung als E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>er bestimmten Erkenntnis schließt <strong>in</strong><br />

sich'<strong>die</strong> Frage, mit Bezug worauf <strong>die</strong> Möglichkeit der Erfahrung<br />

etwas Zufälliges, E<strong>in</strong>geschränktes sei, umgekehrt, welches <strong>die</strong><br />

höhere E<strong>in</strong>heit ist, <strong>in</strong>nerhalb deren jede empirische E<strong>in</strong>heit der<br />

Erfahrung sich bewegt.<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>e apriorisch-ontische Erkenntnis, sondern nur<br />

ontologische, und <strong>die</strong>se unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen, bzw.<br />

<strong>die</strong> rechtmäßige und echte, apriori auf das Seiende bezogene<br />

Erkenntnis ist <strong>die</strong> ontologische. Aber ist <strong>die</strong>se schon völlig bestimmt?<br />

Transzendentale Wahrheit und transzendentaler<br />

Sche<strong>in</strong> (Unwahrheit): Etwas, was sich ausgibt als ontisch-apriorische<br />

Erkenntnis und ke<strong>in</strong>e ist.<br />

c) Exkurs: Kants Dialektik<br />

Um den Sitz des Sche<strong>in</strong>s und den transzendentalen Sche<strong>in</strong> überhaupt<br />

erörtern zu können, bedarf es nicht nur der vorausgegangenen<br />

Analytik, sondern im Sche<strong>in</strong> selbst liegt etwas Positives,<br />

das sich ausgibt als ... und was nicht identisch ist mit den<br />

synthetischen Erkenntnissen apriori, sondern <strong>die</strong>sen selbst als<br />

Bed<strong>in</strong>gungen zugrunde liegt.


276 Weltanschauung und Weltbegrif.!<br />

Die eigentliche zentrale ontologische Problematik reicht bis<br />

<strong>in</strong>s transzendentale Ideal, d.h. entspr<strong>in</strong>gt von daher, d.h. aus<br />

dem Wesen der endlichen menschlichen Vernunft », ... <strong>die</strong>ses<br />

göttlichen Menschen <strong>in</strong> uns ... « (A 569, B 597).<br />

Es gilt, <strong>die</strong> ganze Basis für <strong>die</strong> ganze Metaphysik ans Licht zu<br />

br<strong>in</strong>gen und <strong>die</strong>se <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>neren Ganzheit und Bewegtheit zu<br />

sehen. Darauf ist <strong>die</strong> Fundamentalontologie angelegt, aber zunächst<br />

nur mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Analytik (nicht auf Erkennt~<br />

nistheorie) exponiert. Das Ergebnis der »Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft« bis zur transzendentalen Dialektik ist: Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />

allgeme<strong>in</strong>e Erkenntnis des Seienden apriori, ke<strong>in</strong>e apriorischontische,<br />

sondern nur e<strong>in</strong>e apriorische Erkenntnis als ontologische.<br />

Das Wesen von »generalis« <strong>in</strong> der Metaphysica generalis<br />

und damit der Metaphysik selbst wird ursprünglicher bestimmt.<br />

Damit bestimmt sich zum ersten Mal der Begriff der ontologischen<br />

Erkenntnis, wenngleich gesagt werden muß, daß Kant das<br />

Problem nicht <strong>in</strong> der ganzen Weite des Se<strong>in</strong>sverständnisses angesetzt<br />

hat. In jedem Fall ist jetzt <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er grundsätzlichen<br />

Auswirkung auf <strong>die</strong> ganze Idee der Metaphysik<br />

gegeben.<br />

Kant hat jetzt für se<strong>in</strong>e Zwecke e<strong>in</strong>en Leitfaden <strong>in</strong> der Hand,<br />

daran er ermessen kann, welche Art von Erkenntnis <strong>die</strong>jenige<br />

ist, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Metaphysica specialis beansprucht wird, nämlich<br />

e<strong>in</strong>e apriorisch-ontische über Seele, Welt, Gott. Alle<strong>in</strong>, es handelt<br />

sich nicht darum, <strong>die</strong>se nun e<strong>in</strong>fach als unmöglich zurückzuweisen,<br />

sondern ebenso sehr, positiv das Rechtmäßige<br />

<strong>die</strong>ser Erkenntnisabsicht aufzuzeigen im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Natur<br />

des Menschen, zu der <strong>die</strong>ses Fragen gehört. Es gilt nicht nur<br />

den Sche<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser apriorisch-ontischen Erkenntnis zu erkennen,<br />

sondern wir müssen uns klar werden: Wo Sche<strong>in</strong> ist -<br />

Sche<strong>in</strong> als notwendige natürliche Illusion -, da ist auch Wahrheit.<br />

So wichtig nun für Kant <strong>die</strong> negative Zurückweisung der<br />

Anmaßung der besonderen Erkenntnis bleibt, so müssen sich<br />

ihm doch zugleich positive E<strong>in</strong>sichten ergeben, <strong>die</strong> offenbar mit<br />

§ J4. Kants Weltbegri./J 277<br />

dem zuvor behandelten Problem der metaphysischen Erkenntnis<br />

<strong>in</strong> Zusammenhang stehen.<br />

Ja, noch mehr: Es ergibt sich, daß das, was Kant auf dem<br />

Grunde der transzendentalen Analytik sche<strong>in</strong>bar nur als kritische<br />

Anwendung erörtert, se<strong>in</strong>erseits erst <strong>die</strong> wahren Fundamente<br />

eröffnet für das, wovon er ausgegangen war. So zeigt sich<br />

auch bei Kant, wie alle philosophische Grundlegung nicht e<strong>in</strong>fach<br />

geradl<strong>in</strong>ig auf e<strong>in</strong> irgendwo vorhandenes Fundament<br />

zusteuert und sich dort ansiedelt, sondern sich gerade ständig<br />

den Boden unter den Füßen weggräbt und immer mehr am<br />

Rande e<strong>in</strong>es Abgrunds sich bewegt.<br />

Was nun aber das zentrale <strong>in</strong>nere Verständnis der Problematik<br />

der Grundlegung der Metaphysica specialis, und vor allem ihres<br />

Zusammenhangs mit der Metaphysica generalis, erschwert, ja<br />

geradezu verbaut, ist <strong>die</strong> Architektonik, <strong>die</strong> Kant se<strong>in</strong>em Werk<br />

gegeben hat und <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>eswegs nur Sache e<strong>in</strong>er äußerlichen<br />

Disposition ist. Wir haben bereits h<strong>in</strong>gewiesen auf den Rahmenball:<br />

transzendentale Aesthetik, transzendentale Logik und<br />

darauf, daß der Schnitt zwischen Metaphysica generalis und<br />

specialis <strong>in</strong> der Logik selbst liegt, daß mith<strong>in</strong> <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>en ganz<br />

besonderen Vorrang im Gesamtproblem der »Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft« hat.<br />

Für <strong>die</strong>sen Vorrang der Logik <strong>in</strong> der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

- und auch sonst bei Kant - seien unter e<strong>in</strong>er Reihe von<br />

anderen Gründen vor allem zwei genannt:<br />

1. Logik ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>ste Erkenntnis des Denkens, der<br />

ratio, der Vernunft; sie verschafft demnach den weitesten E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Struktur der Vernunft.<br />

2. Logik gilt, als <strong>die</strong>se Erkenntnis der ratio, selbst als <strong>die</strong><br />

ratIOnalste und damit strengste Erkenntnis; sie ist demgemäß<br />

dIe sicherste allgeme<strong>in</strong>ste Erkenntnis der Vernunft.<br />

Aus <strong>die</strong>sen zwei Gründen, <strong>die</strong> fast zu e<strong>in</strong>er SelbstverständlIchkeit<br />

geworden s<strong>in</strong>d, legt sie sich ohne weiteres als der<br />

geeignete Leitfaden nahe für e<strong>in</strong>e Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft.<br />

Dazu: Erkennen ist Urteilen, denkendes Bestimmen.


278 Weltanschauung und WeltbegrijJ<br />

Denken ist das Oberste und Letzte und Eigentliche. (Damit<br />

aber ist auch ke<strong>in</strong> Auskommen: Psychologische Anthropologie,<br />

sogar E<strong>in</strong>bildungskraft).<br />

Die Ausarbeitung und Sicherung des Feldes, dar<strong>in</strong> Kant sich<br />

bewegt, wird <strong>die</strong>sen traditionellen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand gegeben.<br />

Nun ist es an sich schon e<strong>in</strong> fragwürdiges Unterfa.ngen,<br />

bei e<strong>in</strong>er Grundlegung der Metaphysik <strong>die</strong> Logik als Leitfaden<br />

zu übernehmen, auch dann, wenn sie auf Schritt und Tritt ad<br />

hoc korrigiert werden muß und wird. Diese Fragwürdigkeit<br />

steigert sich aber noch wesentlich, wenn wir bedenken, daß<br />

gerade <strong>die</strong> Logik <strong>in</strong> der Gestalt, wie sie Kant vorlag, auf völlig<br />

ungeklärten metaphysischen Voraussetzungen ruht, <strong>die</strong> mit<br />

dem geschichtlichen Ursprung <strong>die</strong>ser Logik aus der antiken<br />

Metaphysik zusammenhängen. Diese Voraussetzungen der Logik,<br />

ja ihr Begriff selbst, wurden noch nie zum Problem gemacht,<br />

und nie wurden <strong>die</strong> grundsätzlichen Probleme erwogen,<br />

daß und wie <strong>die</strong> Logik als solche <strong>in</strong> der Metaphysik gründet,<br />

d.h. immer nur zum Sche<strong>in</strong> sich gleichsam re<strong>in</strong> aus sich selbst<br />

entwickeln läßt. Über <strong>die</strong>ses Faktum darf uns nicht h<strong>in</strong>wegtäuschen,<br />

daß Kant se<strong>in</strong>er Logik e<strong>in</strong>e sehr durchsichtige schulmäßige<br />

Form gegeben hat.<br />

Mit <strong>die</strong>sem ungeklärten und unbefragten Vorrang der Logik<br />

selbst <strong>in</strong> der Problemstellung der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

hängt es nun zusammen, daß gerade der Übergang zur Grundlegung<br />

der Metaphysica specialis gewaltsam und künstlich<br />

bleiben muß, so sehr im e<strong>in</strong>zelnen dar<strong>in</strong> Wesentliches <strong>in</strong> aller<br />

Klarheit entwickelt ist. Das gilt <strong>in</strong>sbesondere von der Art der<br />

E<strong>in</strong>führung der »Idee«.<br />

Mit der Lehre von den Grundsätzen sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> eigentliche<br />

Aufgabe: wie s<strong>in</strong>d synthetische Erkenntnisse apriori möglich?<br />

gelöst. Denn es ist nicht nur das Wesen <strong>die</strong>ser überhaupt geklärt<br />

und der Grund der <strong>in</strong>neren Möglichkeit aufgehellt, sondern sie<br />

s<strong>in</strong>d selbst herausgestellt <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit als <strong>die</strong>jenigen<br />

Erkenntnisse, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit von Erfahrung ausmachen.<br />

Sie enthalten das, was zur Se<strong>in</strong>sV'erfassung des Seienden gehört,<br />

§ 34. Kants WeltbegrijJ 279<br />

das dem endlichen Wesen Mensch zugänglich ist. Kant nennt<br />

<strong>die</strong> mögliche Erkenntnis des zugänglichen Seienden Erfahrung;<br />

»Erfahrung« ist doppeldeutig: Geme<strong>in</strong>t ist das Erfahren und<br />

auch das Erfahrene selbst.<br />

d) Kants Begriff der >Idee<<br />

Unter den Vorstellungen, Anschauungen und Begriffen, <strong>die</strong> zu<br />

<strong>die</strong>ser' Möglichkeit der Erfahrung gehören, kommt der Begriff der<br />

Welt nicht vor. »Welt« ist weder re<strong>in</strong>e Anschauung, noch re<strong>in</strong>er<br />

Begriff (notio), noch Kategorie als <strong>die</strong> <strong>in</strong> der re<strong>in</strong>en Zeit darstellbare<br />

Notion. Gleichwohl ist der Begriff »Welt« ke<strong>in</strong> beliebiger,<br />

sondern e<strong>in</strong>e notwendige Vorstellung eigener Art, e<strong>in</strong>e Idee.<br />

Wir müssen daher jetzt fragen:<br />

1. Was versteht Kant unter Idee?<br />

2. Wie ergibt sich für Kant <strong>die</strong> Notwendigkeit von Ideen?<br />

3. Was bedeutet es für <strong>die</strong> Fassung des Weltbegriffs, wenn er<br />

als e<strong>in</strong>e Idee bestimmt wird?<br />

4. Welche grundsätzlichen Probleme erwachsen aus <strong>die</strong>ser<br />

Fassung des Weltphänomens?<br />

Ad 1. und 2. Erfahrung bzw. das <strong>in</strong> der Erfahrung sich gebende<br />

Seiende ist notwendig im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> durch <strong>die</strong> transzendentalen<br />

Grundsätze bestimmt. Bei all <strong>die</strong>ser Bestimmtheit ist doch alle<br />

Erfahrung ihrem Wesen nach unvollständig, weil zu ihrem Wesen<br />

gehört, daß Seiendes von sich aus begegnet, gegeben werden<br />

muß und <strong>die</strong> Möglichkeit des Gegebenwerdens von bislang nicht<br />

Erfahrenem, <strong>die</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er jeweils e<strong>in</strong>zelnen faktischen<br />

Gebung zum Wesen von Erfahrung gehört. Gegebenwerden<br />

- e<strong>in</strong> Geschehen und Vorgang zugleich, Commercium beider,<br />

faktisch. Obzwar <strong>die</strong> Erfahrung selbst als Empfangen ontologisch<br />

bestimmt ist, bleibt sie doch unvollständig und zufällig. Die E<strong>in</strong>heit<br />

des Gegebenen ist immer nur e<strong>in</strong>e empirische, aus dem, was<br />

SIch gerade gibt, sich bestimmende; <strong>die</strong>se »bed<strong>in</strong>gt« empirische<br />

E<strong>in</strong>heit kann aber eben jederzeit <strong>in</strong> und durch das Gegebene<br />

vorgestellt werden.


280 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Die Erkenntnis und Synthesis der Gegenstände möglicher Erfahrung<br />

ist »jederzeit bed<strong>in</strong>gt« (A 308, B 365). Zwar liegt im<br />

Begriff des Bed<strong>in</strong>gten analytisch der der Bed<strong>in</strong>gung. Aber damIt<br />

ist noch nicht gesagt, daß wenn das Bed<strong>in</strong>gte gegeben sei, auch<br />

<strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung - dazu »<strong>die</strong> ganze Reihe e<strong>in</strong>ander untergeordneter<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> mith<strong>in</strong> selbst unbed<strong>in</strong>gt ist« (A 307 f.,<br />

B 364) - gegeben sei.<br />

E<strong>in</strong> Satz, der so etwas aussagt, ist e<strong>in</strong> synthetischer Satz, und<br />

zwar re<strong>in</strong> aus der Idee der Vernunft als Vermögen des Schließens<br />

und der Pr<strong>in</strong>zipien. E<strong>in</strong>e solche Erkenntnis aber - synthetisch<br />

und aus re<strong>in</strong>er Vernunft - nennt Kant Pr<strong>in</strong>zip schlechth<strong>in</strong>.<br />

»Ideen« nun »enthalten e<strong>in</strong>e gewisse Vollständigkeit, zu welcher<br />

ke<strong>in</strong>e mögliche empirische Erkenntnis zulangt, und <strong>die</strong> Vernunft<br />

hat dabei nur e<strong>in</strong>e systematische E<strong>in</strong>heit im S<strong>in</strong>ne, welcher sie<br />

<strong>die</strong> empirisch mögliche E<strong>in</strong>heit zu nähern sucht, ohne sie jemals<br />

völlig zu erreichen« (A 567/8, B 595/6). »Ich verstehe aber unter<br />

e<strong>in</strong>em Systeme <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit der mannigfaltigen Erkenntnisse un<br />

ter e<strong>in</strong>er Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form e<strong>in</strong>es<br />

Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des,Mannigfaltigen<br />

sowohl als <strong>die</strong> Stelle der Teile untere<strong>in</strong>ander apriori bestimmt<br />

wird.« (A 832, B 860)<br />

Die Idee stellt e<strong>in</strong> Ganzes, <strong>die</strong> Ganzheit e<strong>in</strong>es Ganzen vor, das<br />

als solches nie empirisch zu durchmessen und zu gew<strong>in</strong>nen ist. Die<br />

Idee überspr<strong>in</strong>gt also im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> jedes mögliche empirische<br />

Ganze; <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Idee vorgestellte Ganzheit (Totalität) ist solche<br />

nicht <strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>er bestimmten H<strong>in</strong>sicht, sondern <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht,<br />

<strong>in</strong> aller Absicht, d.h. absolut. »Absolut« gebraucht Kant nach ausdrücklicher<br />

Erläuterung des Begriffs (A 324 f., B 380 f.) <strong>in</strong> der<br />

Bedeutung von »<strong>in</strong> jeder Beziehung«, »schlechth<strong>in</strong>«. Idee ist <strong>die</strong><br />

vorgängige Vorstellung e<strong>in</strong>er absoluten Totalität. (Vgl. <strong>in</strong> Kants<br />

Dissertation das von »Welt« Gesagte; siehe oben S. 251 f.)<br />

Nun ist entscheidend zu verstehen, worauf sich e<strong>in</strong>e solche<br />

Idee bezieht. »Das absolute Ganze aller Ersche<strong>in</strong>ungen ist nur<br />

e<strong>in</strong>e Idee, denn da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen<br />

können, so bleibt es e<strong>in</strong> Problem ohne alle Auflösung« CA 328,<br />

§ J4. Kants Weltbegrijf 281<br />

B 384). Die <strong>in</strong> der Vorstellung e<strong>in</strong>er absoluten Totalität liegende<br />

E<strong>in</strong>heit bezieht sich also nie auf das jeweils anschaulich Gegebene<br />

als solches; freilich steht <strong>die</strong>ses immer schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit<br />

der reweiligen Erfahrung, und <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>heit ist bestimmt durch<br />

<strong>die</strong> Grundsätze des Verstandes. Wenn sonach <strong>die</strong> Idee e<strong>in</strong>e noch<br />

höhere, aber anschaulich nicht darstellbare E<strong>in</strong>heit br<strong>in</strong>gt, so<br />

kann sich <strong>die</strong>se nur auf <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit des Verstandes, d.h. der Synthesis<br />

desselben beziehen. Verstand ist das Vermögen des Ich<br />

verb<strong>in</strong>de; ich denke == ich verb<strong>in</strong>de == ich urteile.<br />

Die Idee hat demnach <strong>die</strong> Funktion, dem Verstand »<strong>die</strong> Richtung<br />

auf e<strong>in</strong>e gewisse E<strong>in</strong>heit vorzuschreiben, von der der<br />

Verstand ke<strong>in</strong>en Begriff hat, und <strong>die</strong> darauf h<strong>in</strong>ausgeht, alle Verstandeshandlungen,<br />

<strong>in</strong> Ansehung e<strong>in</strong>es jeden Gegenstandes, <strong>in</strong><br />

pm absolutes Ganzes zusammenzufassen« CA 326/7, B 383). So<br />

wie,'der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe<br />

und dadurch jenes <strong>in</strong> Verknüpfung br<strong>in</strong>gt, so br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong><br />

Idee <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit der Regeln des Verstandes und damit<br />

<strong>die</strong>sen »mit sich selbst <strong>in</strong> durchgängigen Zusammenhang«<br />

(A 305, B 362). Ideen s<strong>in</strong>d daher nie unmittelbar auf Anschauung<br />

bezogen, sondern immer auf den Verstand und das, was er als<br />

Vermögen der Begriffe, der Synthesis e<strong>in</strong>igt, auf Verstandese<strong>in</strong>heit<br />

CA 307, B 363). Das ist wesentlich für <strong>die</strong> weitere Bestimmung,<br />

<strong>die</strong> Kant der Idee gibt.<br />

Diese Ideen aber - als Vorstellungen e<strong>in</strong>er absoluten Totalität­<br />

»s<strong>in</strong>d nicht willkürlich erdichtet, sondern durch <strong>die</strong> Natur der<br />

Vernunft selbst aufgegeben, und beziehen sich daher notwendigerweise<br />

auf den ganzen Verstandesgebrauch« CA 327, B 384). Sie<br />

smd CA 329, B 385): »... ke<strong>in</strong>esweges für überflüssig und nichtig<br />

anzusehen ...« Die Ideen s<strong>in</strong>d notwendige Begriffe, und zwar<br />

der Vernunft. Sie gehören zur Natur derselben. (Vgl. S. 284, Stufenleiter.)<br />

Welches ist das Wesen der Vernunft? Kant sagt: »Wir erkläretpn,<br />

im ersteren Teile unserer transzendentalen Logik, den Verstand<br />

durch das Vermögen der Regeln; hier unterschieden wir <strong>die</strong><br />

Vernunft von demselben dadurch, daß wir sie das Vermögen der


282 Weltanschauung und Weltbegrif.f<br />

Pr<strong>in</strong>zipien nennen wollen« (A 299, B ~56). Die Bestimmung Von<br />

Verstand und Vernunft <strong>in</strong> der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« ist<br />

schwankend. Und was heißt »Pr<strong>in</strong>zip«? Der Ausdruck ist nach<br />

Kant »zweideutig« (A ~OO; B ib.). »E<strong>in</strong> jeder allgeme<strong>in</strong>er Satz, er<br />

mag auch sogar aus Erfahrung (durch Induktion) hergenommen<br />

se<strong>in</strong>, kann zum Obersat7. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vernunftschlusse <strong>die</strong>nen; er ist<br />

darum aber nicht selbst e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>cipium« (A ~OO, B ~56). Vergleiche:<br />

Alle Menschen s<strong>in</strong>d sterblich; A. ist e<strong>in</strong> Mensch; A. ist<br />

sterblich. Jeder Vernunftschluß ist »e<strong>in</strong>e Form der Ableitung<br />

e<strong>in</strong>er Erkenntnis aus e<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>cip«; (A ~OO, B ~57). Der allgeme<strong>in</strong>e<br />

Satz fungiert als Pr<strong>in</strong>zip, woraus geschlossen wird, d. h. <strong>in</strong><br />

dem Obersatz des Schlusses, Pr<strong>in</strong>cip, ist festgelegt bzw. gesucht<br />

»<strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung ihres Urteils (des Schlußsatzes) ... «<br />

(A ~07, B ~64).<br />

Die Absicht der Vernunft <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Schlüssen geht also dah<strong>in</strong>:<br />

» ... zu dem bed<strong>in</strong>gten Erkenntnisse des Verstandes "das Unbed<strong>in</strong>gte<br />

zu f<strong>in</strong>den, womit <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit desselben vollendet wird«<br />

(ebd.). Der Schluß als Weise des Denkens wird so als e<strong>in</strong>e formale<br />

Grundtendenz zum Unbed<strong>in</strong>gten genommen. Also nicht jeder<br />

allgeme<strong>in</strong>e Satz ist schlechth<strong>in</strong> und eigentlich Pr<strong>in</strong>zip. Selbst <strong>die</strong><br />

Grundsätze des re<strong>in</strong>en Verstandes s<strong>in</strong>d nicht eigentlich Pr<strong>in</strong>zipien,<br />

sondern fungieren nur als solche, z.B. der Satz der Kausalität:<br />

»Daß alles, was geschieht, e<strong>in</strong>e Ursache habe, kann gar nicht<br />

aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen<br />

werden« (A ~Ol, B ~57). Diese Sätze, obzwar apriori, s<strong>in</strong>d immer<br />

auf re<strong>in</strong>e Anschauung bezogen. »Schlechth<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zipien« s<strong>in</strong>d<br />

»synthetische Erkenntnisse aus Begriffen« (A ~Ol, B 358). Diese<br />

Begriffe müssen also apriori das Unbed<strong>in</strong>gte enthalten, dasjenige,<br />

<strong>in</strong> dem sich <strong>die</strong> je bed<strong>in</strong>gte E<strong>in</strong>heit der Verstandeserkenntnis<br />

schlechth<strong>in</strong> vollendet; <strong>die</strong>se Begriffe der absoluten Totalität aber<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Ideen.<br />

So ist denn <strong>die</strong> Idee als re<strong>in</strong>er Vernunftbegriff »ke<strong>in</strong> anderer<br />

als der von der Totalität der Bed<strong>in</strong>gungen zu e<strong>in</strong>em gegebenen<br />

Bed<strong>in</strong>gten. Da nun das Unbed<strong>in</strong>gte alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Totalität der Bed<strong>in</strong>gungen<br />

möglich macht, und: umgekehrt <strong>die</strong> Totalität der<br />

§ J4. Kants Weltbegrif.f 28~<br />

Bed<strong>in</strong>gungen jederzeit selbst unbed<strong>in</strong>gt ist, so kann e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>er<br />

Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbed<strong>in</strong>gten,<br />

sofern er e<strong>in</strong>en Grund der Synthesis des Bed<strong>in</strong>gten enthält, erklärt<br />

werden« (A 322, B 379). »Man sieht leicht, daß <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e<br />

Vernunft nichts anderes zur Absicht habe, als <strong>die</strong> absolute Totalität<br />

der Synthesis auf der Seite der Bed<strong>in</strong>gungen ..., und daß sie<br />

mit der absoluten Vollständigkeit von Seiten des Bed<strong>in</strong>gten nichts<br />

zu schaffen habe. Denn nur alle<strong>in</strong> jener bedarf sie, um <strong>die</strong> ganze<br />

Reihe der Bed<strong>in</strong>gungen vorauszusetzen und sie dadurch dem<br />

Verstande apriori zu geben« (A ~~6, B ~93). »Wenn sie [<strong>die</strong> Vernunftbegriffe,<br />

<strong>die</strong> Ideen] das Unbed<strong>in</strong>gte enthalten, so betreffen<br />

sie etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber<br />

niemals e<strong>in</strong> Gegenstand der Erfahrung ist: etwas, worauf <strong>die</strong><br />

Vernunft <strong>in</strong> ihren Schlüssen aus der Erfahrung führt, und wonach<br />

sie den Grad ihres empirischen Gebrauchs schätzet und abmisset,<br />

niemals aber e<strong>in</strong> Glied der empirischen Synthesis ausmacht«<br />

(A 311, B ~67/8).<br />

Kant nennt daher <strong>die</strong> Ideen, weil sie den Vernunftschlüssen<br />

als solchen entsprechende Begriffe s<strong>in</strong>d, »geschlossene Begriffe«<br />

im Unterschied von den re<strong>in</strong>en Verstandesbegriffen, <strong>die</strong> »bloß<br />

reflektierte« s<strong>in</strong>d; sie enthalten »nichts weiter, als <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit<br />

der Reflexion über <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen, <strong>in</strong>sofern sie notwendig zu<br />

e<strong>in</strong>em möglichen empirischen Bewußtse<strong>in</strong> gehören sollen«<br />

(A 310, B 367). »Ideen« s<strong>in</strong>d »geschlossene Begriffe, deren Gegenstand<br />

empirisch gar nicht gegeben werden kann ...« CA 3~3,<br />

B ~90). Ideen - noch ursprünglicher und re<strong>in</strong>er entspr<strong>in</strong>gend aus<br />

Vernunft - dokumentieren selbst <strong>die</strong> Vernunft ursprünglicher.<br />

Wir fassen <strong>die</strong>se allgeme<strong>in</strong>e Charakteristik des kantischen Begriffes<br />

der Idee <strong>in</strong> fünf Punkten zusammen.<br />

1. Idee ist e<strong>in</strong>e »Vorstellungsart« (A ~19f., B ~76f.). Sie untersteht<br />

also der allgeme<strong>in</strong>en Gattung» Vorstellung überhaupt«<br />

(repraesentatio). Der Artcharakter der Idee als Vorstellungsart,<br />

<strong>die</strong> spezifische Weise des Vorstellens CtöEIv), wird aus folgender<br />

"Stufenleiter« sichtbar, <strong>die</strong> Kant a.a.O. kurz darstellt.


284 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Vorstellung überhaupt (repraesentatio)<br />

Vorstellung mit Bewußtse<strong>in</strong>, »perceptio«,<br />

(»Wahrnehmung«); Wissen um das Vorstellen, und<br />

d. h. das Vorgestellte als solches; Vorstellung J<br />

eigens gehabt ~ als sich beziehend auf. .. ,<br />

Empf<strong>in</strong>dung (sensatio)<br />

bezieht sich lediglich auf<br />

das Subjekt als Modifikation<br />

se<strong>in</strong>es Zustandes (stellt Subjektzustand<br />

vor), »<strong>in</strong>nere<br />

Wahrnehmung« (B 68)<br />

Anschauung (<strong>in</strong>tuitus)<br />

repraesentatio s<strong>in</strong>gularis,<br />

unmittelbar und e<strong>in</strong>zeln<br />

Erkenntnis (cognitio)<br />

objektive Perception,<br />

stellt Gegenstände vor<br />

Begriff (conceptus)<br />

repraes. per not. comm.,<br />

mittelbar und allgeme<strong>in</strong><br />

empirische Begriffe re<strong>in</strong>e Begriffe<br />

vermittelst Vergleichung apriori, auch dem Inhalt<br />

/\nach·im Ve~tand<br />

Ursprung im re<strong>in</strong>en<br />

Bild der S<strong>in</strong>nlichkeit<br />

(Kategorie)<br />

Ursprung lediglich<br />

im Verstande:<br />

Notio<br />

\<br />

Idee<br />

»Begriff aus Notionen, der <strong>die</strong><br />

Möglichkeit der Erfahrung<br />

übersteigt ...« (A 320jB 377),<br />

Vernunftbegriff<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 285<br />

2. Idee im H<strong>in</strong>blick auf das <strong>in</strong> ihr als Vorstellen Vorgestellte:<br />

schlechth<strong>in</strong>nige Ganzheit, und zwar der Synthesis des Verstandes,<br />

synthetische Begriffe.<br />

3. Als Vernunft begriff ist sie e<strong>in</strong> »geschlossener«, apriori<br />

zum Vernunftschluß als solchem gehöriger Begriff, der als synthetischer<br />

<strong>die</strong> Totalität der Bed<strong>in</strong>gungen der Synthesis, d. h.<br />

eben das Unbed<strong>in</strong>gte gibt.<br />

4. Dieser synthetische Vernunftbegriff ist als Pr<strong>in</strong>zip<br />

schlechth<strong>in</strong> apriori und daher richtungvorschreibend und<br />

gleichwohl grundsätzlich anschaulich unerfüllbar.<br />

5: Die Realität <strong>die</strong>ses Begriffs ist ke<strong>in</strong>e objektive, d.h. ke<strong>in</strong>e<br />

empirische, sondern e<strong>in</strong>e transzendentale, <strong>die</strong> apriorische Bed<strong>in</strong>gung<br />

der Möglichkeit der apriorischen Gegenstandsbezogenheit<br />

(Synthesis) betreffender Begriff.'° »Realität [SachheitJ<br />

ist im re<strong>in</strong>en Verstandes begriffe das, was e<strong>in</strong>er Empf<strong>in</strong>dung<br />

überhaupt korrespon<strong>die</strong>rt; dasjenige also, dessen Begriff an sich<br />

selbst e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> (<strong>in</strong> der Zeit) anzeigt. Negation, dessen Begriff e<strong>in</strong><br />

Nichtse<strong>in</strong> (<strong>in</strong> der Zeit) vorstellt« (A 143, B 182); »transzendentale<br />

Materie«.<br />

Kants Begriff der Idee besagt also: das apriorische, Richtung<br />

vorschreibende, anschaulich nicht erfüllbare, der Verstandessynthesis<br />

als solcher E<strong>in</strong>heit gebende, begriffliche Vorstellen der<br />

absoluten Totalität als e<strong>in</strong>es Grundes der Synthesis des Bed<strong>in</strong>gten,'<br />

d. h. begriffliches, transzendental reales Vorstellen 11 des<br />

Un -'bed<strong>in</strong>gten.<br />

10 Realitas = determ<strong>in</strong>atio (praedicativa) positiva vera. Realse<strong>in</strong> nach Kant<br />

(A 583, B 611 Anmerkung) heißt, etwas zum Objekt machen, etwas, worunter<br />

etwas Aussagbares gegeben. Davon ist zu scheiden: »hypostasieren«, »persomfizieren«.<br />

Realität: empirische (objektive und subjektive) Realität (A 37,<br />

B 53), »<strong>in</strong>nere Erfahrung«; Realität: absolute, schlechth<strong>in</strong> den D<strong>in</strong>gen zukommend<br />

als Bed<strong>in</strong>gung bzw. Eigenschaft; Realität: transzendentale (A 36, B 53):<br />

»bloß subjektive«.<br />

11 Vorstellen: Vergegenwärtigung (Darstellen - im neueren weiten S<strong>in</strong>ne<br />

Nwas durch e<strong>in</strong> anderes) des Zusammengesetzten, Mannigfaltigen im E<strong>in</strong>fachen,<br />

E<strong>in</strong>en; vgl. Leibniz: V. Brief an Clarke n. 85. Pr<strong>in</strong>cipes de la nature et de la<br />

grace, n. 2. Konzentrierendes Darstellen ist <strong>die</strong> Grundkraft des Vorstellens.<br />

Emheit e<strong>in</strong>fach bezüglich der Objekte a) unmittelbar, b) mittelbar - und


286 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Ad 3. (Vgl. oben S. 279). Was bedeutet es für <strong>die</strong> Fassung des<br />

Weltbegriffes, wenn er als e<strong>in</strong>e Idee bestimmt wird? Diese Frage<br />

erfordert zuvor e<strong>in</strong>e kurze Erörterung darüber, <strong>in</strong>wiefern sich<br />

für Kant überhaupt e<strong>in</strong>e Mannigfaltigkeit von Ideen ergibt und<br />

<strong>in</strong>wiefern »Welt« e<strong>in</strong>e unter <strong>die</strong>sen ist.<br />

Die Ideen s<strong>in</strong>d als re<strong>in</strong>e geschlossene Begriffe ihrem allgeme<strong>in</strong>sten<br />

Wesen nach Vorstellungen, und zwar cognitiones.<br />

Vorstellungen als solche haben »Beziehungen« mit Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

»sie beziehen sich auf ... «; das Worauf der Beziehung stellt sich<br />

<strong>in</strong> Vorstellungen selbst dar. Kant sagt dementsprechend (A 333/<br />

4, B 390/1): »Nun ist das Allgeme<strong>in</strong>e aller Beziehung, <strong>die</strong> unsere<br />

Vorstellungen haben können, 1. <strong>die</strong> Beziehung aufs Subjekt, 2.<br />

<strong>die</strong> Beziehung auf Objekte, und zwar entweder erstlich als Ersche<strong>in</strong>ungen,<br />

oder als Gegenstände des Denkens überhaupt.<br />

Wenn man <strong>die</strong>se Untere<strong>in</strong>teilung mit der oberen verb<strong>in</strong>det, so<br />

ist alles Verhältnis der Vorstellungen, davon wir uns entweder<br />

e<strong>in</strong>en Begriff, oder Idee machen können, dreifach: 1. das Verhältnis<br />

zum Subjekt, 2. zum Mannigfaltigen des Objekts <strong>in</strong> der<br />

Ersche<strong>in</strong>ung, 3. zu allen D<strong>in</strong>gen überhaupt.« ,<br />

Das Allgeme<strong>in</strong>e aller Beziehung, d. h. das, worauf sie sich<br />

überhaupt beziehen kann, ist dreifach: aber <strong>die</strong> H<strong>in</strong>sichten <strong>die</strong>ser<br />

Dreiheit s<strong>in</strong>d schon verschieden; a) Subjekt oder Objekt:<br />

H<strong>in</strong>sicht nach dem Was, Worauf; b) Objekt qua Ersche<strong>in</strong>ung<br />

oder qua D<strong>in</strong>g an sich: H<strong>in</strong>sicht nach der Möglichkeit des endlichen<br />

bzw. unendlichen Vorstellens, das produktive schlechth<strong>in</strong><br />

und das »reproduktive«. Drei Gebiete möglicher Synthesis, <strong>die</strong><br />

Gebiete möglicher Totalität. Entsprechend ist das begriffliche,<br />

dabei ist <strong>die</strong>ser Begriff, kaum ideiert, gleich objektiv genommen, gleichsam<br />

objekuv: d.h. unbestimmt. Die ontologische [ ... )* <strong>die</strong>ses Konzentrierendsems<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit Darstellendse<strong>in</strong>s ~ ohne <strong>die</strong> ganz eigene Problematik der Transzendenz<br />

zu sehen.<br />

Perceptw ~ eIne repraesentatlO mit Bewußtse<strong>in</strong>, eIn konzentrierendes Darstellen:<br />

für sich, e<strong>in</strong> solches, das SIch bezIehen bzw. auf sich konzentneren<br />

kann. Das Darstellen ist nicht nur e<strong>in</strong> gewußtes, sondern als solches »mIt<br />

BewußtseIn«, e<strong>in</strong> wissendes Gewahrwerden, »Wahrnehmung«. .<br />

* Anm. d. Hg.: Em Wort fehlt ,m Manuskript, vermutlich: Grundkraft.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 287<br />

ideierende Vorstellen dreifach und es gibt drei Klassen von<br />

Ideen. Die erste Klasse der Idee geht auf <strong>die</strong> unbed<strong>in</strong>gte E<strong>in</strong>heit<br />

des denkenden Subjekts, <strong>die</strong> zweite auf <strong>die</strong> unbed<strong>in</strong>gte E<strong>in</strong>heit<br />

der Reihe der Bed<strong>in</strong>gungen der Ersche<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> dritte auf<br />

<strong>die</strong> absolute E<strong>in</strong>heit der Bed<strong>in</strong>gung aller Gegenstände des Denkens<br />

überhaupt. Diese Dreiheit wird nur aufgezählt, nicht mehr<br />

begriffen aus Transzendenz, vgl. das Gründen.<br />

»Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie,<br />

der Inbegriff aller Ersche<strong>in</strong>ungen (<strong>die</strong> Welt) der Gegenstand<br />

der Kosmologie [ens creatum, Endlichkeit, »transzendentale<br />

Weltwissenschaft«], und das D<strong>in</strong>g, welches <strong>die</strong> oberste Bed<strong>in</strong>gung<br />

der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann,<br />

enthält (das Wesen aller Wesen), der Gegenstand der Theologie«<br />

(A 334, B 391). Mith<strong>in</strong> werden <strong>die</strong> drei Diszipl<strong>in</strong>en der<br />

Metaphysica specialis aus der re<strong>in</strong>en Vernunft selbst entwickelt.<br />

»Also gibt <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Vernunft <strong>die</strong> Idee zu e<strong>in</strong>er transzendentalen<br />

Seelenlehre (psychologia rationalis), zu e<strong>in</strong>er transzendentalen<br />

Weltwissenschaft (cosmologia rationalis), endlich auch zu e<strong>in</strong>er<br />

transzendentalen Gotteserkenntnis (theologia transcendentalis)<br />

an <strong>die</strong> Hand.« (A 334/5, B 391/2) »Der bloße Entwurf sogar,<br />

..« ist gar nichts aus dem Verstand Deduzierbares, »sondern<br />

ist lediglich e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es und echtes Produkt, oder Problem<br />

der re<strong>in</strong>en Vernunft« (A 335, B 392). Re<strong>in</strong>e Vernunft == <strong>die</strong> a<br />

priori synthetische Vernunft.<br />

Damit haben <strong>die</strong> Begriffe Welt und Kosmologie ihre systematische<br />

Rechtfertigung erhalten; zugleich aber ist der traditionelle<br />

Begriff der Metaphysica specialis aufgenommen und<br />

doch verwandelt. (Vgl. »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«, Anmerkung<br />

<strong>in</strong> B zu S. 395.)<br />

Von den Ideen ist »ke<strong>in</strong>e objektive Deduktion möglich« (vgl.<br />

A 336, B 393), d.h. WesenserheIlung ergibt sich aus dem Wesen<br />

der Beziehung auf Objekte überhaupt und was dazu gehört.<br />

Ideen haben grundsätzlich unter den Objekten ke<strong>in</strong>en kongruenten<br />

Gegenstand; es gibt ke<strong>in</strong> Objel}t für sie; wider den Begriff<br />

des Objekts. Wie beide, subjektive und objektive Deduktion


288 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

zusammengehören - Transzendenz, und zwar ontisch-ontologisch.<br />

Transzendenz ist eben zugleich und als solche Ursprung<br />

der ontologischen Differenz.<br />

Wenn auch ke<strong>in</strong>e objektive Deduktion möglich ist, so »konnten<br />

wir« wohl »aber e<strong>in</strong>e subjektive Anleitung (Akad.-Ausg.:<br />

Ableitung) derselben am der Natur unserer Vernunft [zweideutig<br />

mit Bezug auf Gegenstände und auf Funktion des Schließens]<br />

[vgl. A XVII] unternehmen ... « (A 336, B 393). Deduktion<br />

der drei Klassen aus der »Funktion der Vernunft bei ihren<br />

Schlüssen«, kategorisch, hypothetisch, disjunktiv (A 321/2,<br />

B 378).<br />

e) Welt als Idee der Totalität der Ersche<strong>in</strong>ungen:<br />

Korrelat der endlichen menschlichen Erkenntnis<br />

Welt wird bei Kant e<strong>in</strong>mal gefaßt als: »Inbegriff aller Ersche<strong>in</strong>ungen«<br />

CA 419, B 447), sodann als »Inbegriff aller Gegenstände<br />

möglicher Erfahrung« (Was heißt: sich im Denken orientieren?<br />

1786), das heißt jetzt: <strong>die</strong> apriori allgeme<strong>in</strong>e Vorstellung<br />

der absoluten Totalität des Seienden, sofern es e<strong>in</strong>em endlichen<br />

Wesen zugänglich ist. »Es werden hier also Ersche<strong>in</strong>ungen als<br />

gegeben betrachtet ... « (A 416, B 443). Ersche<strong>in</strong>ungen s<strong>in</strong>d<br />

konstituiert durch ontologische Erkenntnis - Grundsätze - Synthesis.<br />

»Ich nenne alle transzendentalen Ideen, sofern sie <strong>die</strong><br />

absolute Totalität <strong>in</strong> der Synthesis der Ersche<strong>in</strong>ungen betreffen,<br />

Weltbegriffe, ... « (A 407/8, B 434).12<br />

Weltbegriff als Idee ist nicht auf e<strong>in</strong> Objekt an sich, sondern<br />

auf Ersche<strong>in</strong>ungen, d.h. auf E<strong>in</strong>heit der Bed<strong>in</strong>gungen der Synthesis<br />

bezogen, und zwar betrifft <strong>die</strong>se Idee nur »<strong>die</strong> aufstelgende<br />

Reihe der Bed<strong>in</strong>gungen« (A 409/10, B 436). Diese Ideen<br />

als Begriffe von der Welt - Kosmos. Diesen nennen wir auch<br />

12 Begnff von der Welt - emp<strong>in</strong>sche SynthesIs, EndlIchkeIt der ReceptlOn,<br />

Erfahrung. Begriffe von der Welt" Ideen, dIe dIe Weltlehre, KosmologIe, zum<br />

Thema haben - kosmologIsche Ideen. .'<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 289<br />

»Natur«. Daher bedarf es e<strong>in</strong>er Erläuterung des Unterschiedes<br />

von 'Welt und Natur CA 418/9, B 446/7). Wenn Kant auch von<br />

Welt begriffen <strong>in</strong> engerer und weiterer Bedeutung spricht, so<br />

s<strong>in</strong>d gleichwohl alle kosmologischen Ideen Weltbegriffe.<br />

Weltbegriffe s<strong>in</strong>d gegenüber Kategorien zwar transzendental,<br />

gegenüber den Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong>sgesamt transzendent, d.h. relativ,transzendent;<br />

sie s<strong>in</strong>d zugleich transzendent und transzendental;<br />

ihre Realität ist transzendental, weil sie relativ transzendent<br />

s<strong>in</strong>d zu Ersche<strong>in</strong>ungen, gleichwohl deren E<strong>in</strong>heit als<br />

Ganzheit bestimmen. Es ist e<strong>in</strong>e subjektive Realität, aber doch<br />

kosmologisch auf <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nenwelt bezogen; im Weltbegriff ist <strong>die</strong><br />

empirisch unbed<strong>in</strong>gte Totalität der Ersche<strong>in</strong>ungen (Objekte)<br />

gedacht, aber noch nicht das Unbed<strong>in</strong>gte schlechth<strong>in</strong>. Die unbed<strong>in</strong>gte<br />

Totalität qua Welt, das kommt hier zum Ausdruck, hat<br />

doch noch den wesenhaften Bezug zu Ersche<strong>in</strong>ungen, d. h. zum<br />

Seienden, sofern es e<strong>in</strong>em endlichen Wesen zugänglich ist. Obzwar<br />

Idee, ist sie doch noch durch ihren Bezug zur endlichen<br />

Erkenntnis bed<strong>in</strong>gt. Welt ist <strong>die</strong> Idee der Totalität des Seienden,<br />

sofern es dem endlichen Erkennen zugänglich ist, sie übersteigt<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen und ist doch gerade auf sie bezogen.<br />

Entscheidend für den Weltbegriff ist der wesenhafte Bezug<br />

zur Endlichkeit des nicht schöpferischen Wesens (Mensch).<br />

Hiermit kommt nur zum ontologisch geklärteren Ausdruck, was<br />

der traditionelle Weltbegriff immer schon anzeigt damit, daß er<br />

das ens creatum me<strong>in</strong>t. Aber bei Kant steht <strong>die</strong>ses gleichsam<br />

nicht an sich - <strong>die</strong> existierenden endlichen D<strong>in</strong>ge -, sondern <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Gegenständlichkeit gerade auch für Kreatürliches. Welt<br />

Ist <strong>die</strong> Totalität der Ersche<strong>in</strong>ungen, e<strong>in</strong>e noch bed<strong>in</strong>gte unbed<strong>in</strong>gte<br />

Totalität. Welt ist <strong>die</strong> Idee der Ganzheit des Geschaffenen<br />

In der möglichen Perspektive e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>erseits auch geschaffenen<br />

erkennenden Wesens. Dabei kommt zugleich zum Vorsche<strong>in</strong>,<br />

daß <strong>die</strong> Welt als Idee <strong>die</strong>ser Totalität selbst der endlichen<br />

Vernunft ihren Ursprung verdankt - e<strong>in</strong> Doppelgesicht: Totalität<br />

der Ersche<strong>in</strong>ungen, des Seienden selbst, und gleichwohl zur<br />

Natur des endlichen Subjekts gehörig. Im Commercium der


290 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

endlichen Substanzen existieren solche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> anderen s<strong>in</strong>nlich-vernünftig<br />

vorstellen, d.h. als Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der Totalität<br />

e<strong>in</strong>er Welt erkennen.<br />

Mit der Vorstellung »Welt« als Idee ist zwar e<strong>in</strong>e unbed<strong>in</strong>gte<br />

Totalität gedacht mit Rücksicht auf Ersche<strong>in</strong>ungen, aber eben<br />

mit Rücksicht auf <strong>die</strong>se, nicht <strong>die</strong> unbed<strong>in</strong>gte Totalität des Seienden,<br />

sofern es auch Gegenstand e<strong>in</strong>er unbed<strong>in</strong>gten, Erkenntnis,<br />

d. h. der schöpferischen Anschauung Gottes ist, <strong>in</strong>tuitus<br />

orig<strong>in</strong>arius. Welt: der Titel für endliche menschliche Erkenntnis,<br />

<strong>die</strong> Art des Erkennens, <strong>die</strong> Charakteristik des Erkennbaren<br />

- gegenüber ihr: Ideal.<br />

f) Idee und Ideal. Die volle Bestimmtheit<br />

des Weltbegriffs als transzendentales Ideal<br />

Wenn wir so <strong>die</strong> unbed<strong>in</strong>gte Ganzheit des Seienden an sich<br />

setzten, dann überstiegen wir nicht nur - wie im Weltbegriff -<br />

<strong>die</strong> empirische E<strong>in</strong>heit der Ersche<strong>in</strong>ungen, wir verabsolutierten<br />

nicht nur vorweg <strong>die</strong> Gegenständlichkeit der ,Ersche<strong>in</strong>ungen,<br />

sondern wir träten überhaupt aus der Ersche<strong>in</strong>ung und ihrem<br />

Bezug zum Seienden heraus und versetzten uns ganz <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Vorstellung des schöpferischen Wesens selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er schöpferischen<br />

E<strong>in</strong>heit und Ganzheit mit dem von ihm Erkannten. Mit<br />

<strong>die</strong>sem Vorstellen des eigentlich Unbed<strong>in</strong>gten aber übersteigen<br />

wir völlig <strong>die</strong> Endlichkeit, und »so werden <strong>die</strong> Ideen transzen -<br />

dent« (A 565, B 593) schlechth<strong>in</strong>; wir übersteigen nicht nur<br />

<strong>in</strong>nerhalb der endlichen Erkenntnis das <strong>in</strong> ihr Gegebene als<br />

solches, sondern treten aus der endlichen Erkenntnis überhaupt<br />

heraus, »außer aller möglichen Erfahrung«, auch nicht mehr<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen betreffend, obzwar übersteigend wie Welt. »Sobald<br />

wir aber das Unbed<strong>in</strong>gte (um das es doch eigentlich zu tun<br />

ist) <strong>in</strong> demjenigen setzen, was ganz außerhalb der S<strong>in</strong>nenwelt,<br />

mith<strong>in</strong> außer aller möglichen Erfahrung ist, so werden <strong>die</strong><br />

Ideen transzendent.« (ebd.) Wir übersteigen nicht nur Gegenstände<br />

der endlichen Erkenntnis,"'Sondern <strong>die</strong>se als solche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 291<br />

mit ihrem Bezug zu Seiendem; positiv: Wir setzen nicht nur<br />

Seiendes an sich, sondern notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s damit <strong>die</strong> Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>er absoluten Erkenntnis. Hieraus erwächst e<strong>in</strong>e Idee<br />

ganz eigener Art, <strong>die</strong> Kant das Ideal nennt und <strong>in</strong> folgender<br />

Weise gegen Kategorien und Ideen im weiteren S<strong>in</strong>ne abgrenzt.<br />

Kategorien haben objektive Realität, d.h. ihre Sachhaltigkeit<br />

läßt sich, und zwar apriori <strong>in</strong> den Objekten (der apriorischen<br />

Anschauung Zeit) <strong>in</strong> concreto darstellen, d.h. aus dem, worauf<br />

<strong>die</strong>se Begriffe ihrem vollen Gebrauch nach bezogen s<strong>in</strong>d; freilich<br />

als re<strong>in</strong>e Verstandesbegriffe genommen, isoliert-logisch,<br />

s<strong>in</strong>d'auch sie schon nicht mehr <strong>in</strong> concreto darstellbar, aber doch<br />

als apriori ersche<strong>in</strong>ungsbezogen (A 567, B 595). »Ideen aber<br />

s<strong>in</strong>d noch weiter von der objektiven Realität entfernt, als Kategorien;<br />

denn es kann ke<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung gefunden werden, an<br />

der sie sich <strong>in</strong> concreto vorstellen ließen.« (ebd.) »Aber noch<br />

weiter, als <strong>die</strong> Idee, sche<strong>in</strong>t dasjenige von der objektiven Realität<br />

entfernt zu se<strong>in</strong>, was ich das Ideal nenne, und worunter ich<br />

<strong>die</strong> Idee, nicht bloß <strong>in</strong> concreto, sondern <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuo, d. i. als e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnes, durch <strong>die</strong> Idee alle<strong>in</strong> bestimmbares, oder gar bestimmtes<br />

D<strong>in</strong>g, verstehe« (A 568, B 596). Ideal: das Vorgestellte<br />

selbst, »das D<strong>in</strong>g« absolut vor-gestellt als e<strong>in</strong>zelnes bestimmtes,<br />

dasjenige, was dem vollen Gehalt der Idee entspricht, <strong>in</strong> Gedanken<br />

als seiend, und zwar e<strong>in</strong>zelnes vorgestellt.<br />

Das Ideal ist dann a) Idee <strong>in</strong> concreto, d.h. der Vorstellungsgehalt<br />

der Idee ist als das Seiende selbst schlechth<strong>in</strong> vorgestellt,<br />

dar<strong>in</strong> sie sich darstellen mußte, b) <strong>die</strong>ses Seiende als e<strong>in</strong>zelnes,<br />

alle<strong>in</strong> durch <strong>die</strong> Idee bestimmtes D<strong>in</strong>g: das Korrelat e<strong>in</strong>er absoluten<br />

Anschauung - Ur-bild; das seiende unbed<strong>in</strong>gte Ganze,<br />

das Ganze des an sich Seienden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er seienden Ganzheit.<br />

Formaler Gegenstand des Ideals ist daher nichts anderes als<br />

der <strong>in</strong>t'uitus orig<strong>in</strong>arius als seiender <strong>in</strong> seiender E<strong>in</strong>heit mit dem<br />

m ihm Angeschauten. - Der Charakter der Idee gesprengt, ke<strong>in</strong><br />

Begriff, der immer »Allgeme<strong>in</strong>heit«; formal dargebracht als<br />

repraesentatio s<strong>in</strong>gularis.<br />

Kant bemerkt nun schon bei der Kennzeichnung des Welt-


292 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

begriffes (A 407/8, B 434/5), daß <strong>die</strong>ser auf <strong>die</strong> Synthesis der<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der Ersche<strong>in</strong>ungen geht, »da h<strong>in</strong>gegen <strong>die</strong> absoluteTotalität,<br />

<strong>in</strong> der Synthesis der Bed<strong>in</strong>gungen aller möglichen<br />

D<strong>in</strong>ge überhaupt, e<strong>in</strong> Ideal der re<strong>in</strong>en Vernunft veranlassen<br />

wird, welches von dem Welt begriffe gänzlich unterschieden ist,<br />

ob es gleich darauf <strong>in</strong> Beziehung steht« (ebd.). Wir sehen demnach,<br />

hier ist noch e<strong>in</strong>e gänzlich andere und höhere Idee als<br />

Weltbegriff und gleichwohl <strong>die</strong>ser darauf bezogen. Mith<strong>in</strong> erhalten<br />

wir erst von der Idee als Ideal <strong>die</strong> volle Bestimmtheit und<br />

den systematischen Ort des Weltbegriffes.<br />

Die Idee und gar das Ideal haben gegenüber der Kategorie<br />

immer weniger objektive Realität und wachsend mehr subjektive<br />

Realität, sofern hier überhaupt von Gradabstufungen gesprochen<br />

werden kann. Das Ideal hat re<strong>in</strong> subjektive Realität<br />

heißt aber zugleich: In ihm bekundet sich das <strong>in</strong>nerste Wesen<br />

des Subjektes der re<strong>in</strong>en endlichen menschlichen Vernunft. Bei<br />

der Kant<strong>in</strong>terpretation ist grundsätzlich zu beachten, daß <strong>die</strong>jenigen<br />

Ideen des Vorstellens der Vernunft, <strong>die</strong> mehr und mehr<br />

auf objektive Realität verzichten müssen, w


294 Weltanschauung und WeltbegrijJ<br />

Der H<strong>in</strong>weis darauf kann nicht besagen, daß auf Grund <strong>die</strong>ses<br />

Zusammenhangs das Problem von vornhere<strong>in</strong> aus der philosophischen<br />

Erörterung herausfällt, sondern im Gegenteil ist<br />

damit angezeigt, daß der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit <strong>die</strong>ser Idee<br />

zugrunde gelegt wurde e<strong>in</strong>e grundsätzliche Klärung der Grundprobleme<br />

der antiken <strong>Philosophie</strong> und der Form ihrer Auswirkung<br />

<strong>in</strong> der mittelalterlichen Scholastik. Aber das gilt nicht nur<br />

für Kant, sondern noch weit umfänglicher für den ganzen deutschen<br />

Idealismus.<br />

Im Erkennen Gottes als des Absoluten ist nicht nur das wirklich<br />

Vorhandene, Geschaffene erkannt, sondern <strong>die</strong> Allheit<br />

dessen, was möglich ist, was das Wesen der möglichen D<strong>in</strong>ge<br />

ausmacht, <strong>die</strong> Allheit der Realität, omnitudo realitatis. Diesem<br />

Inbegriff aller möglichen Prädikate ist jedes D<strong>in</strong>g untergeordnet.<br />

Daher steht jedes D<strong>in</strong>g »se<strong>in</strong>er Möglichkeit nach ... unter<br />

dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, nach welchem<br />

ihm von allen möglichen Prädikaten der D<strong>in</strong>ge, sofern sie mit<br />

ihrem Gegenteil verglichen werden, e<strong>in</strong>es zukommen muß«<br />

(A 571/2, B 599/600). In <strong>die</strong>sem Ideal ist auch Rationalismus,<br />

nur ontologischer. »Es versteht sich von selbst, daß <strong>die</strong> Vernunft<br />

zu <strong>die</strong>ser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich <strong>die</strong> notwendige<br />

durchgängige Bestimmung der D<strong>in</strong>ge vorzustellen, nicht <strong>die</strong><br />

Existenz e<strong>in</strong>es solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern<br />

nur <strong>die</strong> Idee desselben voraussetze, um von e<strong>in</strong>er unbed<strong>in</strong>gten<br />

Totalität der durchgängigen Bestimmung <strong>die</strong> bed<strong>in</strong>gte,<br />

d. i. <strong>die</strong> des E<strong>in</strong>geschränkten abzuleiten. Das Ideal ist ihr also<br />

das Urbild (prototypon) aller D<strong>in</strong>ge, welche <strong>in</strong>sgesamt, als mangelhafte<br />

Kopien (ectypa), den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher<br />

nehmen, und, <strong>in</strong>dem sie demselben mehr oder weniger nahekommen,<br />

dennoch jederzeit unendlich weit daran fehlen, es zu<br />

erreichen« (A 577/8, B 605/6). »Daher wird der bloß <strong>in</strong> der<br />

Vernunft bef<strong>in</strong>dliche Gegenstand ihres Ideals [<strong>in</strong>tuitus orig<strong>in</strong>arius,<br />

<strong>in</strong>tellectus archetypus] auch das Urwesen (ens orig<strong>in</strong>arium),<br />

sofern es ke<strong>in</strong>es über sich hat, das höchste Wesen (ens<br />

summum), und, sofern alles, als bed<strong>in</strong>gt, unter ihm steht, das<br />

§ 34. Kants WeltbegrijJ 295<br />

Weseri aller Wesen (ens entium) genannt. Alles <strong>die</strong>ses aber bedeutet<br />

nicht das objektive Verhältnis e<strong>in</strong>es wirklichen Gegenstandes<br />

zu anderen D<strong>in</strong>gen, sondern der Idee zu Begriffen, und<br />

laßt uns wegen der Existenz e<strong>in</strong>es Wesens von so ausnehmendem<br />

Vorzuge <strong>in</strong> völliger Unwissenheit« (A 578/9, B 606/7).<br />

Es ergibt sich somit, daß <strong>die</strong> Welt - als Idee der Totalität der<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen - noch e<strong>in</strong>gebaut wird <strong>in</strong> <strong>die</strong> höhere des transzendentalen<br />

Ideals. Nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er ontischen Abhängigkeit<br />

der endlichen D<strong>in</strong>ge als geschaffener vom existierenden<br />

Schöpfer, sondern <strong>in</strong> der Weise, daß <strong>die</strong> Totalität der Bed<strong>in</strong>gungen<br />

der möglichen Ganzheit der Erfahrung sich als e<strong>in</strong>e mögliche<br />

E<strong>in</strong>schränkung der absoluten Totalität der möglichen<br />

D<strong>in</strong>ge und ihres Wesens überhaupt erweist. Sofern gefragt wird<br />

ontologisch nach der Möglichkeit des Seienden qua Natur, zugleich<br />

für endliche Wesen, muß <strong>die</strong>se Möglichkeitsfrage, als<br />

bezogen auf <strong>die</strong> Zufälligkeit der Erfahrung als solcher, e<strong>in</strong>e<br />

weitergreifende hervorlocken nach dem absoluten Umkreis des<br />

:v1öglichen, <strong>in</strong>nerhalb dessen das Faktum der Erfahrung als solcher<br />

möglich ist. »Denn das Ideal, wovon wir reden, ist auf e<strong>in</strong>er<br />

natürlichen und nicht bloß willkürlichen Idee gegründet«<br />

(A 581, B 609). »Nach e<strong>in</strong>er natürlichen Illusion sehen wir nun<br />

das für e<strong>in</strong>en Grundsatz an, der von allen D<strong>in</strong>gen überhaupt<br />

gelten müsse, welcher eigentlich nur von denen gilt, <strong>die</strong> als<br />

Gegenstände unserer S<strong>in</strong>ne gegeben werden« (A 582, B 610).<br />

Gemä& <strong>die</strong>ser natürlichen Illusion halten wir das empirische<br />

Pr<strong>in</strong>zip der Möglichkeit, das auf Ersche<strong>in</strong>ungen sich bezieht, für<br />

e<strong>in</strong> transzendentales Pr<strong>in</strong>zip der Möglichkeit der D<strong>in</strong>ge überhaupt.<br />

Damit ist <strong>die</strong> Stellung des Weltbegriffes <strong>in</strong> der »Kritik der<br />

re<strong>in</strong>en Vernunft« nach allen Seiten gekennzeichnet. Gerade<br />

durch <strong>die</strong> Kennzeichnung der übergreifenden Idee des transzendentalen<br />

Ideals ist noch verdeutlicht worden, daß Welt <strong>die</strong><br />

Totalität des Seienden ausdrückt, wozu der Mensch als endliches<br />

Wesen sich verhält, so zwar, daß er selber <strong>in</strong> sie gehört. Welt und<br />

\iIöglichkeit (Se<strong>in</strong> und Möglichkeit).


296 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Wir kommen damit zur 4. Frage: Welche grundsätzlichen<br />

Probleme erwachsen aus <strong>die</strong>ser Fassung des Weltbegriffes <strong>in</strong> der<br />

»Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«? Um <strong>die</strong>se zu sehen, gilt es, noch<br />

e<strong>in</strong>mal kurz <strong>die</strong> Eigentümlichkeit des Weltphänomens ~zu verschärfen.<br />

Welt ist e<strong>in</strong>e Bestimmung des Seienden, wobei wir<br />

sagen müssen, daß <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>different gedacht ist, und gehört<br />

gleichwohl nicht zum ontischen Bestand desselben, gleichsam<br />

als Stück und daran vorhandener Eigenschaft, wie etwa<br />

Härte, Schwere. Welt gehört da zum Vorhandenen und ist doch<br />

ke<strong>in</strong> Vorhandenes. Andererseits ist Welt zugleich bezogen auf<br />

den Menschen, nicht nur, sofern Welt - als Idee - der menschlichen<br />

Vernunft entspr<strong>in</strong>gt, sondern wesenhaft zu ihr gehört als<br />

Idee der Ganzheit des von endlichen Wesen erkennbaren Seienden.<br />

Hieraus ergeben sich e<strong>in</strong>e Reihe von Fragen:<br />

1. Wie kann Welt das Vorhandene ontologisch bestimmen,<br />

ohne Vorhandenes zu se<strong>in</strong>?<br />

2. Wie kann sie als solche Bestimmung dem Wesen des<br />

menschlichen Dase<strong>in</strong>s zugehören?<br />

3. Wie muß <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong> selbst se<strong>in</strong>, daß es, zum Seienden<br />

sich verhaltend, dabei auf so etwas wie Welt bezogen ist?<br />

4. Ist bei Kant der Zusammenhang zwischen re<strong>in</strong>er, ideenbildender<br />

Vernunft und re<strong>in</strong>er Anschauung - re<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>nlichkeit<br />

von Raum und Zeit - überhaupt <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>er Weise geklärt<br />

oder auch nur zum Problem gemacht, um zeigen zu können, daß<br />

und wie <strong>die</strong> Natur der menschlichen Vernunft <strong>in</strong> ihrem empirischen<br />

Verhalten zum Seienden notwendig weltbezogen se<strong>in</strong><br />

kann? Ist das Wesen der Menschheit h<strong>in</strong>reichend ursprünglich<br />

aufgehellt und begründet, um <strong>die</strong> Natur des Menschen als Ursprungsquelle<br />

<strong>die</strong>ser Ideenbildung anzusetzen?<br />

5. Wenn so Welt <strong>die</strong> Totalität des menschlich erkennbaren<br />

Seienden notwendig bestimmen soll und wenn <strong>die</strong>ses Seiende<br />

aber nicht nur den Charakter der Naturd<strong>in</strong>ge hat, sondern zu<br />

<strong>die</strong>sem Seienden <strong>die</strong> Geschichte und damit der Mensch selbst<br />

gehört, ist dann der kantische 'Weltbegriff, von der UDgeklärt-<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 297<br />

heit se<strong>in</strong>er Verwurzelung im Dase<strong>in</strong> ganz abgesehen, nicht<br />

grun'dsätzlich zu eng?<br />

6. ,Wie ist e<strong>in</strong>e Erweiterung möglich? Wie kann und muß das<br />

Problem des Weltbegriffes aus e<strong>in</strong>er radikalen Dimension der<br />

metaphysischen Fragestellung entwickelt werden, so zwar, daß<br />

mit der radikalen und ausdrücklichen Begründung se<strong>in</strong>es Ursprungs<br />

auch <strong>die</strong> zureichende Weite des Phänomens gewonnen<br />

wird?<br />

Gerade weil <strong>die</strong> Architektonik und Problemführung der<br />

»Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft« das Problem des Weltbegriffes <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>deutigen Zusammenhang e<strong>in</strong>ordnet, ist es<br />

notwendig, auf das Problematische h<strong>in</strong>zuweisen. Die gestellten<br />

Fragen sollen jedoch jetzt nicht im e<strong>in</strong>zelnen und mit besonderem<br />

Bezug auf Kant beantwortet werden, sondern wir versuchen<br />

jetzt, nach <strong>die</strong>ser historischen Orientierung über <strong>die</strong><br />

Geschichte des Weltbegriffes, e<strong>in</strong>e Klärung des Problems im<br />

Zusammenhang unserer leitenden Frage nach dem Wesen der<br />

Weltanschauung und des Verhältnisses der <strong>Philosophie</strong> zu ihr.<br />

Alle<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Charakteristik des kantischen Weltbegriffes wäre<br />

unvollständig und e<strong>in</strong>seitig, wenn wir nicht noch auf e<strong>in</strong>e andere<br />

Verwendung des Ausdrucks »Welt« h<strong>in</strong>wiesen.<br />

. g) Die existenzielle Bedeutung des Weltbegriffs<br />

Wenn 'wir den kantischen Weltbegriff, rückblickend <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichte,<br />

vergleichen mit dem Begriff »mundus«, so zeigt sich<br />

zunächst, daß Kant, <strong>in</strong> Anlehung an <strong>die</strong> traditionelle Metaphysik,<br />

den Weltbegriff faßt im S<strong>in</strong>n der ersten Bedeutung von<br />

mundus = universum creaturarum, Allheit der existierenden<br />

endlichen D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> spezifisch kosmologische Bedeutung des<br />

Weltbegriffes, nur eben <strong>in</strong> der wesentlichen Umbildung durch<br />

dIe transzendentale Fragestellung.<br />

Es ergab sich aber, daß vom Neuen Testament her bis August<strong>in</strong>us<br />

und Thomas und anderen e<strong>in</strong>e zweite Bedeutung von<br />

mundus sich ausbildet, wonach Welt besagt: <strong>die</strong> Menschen, und


298 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigentümlichen Stellung zur Welt im ersten S<strong>in</strong>ne,<br />

amatores mundi, Welt-k<strong>in</strong>der. Hier haben wir <strong>die</strong> existenzielle<br />

Bedeutung des Weltbegriffs. Welt bedeutet jetzt: <strong>die</strong> Menschen<br />

untere<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zue<strong>in</strong>ander. Weltlich bezeichnet<br />

das Gehabe des Menschen, und zwar schleift sich<br />

allmählich <strong>die</strong> spezifisch christlich bestimmte Bedeutung des<br />

weltlichen Lebens ab. Wir sprechen von weltmännischem Auftreten;<br />

der Ausdruck »monda<strong>in</strong>e« kennzeichnet e<strong>in</strong>e ganz bestimmte<br />

Existenzform des Menschen.<br />

Diese existenzielle Bedeutung des Weltbegriffes kommt nun<br />

auch bei Kant zum Durchbruch, ohne daß freilich das Problem<br />

des Zusammenhangs beider begriffen und damit das e<strong>in</strong>er radikaleren<br />

Begründung des Phänomens lebendig würde.<br />

»... aber der wichtigste Gegenstand <strong>in</strong> derselben [der Welt],<br />

auf den er jene [alle Kultur der Menschen] verwenden kann, ist<br />

der Mensch: weil er se<strong>in</strong> eigener letzter Zweck ist. - Ihn also,<br />

se<strong>in</strong>er Spezies nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu<br />

erkennen, ver<strong>die</strong>nt besonders, Weltkenntnis genannt zu werden;<br />

ob er gleich nur e<strong>in</strong>en Teil der Erdgesffiöpfe ausmacht«<br />

(Anthropologie, Vorrede 1. Absatz).!3 Weltkenntnis ist hier also<br />

Kenntnis des Menschen h<strong>in</strong>sichtlich dessen, wie er <strong>in</strong> der Welt<br />

steht und sich verhält. Weltkenntnis nennt Kant daher direkt<br />

Anthropologie, und zwar pragmatische; im Unterschied von der<br />

physiologischen betrachtet sie den Menschen »... auf das, was<br />

er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen<br />

kann und soll« (ebd.). »Das <strong>in</strong>nere Pr<strong>in</strong>cipium der Welt<br />

aber ist <strong>die</strong> Freiheit. Die Bestimmung des Menschen ist also,<br />

se<strong>in</strong>e größte Vollkommenheit durch se<strong>in</strong>e Freiheit zu erlangen.«!4<br />

Welt steht für habitator mundi, für den Menschen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Existenz. Anthropologie, Lehre vom Menschen<br />

= pragmatische Weltkenntnis. Damit wird <strong>in</strong> der zuge-<br />

13 Kant, WW (Cassirer). Band VIII, S. 1.<br />

14 E<strong>in</strong>e Vorlesung Kants über Ethik. Hrsg. von Paul Menzer, Berl<strong>in</strong> 1924,<br />

S.317.<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 299<br />

spitztesten Form zum Ausdruck gebracht: Welt bedeutet gerade<br />

<strong>die</strong> Menschen. Menschenkunde = Weltkenntnis.<br />

Der Weltkenntnis wird entgegengestellt <strong>die</strong> Schule, das<br />

schulmäßig gelernte Wissen. Die Schule »macht geschickt. Ihr<br />

Hauptaugenmerk ist, andre an Menge des Wissens zu übertreffen.<br />

Solch e<strong>in</strong>en Gelehrten nennt man e<strong>in</strong>en Scholastiker. Er<br />

kann se<strong>in</strong>e Gelehrsamkeit höchstens als Schulmann mit Nutzen<br />

anbr<strong>in</strong>gen. Der durch Schule gelehrt wird, ist passiv«.15 Schulwissen<br />

ist technisch gelernter Stoff, nicht nur ohne lebendige<br />

praktische Abzweckung, sondern es s<strong>in</strong>d Kenntnisse, <strong>die</strong> ihrem<br />

Wesen nach nicht abzielen auf das, was für <strong>die</strong> Existenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s wesentlich ist.<br />

Weltkenntnis ist aus der Lebenserfahrung geschöpfte und<br />

wiederum auf das Dase<strong>in</strong> gerichtete. »E<strong>in</strong>e solche Anthropologie,<br />

als Weltkenntnis, welche auf <strong>die</strong> Schule folgen muß,<br />

betrachtet, wird eigentlich alsdann noch nicht pragmatisch genannt,<br />

wenn sie e<strong>in</strong> ausgebreitetes Erkenntnis der Sachen <strong>in</strong> der<br />

Welt, z.B. der Tiere, Pflanzen und M<strong>in</strong>eralien <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Ländern und Klimaten, sondern wenn sie Erkenntnis des Menschen<br />

als Weltbürgers enthält« (Anthropologie <strong>in</strong> pragmatischer<br />

H<strong>in</strong>sicht, Vorrede).16 »Noch s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Ausdrücke: <strong>die</strong> Welt<br />

kennen und <strong>die</strong> Welt haben <strong>in</strong> ihrer Bedeutung ziemlich weit<br />

ause<strong>in</strong>ander; <strong>in</strong>dem der e<strong>in</strong>e nur das Spiel versteht, dem er<br />

zugesehen hat, der andere aber mitgespielt hat. - Die sogenannte<br />

große Welt aber, den Stand der Vornehmen, zu beurteilen,<br />

bef<strong>in</strong>det sich der Anthropologe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr ungünstigen<br />

Standpunkt; weil <strong>die</strong>se sich unter e<strong>in</strong>ander zu nahe, von anderen<br />

aber zu weit bef<strong>in</strong>den«.!7<br />

Was Kant mit »Welt«, »Welt kennen« und »Welt haben«<br />

me<strong>in</strong>t und daß er »Welt« im existenziellen S<strong>in</strong>ne versteht, wird<br />

besonders deutlich aus der Nachschrift e<strong>in</strong>er Anthropologievor-<br />

15 Kant, Anthropologievorlesung. Hrsg. von Arnold Kowalewski. Mimchen/<br />

LeIpzIg 1924. S. 71.<br />

16 Kant, WW (Cassirer). Band VIII, S. 6.<br />

17 A.a.O., S. 7.


300 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

lesung Kants (1792), <strong>die</strong> sich unter den Kollegheften des Grafen<br />

He<strong>in</strong>rich zu Dohna-Wundlaken fand.!B Weltkenntnis: »Sie<br />

macht gescheit und klug, se<strong>in</strong>e Geschicklichkeit an den Mann<br />

zu br<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong> Mann von Welt ist Mitspieler im großen Spiel<br />

des Lebens.« (A.a.O., S. 71) Welt = das große Spiel des Lebens,<br />

= Lebenserfahrung, das menschliche Dase<strong>in</strong> als solches. Weltkenntnis<br />

= Menschenkunde. Früher habitatores mundi, jetzt<br />

Mitspieler. »Der größte Teil der Menschen bildet sich durch<br />

Schule zur Welt und wird durch <strong>die</strong> Welt für <strong>die</strong> Welt gebildet.<br />

Beides vermengt, 1. Schulkenntnisse und 2. Bildung durch den<br />

Umgang, tut am besten.« »Weltmann heißt, <strong>die</strong> Verhältnisse zu<br />

anderen Menschen und wie's im menschlichen Leben zugeht,<br />

wissen.« »Welt haben, heißt Maximen haben und große Muster<br />

nachahmen.« »Man kann viel Welt haben und doch Ignorant<br />

se<strong>in</strong>. Welt beruht auf Formalien.« »Das Wort Klugheit wird <strong>in</strong><br />

zweifachem S<strong>in</strong>n genommen, e<strong>in</strong>mal kann es den Namen Weltklugheit,<br />

im zweiten den der Privatklugheit führen. Die erste ist<br />

<strong>die</strong> Geschicklichkeit e<strong>in</strong>es Menschen, auf andere E<strong>in</strong>fluß zu<br />

haben, um sie zu se<strong>in</strong>en Absichten zu gebrauchen«.!9 Welt: das<br />

Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>. Ferner: »Pragmatisch ist e<strong>in</strong>e Geschichte abgefaßt,<br />

wenn sie klug macht, d. i. <strong>die</strong> Welt belehrt, wie sie ihren<br />

Vorteil besser, oder wenigstens eben so gut, als <strong>die</strong> Vorwelt, besorgen<br />

könne« (ebd.). »Welt« und »Vorwelt« besagen hier ganz<br />

klar: <strong>die</strong> Menschen selbst <strong>in</strong> ihrem Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> und nicht<br />

etwa der Kosmos oder <strong>die</strong> Natur. Welt: der Titel für das menschliche<br />

Dase<strong>in</strong>, und zwar <strong>in</strong> Rücksicht darauf, wie es <strong>in</strong> ihm<br />

zugeht, das Spiel des Mite<strong>in</strong>ander der Menschen <strong>in</strong> ihrem Verhältnis<br />

zum Seienden. Welt: Titel für Menschen, und gerade<br />

nicht als Glied des Kosmos, Naturd<strong>in</strong>g, sondern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en geschichtlichen<br />

Existenzbezügen. Der Welt begriff ist hier viel<br />

e<strong>in</strong>deutiger <strong>in</strong> Richtung auf das menschliche Dase<strong>in</strong> gefaßt.<br />

18 Vgl. Anm. 15. A.a.O., S. 71 f.<br />

19 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben<br />

von Karl Vorlander. 6. Aufl., LeIpzig 1925. S. 42, Anmerkung .•<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 301<br />

Diese Bedeutung von» Welt« ist geme<strong>in</strong>t, wenn <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

»Weltweisheit« genannt wird und wenn Kant <strong>in</strong>sbesondere<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> im Ganzen <strong>in</strong> doppelter H<strong>in</strong>sicht charakterisiert:<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> nach dem Schul begriff und <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

nach dem Weltbegriff. Es ist wieder <strong>die</strong> Unterscheidung<br />

des ,Erkennens, <strong>die</strong> uns schon <strong>in</strong> der <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> zur Anthropologie<br />

begegnete.<br />

Diese Charakteristik f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgezeichneten<br />

Schluß abschnitt der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«, wo Kant sich<br />

über <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> im Ganzen grundsätzlich äußert. Er sagt<br />

hier (A 839 f., B 867 f.): »Der Mathematiker, der Naturkündiger,<br />

der Logiker s<strong>in</strong>d, so vortrefflich <strong>die</strong> ersteren auch überhaupt<br />

im Vernunfterkenntnisse, <strong>die</strong> zweiten besonders im<br />

philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben mögen, doch nur<br />

Vernunftkünstler. Es gibt noch e<strong>in</strong>en Lehrer im Ideal, der alle<br />

<strong>die</strong>se ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern. Diesen alle<strong>in</strong><br />

müßten wir den Philosophen nennen; aber, da er selbst doch<br />

nirgend, <strong>die</strong> Idee aber se<strong>in</strong>er Gesetzgebung allenthalben <strong>in</strong> jeder<br />

Menschenvernunft angetroffen wird, so wollen wir uns<br />

lediglich an der letzteren halten, und näher bestimmen, was<br />

<strong>Philosophie</strong>, nach <strong>die</strong>sem Weltbegriffe, für systematische E<strong>in</strong>heit<br />

aus dem Standpunkte der Zwecke vorschreibe.«<br />

Wir haben hier zunächst den Unterschied zwischen »Vernunftkünstler«<br />

und dem »Lehrer im Ideal«, d.h. <strong>in</strong> dem, was<br />

den göttlichen Menschen <strong>in</strong> uns ausmacht, <strong>in</strong> dem, was für<br />

jeden Menschen als existierenden, handelnden wesentlich ist.<br />

Die <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne, d. h. <strong>die</strong> es absieht auf das<br />

menschliche Dase<strong>in</strong> als solches, ist <strong>die</strong> nach dem Weltbegriff,<br />

d. h. Welt besagt auch hier wieder: das menschliche Dase<strong>in</strong> im<br />

Wesentlichen se<strong>in</strong>er Existenz. Kant gibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Anmerkung zu<br />

<strong>die</strong>ser Stelle über<strong>die</strong>s noch e<strong>in</strong>e ausdrückliche Erläuterung:<br />

»Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann<br />

notwendig <strong>in</strong>teressiert; mith<strong>in</strong> bestimme ich <strong>die</strong> Absicht<br />

e<strong>in</strong>er Wissenschaft nach Schulbegriffen, wenn sie nur als e<strong>in</strong>e


302 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

von den Geschicklichkeiten zu gewissen beliebigen Zwecken<br />

angesehen wird.« (B 867/8 Anm.) Vgl. dazu: <strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> zur Logikvorlesung,<br />

Abschnitt IH.<br />

Ob <strong>die</strong>se Scheidung bezüglich der Begriffe der <strong>Philosophie</strong><br />

überhaupt gemacht werden kann und ob <strong>die</strong> Logik nur Sache<br />

des Vernunftkünstlers sei, soll hier noch nicht erörtert werden.<br />

Wir sehen nur erneut <strong>die</strong> Bedeutung des Weltbegriffs heraustreten,<br />

<strong>die</strong> im spezifisch transzendentalen der »Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft« vorgebildet ist, selbst aber offenbar e<strong>in</strong>e Auswirkung<br />

der existenzialen Bedeutung von mundus, monde darstellt.<br />

Diese existenzielle Bedeutung des Wortes »Welt« ist geme<strong>in</strong>t<br />

<strong>in</strong> unserem Ausdruck »Weltanschauung«, wenngleich sich auch<br />

<strong>die</strong> kosmologische Bedeutung mit e<strong>in</strong>drängt, und zwar nicht<br />

zufällig, sondern deshalb, weil auch <strong>die</strong> Natur und Welt vom<br />

existenzialen Begriff umfaßt wird. Denn <strong>die</strong>ser ist nicht der<br />

engere, sondern der weitere, viel ursprünglichere. Doch wir<br />

wollen das Wesen der Weltanschauung nicht dadurch bestimmen,<br />

daß wir <strong>die</strong> Bedeutungsgeschichte des Ausdrucks »Welt«<br />

verfolgen, sondern <strong>die</strong>se sollte uns nur e<strong>in</strong>e konkrete H<strong>in</strong>weisung<br />

darauf geben, daß der Weltbegriff selbst problematisch<br />

ist. Es gilt jetzt, das zentrale Problem zu gew<strong>in</strong>nen und<br />

damit den Boden für e<strong>in</strong>e Wesensklärung von Weltanschauung<br />

überhaupt.<br />

Der jetzt herausgetretene problematische Charakter des<br />

Weltbegriffs läßt sich durch folgende Punkte festhalten:<br />

1. Der Weltbegriff ist überhaupt problematisch, sofern er<br />

zwischen zwei Bedeutungen h<strong>in</strong> und her schwankt, <strong>die</strong> andererseits<br />

nicht völlig beziehungslos s<strong>in</strong>d.<br />

2. Dieses Schwanken hat, näher besehen, dar<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Grund, daß ungeklärt ist, wie das, was da unter Welt verstanden<br />

wird, sich zum Dase<strong>in</strong> verhält.<br />

3. E<strong>in</strong>mal ist Welt <strong>die</strong> Bestimmung des Ganzen des Seienden<br />

und <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht zwar auch auf den Menschen, aber nicht<br />

<strong>in</strong> besonderer Weise auf das Dase<strong>in</strong> bezogen; jedes Seiende gehört<br />

zur Welt, Tiere, Pflanzen, Ste<strong>in</strong>e.<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 303<br />

4. Gleichwohl ist <strong>die</strong>se Welt <strong>in</strong>sofern <strong>in</strong> betontem S<strong>in</strong>ne auf<br />

Dase<strong>in</strong> bezogen, als sie e<strong>in</strong>e Idee se<strong>in</strong> soll, von der gesagt wird,<br />

sie entspr<strong>in</strong>ge der Natur der menschlichen Vernunft.<br />

5. Über<strong>die</strong>s aber verschärft sich <strong>die</strong> Frage nach der besonderen<br />

Beziehung von Welt und Dase<strong>in</strong> nicht nur im H<strong>in</strong>blick auf<br />

den Ursprung des Weltbegriffes aus der menschlichen Natur,<br />

sondern <strong>in</strong> Rücksicht darauf, daß nun doch gerade das Menschse<strong>in</strong><br />

und se<strong>in</strong> Spiel und Treiben als Welt gefaßt wird.<br />

Es wäre freilich e<strong>in</strong> verfehlter Weg und nur e<strong>in</strong> Ausweg,<br />

wenn wir <strong>die</strong>se Schwierigkeiten dadurch beseitigen wollten,<br />

daß wir zwischen den verschiedenen Bedeutungen von Welt<br />

und den verschiedenen Beziehungen von Welt und Dase<strong>in</strong> dialektisch<br />

vermitteln wollten. Denn dadurch bleibt <strong>die</strong> Unklarheit<br />

über <strong>die</strong>se Bezüge doch bestehen, und solche Dialektik ist<br />

Immer nur - wenn es hoch kommt - e<strong>in</strong> <strong>in</strong> System br<strong>in</strong>gen der<br />

Gngeklärtheiten, d.h. e<strong>in</strong> gewaltsames Beseitigen der Probleme<br />

mIt dem Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er umformenden und straffen begriffhchen<br />

Bewältigung. Vielmehr müssen wir der Schwierigkeit,<br />

dIe sich im Weltbegriff auftut, <strong>in</strong>s Gesicht sehen und sie ganz<br />

unbeschönigt und unabgeschwächt uns vorhalten, <strong>in</strong>dem wir sie<br />

auf <strong>die</strong> nackte Frage br<strong>in</strong>gen: Welches ist denn überhaupt das<br />

Verhältnis von Dase<strong>in</strong> und Welt?<br />

Es liegt, wie sich zeigen soll, im Wesen der Sache, der wir<br />

nachfragen, daß das Problem des Weltbegriffes überhaupt<br />

nicht ohne <strong>die</strong> Frage nach dem Dase<strong>in</strong>sbezug zu erörtern ist.<br />

MIt der Frage nach dem Wesen der Welt rühren wir an e<strong>in</strong><br />

Phänomen, das besonders vielschichtig ist. Vor allem aber s<strong>in</strong>d<br />

fur das Verständnis des Problems wesentliche Voraussetzungen<br />

gefordert, und zwar nicht so sehr solche der technischen Beherrschung<br />

der Methode der Interpretation, sondern spezifisch<br />

menschliche Voraussetzungen im S<strong>in</strong>ne des H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>blickenkönnpns<br />

<strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong>, und je schärfer der Antrieb des E<strong>in</strong>leitens<br />

der <strong>Philosophie</strong> nun wird, je mehr er zunimmt, umso dr<strong>in</strong>ghcher<br />

wird es, <strong>die</strong>se Voraussetzungen zu wecken. Daher kommt<br />

es <strong>in</strong> folgender Erörterung für Sie nicht darauf an, daß Sie das


304 Weltanschauung und Weltbegrif.f<br />

Ganze der Interpretation <strong>in</strong> jedem Schritt beherrschen und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>deutiger begrifflicher Erkenntnis sich zuzueignen vermögen,<br />

als darauf, daß Sie merken, worauf überhaupt abgezielt<br />

wird.<br />

ZWEITES KAPITEL<br />

Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

§ 35. Dase<strong>in</strong> als In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Wir reden von der Natur des Menschen und ihrer Beziehung zur<br />

Welt, ohne daß entschieden ist, ob wir <strong>die</strong>se Natur des Menschen<br />

schon so weit bestimmt haben, daß wir nach ihrer Beziehung<br />

zur Welt überhaupt fragen können. Liegt es so, daß wir auf der<br />

e<strong>in</strong>en Seite haben als Bezugspunkt das Dase<strong>in</strong> und auf der anderen<br />

das, was wir Welt nennen? Liegt es so, daß <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong><br />

gelegentlich auch e<strong>in</strong> Verhältnis zur Welt e<strong>in</strong>nimmt, oder hat<br />

das Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong> ständiges Verhältnis zur Welt? Warum das und<br />

wie?<br />

Nun ergibt sich das Merkwürdige, daß wir, solange <strong>die</strong> Frage<br />

nach dem Verhältnis des Dase<strong>in</strong>s auf der e<strong>in</strong>en, zur Welt auf der<br />

anderen Seite so gestellt wird, uns nur selbst verraten als solche,<br />

<strong>die</strong> noch gar ke<strong>in</strong>en Begriff von dem haben, was sie zum angeblich<br />

festen Fuß-und Ausgangspunkt ihrer Frage machen.<br />

Denn das Dase<strong>in</strong> hat nicht gleichsam e<strong>in</strong>en an es auch noch<br />

angesetzten Bezug zur Welt, sondern der Weltbezug ist e<strong>in</strong> Wesenszug<br />

des Dase<strong>in</strong>s selbst, ja se<strong>in</strong>e auszeichnende Wesensverfassung.<br />

Dase<strong>in</strong> heißt nichts anderes als In-der-Welt-se<strong>in</strong>. Wenn<br />

wir Dase<strong>in</strong> sagen und nicht nur e<strong>in</strong> Wort aussprechen, sondern<br />

verstehen, was wir me<strong>in</strong>en, dann me<strong>in</strong>en wir schon In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong>, und es ist s<strong>in</strong>nlos zu fragen, ob und wie das Dase<strong>in</strong>,<br />

das als solches In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist, e<strong>in</strong> Verhältnis zur Welt habe.<br />

Aber um so dr<strong>in</strong>glicher wird dann zu fragen, was In-der-Weltse<strong>in</strong><br />

heißt.<br />

Dase<strong>in</strong> besagt In-der-Welt-se<strong>in</strong>. Schon das Faktum, daß <strong>in</strong><br />

der langen Geschichte des Weltbegriffs gerade <strong>die</strong>ser Bezug von


306 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Dase<strong>in</strong> und Welt ungeklärt geblieben ist, ja nicht e<strong>in</strong>mal zum<br />

Problem geworden ist, muß uns sagen, daß <strong>die</strong> Zusammenhänge,<br />

um <strong>die</strong> es sich handelt, nicht ohne weiteres sichtbar werden<br />

{ ,<br />

daß sie vermutlich zu jenen gehören, <strong>die</strong> <strong>in</strong> sich ebenso e<strong>in</strong>fach,<br />

aber auch für den geme<strong>in</strong>en Verstand verborgen, mißdeutet und<br />

verstellt s<strong>in</strong>d. Die Hauptschwierigkeit für das Verständnis liegt<br />

deshalb dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong>se Verbiegungen und Mißdeutungen zu durchschauen<br />

und so sie zu durchbrechen, um den Blick <strong>in</strong>s E<strong>in</strong>fache<br />

frei zu bekommen. Wie überall <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> geht es auch<br />

hier nicht darum, unbekanntes Land zu entdecken, sondern das<br />

längst und allzubekannte vom Sche<strong>in</strong> und der Umnebelung zu<br />

befreien.<br />

Dase<strong>in</strong> heißt In-der-Welt-se<strong>in</strong>, und <strong>die</strong>ses soll das Dase<strong>in</strong><br />

auszeichnen als se<strong>in</strong>e ihm eigene Wesensstruktur. Hiergegen<br />

erheben sich nun ganz unmittelbar wichtige Bedenken, <strong>die</strong> wir<br />

kurz erörtern. Was mit In-der-Welt-se<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>t ist, muß sich<br />

dabei verdeutlichen.'<br />

Die These ist e<strong>in</strong>e Wesensaussage und me<strong>in</strong>t etwas ganz Elementares,<br />

das freilich gerade deshalb <strong>die</strong> Häl'te und Schärfe des<br />

Problems annehmen muß. Woran wir gleichsam mit dem H<strong>in</strong>weis<br />

auf das In-der-Welt-se<strong>in</strong> rühren, ist nichts weniger als <strong>die</strong><br />

Struktur der Transzendenz, auf <strong>die</strong> wir bereits auf dem ersten<br />

Weg gestoßen s<strong>in</strong>d. Wir sagten dort: Das Dase<strong>in</strong> übersteigt Seiendes,<br />

so zwar, daß es erst <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Überstieg zu Seiendem sich<br />

verhalten, also auch erst so zu sich als Seiendem sich verhalten,<br />

d. h. es selbst, e<strong>in</strong> Selbst se<strong>in</strong> kann. Das Dase<strong>in</strong> transzen<strong>die</strong>rt,<br />

übersteigt Seiendes aber nicht gelegentlich, sondern als Dase<strong>in</strong>,<br />

und es übersteigt Seiendes, nicht <strong>die</strong>ses und jenes, mit Auswahl,<br />

sondern im Ganzen. Nur weil es Seiendes im Ganzen übersteigt,<br />

kann es sich mit Auswahl <strong>in</strong>nerhalb des Seienden zu <strong>die</strong>sem<br />

oder jenem verhalten; dabei ist im wesentlichen <strong>die</strong>se Auswahl<br />

mit der faktischen Existenz jedes Dase<strong>in</strong>s schon entschieden.<br />

1 Vgl. Mart<strong>in</strong> Heidegger, Vom Wesen des Grundes. 11. KapItel. (Zu den<br />

bibliographischen Angaben siehe oben S. 259, Anm. 2.)<br />

§ 35. Dase<strong>in</strong> als In-der-Welt-se<strong>in</strong> 307<br />

Innerhalb <strong>die</strong>ses entschiedenen Kreises ist freilich dann e<strong>in</strong><br />

Spielraum der Freiheit.<br />

Was bedeutet <strong>die</strong>ses »im Ganzen«, das zur Transzendenz gehört?<br />

Es ist das, woraufzu der Überstieg des Seienden sich<br />

vollzieht, das, woraufzu Transzendenz transzen<strong>die</strong>rt, und demgemäß<br />

das, von woher das Dase<strong>in</strong> im Verhalten zu Seiendem auf<br />

<strong>die</strong>ses zurückkommt. Dieses, woraufzu das wesenhaft transzen<strong>die</strong>rende<br />

Dase<strong>in</strong> transzen<strong>die</strong>rt, nennen wir Welt. Im Überstieg<br />

aber. steigt das Dase<strong>in</strong> nicht aus sich heraus <strong>in</strong> der Weise, daß es<br />

sich' selbst gleichsam h<strong>in</strong>ter sich läßt, sondern es bleibt nicht nur<br />

es selbst, sondern wird es gerade erst. Das Woraufzu des Überstiegs<br />

ist das, wor<strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong> als solches sich hält. Transzen<strong>die</strong>ren<br />

heißt In-der-Welt-se<strong>in</strong>.<br />

Am Ende des ersten Weges ergab sich uns: Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

Ist Transzen<strong>die</strong>ren; nunmehr sagen wir: Transzen<strong>die</strong>ren heißt<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong>. Wir betonten aber früher ausdrücklich, daß<br />

mit dem Se<strong>in</strong>sverständnis das Wesen der Transzendenz nicht<br />

erschöpft sei. Das können wir jetzt auch so ausdrücken: Zum<br />

In -der-Welt-se<strong>in</strong> gehört Se<strong>in</strong>sverständnis; <strong>die</strong>ses deckt sich aber<br />

nicht mit jenem, sondern ist nur e<strong>in</strong> Wesensmoment des Inder-Welt-se<strong>in</strong>s.<br />

Dar<strong>in</strong> liegt: Das Se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e mögliche Mannigfaltigkeit,<br />

das wir im Se<strong>in</strong>sverstehen, ob ausdrücklich oder<br />

nicht, verstehen, deckt sich ke<strong>in</strong>eswegs mit dem, was der Titel<br />

» Welt« besagt, wenngleich das Se<strong>in</strong> und alles, was <strong>die</strong>ser Ausdruck<br />

me<strong>in</strong>t, zum Gehalt des Weltbegriffes gehört. In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> ist primär mitbestimmt durch Se<strong>in</strong>sverständnis; aber<br />

<strong>die</strong>ses' Se<strong>in</strong> als In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist nicht nur e<strong>in</strong> vorgängiges<br />

Verstehen des Se<strong>in</strong>s. Dieses Verstehen hat e<strong>in</strong>en eigenen Charakter,<br />

ke<strong>in</strong> theoretisches Kennen und Wissen.<br />

Wir können nun, obwohl Se<strong>in</strong> und Welt bzw. Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

und In-der-Welt-se<strong>in</strong> sich nicht decken, doch vom Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

her, e<strong>in</strong>em notwendigen Ingre<strong>die</strong>nz der Transzendenz,<br />

uns e<strong>in</strong>en Weg bahnen zur weiteren Aufhellung dessen, was im<br />

Titel »In-der-Welt-se<strong>in</strong>« »Welt« eigentlich besagt.<br />

Genauer gesprochen: Durch <strong>die</strong>se Charakteristik des Se<strong>in</strong>s-


308 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

verständnisses <strong>in</strong> Rücksicht auf das Weltphänomen erfährt<br />

nicht nur <strong>die</strong>ses e<strong>in</strong>e Bestimmung, sondern umgekehrt wird das<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis als Ganzes deutlicher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zugehörigkeit<br />

zur Transzendenz. Aber trotzdem erschöpft sich Tran~zendenz<br />

nicht im Se<strong>in</strong>sverständnis.<br />

Wir wollen dabei von Kants kosmologischem Weltbegriff ausgehen.<br />

Er betrifft <strong>die</strong> Totalität des Vorhandenen, der Natur im<br />

weitesten S<strong>in</strong>ne. Dabei ist <strong>die</strong> Totalität der Se<strong>in</strong>sverfassung der<br />

Natur das Korrelat endlicher, und zwar theoretisch-wissenschaftlicher<br />

Erfahrung oder weitergehend mathematisch-physikalischer<br />

Erkenntnis. Daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung e<strong>in</strong>er Verengung<br />

des Weltbegriffs auf <strong>die</strong> Totalität der Natur das kantische Fragen<br />

geht, zeigt sich dar<strong>in</strong>, daß er e<strong>in</strong>en engeren von e<strong>in</strong>em weiteren<br />

Weltbegriff unterscheidet. Der engere bedeutet das mathematische<br />

Ganze des Großen und Kle<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Welt, also <strong>die</strong> doppelt<br />

gerichtete Unendlichkeit zum unendlich Großen und unendlich<br />

Kle<strong>in</strong>en, d.h. e<strong>in</strong>e spezifisch mathematische, d.h. quantitative<br />

Idee.<br />

Der existenzielle Weltbegriff Kants ist freilich philosophisch<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise ausgearbeitet und zum Problem gemacht, aber<br />

er weist <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung e<strong>in</strong>es Problems, sofern eben das Ganze<br />

dessen, was Kant das Spiel des Lebens nennt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

offenbar total anderen Charakter hat als <strong>die</strong>s Seiende<br />

Natur - aber damit nicht genug. Das faktische geschichtliche<br />

Dase<strong>in</strong> der Menschen unter- und mite<strong>in</strong>ander ist ja, wie wir<br />

früher sahen, immer und notwendig nicht nur e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei<br />

Vorhandenem, sondern auch bei Gebrauchsd<strong>in</strong>gen. Mit anderen<br />

Worten: Sofern das Dase<strong>in</strong> gleichursprünglich se<strong>in</strong>em Wesen<br />

nach Mitse<strong>in</strong> mit Anderen ist im Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem und all<br />

das als Selbstse<strong>in</strong>, ist das Ganze der Se<strong>in</strong>sverfassung <strong>die</strong>ses so<br />

offenbaren Seienden im Ganzen grundsätzlich reicher und<br />

ursprünglicher als das, was <strong>in</strong> Kants kosmologischem Weltbegriff<br />

gedacht ist und im anthropologischen zum m<strong>in</strong>d~sten<br />

angezeigt ist.<br />

Wenn wir demnach h<strong>in</strong>reichend ursprünglich weit das neh-<br />

§ 36. Welt als »Spiel des Lebens« 309<br />

men, was im Dase<strong>in</strong> an Se<strong>in</strong> immer schon verstanden, obzwar<br />

nicht begriffen ist, und wenn wir das Ganze <strong>die</strong>ses verstandenen<br />

Se<strong>in</strong>s als Welt bezeichnen, s<strong>in</strong>d wir damit schon grundsätzlich<br />

über den kantischen Weltbegriff h<strong>in</strong>ausgegangen, und zwar<br />

nicht nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er bloßen Erweiterung und Vervollständigung<br />

der Se<strong>in</strong>sgebiete. Welt ist das Ganze der Se<strong>in</strong>sverfassung,<br />

nicht nur der Natur und des geschichtlichen Mite<strong>in</strong>ander<br />

und des eigenen Selbstse<strong>in</strong>s und der Gebrauchsd<strong>in</strong>ge, sondern<br />

<strong>die</strong> spezifische Ganzheit der Se<strong>in</strong>smannigfaltigkeit, <strong>die</strong> im Mitse<strong>in</strong><br />

mit Anderen, Se<strong>in</strong> bei ... und Selbstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlich verstanden<br />

ist. Aber Problem ist gerade <strong>die</strong> Ganzheit e<strong>in</strong>es solchen<br />

auf das Dase<strong>in</strong> wesenhaft orientierten Ganzen; sie ist nicht gewonnen<br />

dadurch, daß wir etwa neben Kants Ontologie der<br />

Natur im weitesten S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>e solche des geschichtlichen Dase<strong>in</strong>s,<br />

der Gebrauchsd<strong>in</strong>ge oder der Subjektivität setzen; mit all<br />

dem ist das wesentliche Problem schon hoffnungslos verloren.<br />

Was bestimmt werden muß, ist <strong>die</strong> spezifische Ganzheit des<br />

ganzen Se<strong>in</strong>s, das je im Dase<strong>in</strong> verstanden ist, <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Organisation<br />

<strong>die</strong>ser Se<strong>in</strong>sganzheit, <strong>die</strong> wir nicht von theoretisch<br />

ausgebildeten Ontologien her als e<strong>in</strong>e Aufschichtung und e<strong>in</strong><br />

Nebene<strong>in</strong>ander von Regionen fassen dürfen. 2<br />

§ 36. Welt als »Spiel des Lebens«<br />

Wir sahen: Kant spricht, wenn er den existenziellen Weltbegriff<br />

erläutern, bzw. mehr vorphilosophisch überhaupt se<strong>in</strong>e Bedeutung<br />

kennzeichnen will, vom »Spiel des Lebens«. Er folgt da<br />

dem Sprachgebrauch, <strong>in</strong> dem jederzeit, wenn wir nur e<strong>in</strong> Ohr<br />

dafür haben, <strong>Philosophie</strong> beschlossen liegt, gleichsam noch gebundene<br />

<strong>Philosophie</strong>. Wie sollte es auch anders se<strong>in</strong>, wenn<br />

<strong>Philosophie</strong>ren zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s gehört und <strong>in</strong> der Spra-<br />

2 Die spezifische Ganzheit <strong>die</strong>ser metaphysischen apriorischen Spielregeln,<br />

<strong>die</strong> Je e<strong>in</strong> faktisches Spiel des Lebens möglich machen.


310 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

che Dase<strong>in</strong> sich ausspricht - auch wenn über Alltägliches. Der<br />

Ausdruck »Spiel des Lebens« ist gewiß daraus erwachsen, daß<br />

das geschichtliche Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> der Menschen den Anblick<br />

e<strong>in</strong>er bunten Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit, Zufälligkeit,<br />

bietet. Aber all das, <strong>die</strong>ses Sichtbare kann ja nur eben der<br />

Widersche<strong>in</strong> se<strong>in</strong> des Wesens des Dase<strong>in</strong>s, das sich da faktisch<br />

geschichtlich abspielt. Mit anderen Worten: Es muß im Wesen<br />

des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> Spielcharakter liegen, wenn es <strong>die</strong>sen Anblick<br />

soll bieten können.<br />

Wir müssen nun <strong>in</strong> der Tat mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Frage nach<br />

der Ganzheit des Ganzen dessen, was wir Welt nennen, sagen:<br />

Die Ganzheit des je im Dase<strong>in</strong> immer schon verstandenen Se<strong>in</strong>s,<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Charakter <strong>die</strong>ses Verstehens und <strong>die</strong> Organisation<br />

des Verstandenen, das In-der-Welt-se<strong>in</strong> überhaupt, - <strong>die</strong><br />

Welt hat den Charakter des Spiels. Aus verschiedenen Gründen<br />

gebe ich <strong>die</strong>se zunächst etwas gewagte Charakteristik, muß aber<br />

auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Wesens<strong>in</strong>terpretation dessen, was wir Spiel<br />

nennen, verzichten. E<strong>in</strong>ige charakterisierende H<strong>in</strong>weise mögen<br />

genügen.<br />

Wir sprechen vom Kartenspiel, Gesellschaftsspiel, Lautenspiel,<br />

vom Mienenspiel, vom Spielen im S<strong>in</strong>ne von »e<strong>in</strong>e Rolle<br />

spielen«. Wir sagen von e<strong>in</strong>em Menschen, daß er e<strong>in</strong> spielerisches<br />

Wesen habe. Wir sprechen von e<strong>in</strong>em bloßen Spiel, das<br />

dann den Charakter des Sche<strong>in</strong>s, des Unechten, des »als ob« hat.<br />

Diese Interpretation des Spiels führt dazu, daß wir auch das<br />

Spielen der K<strong>in</strong>der, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne echt ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

positivistischen S<strong>in</strong>n nehmen, d. h. wir sehen es im Horizont<br />

e<strong>in</strong>er sogenannten ernsthaften Beschäftigung der Erwachsenen.<br />

Die Fragen, ob echt oder unecht, »<strong>in</strong> Wirklichkeit« oder nur »als<br />

ob«, treffen Unterschiede der faktischen Funktion und Auswirkung<br />

des Spielens, aber nicht <strong>die</strong>ses selbst. Vor allem das Spiel<br />

der K<strong>in</strong>der ist nicht von da her zu verstehen. Andererseits darf<br />

man auch nicht me<strong>in</strong>en, im Spiel läge etwas spezifisch K<strong>in</strong>dliches.<br />

Wenn es e<strong>in</strong> Vorrecht des K<strong>in</strong>des ist zu spieien, so<br />

bedeutet das zunächst nur, da&· das Spiel irgendwie zum Men-<br />

§ 36. Welt als »Spiel des Lebens« 311<br />

schen gehört. Vielleicht ist das K<strong>in</strong>d nur K<strong>in</strong>d, weil es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

metaphysischen S<strong>in</strong>ne etwas ist, was wir Erwachsenen überhaupt<br />

nicht mehr begreifen.<br />

Freilich sprechen wir auch von e<strong>in</strong>em Spiel der Tiere und<br />

nehmen das zum Beleg, daß das Spiel etwas dem biologischen<br />

Dase<strong>in</strong> Zugehöriges sei, dem K<strong>in</strong>d zukomme, dem Erwachsenen<br />

aber fehle. Diese Argumentation beruht auf e<strong>in</strong>em verkehrten<br />

Schluß, sofern sie voraussetzt, daß das, was wir Spielen der Tiere<br />

nennen, identisch mit dem sei, was wir Spielen des K<strong>in</strong>des nennen.<br />

Andererseits wenn es möglich wäre, e<strong>in</strong> Spielen des Tieres<br />

aufzuweisen, so wäre das nur der Beweis dafür, daß Spiel e<strong>in</strong><br />

weiteres Phänomen ist und daß es se<strong>in</strong>e Gründe haben muß,<br />

wenn <strong>die</strong> sogenannten Erwachsenen nicht mehr spielen im S<strong>in</strong>ne<br />

der Spiele der K<strong>in</strong>der, gleichwohl aber sich e<strong>in</strong>en Ersatz<br />

schaffen. Das bisher Gesagte sei nur e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf <strong>die</strong> ontischen<br />

Bezirke, <strong>in</strong> denen wir geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> von Spiel sprechen.<br />

a) Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> als ursprüngliches Spiel<br />

der Transzendenz<br />

Daß wir vom »Spiel des Lebens« sprechen, ist nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Redewendung; andererseits müssen wir uns davor hüten, e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>in</strong> das bloße Wort etwas h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu deuten. Es gilt vielmehr,<br />

dessen Se<strong>in</strong> zu klären, dabei <strong>die</strong> sachlichen Phänomene selbst zu<br />

fassen, darauf wir stoßen, und sie gleichsam mit dem zusammenhalten,<br />

was wir mit »Welt« me<strong>in</strong>en.<br />

Spiel besagt e<strong>in</strong>mal das Spielen <strong>in</strong> der Weise, daß wir damit<br />

das Vollziehen des Spiels me<strong>in</strong>en; zweitens das Spiel als das<br />

Ganze e<strong>in</strong>er Regelung, gemäß dem e<strong>in</strong> Spielen sich vollzieht.<br />

Aber das Spiel als Spielen ist eben nicht nur das Befolgen von<br />

Splelregeln, e<strong>in</strong> Verhalten danach. Damit treffen wir das Wesen<br />

des Spiels nicht. Im Spiel gehören Spielregel und Spieler nicht<br />

nur unmittelbar zusammen, sondern im Spiel liegt mehr: Es ist<br />

von vornhere<strong>in</strong> etwas Ursprünglicheres. Wir sagen roh: e<strong>in</strong>e<br />

gPwlsse Freude am Spiel; aber nicht nur an ihm, sondern im


312 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Spielen selbst. Spielen ist se<strong>in</strong>em Grundcharakter nach e<strong>in</strong> In­<br />

Stimmung-se<strong>in</strong>, Gestimmtse<strong>in</strong>; ja, sogar umgekehrt gilt: zu jeder<br />

Stimmung gehört Spiel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz weiten S<strong>in</strong>ne. Nicht<br />

nur im Spielen liegt Freude, sondern <strong>in</strong> aller Freude - und nicht<br />

nur <strong>in</strong> ihr -, <strong>in</strong> jeder Stimmung liegt so etwas wie e<strong>in</strong> Spiel.<br />

Denn »<strong>die</strong> Spiele« s<strong>in</strong>d je nur bestimmte faktische Möglichkeiten<br />

und Ausformungen des Spielens. Wir spielen nicht, weil es<br />

Spiele gibt, sondern umgekehrt: Es gibt Spiele, weil wir spielen,<br />

und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiten S<strong>in</strong>ne des Spielens, das sich nicht<br />

notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sichbeschäftigen mit Spielen äußert.<br />

Das Spielen ist demnach 1. ke<strong>in</strong>e mechanische Abfolge von<br />

Vorgängen, sondern e<strong>in</strong> freies, d. h. immer regelgebundenes Geschehen.<br />

2. Dabei ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Geschehen nicht wesentlich das<br />

Handeln und Tun, sondern das Entscheidende am Spielen ist<br />

gerade der spezifische Zustandscharakter, das eigentümliche<br />

Sich-dabei-bef<strong>in</strong>den. 3. Weil so nicht das Verhalten das Wesentliche<br />

im Spielen ist, deshalb ist auch <strong>die</strong> Regelung von anderem<br />

Charakter, nämlich: Die Regeln bilden sich erst im Spielen. Die<br />

B<strong>in</strong>dung ist e<strong>in</strong>e freie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz besonderen S<strong>in</strong>ne. Das<br />

Spielen spielt sich, und zwar jedesmal erst auf e<strong>in</strong> Spiel e<strong>in</strong>, das<br />

sich dann ablösen kann als Regelsystem. In <strong>die</strong>sem Siche<strong>in</strong>spielen<br />

auf ... entsteht erst das Spiel, muß aber nicht sich ausformen<br />

zu Regelsystem, Vor-schriften. Dar<strong>in</strong> liegt aber 4. Die<br />

Spielregel ist ke<strong>in</strong>e feste, irgendwoher bezogene Norm, sondern<br />

ist wandelbar im Spielen und durch das Spielen. Dieses schafft<br />

sich selbst jedesmal gleichsam den Raum, <strong>in</strong>nerhalb dessen es<br />

sich bilden und d. h. zugleich umbilden kann.<br />

In <strong>die</strong>sem ursprünglichen, weiten und schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

metaphysischen S<strong>in</strong>n ist der Ausdruck »Spiel« zu nehmen,<br />

wenn wir jetzt sagen: »Welt« ist der Titel für das Spiel, das <strong>die</strong><br />

Transzendenz spielt. Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist <strong>die</strong>ses ursprüngliche<br />

Spielen des Spiels, auf das e<strong>in</strong> jedes faktische Dase<strong>in</strong> sich<br />

e<strong>in</strong>spielen muß, um sich abspielen zu können, derart, daß ihm<br />

faktisch so oder so mitgespielt wird <strong>in</strong> der Dauer sei~er Existenz.<br />

§ 36. Welt als »Spiel des Lebens« 313<br />

Es ist nun wesentlich, daß der geme<strong>in</strong>e Verstand gleichsam<br />

nichts davon merkt, von <strong>die</strong>sem ursprünglichen Spiel der Transzendenz,<br />

und er gerät deshalb sofort <strong>in</strong> Entsetzen, wenn ihm<br />

das Ans<strong>in</strong>nen gestellt wird, auf e<strong>in</strong> Spiel gesetzt zu se<strong>in</strong> -, wo<br />

doch alles se<strong>in</strong>e festen Regeln und Normen hat, se<strong>in</strong>e behäbige<br />

Sicherheit. Das menschliche Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spiel ausliefern?<br />

Den Menschen auf das Spiel des Dase<strong>in</strong>s setzen? In der Tat!<br />

Aber wir dürfen nicht vergessen: Spiel wird erstens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ganz weiten S<strong>in</strong>ne genommen, und solches Spiel ist alles andere<br />

als »spielerisch«, bloßes Spiel gegenüber der Wirklichkeit -<br />

<strong>die</strong>sen Unterschied gibt es gar nicht <strong>in</strong> der Transzendenz. Vor<br />

allem aber ist als Spiel nicht charakterisiert das jeweilige faktische<br />

Verhalten, sondern das, was es ermöglicht. Damit ist<br />

gesagt, daß <strong>die</strong>ses Spiel zunächst gerade verborgen ist. Zweitens<br />

wIrd< Spiel genommen als <strong>in</strong> sich übersteigend übersprungen,<br />

vorgängig erschlossen.<br />

E<strong>in</strong> Spiel ist nicht e<strong>in</strong> Sichabspielen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Subjekt, sondern<br />

umgekehrt. In <strong>die</strong>sem Spiel der Transzendenz ist schon<br />

Jedes Seiende, dazu wir uns verhalten, umspielt, und alles Verhalten<br />

auf <strong>die</strong>ses Spiel e<strong>in</strong>gespielt.<br />

Aber gerade dann, wenn <strong>die</strong> Transzendenz e<strong>in</strong> Spiel se<strong>in</strong> soll,<br />

gerät doch alles <strong>in</strong>s Wanken. Wir sagten früher: Zur Transzendenz<br />

gehört Se<strong>in</strong>sverständnis. 1 Das Se<strong>in</strong>, das da verstanden wird,<br />

I Die Frage nach dem Begriff des Se<strong>in</strong>s und all dem, was dar<strong>in</strong> beschlossen<br />

hegt, ist der Ubergang des selbstverständlichen Se<strong>in</strong>sverstehens zum radikalen<br />

Regreifenwollen.<br />

vVas ist das Verstehen des Se<strong>in</strong>s? Woh<strong>in</strong> sollen wir uns versetzen, um den<br />

Ausgang für <strong>die</strong> Frage zu nehmen? Nun, WIr brauchen uns gar nicht erst darem<br />

zu versetzen, wir bewegen uns schon Immer dann, WIr, das SeIende, das wir je<br />

smd, das wir Mensch nennen und davon WIr bestImmte Vorstellungen und<br />

ßpgnffe haben, sogar Anthropologie.<br />

Se<strong>in</strong>sverständms ist etwas, was an Menschen vorkommt, e<strong>in</strong>e EIgenschaft,<br />

EIgentümlichkeIt; also 1st Se<strong>in</strong>sverständnis eme EIgenschaft des Menschen, <strong>in</strong><br />

das Wesen des Menschen mit embezogen. Daraus folgt aber hIer, daß doch<br />

"ben, wenn anders <strong>die</strong>se Semsfrage Grundfrage der Metaphysik ist, der<br />

vlt'nsch zum Zentrum der Problematik wIrd. GIbt es e<strong>in</strong>e radIkalere Recht-


314 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

ist zum Teil m<strong>in</strong>destens offenbar geworden <strong>in</strong> dem, was Platon<br />

als Ideen erkannte, und von denen wissen wir doch, daß sie über<br />

dem Wechsel und Wandel der Zeit s<strong>in</strong>d - ewig; das System der<br />

Kategorien, auch wenn wir es noch nicht vollständig kennen, ist<br />

eben gerade das An-sich schlechth<strong>in</strong>.<br />

Solche Argumente kl<strong>in</strong>gen zunächst sehr überzeugend, und<br />

doch s<strong>in</strong>d sie mehr zur Beruhigung des geme<strong>in</strong>en Menschenverstandes<br />

gesprochen als aus der Frage nach dem, was da<br />

Problem werden soll. Gerade das sollen wir sehen lernen, daß,<br />

was wir Se<strong>in</strong>sverständnis nennen, nicht <strong>die</strong> Harmlosigkeit e<strong>in</strong>er<br />

Analyse von Kategorien hat, <strong>die</strong> man mit der Zeit vollständig<br />

zusammenbekommt wie e<strong>in</strong>e Münzsammlung, daß das Verständnis<br />

des Se<strong>in</strong>s und <strong>die</strong>ses selbst sich vielmehr bildet mit der<br />

Bildung der Welt.<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong> als Transzendenz, als transzendentales Spiel<br />

ist immer Weltbildung.<br />

Für den recht knappen Horizont des' geme<strong>in</strong>en Verstandes<br />

ersche<strong>in</strong>t gerade das Kategoriale, wenn er es überhaupt kennt,<br />

stabil bzw. - was nur <strong>die</strong> Kehrseite <strong>die</strong>ser Art von E<strong>in</strong>sicht istwenn<br />

<strong>die</strong>ses Feste <strong>in</strong> Fluß gerät, weiß er nur noch e<strong>in</strong>s: sich über<br />

den Relativismus zu beklagen.<br />

fertigung des philosophischen Faktums der Anthropologie als <strong>die</strong>, daß sie, wie<br />

jetzt doch gezeigt, den Boden bereitstellt für den Ausgang und <strong>die</strong> Ausbildung<br />

der Se<strong>in</strong>sfrage?<br />

Doch gemach - ist das Se<strong>in</strong>sverständnis nur e<strong>in</strong>e Eigenschaft, <strong>die</strong> wir als<br />

e<strong>in</strong>e vielleicht bisher zu wenig beachtete Bestimmung des Wesens des Menschen<br />

<strong>die</strong>sem e<strong>in</strong>fach [...]* oder ist das, was wir im Se<strong>in</strong>sverständnis <strong>in</strong>s Licht<br />

zu stellen versuchten, das Ursprünglichste im Wesen des Menschen, so daß<br />

umgekehrt von hier aus allererst <strong>die</strong> radikale Frage nach dem Wesen des<br />

Menschen <strong>in</strong> Gang kommt, daß gerade <strong>die</strong> Anthropologie ausgeschaltet bleiben<br />

muß? Aber - wozu ausschalten? Es folgt jetzt aus <strong>die</strong>ser Problematik<br />

höchstens, daß <strong>die</strong> Anthropologie aus der zentralen Orientierung an der Se<strong>in</strong>sfrage<br />

neu begründet werden muß. Also <strong>die</strong> Idee der philosophischen Anthropologie<br />

als Zentrum bleibt und ist so gerade allererst begründet.<br />

* [Zwei Wörter unleserlich.]<br />

§ 36. Welt als »Spiel des Lebens« 315<br />

b) Transzendenz qua Se<strong>in</strong>sverständnis als Spiel<br />

Wir' gebrauchen »Spiel« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglichen und zugleich<br />

weiten S<strong>in</strong>ne. Wir fassen <strong>die</strong> Transzendenz als Spiel, <strong>die</strong> Transzendenz<br />

selbst zunächst h<strong>in</strong>sichtlich des Momentes des Se<strong>in</strong>sverständnisses,<br />

mith<strong>in</strong> hat auch <strong>die</strong>ses Spielcharakter. Wenn wir<br />

vom 'In-der-Welt-se<strong>in</strong> als Spielen sprechen, dann ist hier nicht<br />

geme<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong> Spiel spielen im vulgären S<strong>in</strong>ne, nur übertragen<br />

und .gleichsam vergrößert auf das ganze Dase<strong>in</strong>, oder gar aber:<br />

mit dem Seienden spielen, aber auch nicht spielen mit dem<br />

Se<strong>in</strong>; sondern: das Se<strong>in</strong> spielen, erspielen; <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Spiele erbilden.<br />

Vielmehr gilt es, das spezifische Geschehen und se<strong>in</strong>e<br />

Bewegtheit zu fassen, <strong>die</strong> wir mit Spielen überhaupt me<strong>in</strong>en.<br />

Die Interpretation dessen, was Welt besagt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesenszug<br />

zu fassen, verlangt, daß wir das Phänomen Welt <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>neren Zusammenhang mit dem Dase<strong>in</strong> selbst br<strong>in</strong>gen und<br />

e<strong>in</strong>e Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> den Blick br<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> wir<br />

vorgreifend das In-der-Welt-se<strong>in</strong> nennen. Diese Grundverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s ist aber gleichzeitig <strong>die</strong> Grundstruktur der<br />

Transzendenz, wie wir erkennen sollen.<br />

Transzendenz hat sich uns nähergebracht auf dem Wege der<br />

Klärung des Se<strong>in</strong>sverständnisses, d. h. des Grundfaktums, daß<br />

wir im Verhalten zum Seienden über das Seiende schon h<strong>in</strong>weggestiegen<br />

s<strong>in</strong>d und nur <strong>in</strong>sofern es als Seiendes verstehen<br />

können. Dieses Se<strong>in</strong>sverständnis kennzeichnen wir als Transzendenz,<br />

mit der E<strong>in</strong>schränkung, daß <strong>die</strong> Transzendenz durch<br />

das Se<strong>in</strong>sverständnis nicht erschöpfend bestimmt ist. Gleichwohl<br />

soll jetzt das Se<strong>in</strong>sverständnis uns zum Leitfaden <strong>die</strong>nen,<br />

das In-der-Welt-se<strong>in</strong> und damit das Phänomen der Weltanschauung<br />

zu <strong>in</strong>terpretieren und als e<strong>in</strong> wesentliches Moment<br />

der <strong>Philosophie</strong> selbst zu begreifen.<br />

Um <strong>die</strong>s zu bewerkstelligen, ist notwendig, mehr als bisher<br />

von der bisherigen Fragestellung der Geschichte der Metaphysik<br />

und <strong>Philosophie</strong> überhaupt abzuweichen, und um <strong>die</strong>sen<br />

Schritt verständlich zu machen, habe ich vorgreifend e<strong>in</strong> merk-


316 Weltanschauung und In-der-Welt-sem<br />

§ 36. Welt als »Sp[el des Lebens«<br />

317<br />

würdiges Phänomen zu verdeutlichen versucht, das auf den<br />

ersten Blick wenig geeignet ersche<strong>in</strong>t, das Grundphänomen des<br />

Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> Transzendenz, zu kennzeichnen: das In-der-Weltse<strong>in</strong><br />

oder <strong>die</strong> Welt als Spiel. Dieser Ausdruck ist, wie schon <strong>die</strong><br />

Erwähnung des kantischen Sprachgebrauches anzeigt, nicht<br />

willkürlich.<br />

Daß wir das Leben, das In-der-Welt-se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Welt selbst als<br />

Spiel betrachten, hat se<strong>in</strong>e Gründe. Es kommt darauf an, uber<br />

den vulgären Ausdruck und se<strong>in</strong>e Bedeutung h<strong>in</strong>auszukommen,<br />

nicht <strong>in</strong> der Weise, daß wir uns e<strong>in</strong>en Begriff des Spiels zurechtlegen<br />

und dann auf das Dase<strong>in</strong> anwenden, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß das<br />

Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong> vergrößertes Spiel wäre, im Unterschied von gewöhnlichen<br />

Spielzeugen. Vielmehr soll uns das Phänomen des<br />

Spiels <strong>die</strong> Anweisung geben auf <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heitlichkeit e<strong>in</strong>es Geschehens,<br />

das <strong>die</strong> Transzendenz im Grunde bestimmt.<br />

Wir nehmen nochmals <strong>in</strong> vier Punkten <strong>die</strong> Grundcharaktere<br />

dessen zusammen, was wir als Spiel herausstellen wollen, und<br />

zwar jetzt, um <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heitlichkeit und Bewegtheit des Phänomens<br />

zu betonen.<br />

1. Spielen ist e<strong>in</strong> freies Bilden, das je se<strong>in</strong>e eigene E<strong>in</strong>stImmigkeit<br />

hat, sofern es sich SIe im Spielen bildet.<br />

2. Spielen ist damit, obzwar freies Bilden, gerade <strong>die</strong> B<strong>in</strong>dung,<br />

aber nicht e<strong>in</strong> abgelöstes Gebilde, sondern das bIldende<br />

Sichb<strong>in</strong>den an und <strong>in</strong> das spielende Bilden selbst.<br />

3. SpIelen ist daher nie e<strong>in</strong> Verhalten zu e<strong>in</strong>em Gegenstand,<br />

überhaupt ke<strong>in</strong> bloßes Verhalten zu ... , sondern das Spielen des<br />

Spiels und Spiel des Spielens zumal e<strong>in</strong> ursprünglich <strong>in</strong> sich<br />

unzertrennliches Geschehen.<br />

4. Spielen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne nennen wir das In-der-Welt-Sem,<br />

<strong>die</strong> Transzendenz, <strong>die</strong> wir zunächst immer kennzeichneten als<br />

Überstieg über das Seiende. Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> hat immer<br />

schon zuvor das Seiende überspielt und umspielt; <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Spielen bildet es allererst den Raum, sogar im wirklichen S<strong>in</strong>ne,<br />

<strong>in</strong>nerhalb dessen wir Seiendes antreffen.<br />

c) Die Korrelation von Se<strong>in</strong> und Denken.<br />

Ihre Verengung <strong>in</strong> der »logischen« Auslegung<br />

des Se<strong>in</strong>sverständnisses<br />

Wenn wir nun, <strong>in</strong> den Grenzen der bisherigen Erörterung bleibend,<br />

<strong>die</strong> Transzendenz qua Se<strong>in</strong>sverständnis als Spiel fassen,<br />

stoßen wir gerade hier auf <strong>die</strong> größten Schwierigkeiten. Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

ist wesenhaft zum Spiel der Transzendenz gehörig,<br />

also selbst e<strong>in</strong> Spiel. 2<br />

Er<strong>in</strong>nern wir kurz daran, daß bei Platon erstmals ausdrücklich<br />

das Semsverständnis als Problem heraustrat und daß es se<strong>in</strong>e<br />

Losung <strong>in</strong> dem fand, was man gewöhnlIch Ideenlehre nennt.<br />

Idee ist das, was am Seienden als es selbst gesichtet wird, was am<br />

Seienden das Seiende ist, das Wasse<strong>in</strong> der D<strong>in</strong>ge oder ihr Wesen.<br />

Hier zeigt sich, daß <strong>die</strong> Idee und ihre Bestimmung <strong>in</strong> Korrelation<br />

zum "A.oyor;, gesetzt werden. Freilich wäre es zu weit gegangen,<br />

wonten wir sagen, sie sei der Ursprung schlechth<strong>in</strong>; gleichwohl<br />

1st <strong>die</strong>ser Schritt, den <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> hier vollzog, von entscheidender<br />

Bedeutung geworden. Er prägt sich, kurz gesagt, <strong>in</strong> der<br />

nachkommenden Geschichte der <strong>Philosophie</strong> dar<strong>in</strong> aus, daß das<br />

»Se<strong>in</strong>« Korrelat des "A.oyor;" der ratlO, Vernunft wird.<br />

Die grandioseste Ausgestaltung fand <strong>die</strong>se Korrelation <strong>in</strong> Hegels<br />

»Logik«, <strong>die</strong> nichts anderes darstellen soll als das absolute<br />

Selbstwissen der Vernunft um sich selbst; dem Inhalt nach ist,<br />

und zwar mit klarem Bewußtse<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ses Werk Metaphysik, totale<br />

,Erkenntnis des Se<strong>in</strong>s; aber nicht ohne Grund nennt Hegel<br />

SIe »Logik«, um auszudrücken, daß das Ganze des Se<strong>in</strong>s (Substanzialitat)<br />

<strong>in</strong> weitestem S<strong>in</strong>ne zentriert <strong>in</strong> der Vernunft (Sub­<br />

Jektivität) ist. Das Wesen des Se<strong>in</strong>s liegt also im Subjekt. Se<strong>in</strong><br />

2 Semsverstandms als SpIel; von hier aus 1st Transzendenz, In-der-Welt­<br />

S('Ill, Welt, Weltanschauung zu begreIfen. HIerzu 1st notwendIg, deutlIcher als<br />

bisher zu erklaren »Se<strong>in</strong>sverstanduIs« - dIe Art, WIe es bIsher gefaßt wurde,<br />

um daran zu ennessen, was unser Versuch beansprucht. Jetzt mcht mehr mIthoren<br />

das Herabsetzende, SpIel, »nur«, »bloß«, umgekehrt ansehen, Macht 1m<br />


318 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

und der ganze Reichtum dessen, was <strong>die</strong>se Idee <strong>in</strong> sich schließt,<br />

ist Denken. Bedenken wir, daß <strong>in</strong> Hegels »Logik« alle wesentlichen<br />

Motive der abendländischen Metaphysik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen<br />

Idee konzentriert s<strong>in</strong>d, daß Se<strong>in</strong>sverständnis, vernünftiges Denken<br />

<strong>in</strong> der Gesetzlichkeit derselben, und zwar <strong>in</strong> der frühen<br />

Form der Dialektik unterstellt ist, dann will es merkwürdig<br />

ersche<strong>in</strong>en, das Se<strong>in</strong>sverständnis auf den schwankenden Boden<br />

e<strong>in</strong>es Spiels zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Gleichwohl ist notwendig, aus e<strong>in</strong>em wesentlichen Grunde<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Richtung zu fragen, und zwar weil <strong>in</strong> der bisherigen<br />

Metaphysik e<strong>in</strong>e wesentliche Verengung und Veräußerlichung<br />

des Se<strong>in</strong>sproblems liegt. 3 Dieser Grund wird uns deutlich, und<br />

er erhält se<strong>in</strong>e Wirkungskraft, wenn wir uns <strong>die</strong> Frage vorlegen:<br />

Wie kommt es gerade zu <strong>die</strong>ser Korrelation von Se<strong>in</strong> und Denken,<br />

Se<strong>in</strong> und Vernunft? Man könnte darauf h<strong>in</strong>weisen, daß <strong>die</strong><br />

antike <strong>Philosophie</strong> mit e<strong>in</strong>er These beg<strong>in</strong>nt, <strong>die</strong> nichts anderes<br />

zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen sche<strong>in</strong>t-als <strong>die</strong>se Korrelation von Se<strong>in</strong><br />

und Denken. Parmenides: »Denn e<strong>in</strong> und dasselbe ist Denken<br />

und Se<strong>in</strong>« (Diels, Fragment 5), beide gehören zusammen. Aber<br />

<strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>weis genügt schon deshalb nicht, weil voEIv nicht<br />

ohne weiteres mit Kants oder Hegels Vernunftbegriff sich<br />

gleichsetzen läßt; vor allem aber, weil <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>deutige Orientierung<br />

des Se<strong>in</strong>sproblems auf den A.6yo~ erst später e<strong>in</strong>setzte,<br />

und zwar aus zwei Hauptmotiven. Wenn nach dem Se<strong>in</strong> gesucht<br />

wird, gleichsam nach der greifbarsten Form desselben, dann<br />

drängt es sich auf <strong>in</strong> der Sprache, und zwar im »ist«, der Kopula;<br />

es ist gewissermaßen beheimatet im Satz - A.6yo~. Diese Gestalt<br />

des Se<strong>in</strong>s wird um so unbedenklicher aufgegriffen, als sie zugleich<br />

mitbekundet das Wahrse<strong>in</strong> im Unterschied vom Sche<strong>in</strong>. 4<br />

, Se<strong>in</strong>, Vernunft, ratio; alle nicht speZIfisch theoretischen rationalen Verhaltungen:<br />

irrational; mit <strong>die</strong>sem Unterschied wurde alles bestritten und<br />

freilich auch, wie mIt jeder DichotomIe, bestreitbar.<br />

• a ist b hat nicht nur <strong>die</strong> Bedeutung, daß b dem a als Pnidikat zukommt,<br />

sondern auch: a ist <strong>in</strong> der Tat und WahrheIt b. a ist b besagt zweitens das<br />

Wahrse<strong>in</strong> des b-se<strong>in</strong>s von a.<br />

§ J6. Welt als »Spiel des Lebens« 319<br />

Auf Grund <strong>die</strong>ses elementaren Tatbestandes, dem wir hier<br />

nicht weiter nachfragen können, kommt der Satz, A.6yo~, zu<br />

e<strong>in</strong>er ausgezeichneten Funktion im Problem des Se<strong>in</strong>s, bzw. <strong>die</strong><br />

Diszipl<strong>in</strong>, <strong>die</strong> den A.6yo~ zum Thema hat: <strong>die</strong> Rolle der Logik <strong>in</strong><br />

der Metaphysik.<br />

Nebenbei bemerkt: Dabei ist nicht zu bestreiten, daß hier e<strong>in</strong><br />

Zusammenhang besteht; Frage bleibt nur, ob e<strong>in</strong> ursprünglicher<br />

und der ursprünglichste für <strong>die</strong> Frage nach dem Se<strong>in</strong>. Zu<br />

bestreiten ist, daß der Satz auslegend, fun<strong>die</strong>rend ist.<br />

Aber was nun erst <strong>die</strong> Herrschaft des A.6yo~ und der Logik <strong>in</strong><br />

der Metaphysik befestigte, ist etwas anderes und sehr schwer zu<br />

sehen, vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Möglichkeit zu begründen und dementsprechend<br />

zu überw<strong>in</strong>den.<br />

Alles ausdrückliche Fragen nach dem Se<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Übergang<br />

vom vulgären Se<strong>in</strong>sverständnis zu e<strong>in</strong>em Begreifen; alles Begreifen,<br />

wie der Name sagt, begriffliches Bestimmen. Das<br />

Begreifen des Se<strong>in</strong>s ist rationale, logische Determ<strong>in</strong>ation (zumal<br />

Erfahrung ausgeschlossen ist). Nun zeigt sich das Merkwürdige:<br />

Was als <strong>die</strong> Weise des Bestimmens des Se<strong>in</strong>s und se<strong>in</strong>er Strukturen<br />

fungiert, <strong>die</strong> begriffliche, rationale logische Erkenntnis,<br />

wird zugleich zu demjenigen Bezug umgedeutet, der ursprünglIch<br />

und alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zugang zum Se<strong>in</strong> eröffnet. Die Weise des<br />

begrifflichen Bestimmens des Se<strong>in</strong>s wird zur Grundart des Verstehens<br />

von Se<strong>in</strong> überhaupt. Se<strong>in</strong>sverständnis ist, wenn man es<br />

uberhaupt als solches kennt, logisches Erfassen. Und so erst<br />

rückt das Se<strong>in</strong>sproblem völlig <strong>in</strong> den Bannkreis von Logik und<br />

Vernunft; es kommt noch h<strong>in</strong>zu, daß <strong>die</strong>se höchste Problematik<br />

des Se<strong>in</strong>s als strengste gesucht wird und der Rationalität der<br />

Mathematik angeglichen wird. Nicht ganz zu Unrecht hat man<br />

das Se<strong>in</strong>sproblem bei Platon »Logik des Se<strong>in</strong>s« genannt.<br />

Wie schwer es ist, aus <strong>die</strong>sem Kreis sich zu befreien, das wurde<br />

gelegentlich der Interpretation der »Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft«<br />

bzw. Kants Stellung zur transzendentalen E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

kurz angedeutet; daß er vor ihr zurückweicht, hat se<strong>in</strong>en<br />

Grund <strong>in</strong> der selbstverständlichen Übermacht des Vernunft be-


328 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

ist nicht das harmlose Subjekt, als welches es <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong><br />

angesetzt wird, das gleichsam immer <strong>in</strong> Verlegenheit kommt,<br />

wenn ihm zugemutet wird, als existierendes auch nur gedacht<br />

zu werden.<br />

Das Gallze, aus dem her sich das Dase<strong>in</strong> versteht, <strong>die</strong> Welt, ist<br />

ke<strong>in</strong> freischwebendes System ontologischer Sätze, sondern das<br />

Sichverstehen heißt, umwillen se<strong>in</strong>er selbst existieren, und <strong>die</strong>ses<br />

ist <strong>in</strong> sich Ausgesetztse<strong>in</strong> dem Seienden. Die Welt gibt das<br />

Dase<strong>in</strong> preis, setzt es der Notwendigkeit der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Seienden aus, das es nicht ist, und mit ihm selbst.<br />

Das Dase<strong>in</strong> ist preisgegeben an das Seiende, nicht erst dadurch,<br />

daß solches vorhanden ist, sondern Preisgegebenheit ist e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nere Bestimmung des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s als solchen.<br />

Zwar ergibt sich durch <strong>die</strong>se Interpretation der Transzendenz<br />

1. daß das Dase<strong>in</strong> als solches je schon mit und bei Seiendem ist,<br />

2. daß <strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong> bei ... und Mitse<strong>in</strong> nicht e<strong>in</strong> <strong>in</strong>differentes<br />

Gegenüberstehenhaben von Objekten ist, sondern Preisgegebense<strong>in</strong>.<br />

Aber der Charakter der Transzendenz, den wir als<br />

»Preisgabe« anzeigen, ist doch noch nicht h<strong>in</strong>reichend gefaßt.<br />

Denn auch jetzt sieht es noch so aus, als sei das Dase<strong>in</strong> gleichsam<br />

e<strong>in</strong> über dem Seienden schwebendes Subjekt, wenngleich dem<br />

preisgegeben.<br />

b) Preisgegebenheit als Geworfenheit<br />

Das Dase<strong>in</strong> ist nicht und wesenhaft nie vom Seienden isoliert<br />

und dabei nur »an« es preisgegeben, sondern als Dase<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>det<br />

es sich <strong>in</strong>mitten des Seienden. Das besagt wiederum nicht, es<br />

kommt unter anderem Seienden auch vor, sondern das »<strong>in</strong>mitten«<br />

besagt: Das Dase<strong>in</strong> ist vom Seienden, dem es preisgeben ist,<br />

durchwaltet. Das Dase<strong>in</strong> ist Körper und Leib und Leben; es hat<br />

Natur nicht nur und erst als Gegenstand der Betrachtung, sondern<br />

es ist Natur; aber eben nicht so, daß es e<strong>in</strong> Konglomerat von<br />

Materie, Leib und Seele darstellt; es ist Natur qua transzen<strong>die</strong>rendes<br />

Seiendes, Dase<strong>in</strong>, von ihr durchwaltet und durchstimmt.<br />

§ J7. Konkreteres Verständms der Transzendenz 329<br />

Je <strong>in</strong> der Weise e<strong>in</strong>es Gestimmtse<strong>in</strong>s bef<strong>in</strong>det sich das Dase<strong>in</strong><br />

mmitten des es durchwaltenden Seienden.<br />

Es geht hier um e<strong>in</strong>en grundsätzlich weiteren und ursprünglicheren<br />

Naturbegriff: natura, nasci, von sich her, dessen das<br />

Dase<strong>in</strong> als freies Selbst nicht mächtig ist. Das Dase<strong>in</strong> ist nicht<br />

erst auf Grund dessen, daß es sich e<strong>in</strong>fallen läßt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Beziehung<br />

zur Natur zu treten, sondern vor allem freien Verhalten<br />

zur Natur <strong>in</strong>mitten derselben. Es bef<strong>in</strong>det sich je schon <strong>in</strong> ihr.<br />

Dieser Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>in</strong>mitten <strong>die</strong>ser Durchwaltung von Seiendem<br />

ist das Dase<strong>in</strong> als solches nicht mächtig. Wir sagen daher:<br />

Das Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> das Seiende geworfen. Zum In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

gehört <strong>die</strong> Geworfenheit. Der Index <strong>die</strong>ses Grundcharakters der<br />

Transzendenz ist das, was wir als Stimmung kennen; wir s<strong>in</strong>d je<br />

so oder so gestimmt, auch dann und gerade dann, wenn wir uns<br />

nicht <strong>in</strong> extremen Ausschlägen e<strong>in</strong>er gehobenen oder gedrückten<br />

Stimmung halten, sondern <strong>in</strong> jener merkwürdig, meist<br />

gerade nicht beachteten, aber im Grunde unheimlichen Stimmung<br />

des sche<strong>in</strong>bar überhaupt Nichtgestimmtse<strong>in</strong>s.<br />

Erst <strong>in</strong> der Geworfenheit bestimmt sich das eigentliche Wesen<br />

der Preisgabe. Denn <strong>die</strong>se betrifft nicht nur, wie es zunächst<br />

sche<strong>in</strong>en könnte, das Verhalten des Dase<strong>in</strong>s zum Seienden -<br />

ganz abgesehen davon, daß im Begriff des Verhaltens zum Seienden<br />

nicht zum Ausdruck kommt, daß das sich Verhaltende<br />

wesenhaft je schon <strong>in</strong>mitten des Seienden, von <strong>die</strong>sem durchwaltet<br />

ist. Alles Verhalten zum Seienden erwächst vielmehr<br />

Immer e<strong>in</strong>em Schon-preisgegeben-se<strong>in</strong> an <strong>die</strong>ses im S<strong>in</strong>ne der<br />

Geworfenheit; nicht <strong>in</strong>nerhalb und gelegentlich e<strong>in</strong>es Verhaltens<br />

zum Seienden ist es an <strong>die</strong>ses preisgegeben, sondern alles<br />

Verhalten als Weise des Dase<strong>in</strong>s geschieht <strong>in</strong> der Geworfenheit.<br />

Alles Verhalten ist wesenhaft bef<strong>in</strong>dliches bzw. zum Se<strong>in</strong>sverständnis,<br />

das jedes Verhalten zum Seienden erhellt und führt,<br />

gehört e<strong>in</strong> Gestimmtse<strong>in</strong>. Grundsätzlich gesprochen: Der Über­<br />

,tieg über das Seiende geschieht <strong>in</strong> und aus e<strong>in</strong>em Sichbef<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong>mitten des Seienden. Zur Transzendenz, dem In-der-Weltse<strong>in</strong>,<br />

gehört Geworfenheit.


320 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

griffes, nicht nur <strong>in</strong> der besonderen Form des Aufklärungszeitalters.<br />

Die Hartnäckigkeit <strong>die</strong>ses Problemansatzes zeigt sich ~vor allem<br />

aber dar<strong>in</strong>, daß, wenn man schon <strong>die</strong>se Herrschaft der<br />

Vernunft <strong>in</strong> der Vernunft stürzen will, dem Rationalismus es<br />

höchstens reicht zu e<strong>in</strong>em Irrationalismus, d. h. zu e<strong>in</strong>er Position,<br />

<strong>die</strong> mit der ersten das Fundament teilt. Ir-rationalismus: <strong>die</strong>ser<br />

lebt nur von jenem, ist <strong>in</strong> allem, was begriffliche Interpretation<br />

der Bestimmung ausmacht, bei jenem zu Gast. Gewonnen ist gar<br />

nichts, nur größerer Vorrang und mehr Sche<strong>in</strong>; denn es sieht nur<br />

so aus, als sei man nunmehr dem, was <strong>die</strong> Rationalität nicht zu<br />

fassen bekommt, gerecht geworden. Andererseits hat der Rationalismus<br />

erneut den Vorteil, für sich <strong>die</strong> Klarheit des Begriffes <strong>in</strong><br />

Anspruch zu nehmen gegenüber dem Dunstkreis dessen, was<br />

man »Lebensphilosophie« nennt. So wird auch <strong>die</strong> spontane<br />

Reaktion gegen den Versuch, das Se<strong>in</strong>sproblem und <strong>die</strong>Transzendenz<br />

überhaupt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spiel zu gründen, <strong>die</strong> se<strong>in</strong>, daß man dar<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en Irrationalismus sieht bzw. befürchtet. Damit wäre freilich<br />

e<strong>in</strong>e bequeme Etikette gefunden, aber mehr auch nicht.<br />

Doch wird man sagen: Warum denn <strong>die</strong> Metaphysik nicht <strong>in</strong><br />

der sicheren und bestimmten Hut der Logik belassen? Wozu<br />

denn der Kampf gegen den Rationalismus, wo er doch der Geschichte<br />

der Metaphysik so große Antriebe gegeben hat?<br />

Alle<strong>in</strong>, es geht ja nicht um den Kampf gegen den Rationalismus,<br />

sowenig wie um e<strong>in</strong>e Parteigängerschaft mit dem Irrationalismus,<br />

sondern alle<strong>in</strong> um <strong>die</strong> Ermöglichung e<strong>in</strong>er radikaleren<br />

Interpretation der Transzendenz, des Se<strong>in</strong>sverständnisses,<br />

angesichts dessen, daß der Myor; nur auslegende und bestimmende<br />

Funktion hat, was nicht heißt, daß er im Problem des<br />

Se<strong>in</strong>s überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle hätte.<br />

Es gilt zu sehen, daß Se<strong>in</strong>sverständnis vor allem logischen<br />

Aussagen und Bestimmen liegt und auch <strong>die</strong>ses erst ermöglicht.<br />

Wir müssen fragen, was das ist, was wir mit Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

me<strong>in</strong>en. Zwar wurde schon mancherlei und Wichtiges darüber<br />

gesagt (vgl. I. Weg: Entwürfe der.Se<strong>in</strong>sverfassung, Grundbegrif-<br />

§ J6. Welt als »Spiel des Lebens« 321<br />

fe). Auch wurde schon darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

offenbar e<strong>in</strong> Urfaktum des Dase<strong>in</strong>s ist, daß es nur auf <strong>die</strong>sem<br />

Grunde zu Seiendem sich verhalten kann. Und doch will <strong>die</strong>ses<br />

nicht genügen, auch nicht, wenn wir uns daran machen, Se<strong>in</strong>sbestimmungen<br />

wirklich aufzuzeigen. Das ist schon <strong>in</strong> historischen<br />

Er<strong>in</strong>nerungen möglich: Ideenlehre. Aber gerade hier e<strong>in</strong><br />

F<strong>in</strong>gerzeig: Zwar ist es verhältnismäßig leicht, wenn e<strong>in</strong>mal<br />

gezeigt, das Wasse<strong>in</strong> von etwas zu denken als das, von dem her<br />

sich jedes e<strong>in</strong>zelne Dieses da bestimmt. Diese erstmalige große<br />

E<strong>in</strong>sicht, <strong>die</strong> wir nie abschwächen dürfen dadurch, daß sie uns<br />

allzu bekannt zu werden droht, drängt auch schon das Problem<br />

<strong>in</strong> Sackgassen. Die E<strong>in</strong>sicht war zu fasz<strong>in</strong>ierend, um ursprünglich<br />

weiter zu drängen: XWQLU!lOr;, !lEi}E~Lr;, ÖvtWr; öv.<br />

Der Überschritt wurde <strong>in</strong> der elementaren E<strong>in</strong>fachheit des<br />

ersten Sehens vollzogen, ohne sich des Ausgangs h<strong>in</strong>reichend zu<br />

versichern. Sofern künftig das Resultat das Beherrschende<br />

bleibt, wurde nur beiläufig und meist gar nicht der Schritt noch<br />

e<strong>in</strong>mal zurück gewagt, um ihn <strong>in</strong> größerer Helle und Weite<br />

erneut zu vollziehen. Man folgte dem im Se<strong>in</strong>sverständnis liegenden<br />

Überstieg über das Seiende, ohne <strong>die</strong> Möglichkeit zu<br />

haben, <strong>die</strong>ses Seiende zuvor so weit und unverdeckt bereitzuhalten,<br />

daß der Überschritt mit Bezug auf es <strong>in</strong> der ganzen Weite<br />

und' Mannigfaltigkeit vollzogen werden konnte. Im Verfolg des<br />

t'berstiegs und fasz<strong>in</strong>iert von der Sicht auf das Se<strong>in</strong> (Ideen)<br />

wurde das Seiende sogar herabgedrückt zum bloßen Sprungbrett,<br />

das !ltl öv. (Wenngleich auch hier e<strong>in</strong>e Wendung bei<br />

Platon, kam sie nicht zur Auswirkung.)<br />

Das Se<strong>in</strong>sverständnis wurde aus e<strong>in</strong>em bestimmten undifferenzierten<br />

Ansatz und <strong>in</strong> bestimmter Richtung <strong>in</strong> den Begriff<br />

gedrängt, und ohne daß es selbst h<strong>in</strong>reichend aufgehellt war, als<br />

das, was da im Ganzen begriffen werden sollte, ohne daß vor<br />

allem derjenige Boden gesichert war, <strong>in</strong> dem es als solches gewachsen.<br />

Daher kam über e<strong>in</strong>e bloße Ortsangabe ('l'UXt't) und <strong>die</strong><br />

besagte logische Charakteristik nichts heraus. Sokrates ist freilich<br />

nicht der »Erf<strong>in</strong>der« des Begriffes und der Def<strong>in</strong>ition.


322 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Es bleibt seitdem etwas unbefragt und ungeklärt, was Ausgang<br />

und Raum für alle Fragen nach dem Se<strong>in</strong> darstellt: <strong>die</strong><br />

Charakteristik des Se<strong>in</strong>sverständnisses gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gestalt<br />

und Funktion vor aller logisch-ontologischen Beurteilung, <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser vorontologischen Gestalt <strong>in</strong> der ganzen wesenhaften Weite<br />

und Vielschichtigkeit. Dieses ist aber nur zu gew<strong>in</strong>nen, wenn<br />

das Se<strong>in</strong>sverständnis als Ganzes voll und ausdrücklich <strong>in</strong> denjenigen<br />

Zusammenhang gestellt werden kann, dem es wesensmäßig<br />

zugehört: Transzendenz - In-der-Welt-se<strong>in</strong>.<br />

Es besteht aber deshalb, weil wir <strong>die</strong>ses Problem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

ganzen Schärfe sehen, ke<strong>in</strong>e Veranlassung, überlegen zu tun;<br />

denn das ist dem Wesen der Sache nach nur möglich auf dem<br />

Wege e<strong>in</strong>er grundsätzlichen Revision und radikalen Wiederholung<br />

des ersten Anbruches. Wir bleiben daher notwendig den<br />

Vorläufern verpflichtet.<br />

Um nun <strong>die</strong>ses unmittelbare Ganze des Se<strong>in</strong>sverständnisses zu<br />

sehen, ist es zunächst notwendig, das Dase<strong>in</strong> nach den schon<br />

mehrfach genannten Grundstrukturen im Blick zu haben - das<br />

Vorhandene, Mitdase<strong>in</strong> der Anderen, Selbstse<strong>in</strong> - und <strong>die</strong>ses <strong>in</strong><br />

der konkreten E<strong>in</strong>heit des geschichtlichen Dase<strong>in</strong>s mit dem ganzen<br />

Reichtum der wesentlichen Möglichkeiten. Vor allem aber<br />

gilt es im faktischen Dase<strong>in</strong>, im Se<strong>in</strong>sverständnis desselben, <strong>die</strong><br />

Vielfältigkeit des Se<strong>in</strong>s <strong>die</strong>ses Seienden zu verstehen, wobei das<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis aber nicht von e<strong>in</strong>er Region <strong>in</strong> <strong>die</strong> andere h<strong>in</strong>aus-<br />

und übertritt, sondern gleichsam unmittelbar h<strong>in</strong> und her<br />

schw<strong>in</strong>gt im Verstehen von Natur und Geschichte zum Beispiel.<br />

Schon das »und« ist hier irreführend: das Schicksal e<strong>in</strong>es Menschen<br />

und e<strong>in</strong>es Volkes wird unmittelbar verstanden, ebenso wie<br />

e<strong>in</strong> Wetterumschlag, irgende<strong>in</strong> Naturumschwung oder das Weben<br />

und Regen unseres eigenen leiblichen Dase<strong>in</strong>s, das Schicksal<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Naturkatastrophe; statt dessen kennen wir mögliche Gebiete<br />

je ausgesondert: Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft,<br />

Ontologie; und doch will sich gerade das Eigentümliche so<br />

nicht e<strong>in</strong>stellen. Dieses H<strong>in</strong>- und Herschw<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Vielstimmigkeit<br />

des Se<strong>in</strong>sganzen ist es, was dem Se<strong>in</strong>sverständnis zentral<br />

§ 37. Konkreteres Verständms der Transzendenz 323<br />

wesentlich ist und was von Anfang an und von Grund aus <strong>in</strong> das<br />

Problem der Se<strong>in</strong>sfrage zu stellen ist.<br />

Um das so von Grund aus zu fassen, muß das Phänomen der<br />

Transzendenz ans Licht gebracht und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er vollen Struktur<br />

gefaßt werden. Das ist zu ermöglichen durch <strong>die</strong> Interpretation<br />

der ,Transzendenz als Spiel. Das heißt aber: Wir übertragen<br />

nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en Begriff von Spiel auf das Transzen<strong>die</strong>ren<br />

und auf das Se<strong>in</strong>sverständnis im besonderen, sondern am Leitfaden<br />

<strong>die</strong>ses Phänomens und se<strong>in</strong>er freien Vorzeichnung versuchen<br />

wir, im Blick auf <strong>die</strong> Transzendenz und von <strong>die</strong>ser her, sie<br />

zu fassen, und zwar sowohl voller als auch ursprünglicher.<br />

Dar<strong>in</strong> liegt dann: Die Transzendenz als Spiel ist ke<strong>in</strong>e Eigenschaft<br />

und auch nicht nur e<strong>in</strong>e Grundeigenschaft des Menschenwesens,<br />

sondern der Mensch ist auf das Spiel des Dase<strong>in</strong>s<br />

gesetzt - vornehmlich jetzt zwar Behauptung -, auf das Spiel<br />

des ,Se<strong>in</strong>sverständnisses. Das heißt: Se<strong>in</strong>sverständnis ist ke<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>differente, obzwar vielleicht universale Eigenschaft des Dasems,<br />

Transzendenz ke<strong>in</strong>e harmlose Struktur, <strong>die</strong> man beachten<br />

kann oder nicht. Das gilt es jetzt zu zeigen. Damit wird der<br />

Spielcharakter der Welt verdeutlicht, dadurch erhält das Inder-Welt-se<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e eigene Schärfe als Grundbestimmung der<br />

Existenz, und damit gew<strong>in</strong>nen wir <strong>die</strong> Dimension, <strong>in</strong> <strong>die</strong> das<br />

Wesen dessen, was wir Weltanschauung nennen, e<strong>in</strong>gebaut werden<br />

muß.<br />

§ J 7. Gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>es konkreteren Verständnisses<br />

der Transzendenz<br />

a) Selbstheit (Umwillen-se<strong>in</strong>er) als Se<strong>in</strong>sbestimmung<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Die Preisgegebenheit als <strong>in</strong>nere Bestimmung<br />

des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s<br />

Weltanschauung ist e<strong>in</strong> notwendiges Ingre<strong>die</strong>nz des In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong>s, der Transzendenz. Ursprünglich e<strong>in</strong>ig mit dem


330 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Nur weil das Dase<strong>in</strong> wesenhaft vom Seienden, <strong>in</strong>mitten dessen<br />

es sich bef<strong>in</strong>det, durch waltet ist, das Dase<strong>in</strong> aber als bef<strong>in</strong>dlich<br />

gestimmtes sich immer auch so oder so frei zum Seienden verhält,<br />

ergeben sich <strong>in</strong>nerhalb der Geworfenheit des Dase<strong>in</strong>s Grundmöglichkeiten,<br />

gemäß denen sich das Dase<strong>in</strong> gehoben und<br />

getragen wissen kann, andererseits bedrückt und belastet se<strong>in</strong><br />

kann; beide Grundarten des Sichbef<strong>in</strong>dens setzen <strong>in</strong> gleicher<br />

Weise <strong>die</strong> Geworfenheit voraus. Das Sich bef<strong>in</strong>den ist genommen<br />

als solches, dessen das Dase<strong>in</strong> nicht mächtig, das es nicht bewältigt<br />

und das als wesenhafte Last se<strong>in</strong>er selbst bleibt, deren es sich,<br />

solange es existiert, nicht entledigen kann, <strong>die</strong> es nur vergessen<br />

kann, um sie damit um so deutlicher zu bestätigen.<br />

Geworfenheit kann nun wesensmäßig nur e<strong>in</strong>em solchen Seienden<br />

zukommen, dessen Se<strong>in</strong> bestimmt ist durch das Umwillen<br />

se<strong>in</strong>er selbst; geworfen kann nur se<strong>in</strong>, was <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong> Selbst<br />

ist.<br />

In der vorigen Stunde wurde der <strong>in</strong>nere Zusammenhang der<br />

bei den Wege zur <strong>Philosophie</strong>, der Weg durch Wissenschaft und<br />

der Weg durch Weltanschauung allgeme<strong>in</strong> gekennzeichnet; sie<br />

laufen zusammen <strong>in</strong> der These: <strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrückliches<br />

Transzen<strong>die</strong>ren.<br />

Die Verständigung darüber erfordert <strong>die</strong> Interpretation der<br />

Transzendenz, über das Se<strong>in</strong>sverständnis h<strong>in</strong>aus.<br />

Bezüglich <strong>die</strong>ser Aufgabe halten wir jetzt an e<strong>in</strong>er wichtigen<br />

Stelle, wichtig <strong>in</strong> sich, <strong>in</strong> Beziehung zu möglichen Mißverständnissen,<br />

vor allem aber mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Tradition, sofern<br />

notwendig wird, <strong>die</strong> Herrschaft der Logik <strong>in</strong> der Metaphysik zu<br />

überw<strong>in</strong>den, wobei »Logik« der Titel für <strong>die</strong> Vernunftwissenschaft<br />

als solche ist. Wir lassen dabei offen, ob <strong>die</strong> bisherige<br />

Logik <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n dessen vorgedrungen ist, was sie im Grunde<br />

sucht. Wir bestimmen noch nicht ihr Verhältnis zur Metaphysik.<br />

Überw<strong>in</strong>dung der Herrschaft der Logik bedeutet ni~ht Verteidigung<br />

des Irrationalismus, auch nicht <strong>die</strong> Bejahung der<br />

Lebensphilosophie. Wenn wir historisch orientieren, wäre eher<br />

§ 37. Konkreteres Verständnis der Transzendenz 331<br />

zu.sagen: Die Motive, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> der abendländischen <strong>Philosophie</strong><br />

zur Bestimmung des Wesens der <strong>Philosophie</strong> vordrängten,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der ganzen Weite und Gleichursprünglichkeit e<strong>in</strong>heitlich<br />

zu begreifen, d. h. nicht eklektisch, sondern aus der Exposition<br />

der Grundprobleme selbst, der Transzendenz zu entwikkeIn.<br />

Wesentlich ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht: Transzendenz als Grundverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s teilt mit <strong>die</strong>sem dessen Se<strong>in</strong>, bestimmt es mit<br />

und wird se<strong>in</strong>erseits dadurch mitbestimmt.<br />

In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht halten wir e<strong>in</strong> dreifaches fest: 1. Das Dase<strong>in</strong><br />

umwillen se<strong>in</strong>er, se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>können ist vor es selbst gestellt;<br />

so wie Körper wesenhaft ausgedehnt s<strong>in</strong>d, so ist das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong>-se<strong>in</strong> vor sich selbst gestellt. 2. Das Dase<strong>in</strong> als<br />

umwillen se<strong>in</strong>er ist aus sich herausgetreten, ausgesetzt dem Seienden,<br />

preisgegeben. 3. Preisgegeben <strong>in</strong>mitten des Seienden,<br />

von ihm durchwaltet se<strong>in</strong> heißt Geworfenheit.<br />

c) Faktizität und Geworfenheit.<br />

Nichtigkeit und Endlichkeit des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Zerstreuung und Vere<strong>in</strong>zelung<br />

Die Frage, ob jedes Selbst als solches notwendig e<strong>in</strong> geworfenes<br />

se<strong>in</strong> müsse oder nicht, lassen wir offen. Man braucht <strong>die</strong> Frage<br />

nur 'zu stellen, um zu sehen, daß <strong>in</strong> jedem Falle durch <strong>die</strong> Geworfenheit<br />

<strong>die</strong> jeweilige Existenz e<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihrer Faktizität ausgedrückt wird. Das will sagen: 1. Ke<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong><br />

kommt auf Grund se<strong>in</strong>es eigenen Beschlusses und Entschlusses<br />

zur Existenz; 2. ke<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> kann, wenn es existiert, je<br />

sich e<strong>in</strong>sichtig machen, daß es notwendig existieren muß, also<br />

nicht nicht existieren könnte. Vielmehr kann jedes Dase<strong>in</strong> auch<br />

nicht se<strong>in</strong>.<br />

Das ist zwar nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> objektiver Satz, den wir über<br />

das Dase<strong>in</strong> aussagen, sondern jedes Dase<strong>in</strong> versteht mehr oder<br />

m<strong>in</strong>der ausdrücklich und <strong>in</strong> verschiedenen Formen und Bildern,<br />

daß es nicht nur überhaupt auch nicht se<strong>in</strong> könnte,


324 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Se<strong>in</strong>sproblem ist das Weltproblem, und erst Se<strong>in</strong>sproblem und<br />

Weltproblem <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>heit bestimmen den echten Begriff der<br />

Metaphysik. Von hier aus muß sich dann zeigen, wie mit dem<br />

Wesen der Metaphysik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigentümlichen Weise <strong>die</strong> Welt-<br />

" anschauung verknüpft ist.<br />

Das Se<strong>in</strong>sverständnis ist nichts, was gleichzeitig im Dase<strong>in</strong><br />

unter vielem anderen auch vorkommt, sondern das Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

bzw. das In-der-Welt-se<strong>in</strong> macht es gerade, daß <strong>die</strong>ses<br />

Seiende, Dase<strong>in</strong>, schlechth<strong>in</strong> nicht gleichgültig gegen es selbst<br />

se<strong>in</strong> kann, sondern Seiendes, zu dessen Grundverfassung Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

gehört, existiert gerade aus dem Verstehen des Se<strong>in</strong>s<br />

und <strong>die</strong>sem als Verstandenen her; Seiendes, das auf das Spiel des<br />

Se<strong>in</strong>sverständnisses gesetzt ist, ist - das sagt im Grunde dasselbe<br />

- sich selbst überantwortet, bzw. es ist umwillen se<strong>in</strong>er selbst,<br />

d. h. es existiert.<br />

Nur weil das Dase<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen nach <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung<br />

ausmacht, gemäß der das als Dase<strong>in</strong> konstituierte Seiende umwillen<br />

se<strong>in</strong>er selbst ist, kann der jeweils faktische Mensch<br />

Zweck se<strong>in</strong>er selbst se<strong>in</strong>, wie Kant sagt.- Dieses »Umwillense<strong>in</strong>er«<br />

konstituiert das Selbst als solches. Die Selbstheit als<br />

Se<strong>in</strong>sbestimmung des Dase<strong>in</strong>s besteht nicht und nie primär nur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bewußtse<strong>in</strong> <strong>die</strong>ses Seienden von ihm selbst, sondern<br />

das Selbst bewußtse<strong>in</strong> qua Reflexion ist immer nur e<strong>in</strong>e Folge<br />

der Selbstheit, genauer: In dem Umwillen-se<strong>in</strong>er ist das Seiende,<br />

das wir Dase<strong>in</strong> nennen, dergestalt enthüllt, daß es immer vor<br />

se<strong>in</strong> eigenstes Se<strong>in</strong>können gestellt ist und vor ihm sich entscheiden<br />

muß, was se<strong>in</strong> eigenstes Se<strong>in</strong> kann bezüglich der Se<strong>in</strong>smöglichkeiten,<br />

<strong>die</strong> wesenhaft zu ihm gehören: Mitse<strong>in</strong> mit Anderen,<br />

Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem, Selbstse<strong>in</strong>.<br />

Vor sich selbst und <strong>die</strong> volle Selbstheit gebracht heißt aber<br />

nicht: <strong>in</strong>dividualistisch-egoistisch auf sich selbst zurückgezogen.<br />

Abgesehen davon, daß »Mitse<strong>in</strong>« das wesenhaft be!ont, ist<br />

<strong>die</strong>se Auslegung <strong>die</strong> gröbste Verkennung des Problems. pase<strong>in</strong><br />

muß wesenhaft es selbst se<strong>in</strong> können und im eigentlichen es<br />

selbst se<strong>in</strong>, wenn es sich getragen und geführt wissen will durch<br />

§ JZ Konkreteres Verständnis der Transzendenz 325<br />

e<strong>in</strong> anderes, wenn es sich soll öffnen können für Mitdase<strong>in</strong> der<br />

Anderen, wenn es sich soll e<strong>in</strong>setzen für Andere.<br />

Wenn freilich am überlieferten Subjekt- und Ichbegriff festgehalten<br />

wird, dann ist <strong>die</strong> Selbst beziehung egoistisch. Die<br />

Grade und Stufen des Wissens darum und <strong>die</strong> Formen <strong>die</strong>ses<br />

Gestelltse<strong>in</strong>s vor sich selbst s<strong>in</strong>d dabei recht mannigfaltig.<br />

Wenn wir also sagen: Zum Dase<strong>in</strong> gehört wesenhaft Se<strong>in</strong>sverständnis,<br />

und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Se<strong>in</strong>sverständnis ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zumal<br />

verstanden das Se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s und das Se<strong>in</strong> des nichtdase<strong>in</strong>smäßigen<br />

Seienden, so zeigt sich jetzt: Dieses Se<strong>in</strong>sverständnis ist<br />

ke<strong>in</strong>e harmlose Kenntnis von Kategorien und Beschauen von<br />

T deen, vielmehr liegt im Se<strong>in</strong>sverständnis gerade <strong>die</strong> volle<br />

Schärfe des Gestelltse<strong>in</strong>s des Dase<strong>in</strong>s vor sich selbst, so zwar, daß<br />

<strong>die</strong>ses Vor-sich-selbst-gestellte als solches zu anderem Seienden,<br />

das es nicht ist, sich verhält.<br />

Das Dase<strong>in</strong> ist jenes Seiende, dem es wesenhaft anheim gegeben<br />

ist, so zu se<strong>in</strong>, wie es se<strong>in</strong> kann. Das Se<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er selbst ist<br />

vorgabe und Aufgabe, weil eben zum Dase<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

gehört, wor<strong>in</strong> liegt, daß das Se<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er selbst ihm vorgestellt ist<br />

als das, wie und was es zu se<strong>in</strong> hat. Das Se<strong>in</strong> ist für <strong>die</strong>ses Seiende<br />

eigens Aufgabe und Möglichkeit, und zwar wesenhaft; es kann<br />

sich ihr, sofern es existiert, nicht entziehen, sondern muß, je so<br />

und 'So, mit ihr zu e<strong>in</strong>em Ende kommen. Der Selbstmord ist nur<br />

e<strong>in</strong>e extreme Form, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> wesenhafte Existenzaufgabe des<br />

Dase<strong>in</strong>s zum Austrag kommen kann.<br />

Se<strong>in</strong>sverständnis als Wesensmoment der Transzendenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s, d. h. der Grundverfassung <strong>die</strong>ses Seienden hat schon<br />

von Grund aus <strong>in</strong> das Se<strong>in</strong> <strong>die</strong>ses Seienden den Charakter gebracht,<br />

mit Bezug auf welchen wir sagen: Das Dase<strong>in</strong> ist aufs<br />

Spieligesetzt. Es bleibt wohl zu beachten: Dieses Umwillense<strong>in</strong>er<br />

selbst, <strong>die</strong>ses: es geht um es selbst, <strong>die</strong>se Schärfe des<br />

Kampfes ist nicht erst e<strong>in</strong>e Folgeersche<strong>in</strong>ung, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong>sofern<br />

ergibt, als das Dase<strong>in</strong>, sofern es existiert, faktisch unter anderem<br />

Seienden vorkommt, sondern im Wesen des Existierens, d. h. des<br />

Se<strong>in</strong>s -des Dase<strong>in</strong>s, liegt <strong>die</strong> Schärfe des Umwillen-se<strong>in</strong>er.


326 Weltanschauung und In-der-Welt-sem<br />

Nur deshalb, weil das Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong> solches Seiendes ist, dem es<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> um <strong>die</strong>ses selbst geht, ist es an das Seiende<br />

preisgegeben, und zwar wesensnotwendig. Denn wir hörten, das<br />

Dasei,n ist erschlossenes; Seiendes, das es nicht ist, ist ihm offenbar;<br />

aber jetzt zeigt sich: nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er bloßen<br />

Kenntnis, sondern, weil das Dase<strong>in</strong> wesenhaft aus sich herausgetreten<br />

ist, ist es dem Seienden und dessen Übermacht preisgegeben,<br />

und zwar nicht nur der Übermacht etwa der Naturgewalten,<br />

sondern auch den Mächten und Gewalten, <strong>die</strong> das<br />

Dase<strong>in</strong> als Seiendes <strong>in</strong> sich selbst birgt.<br />

Die Transzendenz als Überstieg über das Seiende im Se<strong>in</strong>sverständnis<br />

hat damit <strong>die</strong> Indifferenz völlig verloren, <strong>die</strong> man<br />

ihr versucht ist zuzuschreiben, wenn man das Problem des<br />

Se<strong>in</strong>sverständnisses im Rahmen der traditionellen OntologIe<br />

entwickelt. Das Se<strong>in</strong> des Seienden vorgängig verstehen, das<br />

Seiende übersteigend auf es zurückkommen, ist nicht das harmlose<br />

Herabsehen auf <strong>die</strong> Zufälligkeiten des faktisch Seienden<br />

von der ungefährdeten Höhe e<strong>in</strong>es apriorischen Wesenswissens,<br />

sondern: Transzen<strong>die</strong>ren das Seiende, d.h. In-der-Welt-sem<br />

heißt, an das Seiende preisgegeben se<strong>in</strong>. Nur <strong>die</strong> im Umwillen<br />

se<strong>in</strong>er selbst gegründete Preisgegebenheit des Dase<strong>in</strong>s an das<br />

Seiende, auch an es selbst, ermöglicht e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

und e<strong>in</strong>e Verhaltung zum Seienden. Nur solcher ause<strong>in</strong>andersetzenden<br />

Verhaltung entspr<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Möglichkeit des je faktischen<br />

Unterliegens oder aber Sie gens, <strong>die</strong> Möglichkeiten des<br />

Ungefährdetse<strong>in</strong>s, der Beruhigung und Sicherheit, des Wohlergehens<br />

und der Herrschaft über das Seiende.<br />

Daß faktisch e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>n existiert, also faktisch<br />

existenziell von e<strong>in</strong>er solchen Preisgegebenheit nichts weIß, 1st<br />

ke<strong>in</strong> Beweis dagegen, schon deshalb nicht, weil das jeweIlige<br />

faktische Existieren, ob <strong>in</strong> Glück oder Unglück, nichts daruber<br />

entscheiden kann, was das metaphysische Wesen des Dasems<br />

ausmacht. Dieses muß dort gesucht werden, von wo aus gerade<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit von Glück wie von Unglück verständlich wIrd.<br />

Daher ist es e<strong>in</strong> oberflächliches und grobes Mißverständnis,<br />

§ } 7. Konkreteres Verstandms der Transzendenz 327<br />

wenn man me<strong>in</strong>t, dadurch, daß dem Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Preisgegebenheit<br />

an das Seiende zugesprochen sei, werde e<strong>in</strong>em Pessimismus<br />

das Wort geredet.<br />

Es gilt demgegenüber gerade erst zu lernen, daß Pessimismus<br />

und Optimismus als je faktische Stellungnahmen zum faktischen<br />

Dase<strong>in</strong> selbst schon Dase<strong>in</strong> voraussetzen, und zwar solches,<br />

das sich <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en oder anderen Weise verstehen kann.<br />

Der Pessimismus bestätigt lediglich <strong>die</strong> wesenhafte Preisgegebenheit<br />

des Dasems, und zwar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Weise, daß es ihr<br />

nachgibt. Der Optimismus aber zeugt nicht weniger für sie,<br />

sofern er an sie nicht glaubt. Sie wird aber durch den Pessimismus<br />

weder erst bewiesen, noch durch den Optimismus widerlegt.<br />

Von <strong>die</strong>sen Bestimmungen her muß begriffen werden, daß<br />

Ich das Se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s als Sorge bezeichnet habe. Das hat<br />

nichts zu tun mit Schopenhauer oder christlicher Askese und<br />

Erbsündenlehre, auch nicht damit, daß man mit dem Begriff<br />

>Sorge< auf Tod und Gewissen gestoßen wird, <strong>die</strong> alle für heutIge<br />

Ohren hart kl<strong>in</strong>gen. - Man hat von <strong>die</strong>sen D<strong>in</strong>gen wenig<br />

verstanden, wenn man gegen sie für <strong>die</strong> heitere Weltanschauung<br />

Goethes plä<strong>die</strong>rt und <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Biederkeit und<br />

Nettigkeit des Dase<strong>in</strong>s gewahrt wissen will und gar noch weise<br />

Belehrungen erteilt, daß es im Leben auch so etwas wie Liebe<br />

gIbt. Wer wollte das leugnen? Aber ich bezweifle, ob, was <strong>die</strong><br />

philosophischen Biedermänner versteckterweise glauben und<br />

was man da so Liebe nennt, das metaphysische Wesen des Genannten<br />

trifft. Am Ende s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>en Gefühle, <strong>die</strong> man da<br />

unter <strong>die</strong>sem Namen beibr<strong>in</strong>gt, doch recht weit entfernt. Es<br />

ware doch zu fragen, ob jede große Liebe, <strong>die</strong> alle<strong>in</strong> etwas vom<br />

Wesen bekundet, nicht im Grunde e<strong>in</strong> Kampf ist, nicht etwa<br />

nur und zuerst e<strong>in</strong> Kampf um den Anderen, sondern e<strong>in</strong> Kampf<br />

fur ihn, und ob sie nicht wächst <strong>in</strong> dem Grade, als <strong>die</strong> Sentimen'talität<br />

und Behaglichkeit der Gefühle abnimmt. Doch<br />

genug!<br />

Um das Entscheidende wieder <strong>in</strong> Kürze zu sagen: Das Dase<strong>in</strong>


332 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

sondern ständig nicht mehr existieren kann. Sofern das Verstehen<br />

zum Wesen des Existierens gehört, heißt das: Das Dase<strong>in</strong><br />

existiert ständig entlang <strong>die</strong>sem Rande des Nicht. Das besagt: In<br />

dem Vor-sich-selbst-gestellt-se<strong>in</strong> h<strong>in</strong>sichtlich der eigenen Möglichkeiten<br />

zeigt sich auch immer das Nichtse<strong>in</strong>können. Dieses<br />

Nicht ist ke<strong>in</strong>eswegs etwas, was außerhalb des Dase<strong>in</strong>s liegt und<br />

ihm nur aufgeredet wird, sondern <strong>die</strong>ser Nicht-charakter gehört<br />

zum Wesen se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s. Es hat <strong>die</strong>sen Nicht-charakter, ist durch<br />

<strong>die</strong>ses Nicht bestimmt, »nichtig«; aber nichtig heißt hier nicht<br />

»nichts«, sondern umgekehrt: Diese Nichtigkeit, <strong>die</strong> durch das<br />

Gesagte längst nicht erschöpfend gefaßt ist, macht das Positivste<br />

aus, was zur Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s gehören kann; ja, gerade<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser ursprünglichen Bestimmung gehen das Umwillen und<br />

<strong>die</strong> Geworfenheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s zusammen. Wir müssen sie aber nach<br />

e<strong>in</strong>igen Richtungen kennzeichnen, ohne das Problem als Ganzes<br />

zu stellen.<br />

Die Herausstellung <strong>die</strong>ser <strong>in</strong> der Wesensverfassung des Dase<strong>in</strong>s<br />

selbst liegenden Nichtigkeit bedeutet ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong><br />

wertendes für »nichtig« im S<strong>in</strong>ne von belanglos oder gar nichtswürdig<br />

Erklären <strong>die</strong>ses Seienden, sondern es handelt sich darum,<br />

<strong>die</strong> Schärfe, <strong>die</strong> im Dase<strong>in</strong> liegt, ans Licht zu br<strong>in</strong>gen und<br />

zu begreifen, daß das, was wir »Endlichkeit« des Dase<strong>in</strong>s nennen,<br />

nichts ist, was <strong>die</strong>sem Seienden nur äußerlich anklebt und<br />

erst dadurch entsteht, daß es mit anderem, was es nicht ist,<br />

verglichen wird. Allzulange ist <strong>die</strong> Metaphysik genarrt worden<br />

vom Positiven, das auf Grund se<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>baren Vorrangs vor<br />

dem Negativen sich als das Absolute und Ursprüngliche gebärdete.<br />

Demgemäß ist unsere traditionelle Logik, Ontologie und<br />

Kategorienlehre gebaut, und ihre Begriffe tragen nicht weit<br />

genug, um das zu treffen, was wir unter dem Titel »Nichtigkeit«<br />

me<strong>in</strong>en. Die Kennzeichnung der »Endlichkeit« durch das Geschaffense<strong>in</strong><br />

ist nur e<strong>in</strong>e bestimmte Form der Erklärung der<br />

»Endlichkeit«, und zwar e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong> auf dem Glauben beruht;<br />

sie ist aber ke<strong>in</strong>e Klärung des metaphysischen Wesens der<br />

Endlichkeit als solcher.<br />

§ J7. Konkreteres Verstandnis der Transzendenz 333<br />

Der Nicht-charakter ist also gerade <strong>die</strong> eigentliche Kraft der<br />

Existenz des Dase<strong>in</strong>s; und zwar liegt <strong>die</strong> Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s<br />

ke<strong>in</strong>eswegs nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geworfenheit, <strong>die</strong> wir kurz so ausdrükken<br />

können: Dase<strong>in</strong> ist ohnmächtig demgegenüber, daß es<br />

überhaupt existiert und nicht nicht existiert.<br />

Die Nichtigkeit liegt schon dort, wo wir sie am wenigsten<br />

vermuten. Früher wurde gezeigt: Gleichursprünglich ist das Dase<strong>in</strong><br />

Se<strong>in</strong> bei ... , Mitse<strong>in</strong> mit ... und Selbstse<strong>in</strong>. Es ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Weise immer e<strong>in</strong>ig und zumal. Bisher wurde nur Gewicht gelegt<br />

auf <strong>die</strong> Gleichursprünglichkeit <strong>die</strong>ser Verfassungsmomente gegenüber<br />

dem traditionellen Subjektbegriff. Aber <strong>die</strong> nähere<br />

Charakteristik <strong>die</strong>ser Gleichursprünglichkeit wurde nicht gegeben.<br />

Versuchen wir e<strong>in</strong>e solche, dann zeigt sich zunächst <strong>die</strong>s,<br />

daß das Dase<strong>in</strong>, wie wir sagen, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit <strong>die</strong>ser<br />

Bezüge zer-streut ist. Diese Zerstreuung aber ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong>e Auflösung des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> ause<strong>in</strong>ander fallende Teile, sondern<br />

gerade umgekehrt: In <strong>die</strong>ser Zer-streuung hat es und<br />

gew<strong>in</strong>nt es se<strong>in</strong>e ihm eigene ursprüngliche ganze E<strong>in</strong>heit. Wir<br />

sprechen daher <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht von e<strong>in</strong>er Zerstreuung <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>se Bezüge, sondern von e<strong>in</strong>er ursprünglichen Streuung. Diese<br />

Streuung erst ist <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung der Möglichkeit für e<strong>in</strong>e<br />

Zer-streuung <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß das Dase<strong>in</strong> jeweils vorwiegend<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>die</strong>ser Bezüge sich verlegen kann, aber das immer auf<br />

Kosten des Existierens <strong>in</strong> den anderen.<br />

Das Dase<strong>in</strong> kann sich vorwiegend im Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> aufhalten,<br />

es kann vorwiegend <strong>in</strong> der Beschäftigung mit Sachen<br />

aufgehen, es kann vorwiegend sich verlieren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Selbstreflexion.<br />

Sofern das Dase<strong>in</strong> wesensmäßig e<strong>in</strong>heitlich im Ganzen<br />

<strong>die</strong>ser Streuung sich hält, muß es sich je so oder so<br />

entscheiden, d.h. es kann sich nie nur für e<strong>in</strong>en Bezug entscheiden,<br />

es sei denn durch Kompromiß, durch e<strong>in</strong>en Ausgleich. In<br />

<strong>die</strong>sem »nie nur das e<strong>in</strong>e« bekundet sich wieder <strong>die</strong> Nichtigkeit<br />

m der Wesensverfassung des Dase<strong>in</strong>s selbst. Es ist zu beachten,<br />

daß das Dase<strong>in</strong> nicht erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen faktischen Lagen zu dem,<br />

was wir »Kompromiß« nennen, gezwungen wird, sondern we-


334 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

sensmäßig und durchgängig. Wer daher <strong>in</strong> faktischen, konkreten<br />

Entscheidungen kompromißlos, entschieden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Richtung<br />

wählt und handelt, bewegt sich metaphysisch gesehen<br />

doch gerade <strong>in</strong> der Nichtigk'eit der Streuung, sofern er <strong>die</strong> Härte<br />

und Lieblosigkeit se<strong>in</strong>es Vorgehens <strong>in</strong> Kauf nehmen, d. h. irgendwie<br />

damit fertig werden muß.<br />

In der <strong>in</strong>neren Notwendigkeit e<strong>in</strong>er ständigen Ausgleichung<br />

<strong>die</strong>ser Streuung - mag sie faktisch gel<strong>in</strong>gen oder nicht -bekundet<br />

sich demnach auch <strong>die</strong> Nichtigkeit des verstehenden Handelns.<br />

Diese erhält aber nun noch dadurch ihre besondere<br />

Schärfe, als jeder <strong>die</strong>ser Bezüge durch <strong>die</strong> Geworfenheit bestimmt<br />

ist, d. h. das Mitse<strong>in</strong> mit Anderen ist e<strong>in</strong>geschränkt auf<br />

e<strong>in</strong>en bestimmten Umkreis, das Se<strong>in</strong> bei Vorhandenem ist e<strong>in</strong>geschränkt<br />

auf e<strong>in</strong>e bestimmte Zugänglichkeit, Art, Nähe und<br />

Weite der Offenbarkeit des Seienden, der Bezug zu sich selbst ist<br />

e<strong>in</strong>geschränkt auf bestimmte Möglichkeiten des Sichverstehens<br />

und der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit sich selbst.<br />

Jedes Dase<strong>in</strong> muß sich als geworfenes auf e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Situation vere<strong>in</strong>zeln. Diese Vere<strong>in</strong>zelung~ bedeutet aber nicht<br />

etwa Isolierung, sondern sie br<strong>in</strong>gt je das Dase<strong>in</strong> im Ganzen<br />

se<strong>in</strong>er Bezüge <strong>in</strong>mitten des Seienden. Wie das Problem der Vere<strong>in</strong>zelung<br />

des Dase<strong>in</strong>s mit dem zusammenhängt" was man<br />

gewöhnlich das Pr<strong>in</strong>zip der Individuation nennt, kann ich hier<br />

nicht erörtern, ebensowenig <strong>die</strong> Raum- und Zeit-»stelle«, hier<br />

re<strong>in</strong> Ordnungsschema, das dem Seienden zugehört, aber doch<br />

äußerlich ist. Hier dagegen geht es um Individuation aus dem<br />

Seienden selbst: Zeitlichkeit.<br />

Für uns ist wichtig, daß <strong>in</strong> der Vere<strong>in</strong>zelung notwendig e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>schränkung der Wahrheit des Dase<strong>in</strong>s liegt. Die Offenbarkeit<br />

des Seienden ist <strong>in</strong> sich zugleich Verborgenheit, Un-wahrheit<br />

im wesentlichen S<strong>in</strong>ne, und zwar nicht etwa nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

quantitativen S<strong>in</strong>ne, daß wir nicht alles wissen und kennen und<br />

unsere Mittel und Wege beschränkt s<strong>in</strong>d. Die Schranke kommt<br />

nicht so sehr von außen, von der Fülle des Seienden. Die Unwahrheit<br />

ist nicht so sehr <strong>die</strong> del'"bloßen Verborgenheit, sondern<br />

§ 37. Konkreteres Verständnis der Transzendenz 335<br />

<strong>die</strong> Unwahrheit, <strong>die</strong> wir eigentlich so nennen - Sche<strong>in</strong>, Täuschung,<br />

Benommenheit, Bl<strong>in</strong>dheit. Nicht <strong>die</strong> quantitative E<strong>in</strong>schränkung<br />

des Wißbaren ist es, sondern <strong>die</strong> qualitative<br />

E<strong>in</strong>schränkung bezüglich dessen, was faktisch zugänglich ist.<br />

Diese im Dase<strong>in</strong> selbst geschehende Unwahrheit und damit<br />

Nichtigkeit läßt sich leicht demonstrieren. Mit Absicht wähle<br />

ich e<strong>in</strong> Beispiel, das uns gewiß nicht <strong>in</strong> Verdacht br<strong>in</strong>gt, altmodische<br />

D<strong>in</strong>ge zu erzählen, das aber vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er extremen<br />

Form den Sachverhalt demonstriert.<br />

Die Apparatur des Radios hat <strong>die</strong> Grenzen des direkt Erfahrbaren,<br />

Wißbaren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ungewöhnlichen Weise von uns weg<br />

verlegt, ja <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht überhaupt beseitigt. Die Möglichkeit<br />

der Wahrheit ist gesteigert, <strong>die</strong> Chancen des Nichterfahrens<br />

s<strong>in</strong>d wesentlich verr<strong>in</strong>gert.<br />

Wie stellt sich nun so e<strong>in</strong> Radiobesitzer zu <strong>die</strong>sen Möglichkeiten?<br />

Man wird sagen, auch hier muß er auswählen; er muß sich<br />

auf e<strong>in</strong> Programm und je e<strong>in</strong>e Nummer desselben beschränken;<br />

er kann nicht alles hören, auch wenn er den ganzen Tag dem<br />

Apparat widmet. In der Tat zeigt sich hier <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung, <strong>die</strong> Notwendigkeit der Un-wahrheit im<br />

S<strong>in</strong>ne der Verborgenheit des nicht Aufnehmbaren. Alle<strong>in</strong> das ist<br />

nicht das Entscheidende; wir sehen vielmehr, daß viele - <strong>die</strong> Zahl<br />

1st hier gänzlich belanglos - überhaupt nicht irgende<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

des Hörens wählen, sondern es darauf absehen, von e<strong>in</strong>er<br />

Welle auf <strong>die</strong> andere zu spr<strong>in</strong>gen. Der Radiobesitzer, dem <strong>die</strong><br />

ungeheure Möglichkeit von Erfahrbarem gegeben ist, macht<br />

sich zum Sklaven se<strong>in</strong>es Apparats. Er verstellt sich den Zugang zu<br />

den D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise, wie das der Nichtbesitzer gar nicht<br />

kann. Er br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Unwahrheit und e<strong>in</strong>en Sche<strong>in</strong> <strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong>,<br />

wierer nicht leicht größer gedacht werden kann. Ja, er br<strong>in</strong>gt sich<br />

m gewisser Weise überhaupt um das Verständnis von Wahrheit<br />

und Unwahrheit. Das ist aber e<strong>in</strong> Geschehnis, das Wesentliches<br />

anzeigt, nämlich den Aufstand der Unwahrheit und des Sche<strong>in</strong>s<br />

aus dem und im Dase<strong>in</strong> selbst. Im Großen zeigt sich dasselbe, z. B.<br />

m dem Faktum, daß <strong>die</strong> Wissenschaften heute zu e<strong>in</strong>em groß-


336 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

städtischen Gewerbe geworden s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Menschen Angestellte<br />

der Wissenschaft, aber nicht mehr di~ Wissenschaftee<strong>in</strong>e Existenzmöglichkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Noch e<strong>in</strong> Letztes: Gerade <strong>die</strong> Augenblicke des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong><br />

denen wir im Ganzen und wesentlich zu existieren vermögen,<br />

s<strong>in</strong>d nicht nur selten, sondern s<strong>in</strong>d gleichsam wie e<strong>in</strong>e schmale<br />

Spitze, auf der wir uns nur flüchtig halten. Auch wenn sie durch<br />

<strong>die</strong> echte Er<strong>in</strong>nerung ihre Wirkungskraft für das Dase<strong>in</strong> behalten,<br />

so bekunden sie damit nur um so schärfer, daß <strong>die</strong> Existenz<br />

zumeist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise nicht ist, obzwar sie gerade geschieht.<br />

So habe ich von verschiedenen Seiten her H<strong>in</strong>weise gegeben<br />

dafür, daß <strong>die</strong> Endlichkeit des Dase<strong>in</strong>s nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beschränktheit<br />

von Eigenschaften beruht, sondern <strong>in</strong> der Art und<br />

Weise, wie das Dase<strong>in</strong> existiert. Diese Nichtigkeit im Wesen des<br />

Dase<strong>in</strong>s bekundet also, daß das Dase<strong>in</strong> ständig e<strong>in</strong> Wägen und<br />

Wagen, Fallen und Steigen, Nehmen und Geben ist - all das<br />

nicht als Resultat und Produkt des Zusammenstoßes von Seiendem<br />

mit Seiendem, sondern als Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s selbst, d. h.<br />

als Spiel, auf das der Mensch gesetzt ist< Dieses Spiel ist das<br />

Wesentliche dessen, was wir Welt nennen, <strong>die</strong> als Welt nur weItet<br />

im und als In-der-Welt-se<strong>in</strong>.<br />

Es wäre irrig, <strong>die</strong>se Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s als etwas Negatives<br />

zu nehmen, als <strong>die</strong> Nachtseite des Dase<strong>in</strong>s und ihr <strong>die</strong><br />

Heiterkeit des Positiven, Erhebenden entgegenzustellen. Denn<br />

alles, was wir so nennen, ist der Nichtigkeit nicht entgegengesetzt,<br />

sondern auf sie gesetzt, d. h. <strong>die</strong> gekennzeichnete Nichtigkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s ist der ursprüngliche Grund der Möglichkeit<br />

für das im vulgären S<strong>in</strong>ne Positive und Negative des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Erst im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> ursprüngliche Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s<br />

erhält alles sogenannte Positive se<strong>in</strong>e Kraft und E<strong>in</strong>zigkeit, aber<br />

nicht etwa dadurch, daß wir der Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s ausweichen<br />

und <strong>die</strong> Augen schließen vor dem Spiel, auf das WH<br />

gesetzt s<strong>in</strong>d. Denn so br<strong>in</strong>gen wir uns um <strong>die</strong> Möglichkeit, uns<br />

selbst etwas zuzumuten. Der E<strong>in</strong>zelne ist immer nur das: was er<br />

sich zumutet und zumuten kann.<br />

§ 37. Konkreteres Verstandnis der Transzendenz 337<br />

d) Die Halt-Iosigkeit des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s<br />

Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s, se<strong>in</strong>e Transzendenz, bekundet<br />

sich uns als Halt-Iosigkeit. Es muß je se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong> Wählen<br />

im wesentlichen S<strong>in</strong>ne h<strong>in</strong>durch führen und so oder so Halt<br />

geben. (Ich vermeide absichtlich, hier von Freiheit zu sprechen.)<br />

Das will sagen: Das Seiende, das umwillen se<strong>in</strong>er selbst<br />

ist, ist <strong>die</strong>ses <strong>in</strong> der gekennzeichneten Nichtigkeit. Diese enthält<br />

m sich <strong>die</strong> Anweisung auf Halt, <strong>die</strong> Notwendigkeit der Entscheidung.<br />

Wenn wir dem Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong>se Haltlosigkeit zusprechen,<br />

so ist das ke<strong>in</strong>e faktische Aussage <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß ke<strong>in</strong><br />

Dase<strong>in</strong> je e<strong>in</strong>en Halt gew<strong>in</strong>nen könne, sondern es ist e<strong>in</strong>e Wesensaussage,<br />

<strong>die</strong> gerade <strong>in</strong> sich schließt, daß jedes faktische<br />

Dase<strong>in</strong>, sofern es existiert, je schon so oder so e<strong>in</strong>en Halt gewonnen<br />

haben muß.<br />

, Aufs Spiel gesetzt se<strong>in</strong>, d.h. In-der-Welt-se<strong>in</strong>, ist <strong>in</strong> sich selbst<br />

Halt-Iosigkeit, d.h. das Existieren des Dase<strong>in</strong>s muß sich Halt<br />

beschaffen. Schärfer gesagt: Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist ke<strong>in</strong>e dem<br />

Dase<strong>in</strong> angeklebte Eigenschaft, sondern <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung,<br />

<strong>die</strong> ihrem Wesen nach verlangt, daß das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihr sich hält.<br />

In das Wie, <strong>in</strong> dem das Dase<strong>in</strong> existiert, ist es je so oder so<br />

gebracht, geraten, von ihm selbst, durch Andere, durch Umstände<br />

und Zufälligkeiten. Auch das, was nicht eigener ausdrücklicher<br />

Entscheidung erwächst, wie das meiste im Dase<strong>in</strong>, muß so<br />

oder so rückgreifend angeeignet werden, wenn auch nur im<br />

Modus des Sichabf<strong>in</strong>dens mit, Sichdrückens um etwas; selbst<br />

solches, was an uns gar nicht der Freiheit im engeren S<strong>in</strong>ne<br />

untersteht, e<strong>in</strong>e Krankheit oder bestimmte Veranlagung, ist nie<br />

E'twas e<strong>in</strong>fach Vorhandenes, sondern solches, das so oder so <strong>in</strong> das<br />

Wie des Dase<strong>in</strong>s aufgenommen oder verworfen worden ist.<br />

Durch und durch ist das In-der-Welt-se<strong>in</strong> solches, wor<strong>in</strong> wir uns<br />

halten.<br />

Das Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist das, was wir mit Weltanschauung<br />

me<strong>in</strong>en. Hieraus ist unmittelbar zu entnehmen,<br />

daß faktisch <strong>die</strong> Weltanschauung sich je nach der Weise bildet,


338 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

wie <strong>die</strong> Haltlosigkeit des Dase<strong>in</strong>s, das In-der-Welt-se<strong>in</strong> selbst als<br />

solches für das jeweilige Dase<strong>in</strong> offenbar ist.<br />

§ 38. Der Strukturcharakter der Transzendenz<br />

a) Rückblick auf den gewonnenen Strukturcharakter<br />

des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s<br />

Unsere Betrachtungen <strong>die</strong>nen der Gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>es konkreteren<br />

Verständnisses der Transzendenz. Dabei verfolgen wir e<strong>in</strong>e<br />

doppelte Abzweckung: 1. e<strong>in</strong>e vollere und reichere Kennzeichnung<br />

der Transzendenz, h<strong>in</strong>ausgehend über das zunächst mehr<br />

traditionell charakterisierte Se<strong>in</strong>sverständnis; 2. aber e<strong>in</strong>e Charakteristik<br />

des Strukturcharakters der Transzendenz als solcher.<br />

Sofern <strong>die</strong>se aber <strong>die</strong> Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s ist, gilt, was<br />

von ihr gesagt wird, von allen Dase<strong>in</strong>sstrukturen, d.h. von allem,<br />

was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Metaphysik des Dase<strong>in</strong>s von <strong>die</strong>sem ausgesagt<br />

wird.<br />

Negativ muß über <strong>die</strong> ontologische Verfassung des Dase<strong>in</strong>s<br />

gesagt werden: Sie ist ke<strong>in</strong> Rahmenbau, der dem Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach<br />

zukommt als Eigenschaft, demzufolge erst sich dann <strong>die</strong> Art und<br />

Weise des Se<strong>in</strong>s des Dase<strong>in</strong>s ergibt, sondern <strong>die</strong>se Strukturen<br />

s<strong>in</strong>d an der Weise, wie das Dase<strong>in</strong> existiert, wesenhaft beteiligt.<br />

Damit ist gesagt, der Unterschied ist nicht derart, daß das Dase<strong>in</strong><br />

lediglich von der Verfassung se<strong>in</strong>er selbst wüßte, das übrige<br />

Seiende aber nicht, daß es e<strong>in</strong> Seiendes ist, das sich selbst mIt<br />

Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> begleitet, sondern alle wesentliche<br />

Verfassung des Dase<strong>in</strong>s ragt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Offenbarkeit des Dase<strong>in</strong>s<br />

derart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, daß sie von ihm jeweils e<strong>in</strong>e Stellungnahme erfordert.<br />

Was das Wie des Dase<strong>in</strong>s bestimmt, ist wesenhaft<br />

different; ihm muß es so oder so notwendig entsprechen. Auch<br />

<strong>die</strong> Gleichgültigkeit, Indifferenz, ist nur e<strong>in</strong> Weg unter anderen,<br />

mit dem, was Entscheidung - nicht beliebige - fordert, fertig zu<br />

werden.<br />

§ 38. Der Strukturcharakter der Transzendenz 339<br />

In Richtung auf <strong>die</strong>se Kennzeichnung der Transzendenz haben<br />

wir versucht, das Phänomen der Geworfenheit und das der<br />

Nichtigkeit zu kennzeichnen. Wir wiesen auf <strong>die</strong> Wesensbestimmung,<br />

<strong>die</strong> zur Faktizität des Dase<strong>in</strong>s gehört, daß das Dase<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Existenz e<strong>in</strong>em eigenen Entschluß oder Beschluß nicht<br />

verdankt und nie verdanken kann und daß <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit<br />

der wesenhaften Bezüge des Dase<strong>in</strong>s nicht etwas Neutrales ist,<br />

sondern daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Streuung e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Beschränkung des<br />

Dase<strong>in</strong>s liegt. Ferner zeigten wir, daß das Dase<strong>in</strong> faktisch immer<br />

bestimmt ist durch e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>zelung, d. h. <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit<br />

<strong>die</strong>ser Bezüge ist immer faktisch e<strong>in</strong>e konkrete, auf den<br />

bestimmten Umkreis des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>geschränkt. Dadurch<br />

kommt e<strong>in</strong>e wesenhafte Unwahrheit <strong>in</strong> das Dase<strong>in</strong>: erstens <strong>in</strong><br />

quantitativem S<strong>in</strong>ne, sofern das Dase<strong>in</strong> soundsoviel überhaupt<br />

nicht erfährt, und zweitens vor allem <strong>die</strong> qualitative Unwahrheit.<br />

Von <strong>die</strong>ser Kennzeichnung der Nichtigkeit s<strong>in</strong>d wir übergegangen<br />

zu e<strong>in</strong>er Charakteristik dessen, was wir <strong>die</strong> Haltlosigkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s nennen, um von da aus <strong>die</strong> Zugehörigkeit der<br />

Weltanschauung zum In-der-Welt-se<strong>in</strong> zu begreifen.<br />

Er<strong>in</strong>nern wir uns, was wir zuletzt als Charakteristikum der<br />

Geworfenheit erwähnten, um <strong>die</strong> Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s sichtbar<br />

zu machen: ke<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> existiert auf Grund eigenen Beschlusses<br />

und Entschlusses.<br />

Wir s<strong>in</strong>d freilich durch jahrhundertelange Herrschaft der<br />

Psychologie, Logik und Erkenntnistheorie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen<br />

Ausmaß bl<strong>in</strong>d gemacht, daß es uns schwer fällt, derartige Sätze<br />

wie den genannten auch nur gleich ursprünglich zu nehmen wie<br />

etwa den Satz: E<strong>in</strong>em Subjekt s<strong>in</strong>d unmittelbar S<strong>in</strong>nesdaten<br />

gegeben. Wir halten den letzten Satz für evident und wohlgeeignet<br />

zum Ausgang für weitere Betrachtungen über .<strong>die</strong><br />

Subjekte und sehen im ersten Satz lediglich metaphysische Me<strong>in</strong>ungen,<br />

<strong>die</strong> schon allzuviele Voraussetzungen enthalten und<br />

daher reichlich anspruchsvoll kl<strong>in</strong>gen, wenn man sie <strong>in</strong> Fundamentalbetrachtungen<br />

vorbr<strong>in</strong>gt.<br />

Es wäre irrig, wollten wir solches Befremden leugnen, aber


340 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

ebenso oberflächlich, es als Gegen<strong>in</strong>stan~ anzuerkennen, sondern<br />

wir müssen uns fragen: Woher kommt <strong>die</strong>ses Befremden?<br />

Daß <strong>die</strong>ses Befremden besteht, ist gerade e<strong>in</strong> Zeuge für den<br />

Satz, der etwas über das Wesen der Faktizität des Dase<strong>in</strong>s aussagt.<br />

Das Befremden besteht, und das heißt, wir denken gar<br />

nicht daran, es fällt uns nicht bei, dem Rechnung zu tragen; es<br />

ist auch fraglich, ob wir und wie wir das sollen, d. h. wir haben<br />

uns schon darauf e<strong>in</strong>gestellt, von <strong>die</strong>ser Ohnmacht unserer Herkunft<br />

uns abzuwenden und uns ganz gleichsam <strong>in</strong> Richtung<br />

unseres Dase<strong>in</strong>s nach vorn und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart zu verlegen.<br />

Das Dase<strong>in</strong> hat gleichsam <strong>in</strong> der Richtung rückwärts auf<br />

se<strong>in</strong>e Herkunft nichts zu suchen. Wohl verstanden: Nicht darum<br />

handelt es sich, was wir nachträglich über unsere Herkunft<br />

objektiv geschichtlich <strong>in</strong> Erfahrung br<strong>in</strong>gen können - das kann<br />

höchstens noch bestärken, daß wir unseres eigenen Dase<strong>in</strong>s<br />

ohnmächtig s<strong>in</strong>d, - sondern ob das Dase<strong>in</strong>, dem es um se<strong>in</strong><br />

Se<strong>in</strong>können geht, das Faktum se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s von sich aus auf<br />

eigenen Beschluß begründen kann. Dies, daß es das nicht kann,<br />

ist nicht nichts und belanglos, sondern w.esentlich für das Faktum<br />

des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Dies, daß es <strong>in</strong> Richtung se<strong>in</strong>er Herkunft mit eigenem Beschluß<br />

nichts zu suchen hat, gibt dem Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en wesentlichen<br />

Abstoß von der Dunkelheit se<strong>in</strong>er Herkunft <strong>in</strong> <strong>die</strong> relative<br />

Helle se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>könnens. Dase<strong>in</strong> existiert immer <strong>in</strong> der wesenhaften<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Dunkelheit und Ohnmacht<br />

se<strong>in</strong>er Herkunft, wenn auch nur <strong>in</strong> der vorherrschenden Form<br />

der Gewohnheit e<strong>in</strong>er tiefen Vergeßlichkeit angesichts <strong>die</strong>ser<br />

Wesens bestimmung se<strong>in</strong>er Faktizität. Diese Vergessenheit<br />

kommt ans Licht <strong>in</strong> der Befremdung solchen Sätzen gegenüber<br />

und <strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung, sie setzten zuviel voraus. Aber ob man das<br />

vergessende Verhalten zum Maßstab der Ursprünglichkeit der<br />

Erfassung se<strong>in</strong>er selbst machen darf? Dies ist an e<strong>in</strong>em Beispiel<br />

zu demonstrieren: E<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> ist auch nicht vorhanden aufgrund<br />

eigenen Beschlusses. Aber hier ist das Nicht <strong>in</strong> anderem ·S<strong>in</strong>n zu<br />

verstehen. Der Ste<strong>in</strong> ist nicht etwa ohnmächtig bezüglich se<strong>in</strong>er<br />

§ 38. Der Strukturcharakter der Transzendenz 341<br />

Herkunft, weil er überhaupt nicht ohnmächtig se<strong>in</strong> kann. Er<br />

kann es nicht se<strong>in</strong>, weil er überhaupt ke<strong>in</strong>e Mächtigkeit oder<br />

Freiheit - Endlichkeit <strong>in</strong> sich trägt. Damit etwas ohnmäohtig<br />

soll se<strong>in</strong> können bezüglich se<strong>in</strong>er selbst, muß es frei se<strong>in</strong>. Daraus<br />

ergibt sich, daß <strong>die</strong>se Ohnmächtigkeit und Nichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s<br />

e<strong>in</strong> Vorzug ist, den das Dase<strong>in</strong> vor dem Ste<strong>in</strong> hat. Der Ste<strong>in</strong><br />

ist ,auch nicht <strong>in</strong>different gegen se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>, weil er <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

der Differenz so wenig hat wie <strong>die</strong> der Indifferenz. Der<br />

Ste<strong>in</strong> kann daher, abgesehen davon, daß er durch <strong>die</strong>se Ohnmacht<br />

se<strong>in</strong>er Tatsächlichkeit überhaupt nicht bestimmt ist,<br />

doch <strong>die</strong>se auch nicht vergessen, weil Vergessenkönnen nur<br />

möglich ist, wo e<strong>in</strong> Behalten besteht - Zeitlichkeit. Dadurch<br />

erhält alles im Dase<strong>in</strong>, was zu ihm gehört, aber faktisch zumeist<br />

nicht da ist, h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es Nichtdase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>e wesenhafte<br />

Schärfe, weil <strong>die</strong>ses Nichtdase<strong>in</strong> sich immer bestimmt aus der<br />

Se<strong>in</strong>sart des Dase<strong>in</strong>s, d. h. zu <strong>die</strong>ser gehört.<br />

Es bedarf sehr e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher und immer wieder auf das Ganze<br />

gerichteter Bes<strong>in</strong>nung, um <strong>die</strong>se elementaren Zusammenhänge<br />

zu sehen und <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung zu beseitigen, als seien<br />

Aussagen über s<strong>in</strong>nliche Daten ursprünglicher als solche Sätze,<br />

wo es doch gerade umgekehrt liegt. Es ist e<strong>in</strong> aus der Wissenschaft<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>geschlepptes Vorurteil, das, was<br />

eirtfach im S<strong>in</strong>ne der wissenschaftlichen Zerlegung sei, sei auch<br />

das Wesentliche und Ursprüngliche <strong>in</strong> philosophischer H<strong>in</strong>sicht.<br />

b) Weltanschauung als Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Dieses Sichhalten gehört notwendig zur Transzendenz, weil sie<br />

wesenhaft durch Halt-Iosigkeit bestimmt ist. Transzendenz -<br />

Freiheit! Wir haben versucht, <strong>die</strong> Halt-Iosigkeit von der Nichtigkeit<br />

her zu fassen, und haben dabei betont, <strong>die</strong>se nicht<br />

negativ zu sehen. Halt-Iosigkeit nahmen wir nicht <strong>in</strong> der vulgären<br />

Bedeutung von »haltloser Mensch«, sondern als Wesensstruktur<br />

des Dase<strong>in</strong>s, und zwar der Transzendenz. Auch der, der


342 Weltanschauung und In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Haltung hat, hat sie nur und kann sie nur haben, nicht weil er<br />

faktisch, sondern wesensmäßig metaphysisch halt-los ist, angewiesen<br />

darauf und frei dafür, sich Haltung zu geben. Das besagt<br />

aber: Das vom Seienden selbst durchwaltete Übersteigen des<br />

Seienden, und zwar <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>heit der Streuung, ist halt-los; es<br />

liegt <strong>in</strong> der Transzendenz e<strong>in</strong>e Angewiesenheit auf Halt, doch<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er objektiven Eigenschaft, sondern das Se<strong>in</strong><br />

des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Geschehen ist <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong> Sichh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halten<br />

<strong>in</strong> Möglichkeiten, <strong>in</strong> denen es je faktisch Halt soll nehmen<br />

können. Haltlosigkeit <strong>in</strong> der Streuung ist <strong>in</strong> sich Vorhalten von<br />

Haltmöglichkeiten. In den Grundrichtungen der Streuung des<br />

Dase<strong>in</strong>s liegen gleichsam vorausgeworfene Blicke auf Möglichkeiten<br />

des Se<strong>in</strong>s. Die Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s ist nichts anderes<br />

als <strong>die</strong>ser vorausgeworfene Blick des Dase<strong>in</strong>s im Ganzen,<br />

sofern eben das Dase<strong>in</strong> im Ganzen je e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>können ist und vor<br />

<strong>die</strong>ses gestellt bleibt. Halt-Iosigkeit ist nicht e<strong>in</strong>e bloße Leere,<br />

sondern das Fehlen ist, weil es konstitutiv ist für das Seiende,<br />

dessen Se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>können heißt, Anweisung auf Möglichkeiten<br />

der Erfüllung; ob sie faktisch genügen ruler nicht, ist e<strong>in</strong>e nachgeordnete<br />

Frage. In <strong>die</strong>sem Fehlen liegt das Noch-nicht mit der<br />

ganzen Schärfe e<strong>in</strong>er Anweisung auf <strong>die</strong> je notwendige Wahl.<br />

Wir zeigten früher: Dase<strong>in</strong> ist Erschlossense<strong>in</strong>, d. i. <strong>die</strong> Bezüge<br />

<strong>in</strong> der E<strong>in</strong>heit der Streuung haben den Charakter des Offenbarrnachens.<br />

Dase<strong>in</strong> hält sich <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>heit der Streuung immer <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Offenbarkeit. Das In-der-Welt-se<strong>in</strong> ist immer In-der­<br />

Wahrheit-se<strong>in</strong>. Dar<strong>in</strong> kommt zum Ausdruck, daß Wahrheit wesenhaft<br />

zum Begriff der Welt gehört. Halt-Iosigkeit, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der<br />

Transzendenz liegt, ist demnach immer Anweisung auf Möglichkeiten<br />

des Sichhaltens <strong>in</strong> der Wahrheit. Aus dem, was nun<br />

über <strong>die</strong> Geworfenheit gesagt wurde, ergibt sich, daß auch <strong>die</strong><br />

frühere Charakteristik des In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>s nur e<strong>in</strong>e vorläufige<br />

se<strong>in</strong> konnte. Das In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> als Offenbarmachen<br />

ist nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> <strong>in</strong>differentes Aufdecken von SeIendem<br />

und Betrachten desselben, sondern alles Offenbarmachen<br />

des Seienden ist <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong> Durchwaltetse<strong>in</strong> vom Seienden.<br />

§ J8. Der Strukturcharakter der Transzendenz 343<br />

Alles Offenbarmachen ist daher Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem<br />

Seienden, sowohl <strong>in</strong> Bezug auf das Vorhandene - Beherrschenals<br />

auch <strong>in</strong> Bezug auf das Mitdase<strong>in</strong> - Handeln - und Selbstse<strong>in</strong><br />

- Entschlossenheit zu sich selbst. Weil nun aber <strong>die</strong> Interpretation<br />

des Se<strong>in</strong>s des Seienden, ebenso wie <strong>die</strong> des Zugangs zum<br />

Seienden orientiert ist am 'J...6yor; und <strong>die</strong>ser wieder als der nur<br />

aufweisende, erhält <strong>die</strong> Betrachtung und Anschauung des Seienden<br />

den schlechth<strong>in</strong>nigen Vorrang unter den Bezügen zum<br />

Seienden - Wissenschaft nur logisch, entsprechend das Praktische<br />

als Nichttheoretisches.


§ J9. Grundfragen des pnnzipiellen Problems 345<br />

DRITTES KAPITEL<br />

Das Problem der Weltanschauung<br />

§ 39. Grundfragen des pr<strong>in</strong>zipiellen Problems<br />

der Weltanschauung<br />

a) Weltanschauung als faktisch ergriffenes In -der-Welt-se<strong>in</strong><br />

Gerade <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung macht ja das Seiende an ihm<br />

selbst zugänglich und nicht <strong>die</strong> bloße Betrachtung. Diese ist<br />

e<strong>in</strong>e nachträgliche Form möglicher Aneignung der Wahrheit,<br />

aber nicht das Wesentliche des Offenbarrnachens. Das ist im<br />

Grunde auch <strong>die</strong> eigentliche Bedeutung, <strong>die</strong> dem Term<strong>in</strong>us<br />

»Anschauung« <strong>in</strong>newohnt. Es ist gar ke<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit,<br />

daß der abendländische ErkenntHisbegriff gerade an der<br />

Idee der Anschauung, aLo{hIOL~, töeLv, voeLv, orientiert ist und daß<br />

Kant <strong>die</strong> Idee der Erkenntnis als <strong>in</strong>tuitus ansetzt. »Anschauen«<br />

von etwas will das unmittelbare Haben von etwas im Ganzen<br />

ausdrücken; solches Haben als erstrebtes Ideal schließt <strong>in</strong> sich<br />

<strong>die</strong> Orientierung an e<strong>in</strong>em Nichthaben, Nichtbesitzen. Weltanschauung<br />

heißt im Grunde Welt-haben, sie besitzen, d. i. sich<br />

halten im In-der-Welt-se<strong>in</strong>, was <strong>die</strong> Halt-Iosigkeit entbehrt,<br />

worauf sie aber gerade Anweisung gibt, <strong>die</strong>s <strong>in</strong> Besitz zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Im Ausdruck »Welt-anschauung« gilt es <strong>die</strong> zugeeignete<br />

Zugehörigkeit des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s zum Dase<strong>in</strong> herauszuhören.<br />

Welt-anschauung als Welt-haben ist das faktisch je so oder<br />

so ergriffene In-der-Welt-se<strong>in</strong>. Wir dürfen daher, streng genommen,<br />

nicht sagen: Das Dase<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong>e Weltanschauung, sondern<br />

es ist Welt-anschauung, und zwar notwendig ..<br />

Sofern aber das Dase<strong>in</strong> ausdrücklich sich um das In"-der-Weltse<strong>in</strong><br />

bemühen kann und muß,- und sofern solcher Bemühung<br />

bestimmte Erkenntnisse, Stellungnahmen, Gewohnheiten, Ansprüche,<br />

Forderungen entwachsen, <strong>die</strong>se wiederum objektiv<br />

mitteilbar und darstellbar s<strong>in</strong>d, und sofern <strong>die</strong>ses Veröffentlichte<br />

das zunächst Faßbare ist, erwächst der Sche<strong>in</strong>, als sei <strong>die</strong><br />

Weltanschauung etwas, was objektiv vorhanden ist - Gebilde,<br />

<strong>die</strong> es sich zulegen kann -, was <strong>in</strong> Büchern steht oder was man<br />

aus Vortragszirkeln der Schule der Weisheit <strong>in</strong> Darmstadt bezieht,<br />

was dann das Dase<strong>in</strong> haben oder nicht haben kann.<br />

,Auf Grund <strong>die</strong>ser Auffassung, daß Weltanschauung e<strong>in</strong> öffentlich<br />

gewordenes Gebilde ist, das freilich se<strong>in</strong>e eigene Notwendigkeit<br />

und relatives Recht hat, entsteht e<strong>in</strong>e weitere<br />

Verkennung des Wesens der Weltanschauung, <strong>die</strong> sich ausdrückt<br />

m der Rede von der »natürlichen Weltanschauung«. Man me<strong>in</strong>t<br />

damit e<strong>in</strong> solches Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong>, das jedem<br />

Dase<strong>in</strong> natürlich und für jedes gleich ist. Wenn aber jedes Dase<strong>in</strong><br />

als faktisch existierendes sich notwendig vere<strong>in</strong>zelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Situation, so liegt dar<strong>in</strong>, daß es so etwas wie e<strong>in</strong>e natürliche<br />

Weltanschauung faktisch nicht gibt. Jede Weltanschauung ist<br />

wie jedes In-der-Welt-se<strong>in</strong> <strong>in</strong> sich selbst, ob es darum weiß oder<br />

nicht, geschichtlich. Es gibt nicht e<strong>in</strong>e sogenannte natürliche<br />

und dann noch e<strong>in</strong>e darauf gepfropfte, erst gebildete Weltanschauung,<br />

sowenig e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> existieren kann, das nicht je<br />

Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Selbst wäre und damit notwendig <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ich-Du­<br />

Verhältnisse zerstreute. Die Leugnung e<strong>in</strong>er natürlichen Weltanschauung<br />

besagt nun freilich nicht, es existiert nicht so etwas<br />

wie e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Weltanschauung, etwa von Gruppen,<br />

Stämmen, Sippen, Nationen, Völkern; <strong>in</strong> anderer Richtung gibt<br />

es e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Welt bestimmter Stände, Kasten, Berufe.<br />

Aber <strong>die</strong>se Geme<strong>in</strong>samkeit selbst ist der Form nach ebenso wie<br />

h<strong>in</strong>sichtlich des Gehaltes e<strong>in</strong>e geschichtliche.<br />

Die Ausbildung von Weltanschauungen ist zunächst und auf<br />

lange h<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sache der Wissenschaft und der Gelehrten. Wo es<br />

solche Gebilde gibt, s<strong>in</strong>d es zumeist nur erdachte, »Weltbilder«,<br />

m denen das jeweilige Wissen um das Seiende zusammengetragen<br />

und mit heilsamen praktischen Ratschlägen versehen ist.


346 Das Problem der Weltanschauung<br />

Die Art und Weise, wie sich nun faktisch Weltanschauungen<br />

bilden, unterliegt bestimmten Wesensgesetzen. Problem ist:<br />

1. Welches ist jeweils der Modus, gemäß dem dem Dase<strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Haltlosigkeit des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s offenbar ist?, a) In welcher<br />

vorherrschenden Richtung <strong>in</strong>nerhalb des Ganzen der<br />

Streuung? b) In welchem Grade der Ursprünglichkeit des Inder-Welt-se<strong>in</strong>s?<br />

c) In welcher Weise der Deutung und Auslegung<br />

<strong>die</strong> Offenbarkeit der Halt-Iosigkeit geschieht.<br />

2. Welches ist der jeweilige Charakter des Haltes, der als<br />

möglicher <strong>in</strong> der Offenbarkeit der Haltlosigkeit vorgezeichnet<br />

wird?<br />

3. Welches ist <strong>die</strong> echte Form der Gew<strong>in</strong>nung <strong>die</strong>ses Haltes,<br />

se<strong>in</strong>er Bewahrung und Überlieferung?<br />

4. Welches s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> im jeweiligen Halt selbst angelegten und<br />

ihm zugehörigen Formen der Entartung und des Ersatzes?<br />

5. Inwiefern liegt <strong>in</strong> der Entartung e<strong>in</strong>es Haltes zugleich <strong>die</strong><br />

Anweisung auf <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es neuen?<br />

Dieses s<strong>in</strong>d Grundfragen des pr<strong>in</strong>zipiellen Problems der<br />

Weltanschauung, denen vorausgeht <strong>die</strong> Wesensklärung von<br />

Weltanschauung überhaupt und der Nachweis des Ursprungs<br />

desselben im In-der-Welt-se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> der Transzendenz.<br />

Die ganze Erörterung über Welt, In-der-Welt-se<strong>in</strong>, Weltanschauung<br />

<strong>die</strong>nte dazu, uns e<strong>in</strong>en Boden zu verschaffen für <strong>die</strong><br />

Frage des Verhältnisses von Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong>.<br />

Genauer: Wir wollen im Durchgang durch e<strong>in</strong>e Wesensklärung<br />

der Weltanschauung, <strong>die</strong> das vorliegende Bildungsbewußtse<strong>in</strong><br />

immer leicht mit der <strong>Philosophie</strong> zusammenbr<strong>in</strong>gt, das Wesen<br />

des <strong>Philosophie</strong>rens e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher aufhellen.<br />

b) Der Weltanschauungsbegriff bei Dilthey<br />

Bevor wir <strong>die</strong>sen letzten Schritt versuchen, wollen wir auf den<br />

früher (s. oben S. 238f.) zum Leitfaden genommenen'Weltanschauungsbegriff<br />

Diltheys zurückkommen und dabei-<strong>die</strong> sieben<br />

Fragen kurz beantworten, <strong>die</strong> wir damals mit Rücksicht<br />

§ 39. Grundfragen des pr<strong>in</strong>zipiellen Problems 347<br />

auf Diltheys Bestimmung des Wesens der Weltanschauung<br />

stellten. Die Beantwortung <strong>die</strong>ser Fragen wird uns unmittelbar<br />

h<strong>in</strong>führen zum leitenden Problem. Zugleich werden wir <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser zusammenfassenden Erörterung noch e<strong>in</strong>mal das Gesamtproblem<br />

der Wesens<strong>in</strong>terpretation dessen, was Weltanschauung<br />

genannt wird, uns vor Augen führen und zugleich<br />

ermessen <strong>die</strong> Wichtigkeit der Erörterung des ersten Weges für<br />

den zweiten, d. h. im besonderen <strong>die</strong> grundsätzliche Bedeutung<br />

der Überw<strong>in</strong>dung des psychologischen und erkenntnistheoreti-<br />

-schen Subjektbegriffes im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Wesens<strong>in</strong>terpretation<br />

des Dase<strong>in</strong>s.<br />

Dilthey sagt: »In der Struktur der Weltanschauung ist immer<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Beziehung der Lebenserfahrung zum Weltbilde enthalten,<br />

e<strong>in</strong>e Beziehung, aus der stets e<strong>in</strong> Lebensideal abgeleitet<br />

werden kann.«l Weltbild, Lebenserfahrung, Lebensideal und<br />

Wirklichkeit, Wert, Willensbestimmung s<strong>in</strong>d nach Dilthey Bestandteile<br />

der Weltanschauung »verschiedener Provenienz«<br />

und verschiedenen Charakters. Diese Auffassung ist entscheidend<br />

für Diltheys Stellungnahme zur Möglichkeit e<strong>in</strong>er philosophischen<br />

Weltanschauung, was er mit »Metaphysik« identifiziert,<br />

und für se<strong>in</strong>en Begriff der <strong>Philosophie</strong>. Anhand der<br />

sieben Fragen ist jetzt zu erörtern:<br />

1. S<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Grundbestandteile h<strong>in</strong>reichend ursprünglich<br />

bestimmt? »Weltbild« heißt für Dilthey der objektive Kausalzusammenhang<br />

des Vorhandenen, so wie er <strong>in</strong> der Naturwissenschaft<br />

im weiteren S<strong>in</strong>ne herausgestellt wird. »Lebenserfahrung«<br />

bezeichnet Dilthey auch als »Lebenswürdigung« oder<br />

Erleben von Bedeutung und S<strong>in</strong>n, »Lebensideal«: Pr<strong>in</strong>zipien<br />

des HandeIns. Dies s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> drei Bezirke des Seienden.<br />

Aber me<strong>in</strong>t Dilthey, e<strong>in</strong>e Weltanschauung bestehe aus der<br />

objektiv vorhandenen Natur, aus erlebenden seelischen Subjekten<br />

und aus Pr<strong>in</strong>zipien, sie sei gleichsam e<strong>in</strong> irgendwie<br />

1 Wilhelm Dilthey, Das Wesen der <strong>Philosophie</strong>. In: Die Kultur der Gegenwart<br />

I, 4, 1907. S. 38. (Gesammelte Schriften V, S. 380).


348 Das Problem der Weltanschauung<br />

Se<strong>in</strong><br />

das Wirkliche<br />

(Welt)<br />

Erkenntnis<br />

Weltbild<br />

Wert<br />

Leben<br />

Gefühl<br />

objektives Gemisch <strong>die</strong>ser drei? Er me<strong>in</strong>t mit »Weltbild« vielmehr<br />

<strong>die</strong> kausal erkannte Natur, das Erkannte im Erkennen;<br />

der seelische Erlebniszusammenhang als gelebter und <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien<br />

als das Handeln B<strong>in</strong>dende. Gewiß, das me<strong>in</strong>t er; aber er<br />

me<strong>in</strong>t auch das erste. Mit anderen Worten: Es liegt hier e<strong>in</strong>e<br />

wesentliche Unbestimmtheit <strong>in</strong> der Kennzeichnung der Bestand-teile<br />

als solcher vor: e<strong>in</strong>mal objektiv vorhandene ontische<br />

Bezirke (objektiv), zugleich aber im H<strong>in</strong>blick darauf, daß<br />

sie erkannt, gefühlt und gewollt s<strong>in</strong>d (subjektiv); bald das e<strong>in</strong>e,<br />

»bald das andere«, bald beide <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Bezogenheit (Objekt­<br />

Subjekt-Beziehung), wobei <strong>die</strong>se erst recht unbestimmt bleibt.<br />

Die Grundbestandteile s<strong>in</strong>d also nicht h<strong>in</strong>reichend ursprünglich<br />

bestimmt, sondern von außen, vulgär, <strong>in</strong> wechselnden und<br />

schillernden Bezügen, bald objektiv, bald subjektiv, bald Objekt-Subjekt-Bezogenheit<br />

selbst. Aber nur im H<strong>in</strong>blick darauf,<br />

daß <strong>die</strong> drei Bestandteile gleichsam drei ontische Bezirke me<strong>in</strong>en,<br />

vermag Dilthey zu sagen, sie seien »verschiedener ProvenIenz«.<br />

Lebenserfahrung<br />

Wollen<br />

Pr<strong>in</strong>zipien<br />

Wille<br />

Handeln<br />

objektiv<br />

subjektiv<br />

oberste<br />

Denkbestimmung<br />

subjektivobjektiv<br />

Aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Ordnung ist Dilthey selbst schwankend.<br />

2. S<strong>in</strong>d sie als Bestandteile der Weltanschauung ver~chiedener<br />

Herkunft oder nicht? Nimmt man sie objektiv, dan~ <strong>in</strong> der<br />

Tat; Natur ist etwas für sich, ebenso seelisches Leben und gel-<br />

§ 39. Grundfragen des pr<strong>in</strong>zipiellen Problems 349<br />

tende Pr<strong>in</strong>zipien. Ke<strong>in</strong> Bezirk ist auf e<strong>in</strong>en anderen zurückführbar.<br />

Me<strong>in</strong>en <strong>die</strong> Bestandteile dagegen als solche <strong>die</strong> Weltanschauung<br />

und <strong>die</strong>se als Bestimmung des Seelenlebens, d. h. <strong>die</strong><br />

drei Bestandteile als erkennendes, wertendes und wollendes<br />

Verhalten, dann ist gar nicht e<strong>in</strong>zusehen, ,wie hier von verschiedener<br />

Provenienz der Bestandteile gesprochen werden soll;<br />

gerade umgekehrt: Sie haben <strong>die</strong>sseibe Provenienz aus dem<br />

Ganzen des Seelenlebens. Dilthey selbst sagt, entgegen der These<br />

von der verschiedenen Provenienz: »Der Grundunterschied<br />

zwischen <strong>die</strong>sen Bestandteilen geht zurück <strong>in</strong> <strong>die</strong> Differenzierung<br />

des Seelenlebens, welche als dessen Struktur bezeichnet<br />

worden ist.«2 So ist nicht nur <strong>die</strong> Kennzeichnung der Bestandteile<br />

selbst unbestimmt, sondern auch <strong>die</strong> Bestimmung ihrer<br />

Herkunft; <strong>die</strong>se muß schwankend se<strong>in</strong>, weil <strong>die</strong> Bestandteile<br />

selbst vielfältig belastet s<strong>in</strong>d. Damit verschl<strong>in</strong>gt sich nun e<strong>in</strong>e<br />

weitere Schwierigkeit.<br />

3. Die Frage des möglichen Zusammenhangs der Bestandteile.<br />

Danach fragt Dilthey im Grunde gar nicht mehr; er bleibt<br />

bei der Dreigliederung der Vermögen Erkennen, Gefühl, Wille<br />

stehen; freilich ist er, und gerade er, nicht der Me<strong>in</strong>ung, daß<br />

<strong>die</strong>se drei nur nebene<strong>in</strong>ander vorkommen; er bemüht sich gerade<br />

darum, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit derselben ans Licht zu br<strong>in</strong>gen, aber<br />

doch so, daß er je auf <strong>die</strong> faktische Verkettung aller drei h<strong>in</strong>weist<br />

- es gibt nie e<strong>in</strong> Vermögen ohne <strong>die</strong> beiden anderen -, aber das<br />

Entscheidende, <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>die</strong>ses Zusammenhangs, d.h.<br />

<strong>die</strong> Grundstruktur des Dase<strong>in</strong>s selbst, aus der solche Bestandteile<br />

zu entnehmen s<strong>in</strong>d, ist nicht zum Problem gemacht. Daher<br />

bleibt<br />

4. unbestimmt, ob sie nur zusammen geraten s<strong>in</strong>d oder ob<br />

sich hier e<strong>in</strong>e ursprüngliche, wesensnotwendige E<strong>in</strong>heit im Dase<strong>in</strong><br />

selbst bekundet. Dilthey sagt: »Ihre [der Bestandteile]<br />

psychische Relation ist für uns im Erlebnis da; sie gehört unter<br />

<strong>die</strong> letzten erreichbaren Tatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s. Das Sub-<br />

2 Ebd.


550 Das Problem der Weltanschauung<br />

jekt verhält sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser verschiedenen Weise zu den Gegenständen,<br />

h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>se Tatsache kann nicht zu e<strong>in</strong>em Grund<br />

derselben zurückgegangen werden.«3<br />

Aus <strong>die</strong>sen Sätzen wird <strong>die</strong> Grundpüsitiün Diltheys klar. Wir<br />

heben nur e<strong>in</strong>iges heraus mit Bezug auf <strong>die</strong> Wesensklärung der<br />

Weltanschauung: Die Bestandteile werden jetzt direkt als psychische<br />

und <strong>in</strong> psychischer Relatiün gefaßt; er nennt sie zugleich<br />

»Tatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s«, h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> zu e<strong>in</strong>em Grund<br />

nicht zurück zu gehen ist. Hier wird deutlich, daß Dilthey trütz<br />

aller wesentlichen Revisiün der Psychülügie im S<strong>in</strong>ne der naturalistischen<br />

Elementarpsychülügie düch <strong>in</strong> der Wesensbestimmung<br />

des »Lebens« (Dase<strong>in</strong>s) nicht über <strong>die</strong> Psychülügie als<br />

sülche h<strong>in</strong>ausgekümmen ist. Das Prüblem des Dase<strong>in</strong>s ist e<strong>in</strong><br />

sülches der Psychülügie, d. h. es bleibt der Ansatz e<strong>in</strong>es üntischen<br />

Zusammenhangs, psychische Vürkommnisse, Tatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s.<br />

Es wird weder gefragt, welches <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sart <strong>die</strong>ses<br />

Psychischen sei, nüch gar, üb das Psychische <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Bestimmung<br />

ausreiche, das Wesen des Dase<strong>in</strong>s auch nur zum Prüblem<br />

zu machen und sümit erst <strong>die</strong> Basis für <strong>die</strong> Wesens bestimmung<br />

der Weltanschauung zu gew<strong>in</strong>nen. Dase<strong>in</strong>, vün der Psychülügie<br />

her gesehen und auf dem Büden der Psycholügie, wird dann<br />

Erkenntnisprüblem, Wissenschaftstheürie und Kultur. Dilthey<br />

bleibt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Püsitivismus höherer Fürm stecken und versteht<br />

nicht <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, denen er genügen muß, um überhaupt<br />

das, was er fragt, als wirkliches Prüblem zu stellen. Denn gerade<br />

auch se<strong>in</strong>e wichtige Erkenntnis, <strong>die</strong> Geschichtlichkeit des Lebens,<br />

bleibt im Grunde unverstanden, weil nicht üntülügischmetaphysisch<br />

begriffen. Daher ist <strong>die</strong> Geschichte des Dase<strong>in</strong>s<br />

als sülche nicht gesehen, sündern »Kultur« u.s.f. ist e<strong>in</strong> Ausdruck,<br />

Objektivatiün der Psychülügisierung des Lebens, e<strong>in</strong>e<br />

Aesthetik der Geschichtlichkeit und Kultur.<br />

Aber man br<strong>in</strong>gt sich um <strong>die</strong> Möglichkeit jedes sachlichen<br />

Verständnisses und wirklicher Prübleme, wenn man sich, sobald<br />

3 A a.O., S. 61 (Ges. Schnften V, S.405).<br />

§ ]9. Grundfragen des pr<strong>in</strong>ziptellen Problems 551<br />

vün Geschichtlichkeit <strong>die</strong> Rede ist, den Namen Dilthey e<strong>in</strong>fallen<br />

läßt und dann me<strong>in</strong>t, damit sei das Prüblem gelöst. Es ist<br />

e<strong>in</strong>e Unart der sügenannten Philüsophiegelehrten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Prüblem<br />

nur So' weit zu treffen vermögen, als sie dafür e<strong>in</strong>e Anzahl<br />

von Autürennamen und Buchtiteln anführen können. Das Prüblem<br />

der Geschichtlichkeit, das Dilthey behandelt hat, ist nun<br />

nicht zu sehen; ebensO' wenig das Prüblem der Zeit, das Bergsün<br />

behandelt hat, das Prüblem der Wesensschauung, das Husserl<br />

erkannt hat, und auch das Prüblem der Existenz ist durch übliche<br />

Kennzeichnung nütwendig so nicht zu sehen. Diese marktschreierische<br />

Art, <strong>die</strong> Unbildung zu befördern, ist mit schuld an<br />

der trüstlüsen Lage der Philosüphie.<br />

Diltheys These wird üffenkundig <strong>in</strong> dem zweiten Satze, wO' er<br />

sagt, h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Tatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s könne nicht zu<br />

e<strong>in</strong>em weiteren Grund zurückgegangen werden. Geme<strong>in</strong>t ist<br />

natürlich: zu e<strong>in</strong>er Substanz, zu e<strong>in</strong>em nüch zugrundeliegenden<br />

Seienden, aus dem das Seiende der psychülügischen Mannigfaltigkeit<br />

erklärt werden süllte, d.h. Dilthey kennt nur üntische<br />

Kenntnis der Tatsachen, wübei fraglich ist, was »letzte« Tatsachen<br />

heißen Süll.<br />

Dilthey sieht erstens nicht, daß gerade für se<strong>in</strong> Prüblem der<br />

Strukturbestimmung der Psychülügie <strong>die</strong> üntülügische Erkenntnis<br />

schün vürausgesetzt und vüllzagen wird, und zweitens aber,<br />

daß <strong>die</strong> Frage nach dem Grund der Möglichkeit der E<strong>in</strong>heit der<br />

genannten »Tatsachen« nicht schün e<strong>in</strong>e üntische Erklärungsfrage<br />

zu se<strong>in</strong> braucht, sündern e<strong>in</strong>e üntülügische Wesensfrage.<br />

Er bewegt sich hier <strong>in</strong> der Richtung Kants, der <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht<br />

ebensüwenig klar gesehen hat. Wenn Kant <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Paralügismen mit Recht <strong>die</strong> Unmöglichkeit e<strong>in</strong>er üntisch-rationalen<br />

Metaphysik des Seelenlebens aufweist, so ist damit nichts<br />

entschieden gegen <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er Ontologie des Seelischen<br />

bzw. des Menschen, so wenig, daß sie gerade als notwendig<br />

erwiesen ist - und Kant muß ständig davün Gebrauch<br />

machen. Zwischen bzw. vür der Ersche<strong>in</strong>ung des Seelischen als<br />

Ersche<strong>in</strong>ung und e<strong>in</strong>er dügmatischen theoretischen Metaphysik


352 Das Problem der Weltanschauung<br />

des Subjekts und Subjektbegriffs ist eben möglich und notwendig<br />

e<strong>in</strong>e Ontologie des Seelischen. Man kann zugeben, für <strong>die</strong><br />

faktische Durchführung des kantischen Problems der »Kritik<br />

der re<strong>in</strong>en Vernunft« ist sie nicht erforderlich; aber daraus folgt<br />

nicht, daß grundsätzlich <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er metaphysischen<br />

Betrachtung des Seelischen ausgeschlossen sei. Wäre Kant zu<br />

<strong>die</strong>sen Fundamentalfragen vorgedrungen und hätte sie als eigene<br />

Probleme erkannt, dann wäre der deutsche Idealismus <strong>in</strong><br />

der faktischen Form unmöglich geworden.<br />

Zur ontologischen Wesensfrage kann nicht nur zurückgefragt<br />

werden, sondern ist immer auch schon zurück gefragt, ob<br />

ausdrücklich oder nicht. Denn daß Dilthey notwendig von<br />

e<strong>in</strong>em solchen Grunde Gebrauch machen muß, obzwar er ihn<br />

nicht sieht und mißdeutet, das zeigt sich gerade an der Vieldeutigkeit,<br />

<strong>in</strong> der er sowohl <strong>die</strong> Begriffe der e<strong>in</strong>zelnen Bestandteile<br />

der Weltanschauung als auch den Begriff <strong>die</strong>ser selbst<br />

gebraucht.<br />

Die Vieldeutigkeit der Bestandteile: Weltbild, Lebenswürdigung,<br />

Lebensideal; Wirklichkeit, Wert, Zweck; Erkennen, Gefühl,<br />

Wollen, sowie <strong>die</strong> Vieldeutigkeit des Begriffes Weltanschauung:<br />

das Angeschaute, <strong>die</strong> Anschauungen, das Anschauen<br />

des Angeschauten, ist ke<strong>in</strong>e zufällige. Gerade weil Dilther'lebendig<br />

auf das Verständnis der Struktur der Weltanschauung<br />

dr<strong>in</strong>gt, muß er Gebrauch machen von <strong>die</strong>ser Vieldeutigkeit,<br />

freilich ohne daß es ihm gel<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong> Bedeutungsrichtungen<br />

festzulegen oder gar <strong>die</strong> Notwendigkeit der Vieldeutigkeit zu<br />

zeigen und zu begründen. Daß aber Dilthey sich <strong>in</strong> der Vieldeutigkeit<br />

bewegt, ist der Beweis dafür, daß er von e<strong>in</strong>er - als<br />

solche nicht erkannten - Urstruktur des Dase<strong>in</strong>s Gebrauch<br />

macht, und zwar deshalb, weil er davon Gebrauch machen muß,<br />

wenn anders <strong>die</strong> Weltanschauung zum menschlichen Dase<strong>in</strong><br />

gehört. .<br />

5. Diese Urstruktur ist <strong>die</strong> Transzendenz als In-der-Welt-se<strong>in</strong>;<br />

das Dase<strong>in</strong> ist als solches transzen<strong>die</strong>rend; es hat das Seiende, und<br />

zwar <strong>in</strong> der dreifachen Richtung -der Streuung je schon über-<br />

§ J9. Grundfragen des pr<strong>in</strong>zipiellen Problems 353<br />

sprungen, d. h. es verhält sich nicht nur überhaupt als erschlossenes<br />

zum Seienden im Ganzen, sondern dar<strong>in</strong> liegt: Es hält sich<br />

im Se<strong>in</strong>sverständnis, und <strong>die</strong>ses ist sogar Bed<strong>in</strong>gung der Möglichkeit<br />

des genannten Verhaltens. Es ist nicht e<strong>in</strong> psychisches<br />

Subjekt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Inneren des Bewußtse<strong>in</strong>s (etwas Subjektives)<br />

und hat auch Beziehung zu Objekten. Subjektiv und objektiv s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> Bestand-teile, weil sie als Verhaltungen des Dase<strong>in</strong>s auf dem<br />

Grunde der Transzendenz desselben sich halten, und zwar liegt<br />

vor allem <strong>die</strong>sem ontischen Verhalten, was Dilthey überhaupt<br />

nicht sieht, schon Ontologisches zugrunde.<br />

Die Möglichkeit und Notwendigkeit von Weltanschauung,<br />

d. h. ihr Wesen begründet sich <strong>in</strong> der Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s,<br />

und man kann nicht nur, sondern muß h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Tatsachen des<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s zurückfragen, sofern e<strong>in</strong>e Tatsache überhaupt<br />

nichts hergibt <strong>in</strong> der Richtung der Erkenntnis, <strong>die</strong> Dilthey<br />

selbst anstrebt, wenn er <strong>die</strong> Struktur der Welt aus dem Seelenleben<br />

verstehen will.<br />

Aber selbst das genügt nicht, daß man gegen Dilthey lediglich<br />

im Unterschied zu e<strong>in</strong>er positivistischen psychologischen<br />

Beschreibung auf <strong>die</strong> ontologische Wesensklärung h<strong>in</strong>weist,<br />

sondern es bedarf der grundsätzlichen Überlegung, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong><br />

der sechsten Frage zum Ausdruck brachten:<br />

6. Wie muß das Dase<strong>in</strong> grundsätzlich <strong>in</strong> den Blick genommen<br />

werden, um <strong>die</strong> Urstruktur sichtbar zu machen? Darauf wurde<br />

bereits Antwort gegeben durch <strong>die</strong> volle Wesens<strong>in</strong>terpretation<br />

der Transzendenz, wobei es galt, <strong>die</strong> im Se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s liegende<br />

Schärfe, <strong>die</strong> Nichtigkeit und Haltlosigkeit herauszustellen;<br />

negativ: <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung hat weder ontische Bestandteile<br />

und letzte Tatsachen, noch aber auch nur e<strong>in</strong>e harmlose<br />

<strong>in</strong>differente ontologische Struktur, sondern <strong>die</strong> Verfassung des<br />

Dase<strong>in</strong>s ist am Se<strong>in</strong> deshalb wesenhaft mitbeteiligt. Die Verfassung<br />

ist ke<strong>in</strong> Rahmen, sondern <strong>die</strong> Art und Weise, wie das Se<strong>in</strong><br />

des Dase<strong>in</strong>s sich zeitigt.<br />

Abschließend können wir gegenüber Dilthey, dessen Vorstoß<br />

zur Wesensklärung der Welt nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung ge-


354 Das Problem der Weltanschauung<br />

schmälert werden darf, sagen: Weltanschauung ist ke<strong>in</strong> aus<br />

heterogenen Bestandteilen zusammengebautes psychisches Gebilde<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> sich abgekapselten Subjekt als Tatsache im<br />

Bewußtse<strong>in</strong>, sondern ist e<strong>in</strong> ursprünglich e<strong>in</strong>iges, obzwar nicht<br />

e<strong>in</strong>faches transzendentales Grundphänomen, d.h. zur Transzendenz<br />

des Dase<strong>in</strong>s gehörig und <strong>in</strong> der Weise <strong>die</strong>ses das Se<strong>in</strong> des<br />

Dase<strong>in</strong>s bestimmend.<br />

'<br />

§ 40. Wie verhält sich Weltanschauung zum <strong>Philosophie</strong>ren?<br />

a) Die vulgäre Form des Problems:<br />

Kann und soll <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Weltanschauung ausbilden?<br />

Damit stehen wir vor der 7. Frage, auf deren Beantwortung alles<br />

abzielt: Wie verhält sich <strong>die</strong>se ursprüngliche Struktur des Dase<strong>in</strong>s,<br />

Weltanschauung als Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong>, zum<br />

<strong>Philosophie</strong>ren, von dem wir schon angezeigt haben, daß es <strong>in</strong><br />

der Transzendenz als der Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s geschieht?<br />

Die These lautet:<br />

<strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>rent Was das<br />

heißt, muß sich jetzt konkreter dadurch bestimmen lassen, daß<br />

wir aufklären, wie sich <strong>Philosophie</strong>ren zur Weltanschauung<br />

verhält, <strong>die</strong> ja doch e<strong>in</strong>e Wesensbestimmung des In-der-Weltse<strong>in</strong>s,<br />

der Transzendenz, ausmacht.<br />

Man könnte sagen: Transzen<strong>die</strong>ren heißt In-der-Welt-se<strong>in</strong>.<br />

Zum In-der-Welt-se<strong>in</strong> aber gehört jeweils e<strong>in</strong> bestimmter Modus<br />

des Sich-haltens <strong>in</strong> ihm, also kurz gesagt e<strong>in</strong>e Weltanschauung.<br />

Ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren ist demnach e<strong>in</strong><br />

ausdrückliches Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong> ausdrückliches<br />

Ausbilden e<strong>in</strong>er Weltanschauung. Wenn Transzen<strong>die</strong>ren<br />

heißt: In-der-Welt-se<strong>in</strong> und <strong>die</strong>ses je ist Sichhalten <strong>in</strong><br />

solchem, Weltanschauung, dann ist ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren,<br />

d. h. <strong>Philosophie</strong>ren e<strong>in</strong> ausdrückliches Ausbilden von<br />

§ 40. Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong>ren 355<br />

Weltanschauung. Da nun doch - nach der gewöhnlichen und<br />

immer wieder durchbrechenden Me<strong>in</strong>ung - <strong>Philosophie</strong> wissenschaftliche<br />

Erkenntnis ist, und zwar <strong>die</strong> höchste und erste,<br />

wissenschaftliche Erkenntnis aber auf Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit,<br />

letzte Sicherheit und apodiktische Rechtf~rtigung des Erkennens<br />

abzielt, so muß <strong>Philosophie</strong>ren se<strong>in</strong> das wissenschaftliche<br />

Ausbilden e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>gültigen Weltanschauung. Demgemäß<br />

spricht auch Dilthey von der philosophischen Weltanschauung<br />

als dem »Unternehmen, <strong>die</strong> Weltanschauung zur<br />

Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit zu erheben«!, und er bezeichnet <strong>die</strong>ses<br />

Unternehmen zugleich als das Wesen der Metaphysik. Das ist<br />

<strong>in</strong> der Tat <strong>die</strong> herrschende Me<strong>in</strong>ung, nur daß Dilthey <strong>die</strong> faktische<br />

Erfüllung <strong>die</strong>ser Aufgabe für unmöglich hält, und zwar<br />

weil <strong>die</strong> Metaphysik den Anforderungen der Wissenschaft<br />

nicht genügen kann. 2<br />

Die vulgäre Form des Problems »Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong>«<br />

ist demnach: Kann und soll <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e<br />

wissenschaftliche Weltanschauung ausbilden oder nicht? Aber<br />

wir wollen uns nicht an <strong>die</strong>ses Problem halten, alle<strong>in</strong> schon<br />

deshalb nicht, weil es e<strong>in</strong>e schiefe Frage ist und das gar nicht<br />

trifft, was eigentlich geklärt se<strong>in</strong> will. Vielleicht soll weder <strong>die</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Weltanschauung ausbilden<br />

noch kann sie das; aber am Ende steht sie gleichwohl, ja gerade<br />

deshalb, weil sie weder soll nach, kann, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ureigenen<br />

Verhältnis zur Weltanschauung. Wir behalten das vulgäre Problem<br />

im Auge, zumal es verkoppelt ist mit der Frage <strong>Philosophie</strong><br />

und Wissenschaft; aber wir entwickeln jetzt <strong>die</strong> Antwort<br />

auf <strong>die</strong> Frage des Verhältnisses von Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong><br />

systematisch aus der genaueren Interpretation von<br />

Weltanschauung und Transzendenz.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrücklichesTranszen<strong>die</strong>ren. Zu Anfang<br />

der Vorlesung wurde gesagt, daß das Dase<strong>in</strong> als solches philo-<br />

1 A.a.O., S. 55 (V, S. 399).<br />

2 Vgl. a.a.O., S. 60 (V, S.404).


356 Das Problem der Weltanschauung<br />

sophiert, sofern es existiert. Im Verlauf des ersten Weges sahen<br />

wir: Das Wesen der Existenz ist Transzendenz. Gleichwohl ist<br />

ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren e<strong>in</strong>e freie Möglichkeit des Dase<strong>in</strong>s,<br />

nicht nur zum Dase<strong>in</strong> gehörig, sondern h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er<br />

Ausdrücklichkeit gerade ihm frei entspr<strong>in</strong>gend. Damit e<strong>in</strong> Zusammenhang<br />

zwischen dem Wesen der Weltanschauung und<br />

dem Wesen des <strong>Philosophie</strong>rens sichtbar wird, müssen wir zunächst<br />

kurz e<strong>in</strong>gehen auf e<strong>in</strong>en Grundunterschied <strong>in</strong> den Möglichkeiten<br />

von Weltanschauung.<br />

b) Zur Geschichtlichkeit von Weltanschauungen<br />

Wir haben schon darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß <strong>die</strong> Bildung der Weltanschauung<br />

bestimmt wird durch <strong>die</strong> Art der Offenbarkeit der<br />

Halt-Iosigkeit des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s, d. h. durch <strong>die</strong> Art, wie<br />

<strong>die</strong>ses selbst erfahren und <strong>die</strong> Haltlosigkeit ausgelegt wird. Diese<br />

Offenbarkeit der Haltlosigkeit ist ke<strong>in</strong> theoretisches Wissen,<br />

sondern eben schon e<strong>in</strong> Modus des sich Haltens <strong>in</strong> ihr. Mit der<br />

Geworfenheit des Dase<strong>in</strong>s ist zunächst, w.enn auch nicht endgültig<br />

und <strong>in</strong> allem, e<strong>in</strong> bestimmtes Sichhalten im In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> entschieden. Ferner wurde betont, daß das In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> selbst sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Art immer aus dem Dase<strong>in</strong> selbst<br />

bestimmt.<br />

Die Grundmöglichkeiten von Weltanschauung haben nun<br />

entsprechend ihrem je eigenen Wesen unter sich auch e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Wesensgesetzlichkeit h<strong>in</strong>sichtlich ihres Geschehens<br />

und ihrer Folge. Zwar kann man sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er freigebildeten<br />

Statistik und Typologie von Weltanschauungen Haupttypen<br />

derselben nach irgende<strong>in</strong>em Schema zusammenordnen. Meist<br />

geschieht das so. Das e<strong>in</strong>zige Pr<strong>in</strong>zip ist zunächst, daß man <strong>die</strong><br />

Mannigfaltigkeit von Weltanschauungen logisch ordnen will,<br />

um sich zurecht zu f<strong>in</strong>den. Dabei wird aber gerade e<strong>in</strong>es vergessen,<br />

was der Weltanschauung wesentlich ist, ihr geschichtlicher<br />

Charakter, daß sie im Geschehen des Dase<strong>in</strong>s verwUrzelt ist<br />

und es zugleich bestimmt. Nicht-s<strong>in</strong>d aus e<strong>in</strong>em formalen Be-<br />

§ 41. Zwei Grundmöglichkeiten der Weltanschauung 357<br />

griff Möglichkeiten zu deduzieren, sondern aus der E<strong>in</strong>sicht,<br />

daß Dase<strong>in</strong>, sofern es existiert, je schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt ist, ergeben<br />

sich geschichtliche Stufen, <strong>die</strong> sich aus der wesentlichen Geschichtlichkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s bestimmen.<br />

Wenn der geschichtliche Charakter zu ihrem Wesen gehört,<br />

dann muß auch <strong>die</strong> Interpretation der Grundmöglichkeiten der<br />

Weltanschauung <strong>die</strong>sem, d.h. den Wesenszusammenhängen der<br />

Abfolge und Durchdr<strong>in</strong>gungsgesetze Rechnung tragen. 3<br />

§ 41. Zwei Grundmö"glichkeiten der Weltanschauung<br />

a) Weltanschauung im Mythos: Bergung als Halt<br />

im übermächtigen Seienden selbst<br />

Für unsere Zwecke muß es genügen, zwei Grundmöglichkeiten<br />

der Weltanschauung aus dem Wesen des Dase<strong>in</strong>s selbst und<br />

se<strong>in</strong>em Geschehen aufzuhellen. Beide s<strong>in</strong>d gleichwohl faktisch<br />

nie zu trennen; <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en wirkt <strong>die</strong> andere nach, <strong>die</strong> andere<br />

nimmt <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e schon immer vorweg.<br />

Wir sagen: Zum In-der-Welt-se<strong>in</strong> gehören <strong>die</strong> Wesenscharaktere<br />

des Umwillen se<strong>in</strong>er selbst und <strong>die</strong> Geworfenheit. Je<br />

weniger das Dase<strong>in</strong> zunächst durch »Wissen«, Lehren, Technik,<br />

Organisation durchsetzt ist, um so unmittelbarer ist das Durchwaltetse<strong>in</strong><br />

vom Seienden, im Verhalten zu ihm, um so ursprünglicher<br />

das Ausgeliefertse<strong>in</strong> an das Seiende, und das immer im<br />

Ganzen der Streuung des Dase<strong>in</strong>s; das heißt aber: Das Seiende<br />

offenbart sich zunächst ausschließlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Übermacht, und<br />

zwar durchgängig. Das Dase<strong>in</strong> geht dar<strong>in</strong> auf, benommen vom<br />

Ganzen, nicht nur von den D<strong>in</strong>gen. Auch <strong>die</strong> eigene Seele, das<br />

eigene Selbst ist gewissermaßen e<strong>in</strong>e fremde Macht, e<strong>in</strong> Dä-<br />

3 Wir berühren hier schon Probleme, <strong>die</strong> uns auf dem dritten Wege begegnen.<br />

Ohne daß wir darauf e<strong>in</strong>gehen können, muß daran er<strong>in</strong>nert werden. Anm.<br />

d. Hg.: Der dritte Weg (<strong>Philosophie</strong> und Geschichte) wurde nicht ausgeführt.


358 Das Problem der Weltanschauung<br />

mon, der sich des e<strong>in</strong>zelnen annimmt oder ihn bedroht. Die<br />

Vorstellung von Seele und Geist ist nicht erwachsen durch Anwendung<br />

des Substanzbegriffes auf <strong>in</strong>nere seelische Wesen,<br />

sondern aus <strong>die</strong>sem Durchwaltetse<strong>in</strong> vom Seienden und Ausgesetztse<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Übermacht. In <strong>die</strong>sem Durchherrschtse<strong>in</strong> von<br />

der Übermächtigkeit des Seienden ist begründet, daß dem Dase<strong>in</strong>,<br />

das als solches sich nicht erkennt, es selbst sich als etwas<br />

Fremdes bekundet. Das Seiende im Ganzen hat den Charakter<br />

der Übermächtigkeit.<br />

Das Se<strong>in</strong> alles Seienden wird <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne verstanden, das<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong> als <strong>die</strong>ses Ausgeliefertse<strong>in</strong> an <strong>die</strong> Übermacht<br />

des Seienden, mit den Grundweisen des Getragense<strong>in</strong>s von ihm<br />

und Bedrohtse<strong>in</strong>s durch es. Alle Bezüge des Dase<strong>in</strong>s und alles<br />

Seiende, dazu es sich verhält, werden aus <strong>die</strong>sem Verständnis des<br />

Se<strong>in</strong>s als Übermächtigkeit gedeutet: Raum, Zeit, Zahl, Kausalität,<br />

das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> und das Seiende im Ganzen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Herkunft und se<strong>in</strong>em Geschehen.<br />

Man hat neuerd<strong>in</strong>gs <strong>die</strong>sen Zusammenhängen e<strong>in</strong>e größere<br />

Aufmerksamkeit zugewendet <strong>in</strong> Untersuchungen, <strong>die</strong> sich auf<br />

<strong>die</strong> Erkenntnis des Mythos und des mythischen Dase<strong>in</strong>s erstrekken.<br />

Cassirer hat versucht, das mythische Dase<strong>in</strong>, 'Oder wie er<br />

sagt, das mythische Denken, zu <strong>in</strong>terpretieren. I Er ist dabei vor<br />

allem e<strong>in</strong>gegangen auf e<strong>in</strong>e Interpretation dessen, was wir heute<br />

an ethnologischen Kenntnissen von den primitiven Völkern<br />

haben. In allen Mythologien bedeutet Se<strong>in</strong> nichts anderes als<br />

Übermacht, Mächtigkeit. In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne müssen <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Wörter der Primitiven gefaßt werden: Mana, Wakanda,<br />

Orenda, Manitu. Cassirer hat ausgedehntes Material der Ethnologie<br />

benutzt, aber dabei doch zu sehr <strong>die</strong>se Bezirke, und gar<br />

nicht <strong>die</strong> große und reichere Mythologie etwa der Griechen.<br />

Der Mythos kennzeichnet e<strong>in</strong>e Grundmöglichkeit des Inder-Welt-se<strong>in</strong>s;<br />

das heißt aber: Zu ihm gehört e<strong>in</strong> ganz be-<br />

1 Vgl. Ernst Cassirer, <strong>Philosophie</strong> der symbolischen Formen. 2. Teil: Das<br />

mythIsche Denken. Berl<strong>in</strong> 1925. Vgl. DLZ 1928, Heft 21.<br />

§ 41. Zwei Grundmöglichkeiten der Weltanschauung 359<br />

stimmtes, obzwar abwandelbares Sichhalten im In-der-Weltse<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong>e ganz bestimmte Weltanschauung. Sofern <strong>die</strong>se uns<br />

gleichsam auf e<strong>in</strong>e Halt-Iosigkeit antwortet, ist <strong>die</strong> wesentliche<br />

Frage: Wie ist dem mythischen Dase<strong>in</strong> überhaupt <strong>die</strong> Haltlosigkeit<br />

des Dase<strong>in</strong>s offenbar? Darauf ist zu antworten: <strong>in</strong> der<br />

Weise der Ungeborgenheit. Weil das mythische Dase<strong>in</strong> an <strong>die</strong><br />

Übermächtigkeit des Seienden ausgeliefert ist, ist es <strong>in</strong> solchem<br />

Ausgesetztse<strong>in</strong> zugleich immer vom Seienden benommen. Ausgesetztse<strong>in</strong><br />

ist wesentlich für das Existenzverständnis. Das Dase<strong>in</strong><br />

hat daher <strong>die</strong> Tendenz, im Seienden selbst aufzugehen.<br />

Denn auch das eigene Selbst ist noch nicht als solches verstanden,<br />

sondern e<strong>in</strong>er Macht überantwortet, <strong>die</strong> <strong>die</strong>selbe ist, <strong>die</strong> das<br />

Ganze des Seienden durchherrscht. Das Se<strong>in</strong> ist unartikuliert,<br />

aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Unbestimmtheit ist das Seiende um so mächtiger<br />

und e<strong>in</strong>heitlich durchdr<strong>in</strong>gender. »Pantheismus« und dergleichen<br />

s<strong>in</strong>d alles schlechte Namen und Begriffe, theologisch, aber<br />

nicht ontologisch metaphysisch erhellend. Dieses Benommense<strong>in</strong><br />

aber darf nicht etwa als e<strong>in</strong> Schlafzustand oder e<strong>in</strong>e<br />

Trunkenheit genommen werden, sondern <strong>in</strong> der spezifischen<br />

Wachheit des Ausgeliefertse<strong>in</strong>s an das Übermächtige bekundet<br />

sich <strong>die</strong>ses immer zugleich als bedrohend. Das Dase<strong>in</strong> ist von<br />

der Übermacht umgetrieben. Die Halt-Iosigkeit ist Schutzlosigkeit<br />

im Ausgeliefertse<strong>in</strong>, und das Sichhalten <strong>in</strong> solchem Inder-Welt-se<strong>in</strong><br />

ist e<strong>in</strong> Sichhalten <strong>in</strong> der Ungeborgenheit, d. h. e<strong>in</strong><br />

Sichbergen, sich Schutz, Kraft und Macht verschaffen. Daher<br />

kommt <strong>die</strong> zentrale Bedeutung der Magie und des Zaubers und<br />

<strong>die</strong> entsprechenden Formen der Opfer und Kulte, der Vegetationsriten.<br />

" '"<br />

Die Haltlosigkeit des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s ist offenbar als Ungeborgenheit<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Der Charakter des Haltes, der sich<br />

demgemäß für das Sichhalten <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Haltlosigkeit ausbildet,<br />

istr<strong>die</strong> Geborgenheit, <strong>die</strong> Bergung im Seienden im Ganzen, von<br />

dem das Dase<strong>in</strong> durch waltet ist und wozu es sich verhält. Die<br />

erste Grundmöglichkeit der Weltanschauung ist demnach dadurch<br />

gekennzeichnet, daß der Halt den Charakter der Bergung


360 Das Problem der Weltanschauung<br />

im Seienden hat. Damit ist nun schon e<strong>in</strong>e Fülle von Wesenszusammenhängen<br />

gegeben: Der Halt wird gefunden im übermächtigen<br />

Seienden selbst; es ist das Halt und Geborgenheit<br />

Gebende. Das Sichhalten als Haltnehmen ist demnach e<strong>in</strong><br />

schutzbedürftiges Sichstellen unter <strong>die</strong> Übermacht des Seienden;<br />

dabei geht der Schrecken vor <strong>die</strong>sem Seienden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s mit<br />

der Besänftigung, Verehrung, dem Dienst und dem Verhältnis<br />

zu ihm - Opfer -, zugleich zeigt sich <strong>die</strong> Tendenz, se<strong>in</strong>er doch<br />

irgendwie Herr zu werden durch Zauber, Gebet und dergleichen.<br />

Das Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong> als solche Bergung zeitigt<br />

demnach e<strong>in</strong>en ganzen Umkreis von Betätigungen, <strong>die</strong> ganz<br />

bestimmten Regelungen <strong>in</strong> Ritus und Kultus unterstehen. Der<br />

Ritus selbst schlägt sich nieder <strong>in</strong> Vorschriften, Satzungen, Lehren,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> heiligen Büchern niedergelegt s<strong>in</strong>d oder <strong>in</strong> mündlicher<br />

geheimer Tradition weitergegeben werden. Die Bergung<br />

des Dase<strong>in</strong>s, und was zu ihr gehört, wird selbst e<strong>in</strong>e gleichsam<br />

objektiv vorhandene Macht, Sitte und Brauch, und zwar kommt<br />

das ganze Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Geschehen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Botmäßigkeit<br />

<strong>die</strong>ser Bergung. Diese geschieht mit ihrem Dase<strong>in</strong>. Das zeigt<br />

sich vor allem <strong>in</strong> der Ordnung und Funktion von Tag und Nacht,<br />

von den Jahreszeiten und Festen, <strong>in</strong> den Riten bezüglich Geburt,<br />

Heirat, Tod, Krankheit, Krieg, Jagd, Feldbestellung,<br />

Schiffahrt. Das Halt-gew<strong>in</strong>nen besagt demnach das Siche<strong>in</strong>fügen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>se Ordnungen und Satzungen, Mittun <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen<br />

magischen Handlungen, Gebrauchmachen und Durchherrschtse<strong>in</strong><br />

von ihren Wirkungen.<br />

Durch <strong>die</strong> verschiedenartige Charakteristik der Transzen -<br />

denz haben wir gesehen, daß das Seiende, das wir Dase<strong>in</strong><br />

nennen, angesichts des Ganzen des Seienden offenbar wird.<br />

Das Dase<strong>in</strong> ist <strong>die</strong>ser eigentümliche Ort für <strong>die</strong> Ganzheit des<br />

Seienden, <strong>die</strong> wir auch das Unbed<strong>in</strong>gte nennen können. Mit<br />

anderen Worten: Das Dase<strong>in</strong> hat <strong>in</strong> sich selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Existenz<br />

immer e<strong>in</strong>e bestimmte Idee des Göttlichen, und sei es<br />

auch nur des Götzen. Wenn wir-sagen, das Dase<strong>in</strong> ist se<strong>in</strong>em<br />

§ 41. Zwei Grundmäglichkeiten der Weltanschauung 361<br />

Wesen nach <strong>die</strong>ser eigentümliche Ort des Unbed<strong>in</strong>gten, so ist<br />

damit nicht gesagt, daß das Dase<strong>in</strong> als <strong>die</strong>ser Ort des Unbed<strong>in</strong>gten<br />

das Unbed<strong>in</strong>gte selbst ist. Man kann <strong>die</strong>se Zusammenhänge<br />

nur klar sehen und sich vor psychologischen<br />

Mißverständnissen hüten, wenn man aus der Grundverfassung<br />

des Dase<strong>in</strong>s, der Transzendenz spricht. Sofern wir vom Dase<strong>in</strong><br />

als Ort des Unbed<strong>in</strong>gten handeln, das man als das Göttliche<br />

bezeichnet, liegt es nahe, ßiese Zusammenhänge, auch den<br />

Ursprung der Religion, sogar das mythische Dase<strong>in</strong>, von bestimmten<br />

Erkenntnissen über Gott, von theologischen Theorien<br />

aus zu <strong>in</strong>terpretieren.<br />

So ist auch Schell<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong>er der wenigen Philosophen, der sich<br />

e<strong>in</strong>e große ursprüngliche E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das mythische Dase<strong>in</strong> erarbeitet<br />

hat, der Gefahr nicht entgangen, <strong>die</strong> Interpretation<br />

allzu sehr an theologischen Grundbegriffen zu orientieren.<br />

Schell<strong>in</strong>g hat <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>ne recht, wenn er sagt, daß im<br />

Anfang des mythischen Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> Monotheismus steht, der<br />

e<strong>in</strong>e Göttervielheit nicht ausschließt, sondern sie gerade hervorbr<strong>in</strong>gt.<br />

Aus <strong>die</strong>ser Göttervielheit entsteht durch e<strong>in</strong>en Prozeß<br />

des Verfalls dann erst Vielgötterei und <strong>in</strong>nerhalb <strong>die</strong>ser der<br />

Monotheismus im theistischen S<strong>in</strong>ne. Aber <strong>die</strong>se Probleme<br />

müssen aus der Sphäre der Theismen und der theologischen<br />

Orientierung herausgenommen werden, um den metaphysischen<br />

Charakter <strong>die</strong>ser Zusammenhänge zu erfassen. Es handelt<br />

sich hier um e<strong>in</strong> Geschehen des Dase<strong>in</strong>s selbst, und zwar solches,<br />

das <strong>in</strong> jedem Dase<strong>in</strong> mit- und nachgeschieht, auch wenn <strong>die</strong><br />

bestimmten Formen der geschichtlichen Ausprägung wirkungslos<br />

oder gar unbekannt geworden s<strong>in</strong>d.<br />

In <strong>die</strong>ser Grundform des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s und se<strong>in</strong>er Weltanschauung<br />

ist der Wurzel boden zu sehen, <strong>in</strong> dem der Ursprung<br />

der Mythen faktischer Religionen geschieht, worauf hier nicht<br />

e<strong>in</strong>zugehen ist. Nur das muß angemerkt werden: Es kann sich<br />

hier - bei <strong>die</strong>ser Grundform der Weltanschauung und bei jeder<br />

- nach all dem, was wir pr<strong>in</strong>zipiell über das Dase<strong>in</strong> sagten, nicht<br />

um sogenannte psychologische Vorkommnisse handeln; es wäre


362 Das Problem der Weltanschauung<br />

e<strong>in</strong> Mißverständnis, wollte man <strong>in</strong> dem Gesagten e<strong>in</strong>e psychologische<br />

Erklärung des Mythos der Religionen sehen.<br />

Worauf es uns hier alle<strong>in</strong> ankommt, ist, den Wesenscharakter<br />

des Haltes als Bergung bzw. <strong>die</strong> Art der Haltlosigkeit als Ungeborgenheit<br />

zu sehen. Sofern das In-der-Weltse<strong>in</strong> von <strong>die</strong>ser<br />

Ungeborgenheit durchherrscht bleibt, das In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

aber eo ipso e<strong>in</strong> In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> ist, hat hier auch <strong>die</strong><br />

Wahrheit e<strong>in</strong>en spezifischen Charakter. Wesentlich für <strong>die</strong>se Art<br />

der Wahrheit ist der Unterschied des Heiligen, Sakralen gegenüber<br />

dem Profanen. Alles Offenbarwerden von Seiendem entspr<strong>in</strong>gt<br />

nicht e<strong>in</strong>em eigenen Entdecken und Forschen, und es<br />

wird auch nicht zugeeignet als Wissen und Kenntnis, sondern<br />

umgekehrt: Das offenbare Neue birgt Schrecken und Gefahr<br />

und <strong>die</strong> Notwendigkeit des Schutzes, der Sicherung des Verhaltens.<br />

Das mythische Dase<strong>in</strong> hat ke<strong>in</strong>e "Wissenschaft, nicht weil<br />

<strong>die</strong> Menschen zu dumm dazu wären, sondern weil <strong>die</strong> dazu<br />

gehörige Weise des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s im mythischen Dase<strong>in</strong> gar<br />

nicht möglich ist.<br />

Die Unverborgenheit des Seienden ist im spezifischen S<strong>in</strong>ne<br />

orientiert auf e<strong>in</strong>e Ungeborgenheit <strong>in</strong> ihm bzw. <strong>in</strong> der Sorge der<br />

Bergung. Solange man <strong>die</strong>sen Wesenszusammenhang zwischen<br />

Ungeborgenheit und Unverborgenheit im spezifisch mythischen<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong> nicht klar übersieht, wird man nicht<br />

e<strong>in</strong>en zureichenden Leitfaden haben, <strong>die</strong> spezifische Wahrheit<br />

des Mythos zu <strong>in</strong>terpretieren. Man kommt dann notwendig <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Lage, <strong>die</strong> Wahrheit des mythischen Dase<strong>in</strong>s entweder als<br />

Aberglaube zu erklären oder aber als bloßen Ausdruck e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Bewußtse<strong>in</strong>shaltung, d.h. auch im Grunde subjektivistisch<br />

zu verstehen. Der Gefahr <strong>die</strong>ser Interpretation ist<br />

auch Cassirer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Darstellung des mythischen Denkens<br />

nicht entgangen. Obzwar er <strong>die</strong> Schell<strong>in</strong>gsche Erkenntnis von<br />

der Eigenständigkeit der mythischen Wahrheit zustimmend<br />

aufnimmt, hat se<strong>in</strong> spezifisch kantischer Standpunkt ihn geh<strong>in</strong>dert,<br />

<strong>die</strong>se Probleme zu sehen.<br />

§ 41. Zwei Grundmöglichkeiten der Weltanschauung 363<br />

b) Entartung der Bergung:<br />

zum Betrieb gewordene Weltanschauung<br />

Die Charakteristik <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>en Grundmöglichkeit von Weltanschauung,<br />

deren Halt den Charakter der Bergung im Seienden<br />

hat, dazu das Dase<strong>in</strong> sich verhält, sollte vor allem dazu <strong>die</strong>nen,<br />

uns gleichsam e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>tergrund zu schaffen, gegen den wir<br />

e<strong>in</strong>e andere Grundmöglichkeit von Weltanschauung abheben.<br />

N ach dem eben Erörterten muß ~ich auch <strong>die</strong>se dadurch bestimmen<br />

lassen, daß wir wieder fragen nach e<strong>in</strong>er anderen<br />

möglichen Art der Offenbarkeit und demnach Auslegung der<br />

Halt-Iosigkeit. Wir sagten aber bereits: <strong>die</strong> Möglichkeiten tauchen<br />

nicht nebene<strong>in</strong>ander auf, sondern haben wesensgeschichtliche<br />

Zusammenhänge, bei denen jeweils <strong>die</strong> Formen der<br />

Entartung und des Ersatzes der Weltanschauung <strong>in</strong> ihrer eigentümlichen<br />

produktiv veranlassenden Funktion sich zeigen.<br />

Ohne daß wir <strong>die</strong>se Wesensgeschichte jetzt im e<strong>in</strong>zelnen konstruieren<br />

und etwas über faktische Weltanschauungen im echten<br />

S<strong>in</strong>ne und Religionen aussagen, läßt sich das e<strong>in</strong>e verständlich<br />

machen: Wenn sich e<strong>in</strong>e Weltanschauung als Bergung<br />

ausbildet, dann liegt es <strong>in</strong> ihrem eigensten S<strong>in</strong>ne, das Ganze der<br />

Wege und Mittel zum Heil <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten und verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Gestalt auszubilden und <strong>in</strong> jede e<strong>in</strong>zelne Verhaltungsweise<br />

des konkreten Dase<strong>in</strong>s h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zubilden, um es durchgängig<br />

zu durchherrschen und eben damit zu sichern.<br />

Diese im eigensten S<strong>in</strong>n der Bergung notwendige objektive<br />

Verfestigung und Herrschaft, das öffentliche Angebot und <strong>die</strong><br />

überlieferte Zugänglichkeit der Mittel trägt nun <strong>in</strong> sich selbst<br />

den Keim der Entartung. Wir sehen dabei ab von den Machtund<br />

Herrschaftsgelüsten und der Gew<strong>in</strong>nsucht bei denjenigen,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e solche Heilsorganisation verwalten; <strong>die</strong> Auswirkung<br />

solcher Inst<strong>in</strong>kte ist hier wie <strong>in</strong> anderen Bezirken menschlicher<br />

Existenz unvermeidlich; sie kann <strong>in</strong> sich aber nicht schon das<br />

Ganze der Heilsidee, Heilsmittel und -wege gefährden und erschüttern.<br />

Wohl aber s<strong>in</strong>d es <strong>die</strong>se Mittel und Wege selbst <strong>in</strong>


364 Das Problem der Weltanschauung<br />

ihrer Zugänglichkeit und <strong>in</strong> ihrer Nutzung, <strong>die</strong> sich gleichsam<br />

vor das schieben, wozu sie selbst <strong>die</strong>nen. Denn ihre Herrschaft<br />

und ihr Gebrauch gibt ihnen Öffentlichkeit, d.h. aber, sie präsentieren<br />

sich als Seiendes, wie das andere, darauf sie bezogen<br />

s<strong>in</strong>d, und sofern sie das »Nächste« s<strong>in</strong>d, gilt ihnen das Interesse.<br />

Sie werden Selbstzweck, ihre Pflege und ihr Gebrauch nimmt<br />

alles <strong>in</strong> Anspruch. Wesentlich wird jetzt nicht mehr, ob der<br />

Zauber wirkt und se<strong>in</strong>e Wirkung erfahren und geglaubt wird,<br />

sondern daß er der Vorschrift gemäß durchgeführt wird und se<strong>in</strong><br />

Gebrauch <strong>in</strong> Anspruch genommen wird. Die Bergung verliert<br />

ihre eigentliche Funktion des Haltens und Haltgebens; sie wird<br />

Betrieb.<br />

Was besagt das für <strong>die</strong> betreffende Wel~schauung? Das<br />

Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong> wird nunmehr zu e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Gestalten desselben; es ist nicht mehr entscheidend<br />

<strong>die</strong> Geborgenheit des Dase<strong>in</strong>s, sondern daß <strong>die</strong> Bergung funktioniert,<br />

<strong>in</strong> Ansehen und Macht bleibt. Mit <strong>die</strong>ser Verfestigung<br />

der Organisation der Bergung geht zusammen e<strong>in</strong>e Wirkungslosigkeit<br />

der Geborgenheit. Die Un-geboFgenheit schw<strong>in</strong>det,<br />

aber nicht auf Grund e<strong>in</strong>er Bergung, sondern mit der Entartung<br />

<strong>die</strong>ser, d.h. beide s<strong>in</strong>d verändert, s<strong>in</strong>d sche<strong>in</strong>bar weder Haltlosigkeit<br />

noch Haltbedürftigkeit, weil weder Ungeborgenheit<br />

noch Bergung. Aber gerade <strong>die</strong>se Indifferenz, d.h. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere<br />

Leere des Dase<strong>in</strong>s, ist eben <strong>die</strong> unheimliche Situation, <strong>in</strong> der<br />

sich e<strong>in</strong> Umschlag vorbereitet. Das ist das Eigentümliche, daß<br />

mit der Herrschaft des Betriebs <strong>die</strong> Ungeborgenheit des Dase<strong>in</strong>s<br />

schw<strong>in</strong>det und das Dase<strong>in</strong> sich selbst verliert.<br />

E<strong>in</strong>e neue und ganz andere Halt-Iosigkeit meldet sich, <strong>die</strong><br />

zwar Illeist und langeh<strong>in</strong> noch niedergehalten wird dadurch,<br />

daß <strong>die</strong> veräußerlichte und zum Betrieb gewordene Weltanschauung<br />

sich zu erneuern, aufzubessern, an Bedürfnisse anzugleichen<br />

sucht und so Mischbildungen zeitigt, <strong>die</strong> freilich den<br />

<strong>in</strong>neren Zerfall nur beschleunigen. Die Herrschaft des B,etriebs<br />

macht e<strong>in</strong>e neue Halt-Iosigkeit offenbar, und das heißt, sie gibt<br />

widerwillen Anweisung auf bislang nicht offenbare Möglich-<br />

§ 41. Zwei Grundmäglichkeiten der Weltanschauung 365<br />

keiten des Halt-nehmens. Die Indifferenz der Haltlosigkeit und<br />

des Haltes, <strong>die</strong> Herrschaft des Betriebs macht offenkundig, daß<br />

<strong>die</strong> Mittel und Wege der Bergung versagen, wenn <strong>die</strong> Ungeborgenheit<br />

als solche nicht mehr selbst im Dase<strong>in</strong> da ist, sondern<br />

gleichsam zugedeckt durch den Betrieb. Das Nichtmehrdase<strong>in</strong><br />

der Ungeborgenheit des Dase<strong>in</strong>s besagt aber, daß es sich selbst<br />

verloren hat. Es däffiIllert <strong>die</strong> Erkenntnis, daß schon <strong>in</strong> jenem<br />

Kusgeliefertse<strong>in</strong> an <strong>die</strong> Übermacht des Seienden und <strong>in</strong> jenem<br />

sogenannten Haltgew<strong>in</strong>nen, d. h. <strong>in</strong> der Ungeborgenheit als<br />

Bergung zeitigend, e<strong>in</strong> ursprüngliches Se<strong>in</strong> des Dase<strong>in</strong>s umwillen<br />

se<strong>in</strong>er selbst lag, das ihm freilich gleichsam, und zwar <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er echten Weise, abgenommen war durch <strong>die</strong> ursprünglich<br />

gezeitigte Bergung.<br />

Nunmehr ist das Dase<strong>in</strong> zwar auch ausgeliefert, aber an den<br />

Betrieb, und so, daß <strong>die</strong> Ungeborgenheit sche<strong>in</strong>bar geschwunden<br />

ist. Das Ausgeliefertse<strong>in</strong> an den Betrieb heißt aber, daß das<br />

Dase<strong>in</strong> überhaupt nicht mehr eigentlich sich <strong>in</strong> sich selbst hält,<br />

d. h. daß es sich vordem schon, wenngleich dunkel, sich <strong>in</strong> sich<br />

selbst gehalten und trotz allem auf sich selbst gestellt hatte. Mit<br />

dem Schw<strong>in</strong>den der Ungeborgenheit und Illit der Veräußerlichung<br />

der Bergung zum Betrieb stellt sich notwendig das e<strong>in</strong>,<br />

was wir als Leere des Dase<strong>in</strong>s bezeichnen, als Verlorenheit, Sichentgleiten<br />

- das Dase<strong>in</strong> selbst wird Opfer des Betriebs: Überall,<br />

wo Betrieb das Wesentliche ist, ist versteckterweise e<strong>in</strong>e Leere<br />

des Dase<strong>in</strong>s da, <strong>die</strong> eben durch <strong>die</strong> Geschäftigkeit des Betriebs<br />

ständig:beseitigt werden soll.<br />

Aber <strong>die</strong> Frage ist wieder, wie kommt es hier überhaupt zum<br />

Offenbarwerden des sich <strong>in</strong> sich selbst Haltens? Es kommt durch<br />

den Betrieb selbst; er bekundet als Geschäftigkeit e<strong>in</strong>e gewisse<br />

freie Möglichkeit des Dase<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Verhalten (sich auf sich<br />

selbst zu stellen), und <strong>die</strong>ses weckt zugleich <strong>die</strong> Er<strong>in</strong>nerung an<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit des <strong>in</strong> sich selbst sich Haltens.<br />

So offenbart der Betrieb das Fehlen des eigentlichen Esselbst-se<strong>in</strong>s<br />

des Dase<strong>in</strong>s, was wir bezeichnen als Haltung, und<br />

Zwar <strong>in</strong> doppelter Weise: 1. Offenbarwerden des Sich-entglei-


366 Das Problem der Weltanschauung<br />

tens, Leere des Dase<strong>in</strong>s, sich <strong>in</strong> sich selbst Halten. 2. In e<strong>in</strong>s<br />

damit: Verweisung auf eigene Tätigkeitsmöglichkeit -, betonte<br />

Verhaltung. Im Offenbarwerden des Nichtmehrdase<strong>in</strong>s der Haltung<br />

liegt <strong>die</strong> Anweisung auf <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er ursprünglichen<br />

Aneignung derselben. Mit anderen Worten: Aus der<br />

Offenbarkeit der Halt-Iosigkeit als Haltungslosigkeit entspr<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong>e neue Möglichkeit des Haltnehmens, d. h. des Sichhaltens<br />

im In-der-Welt-se<strong>in</strong>. Halt ist jetzt offenbar als Haltung.<br />

§ 42. Die andere Grundmöglichkeit:<br />

Weltanschauung als Haltung<br />

a) Weltanschauung als Haltung und <strong>die</strong> aus ihr entspr<strong>in</strong>gende<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden<br />

Damit stehen wir bei der zweiten, auf <strong>die</strong> erste wesentlich bezogene<br />

und immer bezogen bleibende Grundmöglichkeit der<br />

Weltanschauung. Halt als Bergung hat den Halt primär <strong>in</strong> dem,<br />

woran sie sich hält, im Seienden, dar<strong>in</strong> sie geborgen ist; Halt als<br />

Haltung hat den Halt primär im Sichhalten selbst. Das- Dase<strong>in</strong><br />

selbst - als solches - läßt den Halt geschehen und se<strong>in</strong>; aber nun<br />

ist nicht etwa das Dase<strong>in</strong> das Seiende, woran es sich hält, obzwar<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Richtung <strong>die</strong> Hauptmöglichkeit der Entartung der<br />

Weltanschauung als Haltung liegt.<br />

Auf <strong>die</strong> Haltlosigkeit als ursprüngliche Ungeborgenheit ist<br />

der erste Halt als Bergung bezogen. Deren notwendige Ausbildung<br />

entartet zum Betrieb, der se<strong>in</strong>erseits - zunächst <strong>in</strong> der<br />

Weise des Sche<strong>in</strong>s (Geschäftigkeit) und des Mangels - <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

der Haltung offenbar macht und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s damit e<strong>in</strong>e<br />

neue Halt-Iosigkeit. Diese ist der Betrieb selbst; bezeichnend ist,<br />

daß hier <strong>die</strong> Haltlosigkeit positiv ausgedrückt ist. Denn je mehr<br />

sich das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Geschehen von dem Eigen~lichen<br />

entfernt und <strong>die</strong> »Wahrheit« <strong>in</strong> ihrem Wie sich wandelt, um so<br />

wesentlicher und »freier« wird derSche<strong>in</strong>. »Betrieb« stellt sich<br />

§ 42. Weltanschauung als Haltung 367<br />

dar als Sche<strong>in</strong> der höchsten Wirklichkeit, als Handeln, »es geschieht<br />

etwas«. Sofern <strong>die</strong> der Haltung entsprechende Haltlosigkeit<br />

im Betrieb liegt, <strong>die</strong>ser aber <strong>in</strong> sich als Modus der<br />

Bergung fungiert, bleibt <strong>die</strong> Haltung <strong>in</strong> wesensmäßigem Zusammenhang<br />

mit der Bergung selbst und damit der Haltlosigkeit<br />

als Un-geborgenheit. In <strong>die</strong>ser Wesenslegierung von<br />

Haltung und Bergung liegt der Wesensgrund für <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzung und des Kampfes zwischen<br />

bei den. Bergung und Haltung s<strong>in</strong>d -zwei Grundweisen der Weltanschauung,<br />

d.h. des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s, der jeweiligen Faktizität<br />

der Transzendenz. Sie s<strong>in</strong>d wesentlich aufe<strong>in</strong>ander bezogen.<br />

Durch e<strong>in</strong>e Abhebung der e<strong>in</strong>en Möglichkeit gegen <strong>die</strong> andere<br />

können sich beide verdeutlichen, was für uns vor allem bezüglich<br />

der zweiten Möglichkeit wichtig ist.<br />

Von vornhere<strong>in</strong> ist nicht zu vergessen: Als Weltanschauungen<br />

betreffen Bergung und Haltung immer das Ganze des Dase<strong>in</strong>s<br />

<strong>in</strong> der E<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>er Streuung. Das ist um so wichtiger, als<br />

gerade <strong>in</strong> den bei den Grundweisen der Transzendenz sich je<br />

e<strong>in</strong>e Verlagerung des GeWIchts der Transzendenz vollziehu, ohne<br />

daß <strong>die</strong>se dabei gleichsam ause<strong>in</strong>anderfällt. Verlagerung des<br />

Gewichts ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Möglichkeit <strong>die</strong>ser im Spielcharakter<br />

der Transzendenz. Wir können <strong>die</strong>s nur schematisch kennzeichnen,<br />

mit allen Vorbehalten e<strong>in</strong>er solchen Charakteristik.<br />

I Bei der Bergung liegt das Gewicht des Dase<strong>in</strong>s im Durchwaltetse<strong>in</strong><br />

vom Seienden, so zwar, daß <strong>die</strong> Wahrheit des Dase<strong>in</strong>s<br />

primär durch <strong>die</strong> Ungeborgenheit bestimmt ist. Das Dase<strong>in</strong> ist<br />

gewissermaßen <strong>in</strong> das Ganze des Seienden h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>genommen,<br />

aber gleichwohl nicht verloren, sondern von ihm getragen.<br />

, Bei der Weltanschauung als Haltung dagegen liegt das Gewicht<br />

des Dase<strong>in</strong>s im Verhalten als Sich verhalten und selbst<br />

handeln. Das Umwillen-se<strong>in</strong>er, das auch im mythischen Dase<strong>in</strong><br />

nicht etwa fehlt - sonst wäre Bergung ohne Se<strong>in</strong> -, br<strong>in</strong>gt das<br />

Dase<strong>in</strong> zu ihm selbst. Das Umwillen- se<strong>in</strong>er kommt jetzt eigens<br />

<strong>in</strong> das Sichhalten. Das besagt aber: Das Dase<strong>in</strong> hat sich selbst <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Geworfenheit und se<strong>in</strong>en faktischen Möglichkeiten er-


368 Das Problem der Weltanschauung<br />

griffen. Im Durchwaltetse<strong>in</strong> von Seiendem hält es sich selbst<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Möglichkeiten se<strong>in</strong>er selbst, <strong>die</strong> es sich selbst vorhält.<br />

Haltung als <strong>die</strong> zweite Grundart der Weltanschauung 0<br />

ßrückt<br />

aus das Wesentliche des Haltens im Dase<strong>in</strong>. Das durch Haltung<br />

bestimmte Dase<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Sichh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halten <strong>in</strong> vorgehaltene<br />

Möglichkeiten se<strong>in</strong>er Verhaltungen.<br />

Diese Formulierung ist absichtlich gewählt, um zu zeigen,<br />

wie <strong>die</strong>se zweite Grundart des Dase<strong>in</strong>s durch und durch vom<br />

handelnden Existieren im Auf-sich-selbst-gestelltse<strong>in</strong> der Existenz<br />

bestimmt ist, was aber nicht besagt, daß <strong>die</strong> Geworfenheit<br />

des Dase<strong>in</strong>s verschw<strong>in</strong>det - sie kann es gar nicht -, sondern <strong>in</strong><br />

der Haltung mitverwaltet wird. In solcher Haltung gew<strong>in</strong>nt das<br />

eigene Verhalten des Dase<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>en Vorrang, es legt sich aber <strong>in</strong><br />

das Verhalten zum Seienden, das bislang den Charakter der<br />

Mächtigkeit nicht e<strong>in</strong>gebüßt hat, obzwar schon <strong>die</strong> spezifisch<br />

mythische Modifizierung, Mächtigkeit als Heiligkeit, geschwunden<br />

ist. Ausdrückliches Verhalten zu Übermächten wird<br />

aber Ause<strong>in</strong>andersetzung des Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>er mit ihnen<br />

<strong>in</strong> allen wesentlichen Bezügen. Das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Grundweise<br />

der Haltung wird Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden,<br />

und zwar nach allen wesentlichen Bezugsrichtungen der Streuung<br />

des Dase<strong>in</strong>s. Das Ganze des Seienden, das <strong>in</strong> der Bergung<br />

offenbar war - <strong>in</strong> ihrer Weise - ist nicht verschwunden, wohl<br />

aber hat sich der Charakter der Wahrheit gewandelt. (Nicht nur<br />

anderes offenbar, sondern erstmals entdeckt, und zwar woraufh<strong>in</strong>?)<br />

Das schon offenbare Seiende zeigt sich jetzt <strong>in</strong> dem und für<br />

das haltungs bestimmte, d. h. sich ause<strong>in</strong>andersetzende Dase<strong>in</strong><br />

als das, was bewältigt, beherrscht, gelenkt werden solL Das aber<br />

verlangt <strong>in</strong> sich wesensnotwendig e<strong>in</strong> Sichauskennen <strong>in</strong> dem<br />

Seienden bezüglich dessen, was und wie es an ihm selbst ist,<br />

abgesehen davon, ob es Geborgenheit bietet oder versagt. Das<br />

Sichauskennen im Seienden muß <strong>die</strong>ses daraufh<strong>in</strong> an ihm selbst<br />

offenbar machen, damit an ihm <strong>die</strong> Lenkbarkeit, Leitbarkeit,<br />

Beherrschbarkeit möglich wird. Lenkbarkeit setzt aber voraus,<br />

§ 42. Weltanschauung als Haltung 369<br />

daß wir im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> verstehen und voraussehen, wie das Seiende<br />

gleichsam sich benimmt, d. h. wir müssen im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick haben <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ordnung der Abfolge der Vorgänge.<br />

Die Verfassung des Seienden <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht bezeichnen wir<br />

als Gesetzlichkeit. Sofern aber <strong>die</strong> Gesetze erkannt werden sollen,<br />

heißt das, das Seiende muß an ihm selbst entdeckt werden.<br />

Erkenntnis der Gesetze erwächst aus und ist getragen vom Inder-Welt-se<strong>in</strong><br />

als sich ause<strong>in</strong>andersetzende Haltung.<br />

Die Idee der Gesetzlichkeit und entsprechend <strong>die</strong> Bestimmung<br />

der gesetzlichen Zusammenhänge selbst kann sehr roh<br />

se<strong>in</strong>, kann sich ausbilden. Entscheidend bleibt zunächst, daß mit<br />

dem Wandel des Charakters der Wahrheit, der mit der Weltanschauung<br />

als Haltung sich im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> schon e<strong>in</strong>stellt - er ist<br />

nicht erst spätes Resultat -, sich <strong>die</strong> Grundstellung zum Seienden<br />

wandelt. Richtiger gesprochen: Mit der Haltung kommt das<br />

Dase<strong>in</strong> allererst zu e<strong>in</strong>er Grundstellung zum Seienden dergestalt,<br />

daß jetzt erst das Seiende an ihm selbst offenbar ist. Jetzt<br />

erst, wo das Umwillen-se<strong>in</strong>er eigens <strong>in</strong> das Sichhalten kommt,<br />

d.h. das Sichhalten im In-der-Welt-se<strong>in</strong>, was zugleich heißt im<br />

In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>; jetzt erst gibt es so etwas wie das Umwillen<br />

des In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong>s, Umwillen der Wahrheit. Nur <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em solchen Dase<strong>in</strong>, das von Grund aus bestimmt ist durch<br />

<strong>die</strong> eigens gewählte Haltung se<strong>in</strong>er selbst, <strong>in</strong> dem Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Seienden wesentlich ist, kann es so etwas<br />

geben wie Forschung und Wissenschaft.<br />

Offenbarmachen des Seienden oder der Sachen selbst ist e<strong>in</strong><br />

Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis, aber weder der e<strong>in</strong>zige,<br />

noch der ursprünglichste, wohl aber derjenige, der zuerst <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Augen spr<strong>in</strong>gt und von dem man zweckmäßig bei der Charakteristik<br />

ausgeht. Es ist aber e<strong>in</strong> Irrtum, dar<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> das<br />

Wesen solcher Erkenntnis zu sehen. Erkenntnis des Seienden an<br />

sich sowohl wie der Gesetze hat e<strong>in</strong>e tiefere Begründung, <strong>in</strong> der<br />

Transzendenz. Die Me<strong>in</strong>ung, <strong>die</strong> Erkenntnis des Seienden an<br />

sich, nur weil es eben das An-sich sei, sei das Wesen der Wissenschaft,<br />

ist e<strong>in</strong>e nachträgliche Erf<strong>in</strong>dung der Gelehrten, <strong>die</strong>


370 Das Problem der Weltanschauung<br />

auf <strong>die</strong>se Weise ihrem Handwerk noch e<strong>in</strong>e Bedeutung verschaffen<br />

wollen, nun der Klei~kram zu groß geworden"ist.<br />

Wenn wir früher sagten, wissenschaftliche Erkenntnis ist positive<br />

Erkenntnis umwillen der Wahrheit, des In-der-Wahi-heitse<strong>in</strong>s,<br />

so wird jetzt deutlich: In-der-Wahrheit-se<strong>in</strong> gehört zum<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong>, ist daher notwendig je durch Weltanschauung<br />

bestimmt, und zwar durch Haltung; nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser ist Wissenschaft<br />

möglich.<br />

Das mythische Dase<strong>in</strong> hat und kennt nicht dergleichen wie<br />

Wissenschaft, nicht weil <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>ses Dase<strong>in</strong>s hierfür zu<br />

unbeholfen oder gar zu dumm wären, sondern weil Wissenschaft<br />

überhaupt <strong>in</strong> solchem Dase<strong>in</strong> wesensmäßig ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n<br />

hat. Es ist deshalb e<strong>in</strong>er der größten methodischen Irrtümer, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> bisherige Interpretation mythischen Dase<strong>in</strong>s durchherrscht<br />

- so <strong>die</strong> französische Soziologen- und Ethnologenschule -, daß<br />

man das mythische Denken <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>n als Vorform<br />

des europäisch-neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens, und<br />

zwar der Naturwissenschaft, ansieht und von <strong>die</strong>sem Leitfaden<br />

aus <strong>in</strong>terpretiert. Aber auch Cassirer ist über <strong>die</strong>sen grundsätzlichen<br />

Irrtum nicht Herr geworden.<br />

b) Weltanschauung als Haltung und der Wandel<br />

der Wahrheit als solcher<br />

Mit der Ausbildung der Weltanschauung als Haltung ist wesensnotwendig<br />

e<strong>in</strong> Wandel der Wahrheit als solcher mitgeschehen.<br />

Daß es dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Bezirken andere Wahrheiten<br />

gibt, <strong>die</strong> mit denen des Mythos nicht zusammengebracht werden<br />

können, ist nur e<strong>in</strong>e Folge, aber nicht der Grund des<br />

wesentlichen Wandels der Wahrheit selbst. Alles Offenbarmachen<br />

ist jetzt primär e<strong>in</strong>e regelnde und Herrschaft suchende<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden. .<br />

Das betrifft aber nicht etwa nur den Wandel der Wahrheit der<br />

Wissenschaft. Auch <strong>die</strong> Kunst löst sich ab von ihrer spezifisch<br />

mythischen oder religiösen Funktion, und <strong>die</strong> Religion bekommt<br />

§ 42. Weltanschauung als Haltung 371<br />

e<strong>in</strong>en wesentlich anderen Charakter: zum erstenmal bildet sich<br />

e<strong>in</strong>e Theologie aus. Was jetzt Theologie ist, ist im mythischen<br />

Dase<strong>in</strong>, was man Theogonie nennen kann~e<strong>in</strong> objektiver Prozeß<br />

der Gottwerdung selbst, <strong>in</strong>nerhalb deren der Priester steht. Dieser<br />

ist nicht nur Funktionär e<strong>in</strong>er Heilsanstalt.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Wandlung der verschiedenen Gebiete des Seienden<br />

wandelt sich <strong>die</strong> Wahrheit im e<strong>in</strong>zelnen, und jetzt erst<br />

entsteht e<strong>in</strong>e Technik im eigentlichen S<strong>in</strong>ne, und e<strong>in</strong>e neue<br />

Gliederung und Ordnung der Gesellschaft. Aber der Wandel der<br />

Wahrheit ist nicht etwa e<strong>in</strong>e Folge des Wandels der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse. Das ist e<strong>in</strong> tiefgehender Irrtum, sei er im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es groben Marxismus oder e<strong>in</strong>er modernen Kultursoziologie.<br />

In all dem zeigt sich nur, daß <strong>die</strong> Transzendenz allen<br />

wesentlichen Grundmöglichkeken des Dase<strong>in</strong>s zugrunde liegt<br />

und daß der Wandel der Wahrheit bestimmte neue Möglichkeiten<br />

und e<strong>in</strong>en Wandel der Existenzformen vorzeichnet.<br />

Die mit der Weltanschauung als Haltung entspr<strong>in</strong>gende Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Seienden (Wandel des In-der-Weltse<strong>in</strong>s)<br />

betrifft immer das Ganze der Streuung des Dase<strong>in</strong>s, also<br />

auch <strong>die</strong> Weise, wie das Dase<strong>in</strong>'e8 selbst ist und eigen~ sich zu<br />

sich selbst verhält. »Seele« und >~Geist« als Indices für das Selbst<br />

werden jetzt nicht mehr erfahren <strong>in</strong>· der Ungeborgenheit, Bergung,<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Übermächtigkeit des Seienden, sondern das<br />

Seiende, das Dase<strong>in</strong> selbst ist ebenso-<strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

begriffen, ergriffen. In der Ause<strong>in</strong>andersetzung des Dase<strong>in</strong>s mit<br />

dem Seienden im Ganzen, im Offenbarwerden <strong>die</strong>ses Seienden<br />

an ihm löst sich zugleich das Dase<strong>in</strong> - vordem aufgefunden im<br />

Seienden und benommen von <strong>die</strong>sem - aus <strong>die</strong>sem ab. Es wird<br />

selbst etwas Lenkbares, und zwar, wie sich zeigt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgezeichneten<br />

S<strong>in</strong>ne; es wird offenbar, daß das Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong>ses<br />

Seiende selbst ist. Hiermit s<strong>in</strong>d ~<strong>die</strong> 'Möglichkeiten der Wahl<br />

se<strong>in</strong>er selbst im Entschluß zu sich selbst und dem entsprechenden<br />

Handeln gegeben.<br />

Es gibt <strong>in</strong> der antiken Auffassung und Auslegung des Dase<strong>in</strong>s<br />

e<strong>in</strong> Wort, das, wenn es recht verstanden wird, am ursprünglich-


372 Das Problem der Weltal1schauung<br />

sten ausdrückt, was wir mit Weltanschauung me<strong>in</strong>en:<br />

EUö


374 Das Problem der Weltanschauung<br />

ausgesprochenen Pflege der Literatur zusammengeht, e<strong>in</strong>e ausgesprochene<br />

Tendenz gegen alle Barbarismen, e<strong>in</strong> ~<strong>in</strong>n für<br />

Niveau und Haltung <strong>in</strong> dem spezifisch aesthetischen S<strong>in</strong>n des<br />

Geschmacks. Auch <strong>die</strong>se Form zeigt sich <strong>in</strong> den verschiedensten<br />

Formen; gegenüber dem psychologischen Anthropologismus<br />

können wir sie als e<strong>in</strong>en aesthetischen Humanismus bezeichnen.<br />

3. In der Weltanschauung als Haltung hat das freie Wählen,<br />

<strong>die</strong> Entscheidung e<strong>in</strong>e gewisse leitende Rolle. Dar<strong>in</strong> liegt, daß<br />

der Wählende auf sich selbst als Instanz zurückkommt. Gegenüber<br />

den äußeren Umständen, Gelegenheiten und Lagen des<br />

Dase<strong>in</strong>s beansprucht <strong>die</strong> Bes<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>en gewissen Vorzug. Die<br />

Innerlichkeit erfährt e<strong>in</strong>e Pflege, nicht <strong>in</strong> psychologischer Erörterung,<br />

nicht <strong>in</strong> aesthetischer Gestaltung, sondern im Ernst der<br />

Ges<strong>in</strong>nung und der Bekümmerung um sich selbst. Die Existenz<br />

des e<strong>in</strong>zelnen Ich ist nicht nur der Ort der Entscheidungen,<br />

sondern es selbst das Entscheidende. Diese Form der Haltung<br />

verb<strong>in</strong>det sich leicht, ja erwächst immer wieder im engsten<br />

Bunde mit e<strong>in</strong>er bestimmten Religion, z. B. der christlichen Religiosität.<br />

Auch hier zeigt sich das Hereiuspielen der ersten<br />

Grundform der Weltanschauung; zwar werden <strong>die</strong> Heilsmittel<br />

und -wege - Gnadenvermittlung, Sakramente - nicht gebraucht,<br />

aber es bleibt, ja verstärkt sich <strong>die</strong> Bekümmerung um<br />

das Seelenheil. Hier ist ke<strong>in</strong> Anthropologismus, auch ke<strong>in</strong> Humanismus,<br />

aber doch steht der Mensch im Zentrum h<strong>in</strong>sichtlich<br />

des Heils se<strong>in</strong>er Existenz. Der Ausdruck »Existenzialismus« beg<strong>in</strong>nt<br />

heute üblich zu werden. Meist ist <strong>die</strong>ser Existenzialismus<br />

religiös betont; er ist im Entscheidenden gefördert durch e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Form der Erneuerung Kierkegaardscher Gedanken.<br />

Wir haben also drei Formen der Entartung der Weltanschauung<br />

als Haltung: Betulichkeit, Gebärde und Innerlichkeit -<br />

Subjektivismus <strong>in</strong> verschiedenen Abwandlungen. Diese drei<br />

Formen der Entartung der Weltanschauung als Haltung gehen<br />

faktisch immer mit, können sich dabei vermischen ~nd damit<br />

<strong>die</strong> Unechtheit und Ratlosigkeit noch steigern. In e<strong>in</strong>er solchen<br />

Situation bef<strong>in</strong>den wir uns heute .. Darauf ist hier nicht weiter<br />

§ 42. Weltanschauung als Haltung 375<br />

e<strong>in</strong>zugehen. - Sofern"nun aus ganz anderen Motiven [... J* aus<br />

dem Grundproblem der <strong>Philosophie</strong> und ihres Wissens heraus<br />

das Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ausgezeichnete Funktion erhält und <strong>die</strong>se konkret<br />

dargestellt wurde,wird sie zwangsläufig - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>die</strong>ser<br />

Formen umgesetzt - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schublade untergebracht und<br />

dann unschädlich.<br />

Für uns ist wichtig: In <strong>die</strong>sen entarteten Formen der Haltung<br />

bekundet sich jeweils e<strong>in</strong> gewisser Vorrang des Dase<strong>in</strong>s; das<br />

weist darauf h<strong>in</strong>, daß zum Wesen <strong>die</strong>ser Weltanschauung als<br />

Haltung e<strong>in</strong> Wesentlichwerden des Selbst gehört. Alle<strong>in</strong> das<br />

E<strong>in</strong>fache ist klar zu sehen, daß, wenn das Selbst wesentlich wird,<br />

es zunächst gar nicht wichtig ist, welche Betulichkeit dem Menschen<br />

gegenüber <strong>in</strong> Szene gesetzt, welche Gebärde ihm angedichtet<br />

[?] und welche Existenz für ihn erdacht wird, sondern<br />

wesentlich ist offenbar das Se<strong>in</strong> des Selbst und <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />

<strong>die</strong>ses geschehen zu lassen.<br />

In all <strong>die</strong>sen Formen der Haltung ist das menschliche Leben<br />

im Grunde verstanden als e<strong>in</strong> Geschäft, das entweder durch<br />

psychologische Betulichkeit oder neuhumanistische Gebärde<br />

oder aber durch <strong>die</strong> widers<strong>in</strong>nige Zappelei e<strong>in</strong>es sogenannten<br />

existenziellen Denkens <strong>in</strong> Gang gehalten werden soll. Was für<br />

den vorliegenden Zusammenhang e<strong>in</strong>er allgellle<strong>in</strong>en Charakteristik<br />

der Haltung wichtig bleibt, 'ist, zu sehen, daß zum Wesen<br />

der Weltanschauung als Haltung gehört, daß das Dase<strong>in</strong> ausdrücklich<br />

wird, »ausdrücklich« nicht prilllär <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, daß es<br />

beachtet, beobachtet und besonders bekannt werde, sondern<br />

Ausdrücklichkeit als e<strong>in</strong> Charakter se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s. Das Se<strong>in</strong> des<br />

Dase<strong>in</strong>s bekommt für es e<strong>in</strong>e Schärfe.<br />

Wo mythisches Dase<strong>in</strong> nur noch <strong>in</strong> der schwachen Er<strong>in</strong>nerung<br />

und Übermalung der Haltung, ausdrücklich aber nicht <strong>die</strong><br />

Existenz des Menschen bestimmt, da gilt das Leben des Menschen<br />

nur soweit, als es jeweils <strong>in</strong> sich Dase<strong>in</strong> aufbr<strong>in</strong>gt.<br />

Die Grundverfassung des Dase<strong>in</strong>s liegt aber <strong>in</strong> der Transzen -<br />

* [E<strong>in</strong> Wort unleserlIch.]


376 Das Problem der Weltanschauung<br />

denz. In der Weltanschauung als Haltung wird das Jn-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> als solches wesentlicher. Das Dase<strong>in</strong> ergreift selbst<br />

se<strong>in</strong>e Möglichkeiten des Verhaltens zum Seienden im Ganzen.<br />

Das Transzen<strong>die</strong>ren wird ausdrücklich. In der Weltanschauung<br />

als Haltung ist e<strong>in</strong> ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren, d.h. aber<br />

nach früherem: <strong>Philosophie</strong>ren. Mit dem Geschehen und der<br />

Ausbildung der Weltanschauung als Haltung geschieht das <strong>Philosophie</strong>ren.<br />

Also ist <strong>Philosophie</strong>ren das Ausbilden der Weltanschauung<br />

als Haltung, Haltung <strong>die</strong> philosophische Weltanschauung.<br />

§ 43. Zum <strong>in</strong>neren Verhältnis von Weltanschauung<br />

als Haltung und <strong>Philosophie</strong><br />

a) Zur Problematik <strong>die</strong>ses Verhältnisses<br />

Unser Problem ist das Verhältnis von Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong>,<br />

genauer <strong>die</strong> Bestimmung <strong>die</strong>ser durch jene. Im Anschluß<br />

an e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Klärung des Wesens, das sich als zum<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong> gehörig herausstellte, g<strong>in</strong>gen wir dazu über,<br />

zwei Grundformen der Weltanschauung herauszuarbeiten: Bergung<br />

und Haltung. Als Eigentümlichkeit der letzteren 'bekundete<br />

sich e<strong>in</strong> Vorrang des Dase<strong>in</strong>s. Dieser Vorrang ist zunächst<br />

gegeben auf Grund der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden,<br />

<strong>die</strong> zum Wesen der Haltung gehört. Bei der Kennzeichnung<br />

<strong>die</strong>ser Ause<strong>in</strong>andersetzung habe ich darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß<br />

alles Erkennnen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grundtendenz auf e<strong>in</strong> Beherrschen,<br />

e<strong>in</strong> Herrwerden über abzielt, und daß damit <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

der Durchforschung des Seienden auf se<strong>in</strong>e Gesetzlichkeit gegeben<br />

ist. Aber das hat mit Pragmatismus nichts zu tun, der<br />

Wahrse<strong>in</strong> gleichsetzt dem Nutzeffekt. Nicht <strong>die</strong>ser, sondern das<br />

Seiende selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Was und Wie entscheidet über <strong>die</strong><br />

Wahrheit der Erkenntnis. Aber das Seiende kann das nur, wenn<br />

es daraufh<strong>in</strong> befragt wird, und <strong>die</strong>ses Fragen, zur Rede stellen<br />

§ 4J. Haltung und <strong>Philosophie</strong> 377<br />

des Seienden ist e;i,n Sichause<strong>in</strong>andersetzen mit ihm. E<strong>in</strong> bloßes<br />

Begaffen vermag nie zu entdecken.<br />

Die Eigentümlichkeit der Weltanschauung als Haltung und<br />

das Merkwürdige, daß <strong>in</strong> ihr das Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Vorrang erhält,<br />

sollte sich für uns gerade dar<strong>in</strong> zeigen, daß sie drei Formen der<br />

Entartung ausbildet. Die Grundform der Entartung liegt <strong>in</strong> der<br />

Haltung selbst, sofern das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihr ausdrücklich wird. Wenn<br />

wir das Positive dessen, was <strong>in</strong> den Formen der Entartung herauskommt,<br />

zu fassen suchen, so ist es dasjenige Moment, das<br />

wesensmäßig zur Haltung gehört, und das wir bezeichnen als <strong>die</strong><br />

Sammlung des Dase<strong>in</strong>s. Wir wissen, daß zum Dase<strong>in</strong> notwendig<br />

gehört <strong>die</strong> dreifache Streuung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bezüge zum Seienden, den<br />

Objekten, zum Mitdase<strong>in</strong> anderer und zu sich selbst, und daß das<br />

Dase<strong>in</strong> <strong>die</strong> Tendenz hat, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>die</strong>ser Bezüge sich zu verlieren,<br />

<strong>in</strong> ihm aufzugehen, ihn zu verabsolutieren. Das Wesentliche der<br />

Weltanschauung als Haltung besteht nicht nur dar<strong>in</strong>, das Ganze<br />

des Dase<strong>in</strong>s nach <strong>die</strong>sen drei Richtungen zu gew<strong>in</strong>nen, sondern<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sammlung zu halten. Haltung ist daher <strong>in</strong> sich<br />

Sammlung der Streuung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ursprünglichkeit des Da-se<strong>in</strong>s im<br />

Menschen. Sammlung ist der ursprüngliche Charakter, der <strong>in</strong><br />

den genannten Formen der Entartung aus der Art schlägt.<br />

Es geht um Sammlung statt Subjektivismus und Individualismus;<br />

alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Form der Entartung ist nicht beiläufig,<br />

sondern zum Wesen des Dase<strong>in</strong>s selbst gehörig, hier <strong>in</strong> Haltung<br />

wie dort im mythischen Dase<strong>in</strong>. Auf <strong>die</strong> verschiedenen anderen<br />

Modifikationen der Entartung gehe ich nicht e<strong>in</strong>, besonders<br />

nicht auf den Individualismus <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Schattierungen<br />

und nicht auf das, was man als Aufklärung, besser Aufklärerei<br />

bezeichnet, so daß man den eigenen Verstand zum Richtmaß<br />

und Herrn über alles macht. Kant: »Habe Muth, Dich De<strong>in</strong>es<br />

eigenen Verstandes zu be<strong>die</strong>nen«.'<br />

• 1 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklarung? Immanuel<br />

Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Koniglich Preußischen Akademie<br />

der Wissenschaften. Band VIII, Berl<strong>in</strong> 1920. S.35.


378 Das Problem der Weltanschauung<br />

Haltung ist sich ause<strong>in</strong>andersetzende Sammlung des Menschen<br />

auf das Da-se<strong>in</strong>. Dar<strong>in</strong> liegt nicht lediglich e<strong>in</strong> Sichbehaupten<br />

und Durchsetzen, nur sich Sichern gegen ... , sondern<br />

Haltung als Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> sich Freimachen der Möglichkeiten,<br />

bedeutet» Wachstum«, aber nicht »Fortschritt«.<br />

Haltung als philosophische Weltanschauung ist noch e<strong>in</strong>e<br />

sehr vieldeutige Charakteristik, und vor allem voreilig, äußerlich.<br />

Zwar ist soviel deutlich: Die Haltung, sofern <strong>in</strong> ihr <strong>die</strong><br />

Transzendenz ausdrücklicher wird, steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em besonderen<br />

Zusammenhang mit <strong>Philosophie</strong>ren, wenn <strong>die</strong>ses ausdrückliches<br />

Transzen<strong>die</strong>ren ist. Noch aber ist das <strong>in</strong>nere Verhältnis von<br />

Weltanschauung als Haltung und <strong>Philosophie</strong>ren völlig problematisch.<br />

Wir müssen uns hüten, hier e<strong>in</strong>e allzu leichte Lösung<br />

f<strong>in</strong>den zu wollen.<br />

Wir wollen versuchen, das Problem zu verdeutlichen durch<br />

e<strong>in</strong>e Analogie mit der Frage des ersten Weges. Dort war Problem:<br />

Ist <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>die</strong>jenige Idee, der <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>die</strong>nstbar gemacht werden muß, <strong>Philosophie</strong> als strenge Wissenschaft,<br />

oder ist <strong>Philosophie</strong> ganz und gar nicht Wissenschaft,<br />

obzwar gerade deshalb der Grund der Möglichkeit der Wissenschaft?<br />

Es ergab sich: Die Idee e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen <strong>Philosophie</strong><br />

ist wie der Gedanke e<strong>in</strong>es rundlichen Kreises. Wie steht<br />

es nun entsprechend bezüglich des Verhältnisses von Weltanschauung<br />

und <strong>Philosophie</strong>? Ist Weltanschauung dasjenige, was<br />

der <strong>Philosophie</strong> als Maßstab <strong>die</strong>nen soll? Ist <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Weltanschauung, oder hat umgekehrt <strong>die</strong>se Weltanschauung zur<br />

Voraussetzung <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>?<br />

Wir haben, wie ausdrücklich betont wurde, jetzt gefragt nach<br />

e<strong>in</strong>er Analogie mit dem ersten Weg, d. h. Weltanschauung mit<br />

Wissenschaft <strong>in</strong> Entsprechung gesetzt. Alle<strong>in</strong>, schon das ist unmöglich,<br />

denn Weltanschauung ist etwas wesentlich Ursprünglicheres<br />

und zum Dase<strong>in</strong> gehörig, dagegen <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

nicht. So wird fraglich, ob wir auch hier, auf dem zweiten Wege,<br />

das Problem e<strong>in</strong>fach auf <strong>die</strong>ses Entweder-Oder br<strong>in</strong>gen dürfen,<br />

oder ob dadurch das Eigentümliche.des jetzigen Problems nicht<br />

§ 4J. Hdltung und <strong>Philosophie</strong> 379<br />

gerade zwischendurch fiilt und nicht zu greifen ist. Das ist <strong>in</strong><br />

der Tat der Fall.<br />

Dazu kommt noch e<strong>in</strong> anderes. Es trat schon mehr oder m<strong>in</strong>der<br />

deutlich heraus, daß <strong>Philosophie</strong>ren als ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren<br />

e<strong>in</strong>en besonderen Bezug zu der e<strong>in</strong>en Grundform der<br />

Weltanschauung als Haltung hat, mith<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Möglichkeit, was freilich nicht aus-, sondern e<strong>in</strong>schließt, daß<br />

auch e<strong>in</strong> wesentlicher Bezug zur Weltanschauung als Bergung<br />

vorliegt. Aber schon dadurch ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Frage nach dem<br />

Verhältnis von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung verwickelter.<br />

Allgeme<strong>in</strong> ist nur zu sagen: <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

betreffen beide <strong>die</strong> Transzendenz, das In -der-Welt-se<strong>in</strong>; aber wie,<br />

das ist <strong>die</strong> Frage.<br />

b) <strong>Philosophie</strong> ist Weltanschauung als Haltung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgezeichneten S<strong>in</strong>ne<br />

Wir wollen zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Richtung <strong>die</strong> Antwort vorwegnehmen,<br />

<strong>in</strong>dem wir sagen: Weltanschauung, und zwar als Haltung,<br />

ist» Voraussetzung« der <strong>Philosophie</strong>. Doch was heißt hier» Voraussetzung«?<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong> als Haltung muß geschehen,<br />

wenn <strong>Philosophie</strong>ren soll se<strong>in</strong> können. Mit dem Geschehen der<br />

Weltanschauung als Haltung ist auch schon das <strong>Philosophie</strong>ren<br />

erwacht. <strong>Philosophie</strong> ist schon, von Grund aus, Weltanschauung,<br />

und zwar notwendig <strong>in</strong> der Weise der Haltung, was e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten Bezug zur Bergung e<strong>in</strong>schließt. <strong>Philosophie</strong> »ist«<br />

Weltanschauung. Weil <strong>Philosophie</strong> wesensnotwendig <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

noch zu bestimmenden Weise Weltanschauung ist, deshalb kann<br />

es nicht Aufgabe und Ziel der <strong>Philosophie</strong> se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Weltanschauung<br />

auszubilden und <strong>die</strong>ses so befestigte Gebäude als e<strong>in</strong>e<br />

Wohnung für jedermann auszugeben und zu beanspruchen.<br />

,<strong>Philosophie</strong> ist Weltanschauung als Haltung und das <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ausgezeichneten S<strong>in</strong>ne. Die Griechen haben für Haltung<br />

den Ausdruck ~{}o~ - gerade deshalb ist sie aber nicht Verkündigung<br />

e<strong>in</strong>er Ethik. Doch wenn <strong>Philosophie</strong> weder Wissen-


380 Das Problem der Weltanschauung<br />

schaft noch Ausbildung e<strong>in</strong>er Weltanschauung noch Verkündigung<br />

e<strong>in</strong>er Ethik ist, was leistet sie dann, was tut sie?<br />

<strong>Philosophie</strong> philosophiert. Das sagt nur: Sie kann und muß aus<br />

sich selbst begriffen werden; nur im <strong>Philosophie</strong>ren wird <strong>Philosophie</strong><br />

verstanden. ~<br />

<strong>Philosophie</strong> ist eigenen Wesens, was nicht ausschließt zu sagen,<br />

sie ist Weltanschauung qua Haltung. (Vgl. unten S. 386)<br />

Denn <strong>die</strong>se Aussage gibt ke<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, als sei<br />

»Weltanschauung« <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e oberste Gattungsbestimmung<br />

für <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>, als wollten wir jetzt <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />

Gattungsbestimmung »Wissenschaft« ersetzen durch »Weltanschauung«,<br />

so wie <strong>in</strong> der gewöhnlichen Me<strong>in</strong>ung Wissenschaft<br />

<strong>die</strong> Gattungsidee darstellt. Wir sagen nicht: Philosphie ist e<strong>in</strong>e<br />

Form von Weltanschauung unter anderen. Dieses »ist« hat hier<br />

se<strong>in</strong>e eigene Bedeutung.<br />

In welchem S<strong>in</strong>n und <strong>in</strong> welcher Weise ist denn e<strong>in</strong>e <strong>Philosophie</strong><br />

Weltanschauung, und zwar als Haltung? Die Antwort<br />

kann nicht allzu schwer se<strong>in</strong>, möchte man erwidern, vor allem<br />

s<strong>in</strong>d wir doch nicht so ratlos ausgesichts der- Frage, was <strong>Philosophie</strong><br />

leistet; denn wir haben ihr doch auf dem ersten Weg<br />

zugewiesen <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sfrage, das Se<strong>in</strong>sproblem, <strong>die</strong> Herausarbeitung<br />

der Se<strong>in</strong>smöglichkeiten und der Se<strong>in</strong>sverfassung der verschiedenen<br />

Bezirke des Seienden. Das ist doch Aufgabe genug.<br />

So wäre jetzt nur <strong>die</strong> Frage: Wie verhält sich <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als<br />

Frage nach dem Se<strong>in</strong> dazu, daß sie Weltanschauung ist? Läßt<br />

sich am Ende nicht <strong>die</strong> Art und Weise, wie <strong>Philosophie</strong> Weltanschauung<br />

ist, daraus entnehmen, daß sie und wie sie das<br />

Se<strong>in</strong>sproblem stellt?<br />

Alle<strong>in</strong>, so dürfen wir nicht vorgehen, d. h. wir dürfen nicht aus<br />

dem Ergebnis des ersten Weges das Resultat des zweiten ableiten,<br />

sondern der zweite Weg soll für sich zum <strong>Philosophie</strong>ren br<strong>in</strong>gen,<br />

und das heißt freilich, mit dem ersten zusammenlaufen. Wir<br />

können und müssen uns zwar am ersten orientieren (vgl. Transzendenz<br />

und Se<strong>in</strong>sproblem), aber nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Ableitung<br />

der »Ergebnisse«. Wir dürfen also nicht fragen: Wie läßt sich aus<br />

§ 4J. Haltung und <strong>Philosophie</strong> 381<br />

dem Charakter der Problema~i~ des Se<strong>in</strong>sproblems erschließen<br />

<strong>die</strong> Art und Weise, wie <strong>Philosophie</strong> Weltanschauung ist, sondern<br />

wir müssen zunächst umgekehrt vorgehen und fragen: Läßt sich<br />

aus dem Wesen der Weltanschauung als Haltung deutlich machen,<br />

<strong>in</strong>wiefern mit ihr notwendig das geschieht, was wir <strong>Philosophie</strong>ren<br />

nannten? Läßt sich aus dem Wesen der cHaltung<br />

aufhellen, daß <strong>in</strong> ihr und wie <strong>in</strong> ihr das Se<strong>in</strong>sproblem notwendig<br />

wach wird? Inwiefern liegt <strong>in</strong> der Weltanschauung als Haltung,<br />

und wesensnotwendig nur <strong>in</strong> ihr, <strong>die</strong> freie Möglichkeit der ausdrücklichen<br />

Ausarbeitung des Se<strong>in</strong>sproblems, d.h. <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

des ausdrücklichen <strong>Philosophie</strong>rens?<br />

In der Bergung verlegt sich das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> das Ganze des Seienden<br />

und f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> ihm se<strong>in</strong>e Geborgenheit. Das Seiende im<br />

Ganzen ist das Haltende und der Halt. In der Haltung dagegen ist<br />

der Halt nicht im Ganzen des Seienden, sondern im Dase<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ses<br />

freilich als gestreutes, alle<strong>in</strong> nicht etwa <strong>in</strong> Entsprechung zur Bergung,<br />

als wäre Haltung e<strong>in</strong>e Art von Bergung, nur eben jetzt <strong>in</strong><br />

sich selbst. Die Haltgew<strong>in</strong>nung hat <strong>in</strong> der Haltung überhaupt<br />

nicht den Charakter der Bergung. Der Halt wird nicht <strong>in</strong> und an<br />

e<strong>in</strong>em Seienden und sei es das Dase<strong>in</strong> genommen, sondern <strong>die</strong><br />

Haltung ist dadurch ausgezeichnet, daß hier das den Halt Verleihende<br />

e<strong>in</strong>en anderen Charakter hat: Der Halt geschieht im Se<strong>in</strong><br />

des Dase<strong>in</strong>s. Das Geschehen des Sichhaltens im In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

ist nicht e<strong>in</strong> Haltnehmen für das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen.<br />

Weil jetzt das Geschehen des Sichhaltens als In-der-Welt-se<strong>in</strong><br />

wesentlich ist, kommt <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden<br />

<strong>in</strong>s Spiel. Das Verhalten zum Seienden an ihm selbst wird<br />

entscheidend, <strong>die</strong> Überw<strong>in</strong>dung der Übermächtigkeit des Seienden<br />

derart, daß dabei <strong>die</strong>ses Seiertde an ihm selbst vom<br />

Dase<strong>in</strong> her <strong>in</strong> dessen Herrschaft genommen werden soll. Auch<br />

wenn es sich noch gar nicht um eigens ausgebildete und gar als<br />

solche begriffene Wissenschaft handelt, so ist das Verhalten zum<br />

Seienden als Verhalten zu ... darauf aus, offenbar zu machen,<br />

was und wie das Seiende ist. Nicht um e<strong>in</strong>e Summe von Wissenswertem<br />

lediglich zu registrieren und zu sammeln geht es,


382 Das Problem der Weltanschauung<br />

sondern <strong>die</strong>se Wahrheit ist unmittelbares Moment des~faktischen<br />

Sichhaltens <strong>in</strong>mitten des Seienden. In ihr vollzieht sich<br />

mit das In-der-Welt-se<strong>in</strong>.<br />

Dieses Sichauskennenwollen <strong>in</strong> dem, was je und wie das<br />

Seiende ist, beg<strong>in</strong>nt nicht irgendwo <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zufälligen kle<strong>in</strong>en<br />

Ecke des weiten Bereichs des offenbaren Seienden, sondern setzt<br />

gleichzeitig <strong>in</strong> allen Gebieten e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> für das Dase<strong>in</strong> wesentlich<br />

s<strong>in</strong>d, d.h. im Ganzen der Bezüge se<strong>in</strong>er Streuung. Jede hesondere<br />

und e<strong>in</strong>zelgerichtete Nachforschung erwächst aus dem<br />

Ganzen und im Ganzen. Dar<strong>in</strong> liegt aber, das Ganze des Seienden<br />

selbst ist es zugleich, das <strong>in</strong> dem, was es ist und wie es ist,<br />

verstanden se<strong>in</strong> will.<br />

§ 44. In der Weltanschauung als Haltung<br />

bricht das Se<strong>in</strong>sproblem auf<br />

Die Haltung, <strong>die</strong> immer Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden<br />

im Ganzen ist, muß <strong>in</strong> solcher Ause<strong>in</strong>andersetzung des Ganzen<br />

des Seienden an ihm selbst irgend Herr werden. Das Seiende im<br />

Ganzen an ihm selbst wird zur Frage <strong>in</strong> dem, was es sei. Mit<br />

<strong>die</strong>ser Frage nach dem Seienden als Seienden bricht ausdrücklich<br />

das Se<strong>in</strong>sproblem auf. In der Weltanschauung als Haltung,<br />

d.h. <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden, liegt notwendig<br />

e<strong>in</strong> Wachwerden des Se<strong>in</strong>sproblems, d.h. dessen, was<br />

wir <strong>Philosophie</strong>ren nannten.<br />

Hierbei ist es nun wichtig, gerade im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong>sen<br />

Ursprung des Se<strong>in</strong>sproblems aus dem Ursprung der Weltanschauung<br />

als Haltung, <strong>die</strong> ursprüngliche Gestalt des Se<strong>in</strong>sproblems<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen Ursprünglichkeit, Weite und Größe zu<br />

bewahren und nicht durch e<strong>in</strong>e spätere e<strong>in</strong>seitige und abgefallene<br />

Form der Ausbildung von vornhere<strong>in</strong> zu zerbrechen.<br />

Es gilt hier e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Wesens gesetz der Genesis, daß das<br />

ursprünglich Anfängliche nicht, wie <strong>die</strong> positivistische Wissenschaft<br />

vorgibt, das E<strong>in</strong>fache, Niedrige und Arme ist, sondern das<br />

§ 44. Weltanschauung als Haltung und das Se<strong>in</strong>sproblem 383<br />

Verwickelte, Höchste und Reichste, und daß alle Genesis je nur<br />

e<strong>in</strong>e bestimmt gerichtete Ausformung ist, <strong>die</strong> auf Kosten ihrer<br />

Bestimmtheit nie wieder <strong>die</strong> Größe des Ursprungs zurückgew<strong>in</strong>nt.<br />

Das besagt, daß gerade am Anfang und gewissermaßen<br />

bei der Geburt der <strong>Philosophie</strong> <strong>die</strong> wesenhafte Fülle des Problems<br />

gesucht werden muß. So auch hier beim Se<strong>in</strong>sproblem.<br />

Wenn das Se<strong>in</strong>sproblem notwendig erwacht mit dem Geschehen<br />

der Haltung, d. h. mit der Genesis <strong>die</strong>ser zweiten Form der<br />

Weltanschauung aus der ersten, der Bergung, und wenn <strong>die</strong>se<br />

nicht e<strong>in</strong>fach abgestoßen wird, sondern als gewesene Möglichkeit<br />

ihre spezifische Kraft behält, dann ist klar, daß nun auch <strong>die</strong><br />

erste konkrete Form des Se<strong>in</strong>sproblems bestimmt se<strong>in</strong> muß<br />

durch <strong>die</strong> Genesis der sich ause<strong>in</strong>andersetzenden Haltung aus<br />

der Bergung. Auf den Ursprung der <strong>Philosophie</strong> aus dem Mythos<br />

- um nichts anderes handelt es sich - ist man immer schon<br />

aufmerksam geworden, vor allem ,schon <strong>die</strong> Griechen selbst;<br />

aber das heißt nur, daß alles <strong>Philosophie</strong>ren selbst, gemäß se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Möglichkeit, sich <strong>die</strong>ses wesenhaften Ursprungs immer<br />

wieder versichern, d.h. von da sichoihr selbst ihr volles Wesen<br />

geben muß. Daß das nun immer geschah und geschieht, wenn<br />

von dem Ursprung der <strong>Philosophie</strong> aus dem Mythos gehandelt<br />

wird, kann nicht gesagt werden. , .<br />

a) Das Erwachen des Se<strong>in</strong>sproblems aus der Weltanschauung<br />

im Mythos,als Bergung<br />

Wir wissen von den ältesten antiken Philosophen Weniges und<br />

nur Bruchstückhaftes, aber genug, um Wesentliches zu erkennen.<br />

Wenn sie nach dem Seienden im Ganzen fragen und<br />

gleichsam zum erstenmal den Arm aufheben gegen das Seiende<br />

und se<strong>in</strong>e noch nachdämmernde Übermächtigkeit, um es an<br />

ihm selbst zu gew<strong>in</strong>nen, dann stehen sie mit solchen Fragen<br />

gleichsam selbst noch ganz <strong>in</strong>mitten des Seienden und fragen<br />

nach ihm, <strong>in</strong>dem sie se<strong>in</strong>en Ur-anfang erkunden. Denn das<br />

Übermächtige als Ganzes ist es, was sie schlechth<strong>in</strong> immer


384 Das Problem der Weltanschauung<br />

schon antreffen. Dieses »Immer-schon« kann für sie nur 'heißen:<br />

mächtig und geschehend von Utzeiten her, von e<strong>in</strong>em unergründlichen<br />

Alter. Wenn sie 'dem Seienden an ihm selbst<br />

nachfragen, muß ihre Frage gehen nach dem Uranfabg des<br />

Seienden, se<strong>in</strong>er Urgeschichte, nach der CtQXtl. In der Frage nach<br />

dem Uranfang des Geschehens des Seienden ist <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Mythologie<br />

schon verlassen, sofern e<strong>in</strong>e ause<strong>in</strong>andersetzende Frage<br />

lebendig geworden ist. Die Mythologie ist noch da, sofern <strong>die</strong><br />

Bahn <strong>die</strong>ses Fragens noch vom mythischen Dase<strong>in</strong> vOr'gezeichnet<br />

wird. Die Antwort wird gegeben <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Theogonie<br />

oder Kosmogonie.<br />

Alle<strong>in</strong>, wir sehen schon, <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem<br />

Seienden beschränkt sich weder auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Ecke, noch ist<br />

sie nur solche, wie wir sie eben kennzeichneten. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

beherrscht das Dase<strong>in</strong> durch und durch, d. h. gerade<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en nächsten Verrichtungen und Möglichkeiten, <strong>in</strong> der<br />

Beherrschung der Natur, bei der Schiffahrt, Feldbestellung oder<br />

beim Städtebau. In solcher ause<strong>in</strong>andersetzenden Verhaltung<br />

zum Seienden offenbart sich <strong>die</strong>ses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er-neuen Weise. Gegenüber<br />

dem, was vordem sich durch Magie und Zauber e<strong>in</strong>stellte,<br />

ohne daß der Mensch wußte und wissen wollte wie,<br />

begegnet jetzt Seiendes, das <strong>in</strong> freier Herstellung, Beschaffung<br />

und Bearbeitung gerade zu dem Seienden wird, als welches es<br />

benötigt war. Im freien Herstellen im weitesten S<strong>in</strong>ne offenbart<br />

sich mehr oder m<strong>in</strong>der klar, begrifflich fast noch unbestimmt,<br />

daß Seiendes solches ist, was her-gestellt ist und her-gestellt zur<br />

Verfügung steht, vor-handen ist. Beziehungsweise umgekehrt:<br />

Das Ganze des Seienden, das da <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Übermacht sich bekundet,<br />

ist Vorhandenes und als solches irgendwie Hergestelltes.<br />

Wenn demnach <strong>in</strong>nerhalb <strong>die</strong>ser ause<strong>in</strong>andersetzenden<br />

herstellenden Haltung zum Seienden ausdrücklich nach <strong>die</strong>sem<br />

im Ganzen an ihm selbst gefragt wird, so ist es im ·vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

verstanden als Vorhandenes im Ganzen, Hergestelltes, irgendwie<br />

Hergekommenes. Wenn also <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Frage wach<br />

wird, was das Seiende sei und wie es sei, dann kommt <strong>die</strong>se<br />

§ 44. Weltanschauung als Haltung und das Se<strong>in</strong>sproblem 385<br />

Frage <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bahnen: Woraus ist es hergestellt, woraus besteht es,<br />

welches s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Urbestandteile und wodurch ist es entstanden?<br />

Die Frage nach dem, was das Seiende sei, hat notwendig wieder<br />

<strong>die</strong> Richtung auf e<strong>in</strong> Woher, CtQXtl, aber CtQXtl jetzt nicht im S<strong>in</strong>ne<br />

von mythischem Uranfang, sondern vom Woraus des Bestehens,<br />

Urstoff, und dem Wodurch, Urkraft - <strong>die</strong>ses freilich nicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em theoretischen Materialismus und Chemismus des 19.<br />

Jahrhunderts genommen.<br />

Die zweite Form des Fragens nach dem Seienden im Ganzen,<br />

nach der CtQXtl <strong>in</strong> der zweiten Bedeutung, bleibt unmittelbar<br />

verschlungen mit der ersten. Nur weil <strong>die</strong>ser Zusammenhang<br />

besteht, d.h. weil'auch <strong>die</strong> sche<strong>in</strong>bar re<strong>in</strong> aus dem ause<strong>in</strong>andersetzenden<br />

Verhalten entspr<strong>in</strong>gende Fragerichtung noch mit der<br />

ersten verwachsen bleibt, <strong>die</strong>se aber als mythische ihr altes<br />

Recht und Gewalt hat, deshalb kann <strong>die</strong> zweite erst sich an-.und<br />

durchsetzen.<br />

So vollzieht sich mit der Ausbildung der Weltanschauung als<br />

Haltung, weil sie Ause<strong>in</strong>andersetzung ist, e<strong>in</strong> Anrennen gegen<br />

das Seiende im Ganzen, e<strong>in</strong> Anrennen <strong>in</strong> der nun nicht mehr<br />

weichenden Frage, was das Seiende und wie es sei. Weil <strong>die</strong>ses<br />

Fragen zum Dase<strong>in</strong> als solchem gehört, das Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Haltung<br />

aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausdrücklichen S<strong>in</strong>ne sich zu sich selbst<br />

verhält, wird <strong>die</strong>ses Fragen selbst mit <strong>in</strong> <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Frage<br />

nach dem Seienden e<strong>in</strong>gestellt. Anders gesagt: Weil es eigens<br />

geht um <strong>die</strong> Offenbarkeit dessen, was das Seiende ist, <strong>die</strong> Offenbarkeit<br />

des Seienden im Ganzen an ihm selbst, wird <strong>die</strong>se<br />

Offenbarkeit selbst <strong>in</strong> den Umkreis des Fragens gedrängt, und<br />

zwar gar nicht zuerst im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er formalen Reflexion auf <strong>die</strong><br />

Methode der Frage nach dem Seienden, sondern <strong>in</strong> der fast noch<br />

mythischen Form, daß <strong>die</strong> Wahrheit als Gött<strong>in</strong> <strong>die</strong> Wege des<br />

Fragens zur Entscheidung vorgibt und den rechten führt - so bei<br />

Parmenides. Die fragende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden<br />

im Ganzen ist fest auf ihren eigenen Weg gestellt und<br />

verlaufend <strong>in</strong>mitten <strong>die</strong>ses Seienden. Alle<strong>in</strong>, mit dem Offenbarwerden<br />

des Weges und des Standortes des Fragens erhellt sich


386 Das Problem der Weltanschauung<br />

zugleich deutlicher das, wonach im S<strong>in</strong>ne der Frage nach der<br />

«Qxi] gefragt ist, was denn am Seienden als Seienden gesucht<br />

wird, wenn gefragt wird nach dem, was das Seiende von altersher<br />

war und wodurch es möglich wurde. Das Seiende war<br />

immer schon als Seiendes durch Se<strong>in</strong> bestimmt, <strong>in</strong>nerlich möglich<br />

durch Se<strong>in</strong>. Nur langsam, schwer und <strong>in</strong> ständigen Rückfällen<br />

gew<strong>in</strong>nt <strong>die</strong>se Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden im<br />

Ganzen e<strong>in</strong>e relative Klarheit über sich selbst, d.h. über das,<br />

wonach <strong>die</strong> Frage steht, was das Se<strong>in</strong> des Seienden selbst sei,<br />

über das Suchen Platons, das Se<strong>in</strong>sproblem, oVtO)~ ov.<br />

b) Geschichtliche Formen der Ausbildung von <strong>Philosophie</strong><br />

aus der Weltanschauung als Bergung und Haltung<br />

Nun kehren wir an den Ausgang unserer Frage zurück. Was<br />

heißt: <strong>Philosophie</strong> ist Weltanschauung als Haltung? Es heißt:<br />

<strong>Philosophie</strong> gründet <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>neren Möglichkeit <strong>in</strong> solcher<br />

Weltanschauung. Nicht aber umgekehrt: Die Haltung erschöpft<br />

sich nicht dar<strong>in</strong>, <strong>Philosophie</strong>ren zu se<strong>in</strong>, im Gegenteil, sie ist das<br />

zumeist gar nicht und wenn, dann e<strong>in</strong>e eigentümliche Modifikation.<br />

(Vgl. unten, Grund-haltung.) Mit der Weltanschauung<br />

als Haltung geschieht <strong>Philosophie</strong>ren. Wir suchten das zu zeigen<br />

durch den Nachweis, daß mit dem Geschehen der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

notwendig das Se<strong>in</strong>sproblem erwacht. Das besagt<br />

aber zugleich: Dieses Se<strong>in</strong>sproblem als solches ist selbst nur<br />

<strong>in</strong>nerlich möglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong>, dessen In-der-Welt-se<strong>in</strong> primär<br />

durch Haltung bestimmt ist. Anders gesagt: Es gibt ke<strong>in</strong><br />

sogenanntes philosophisches Problem an sich, nach dem jeder<br />

Beliebige beliebig greifen kann. (Wenn dergleichen sche<strong>in</strong>bar<br />

geschieht, so ist noch nicht verbürgt, daß wer im Rahmen und<br />

<strong>in</strong> der notwendigen Technik solchen Fragens sich ergeht, »<strong>Philosophie</strong><br />

treibt«, im S<strong>in</strong>ne des Fragens philosophiert.) E<strong>in</strong>e<br />

extreme Auffassung des Bestandes von Problemen an sich f<strong>in</strong>det<br />

sich heute bei Nicolai Hartmann.<br />

Das Se<strong>in</strong>sproblem hat <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere .Möglichkeit se<strong>in</strong>er selbst<br />

§ 44. Weltanschauung als Haltung und das Se<strong>in</strong>sproblem 387<br />

als Problem im Dase<strong>in</strong> als Haltung. Daß das nicht verstanden<br />

wird bzw. daß, wenn auf dergleichen h<strong>in</strong>gewiesen wird, man<br />

me<strong>in</strong>t, das sei psychologische Erklärung der Probleme an sich<br />

und damit verbalwissenschaftliche [?] Verwässerung, ist nicht<br />

zufällig. Es hat se<strong>in</strong>en Grund dar<strong>in</strong>, daß <strong>die</strong> Problematik der<br />

<strong>Philosophie</strong> nicht aus ihrem ursprünglichen Grunde verstanden<br />

wird, sondern im Rahmen und <strong>in</strong> der Orientierung an den<br />

technischen Mitteln ihrer Ausbildung. Architektonik der Diszipl<strong>in</strong>en.<br />

In der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden erwächst notwendig<br />

das Offenbarmachen und Bestimmen des Seienden an<br />

ihm selbst, das Bestimmen des Seienden als das und das; es<br />

erwächst das begriffliche Erkennen. Damit aber erhält <strong>die</strong><br />

schon geschehende Sprache e<strong>in</strong> neues Gewicht <strong>in</strong> der Richtung<br />

e<strong>in</strong>er Differenzierung ihres Bedeutungsbestandes. Das Sprachganze<br />

selbst fungiert als gleichsam objektiv geschehender Niederschlag<br />

der Wahrheit des Seienden. Sprache, Wort, Bedeutung,<br />

S<strong>in</strong>n, Geme<strong>in</strong>tes, Seiendes selbst s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> gewisser Weise<br />

e<strong>in</strong> und dasselbe, vertauschbar. Der AOy


388 Das Problem der Weltanschauung '"'<br />

mung des Seienden nach e<strong>in</strong>zelnen Bezirken, positiveS'rErkennen,<br />

Wissenschaft. 2. allgeme<strong>in</strong>e Bes<strong>in</strong>nung auf das Seiendecals<br />

solches, so zwar, daß dabei der Logos <strong>in</strong> den Vordergrund als<br />

Milieu und Leitfaden der Problematik tritt.<br />

Im Gefolge der <strong>Philosophie</strong> bilden sich aus Wissenschaften<br />

und Logik; <strong>die</strong>se haben aber <strong>in</strong> sich gerade <strong>die</strong> Tendenz, als<br />

Richt- und Werkzeug zu <strong>die</strong>nen, d.h. <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

des Erkennens mit dem Seienden »technisch« zu machen. Hier<br />

zeigt sich nun dasselbe Gesetz wie <strong>in</strong> der ersten Grundf'Orm der<br />

Weltanschauung, im mythischen Dase<strong>in</strong>. Dort veröffentlicht<br />

sich <strong>die</strong> Bergung <strong>in</strong> den Betrieb der Heilsmittel und -wege; hier<br />

veröffentlicht sich, und zwar notwendig, das <strong>Philosophie</strong>ren <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>se Formen der erkennenden Ause<strong>in</strong>andersetzung. Diese s<strong>in</strong>d<br />

zwar notwendig bei aller konkreten Erforschung des Seienden;<br />

aber nicht notwendig ist, daß <strong>die</strong>se veröffentlichten Formen als<br />

solche nun umgekehrt dasjenige primär bestimmen, <strong>in</strong> dessen<br />

Gefolgschaft sie alle<strong>in</strong> möglich und notwendig s<strong>in</strong>d. Durch Logik<br />

und Wissenschaft wird jetzt <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Form der <strong>Philosophie</strong><br />

nicht nur selbst veräußerlicht, sondeIOn von sich selbst<br />

ferngehalten. Aber <strong>die</strong>ses geschieht nicht zufällig, als Eigentümlichkeit<br />

der <strong>Philosophie</strong> oder der Weltanschauung als Haltung,<br />

sondern auch bei der Bergung; also s<strong>in</strong>d zum Dase<strong>in</strong> als<br />

solchem gehörig Verfallen, verschiedene Abwandlungen, - aber<br />

Wesensbestimmung des Dase<strong>in</strong>s (Sorge).<br />

Alle großen Anstrengungen der abendländlischen <strong>Philosophie</strong><br />

gelten dem Bemühen, <strong>die</strong>ser Macht der Logik! selbst Herr<br />

zu werden; aber das geschieht so, daß sie selbst gewissermaßen<br />

<strong>in</strong>s Haus genommen und ihr alle Herrschaft übertragen wird -<br />

Hegel. Nur e<strong>in</strong> ganz sporadischer Versuch f<strong>in</strong>det sich bei Kant,<br />

von ihm selbst verleugnet und auch nur zu sehen, wenn man der<br />

kantischen Problematik von radikalerer Fragestellung aus so<br />

1 Logik: ratio - Descartes Mathematik und Sorge der Gewißhei~ - von hier<br />

das cogito. Bewußtse<strong>in</strong> - Vernunft des Apriori - zwei Motive für Idee der<br />

Vernunftwissenschaft als <strong>Philosophie</strong>.<br />

§ 44. Weltanschauung als Haltung und das Se<strong>in</strong>sproblem 389<br />

weit als möglich entgegenkommt, was Pr<strong>in</strong>zip der Interpretation<br />

se<strong>in</strong> muß.<br />

Was aber entscheidend ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Überlegungen: Es gilt <strong>die</strong><br />

Eigentümlichkeit, Problematik und Grenze dessen zu sehen,<br />

was ich <strong>die</strong> aristotelische Situation nenne, d. h. <strong>die</strong> Form des<br />

antiken <strong>Philosophie</strong>rens auf <strong>die</strong>ser Höhenlage. Das Se<strong>in</strong>sproblem<br />

als Frage nach dem Seienden im Ganzen, <strong>die</strong>ses aber<br />

zugleich als Frage nach dem Seienden als solchem, <strong>die</strong>se Problematik<br />

ist <strong>die</strong>jenige der ersten <strong>Philosophie</strong>, d.h. des <strong>Philosophie</strong>rens<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, d. h. der ursprünglichen und ganzen<br />

erkennenden Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden. Hier entscheidet<br />

sich das Schicksal der abendländischen <strong>Philosophie</strong>, sie<br />

wird zur Metaphysik, wie wir sie dann bei Kant antreffen. Für<br />

deren Geschichte wesentlich ist das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen des Christentums<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> bzw. deren Dienst für jenes. (Seele,<br />

Welt, Gott, Bergung). Diese Form der Bergung bestimmt <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>nere Gestalt des metaphysischen Problems, der Frage nach<br />

dem Seienden im Ganzen. Die Probleme s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Systematik<br />

e<strong>in</strong>gezwängt; sie leben nur noch so weit, als ihnen <strong>die</strong>ser<br />

Rahmen Raum läßt, und sie werden immer nur aus <strong>die</strong>sem<br />

heraus gestellt; endlose Abwandlungen, Programme, entwurzelt.<br />

2<br />

Auch <strong>die</strong> konkrete geschichtliche Gestalt der Geschichte der<br />

abendländischen <strong>Philosophie</strong> ist so das Dokument dafür, daß<br />

<strong>Philosophie</strong>ren, wenn wir es vom Se<strong>in</strong>sproblem her verstehen,<br />

se<strong>in</strong>er Möglichkeit nach gründet im Dase<strong>in</strong>, dessen In-der­<br />

Welt-se<strong>in</strong> primär durch Haltung bestimmt ist. Wir drücken das<br />

so aus, daß wir sagen: <strong>Philosophie</strong>ren ist Weltanschauung als<br />

Haltung. Haben wir damit jetzt <strong>die</strong> volle Antwort auf <strong>die</strong> Frage,<br />

<strong>die</strong> uns auf dem zweiten Weg leitete? Ist das Verhältnis von<br />

Weltanschauung und <strong>Philosophie</strong> durchgängig klargestellt? Alle<strong>in</strong>,<br />

er<strong>in</strong>nern wir uns wohl; denn wir wollten ja nicht fragen<br />

2 Freilich auch hier ist noch Anweisung auf ursprüngliche Problematik.<br />

Gliederung der Metaphysik; aber aus <strong>die</strong>ser selbst nicht zu entnehmen.


390 Das Problem der Weltanschauung<br />

nach dem Verhältnis zweier an sich vorgegebener Größen, sondern<br />

- durch <strong>die</strong> Wesensklärung der Weltanschauung h<strong>in</strong>durch<br />

- das <strong>Philosophie</strong>ren konkreter e<strong>in</strong>leiten und d.h. e<strong>in</strong> Verstehen<br />

desselben im Ganzen gew<strong>in</strong>nen. ~ /<br />

Auf dem ersten Weg ergab sich uns: <strong>Philosophie</strong>ren ist Stellen,<br />

Ausbilden und Bewältigung der Se<strong>in</strong>sfrage; wir haben gleichsam<br />

erfahren, was <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> abgehandelt wird. Jetzt' hören<br />

wir: <strong>Philosophie</strong>ren ist Weltanschauung als Haltung, d. h. <strong>die</strong>ses<br />

Abhandeln ist nur möglich auf dem Grunde der Weltanschauung<br />

als Haltung. Wir hören nichts darüber, von was gehandelt wird,<br />

sondern wie <strong>die</strong>ses Handeln <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vollzug möglich ist, was es<br />

<strong>in</strong> sich zu se<strong>in</strong>em . Vollzug voraussetzt, oder, wenn wir es ganz<br />

formalistisch fassen, dürfte man sagen: Auf dem ersten Weg fanden<br />

wir den »Inhalt« der <strong>Philosophie</strong>, das Se<strong>in</strong>sproblem, jetzt <strong>die</strong><br />

Form, Weltanschauung als Haltung. Wir machten also nicht Halt<br />

bei der Charakterisierung der <strong>Philosophie</strong> als Stellen der Se<strong>in</strong>sfrage.<br />

Wir gaben ihr e<strong>in</strong>e reichere Bestimmung.<br />

Alle<strong>in</strong>, davon zu schweigen, daß solche Formeln immer dem<br />

Verdacht e<strong>in</strong>er voreiligen Gewaltsamkeit unterliegen, wir dürfen<br />

nicht vergessen, daß wir sagten, <strong>die</strong> Wege sollten je für sich zum<br />

Ganzen der <strong>Philosophie</strong> führen; mith<strong>in</strong> muß auch der zweite<br />

Weg uns <strong>in</strong>haltlich sagen, was <strong>in</strong> der <strong>Philosophie</strong> geschieht. Vor<br />

allem aber haben wir schon am Ende des ersten Weges vorgreifend<br />

gesagt: <strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren.<br />

Was das sagt, sollte gerade der zweite Weg aufhellen.<br />

Inwiefern verschafft uns der zweite Weg e<strong>in</strong>en ursprünglichen<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung? Schon daß wir bei der Interpretation<br />

des Weltphänomens notwendig darauf stießen, <strong>die</strong><br />

Charakterisierung der Transzendenz, wie sie <strong>die</strong> ausschließliche<br />

Orientierung am Se<strong>in</strong>sproblem nahelegt, grundsätzlich ursprünglicher<br />

zu fassen, deutet darauf h<strong>in</strong>, daß das Se<strong>in</strong>sproblem<br />

nicht das Ganze der Problematik der <strong>Philosophie</strong> erschöpft, oder<br />

besser gesagt, daß wir das Ganze, das <strong>in</strong> ihm selbst liegt, noch<br />

nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em vollen Bestande aus ihm entrollt haben.<br />

VIERTES KAPITEL<br />

Der Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong><br />

und Weltanschauung<br />

§ 45. Se<strong>in</strong>sproblem und Weltproblem<br />

Der zweite Weg, Aufhellung des <strong>Philosophie</strong>rens im Durchgang<br />

durch e<strong>in</strong>e Wesensklärung von Weltanschauung, gibt uns selbst<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Bestimmung der <strong>Philosophie</strong>. Wir stießen dabei<br />

auf das Phänomen der Welt und machten es freilich nur so<br />

weit zum Problem, als das gefordert war durch <strong>die</strong> nächste Aufgabe.<br />

Aber schon das Wenige, das erörtert werden konnte -<br />

Spiel, Geworfenheit, ZusaIIlmenhang mit Se<strong>in</strong>sproblem -,<br />

mußte darauf h<strong>in</strong>weisen, daß hier e<strong>in</strong>e eigene und weite Problematik<br />

vorliegt, <strong>die</strong> mit dem 'Se<strong>in</strong>sproblem sich nicht deckt,<br />

aber nicht ohne <strong>in</strong>neren Zusammenhang mit ihm ist. Das Se<strong>in</strong>sproblem<br />

- <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ursprünglichkeit genommen - entrollt sich<br />

notwendig zu dem, was wir das Weltproblem nennen.<br />

Auf dem ersten Weg war es nicht möglich und nicht direkt<br />

Aufgabe, das Se<strong>in</strong>sproblem ause<strong>in</strong>anderzulegen. Nur e<strong>in</strong>ige<br />

Hauptfragen wurden gekennzerchnet. Auch bezüglich des Weltproblems<br />

kann das jetzt nur so geschehen. Zwar haben wir über<br />

das Problem der Welt schon e<strong>in</strong>iges' erfahren im Zusammenhang<br />

mit der Charakteristik des Wesens der Welt als Spiel, aber<br />

wir wollen es jetzt von e<strong>in</strong>em Zusammenhang her sichtbar machen,<br />

der zugleich andeuten soll, wie sich das Se<strong>in</strong>sproblem<br />

selbst zum Weltproblem entrollt und mit <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong> Ganzes ist.


392 Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

a) Die Se<strong>in</strong>sfrage als Frage nach dem Grund<br />

und das Weltproblem<br />

)<br />

Bei der Kennzeichnung der Se<strong>in</strong>sfrage stießen wir auf das Problem<br />

des Unterschieds von Seiendem und Se<strong>in</strong> überhaupt<br />

(ontologische Differenz). Wir sagten: Der Unterschied geschieht<br />

und bricht auf im Unterscheiden, und <strong>die</strong>ses ist das<br />

Transzen<strong>die</strong>ren selbst. In <strong>die</strong>ser Gestalt ließen wir das, Problem<br />

auf sich beruhen, obzwar nun e<strong>in</strong>e ganz wesentliche Frage h<strong>in</strong>ter<br />

ihm steht. Besonderes Gewicht legten wir darauf, daß im<br />

Verhalten zum Seienden im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> verstanden ist.<br />

»Se<strong>in</strong>« ist aber selbst nichts Seiendes, obwohl wir nicht umh<strong>in</strong><br />

können, sogar bei <strong>die</strong>ser Aussage zu sagen: Se<strong>in</strong> »ist« nichts<br />

Seiendes. Wir deuteten auch schon an: Wenn Se<strong>in</strong> nichts Seiendes<br />

ist, ist es dann am Ende das Nichts? In gewisser Weise ja,<br />

wenn »Nichts« nicht das nihil absolutum, das schlechth<strong>in</strong>nige<br />

Nichts besagt, sondern soviel heißt wie Nicht-Seiendes.<br />

Wenn das Seiende zwar ist, aber nicht das Se<strong>in</strong>, was »ist« dann<br />

mit ihm? Wie kann man dann nach ihm fragen, überhaupt Se<strong>in</strong><br />

zum Problem machen? So stellt das Se<strong>in</strong> als solches uns e<strong>in</strong>e<br />

ganz eigentümliche~Frage, <strong>die</strong> mit den Kern des Se<strong>in</strong>sproblems<br />

ausmacht, aber so, daß sich <strong>die</strong>ses dabei zum Weltproblem entrollt.<br />

Die Frage, wie es um das Se<strong>in</strong> als solches bestellt sei, hat<br />

nun dar<strong>in</strong> ihre besondere Schärfe, daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Frage zugleich<br />

auch und zuvor gefragt werden muß, wie hier überhaupt noch<br />

gefragt werden könne. Hier zeigt sich: Wenn wir dem Se<strong>in</strong> selbst<br />

nachfragen, fragen wir nach dem Grund. Dem Se<strong>in</strong> nachfragen<br />

heißt »gründen«. Das Problem des Grundes ist <strong>in</strong> der traditionellen<br />

<strong>Philosophie</strong> nur als Satz vom Grunde bekannt, dessen<br />

zweideutige Stellung <strong>in</strong>nerhalb der Logik und Metaphysik bekannt<br />

ist. Hier aber handelt es sich um das Wesen des Grundes,<br />

um <strong>die</strong> Frage, wie so etwas wie Grund mit der Transzendenz<br />

zusammenhängt und <strong>in</strong>wiefern das In-der-Welt-se<strong>in</strong> als, solches<br />

auf Gründe bezogen ist.<br />

Es gilt daher, zunächst ause<strong>in</strong>anderzulegen das Wesen des<br />

§ 45. Se<strong>in</strong>sproblem und Weltproblem 393<br />

Grundes überhaupt und <strong>die</strong> ursprünglichen Weisen des Gründens.<br />

Damit aber stoßen wir erneut auf das Problem der Welt,<br />

und es muß sich zeigen, <strong>in</strong> welchen wesenhaften Formen des<br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong>s <strong>die</strong> Transzendenz e<strong>in</strong> Gründen ist. Damit aber<br />

wird gewonnen der Ursprung für <strong>die</strong> Möglichkeit der Frage<br />

überhaupt, <strong>die</strong> Möglichkeit des Warum? Das Warum ist aber<br />

nicht e<strong>in</strong>e freischwebende Form des Fragens überhaupt, sondern<br />

mit zum Wesen der Transzendenz, des In-der-Welt-se<strong>in</strong>s<br />

gehörig. Wenn der Grund und <strong>die</strong> Frage nach dem Warum aber<br />

zum Wesen der Transzendenz gehört, dann liegt es im Transzen<strong>die</strong>ren<br />

selbst, nach dem Warum zu fragen. Das Transzen<strong>die</strong>ren<br />

ist aber immer, sofern es durch <strong>die</strong> Haltung bestimmt ist, e<strong>in</strong>e<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Seienden im Ganzen. So ist <strong>die</strong><br />

ursprüngliche Form der Frage nach dem Warum im Verständnis<br />

von Se<strong>in</strong> (des Nichts): Warum ist überhaupt Seiendes und nicht<br />

nichts?<br />

Wenn aber Seiendes ist und das gesagt wird, dann ist damit<br />

Seiendes offenbar. Was muß aber se<strong>in</strong>, daß Seiendes offenbar<br />

werden kann? Es muß das Nichts geben. Was muß se<strong>in</strong>, daß es<br />

das Nichts gibt? Die Welt oder <strong>die</strong> Transzendenz. Mit dem Problem<br />

des Grundes ist verwachsen <strong>die</strong>ses Problem des Nichts, das<br />

sich dann konzentriert auf <strong>die</strong> Frage, was das heißt, daß überhaupt<br />

so etwas geschieht wie der E<strong>in</strong>bruch des Dase<strong>in</strong>s, der<br />

Transzendenz <strong>in</strong> das Seiende, dergestalt, daß jetzt erst Seiendes<br />

an ihm selbst offenbar werden kann und es je als Ganzes ist.<br />

In e<strong>in</strong>s mit <strong>die</strong>ser Frage nach dem Seienden und se<strong>in</strong>em<br />

Grund stellt sich <strong>die</strong> Frage nach den Grundmächten des Seienden,<br />

nach dem Walten der Natur im Geschehen der Geschichte.<br />

Hier handelt es sich nicht je um <strong>die</strong> Region Natur und <strong>die</strong><br />

Region Geschichte im spezifisch ontologischen S<strong>in</strong>ne, sondern<br />

um das Se<strong>in</strong> der Natur im Geschehen der Geschichte, um den<br />

<strong>in</strong>neren Zusammenhang der Grundmächte des Se<strong>in</strong>s selbst. Wie<br />

ist so etwas wie Natur im Ganzen des Seienden, das zugleich<br />

geschichtlich ist? Was heißt es, daß im Seienden dergleichen wie<br />

Zeit sich zeitigt und Raum sich ausbreitet? All <strong>die</strong>se Fragen, das


394 Zusammenhang von PhilosophLe und Weltanschauung<br />

Problem des Grundes und d.h. der Freiheit, das Problem des<br />

Nichts, des E<strong>in</strong>bruchs der Transzendenz <strong>in</strong> das Seiende, das<br />

Seiende im Ganzen nach se<strong>in</strong>en wesentlichen, je das Ganze<br />

durchwaltenden Mächten (nicht Regionen), konzentrieren sich<br />

<strong>in</strong> dem, was wir das Weltproblem nennen.<br />

In der Ordnung des Ansatzes und der Durchführung der Problematik<br />

läßt sich das Weltproblem nur stellen <strong>in</strong> der Weise, daß<br />

es dazu gebracht wird, sich aus dem Se<strong>in</strong>sproblem zu entrollen.<br />

Das heißt aber: Das Se<strong>in</strong>sproblem bedarf zwar e<strong>in</strong>er konkreten<br />

Begründung und Ausarbeitung se<strong>in</strong>er Möglichkeit; das Weltproblem<br />

kann aber nicht e<strong>in</strong>fach daran angestückt werden,<br />

sondern <strong>in</strong> der Fundamentalbetrachtung des Se<strong>in</strong>sproblems<br />

muß sich schon der Horizont bilden, <strong>in</strong> den h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> das Weltproblem<br />

sich soll entrollen können. Die Probleme, <strong>die</strong> sich im<br />

Weltproblem konzentrieren, s<strong>in</strong>d alle, ebenso wie das Se<strong>in</strong>sproblem,<br />

<strong>in</strong> gewisser Weise bekannt und <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er verbogenen,<br />

mißgestalteten Form schon aufgetaucht, wo philosophiert wird.<br />

Gleichwohl muß gesagt werden, daß wir bis jetzt bezüglich<br />

des Weltproblems noch völlig im Dunkeln tappen, nicht etwa<br />

nur im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Antworten, sondern vor allem h<strong>in</strong>sichtlich<br />

der spezifischen Struktur der Problematik, <strong>die</strong> es fordert.<br />

Das gilt freilich auch vom Se<strong>in</strong>sproblem, wenngleich <strong>die</strong> Tradition<br />

hier mehr Anweisungen und Er<strong>in</strong>nerungen gibt. Daß das<br />

Se<strong>in</strong>sproblem geschichtlich bekannter ist, ist zugleich e<strong>in</strong> Anzeichen<br />

dafür, daß es dem Weltproblem vorangeht, so zwar, daß<br />

<strong>die</strong>ses immer schon mit da ist. Das Weltproblem se<strong>in</strong>erseits läßt<br />

sich, e<strong>in</strong>mal entrollt, nicht isolieren, sondern es bohrt sich nun<br />

se<strong>in</strong>erseits wieder rückläufig gleichsam e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Konstruktion<br />

des Se<strong>in</strong>sproblems. Se<strong>in</strong>sproblem entrollt sich zum Weltproblem,<br />

Weltproblem bohrt sich zurück <strong>in</strong> das Se<strong>in</strong>sproblem, - das<br />

sagt, beide machen <strong>die</strong> <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>heitliche Problematik der<br />

<strong>Philosophie</strong> aus.<br />

§ 45. Se<strong>in</strong>sproblem und Weltproblem 395<br />

b) Im Se<strong>in</strong>s- und Weltproblem br<strong>in</strong>gt sich <strong>die</strong> Transzendenz<br />

zur begrifflichen Ausarbeitung<br />

Was da als e<strong>in</strong>heitliche Problematik des Se<strong>in</strong>s- und Weltproblems<br />

aufbricht, ist das Problem der Transzendenz. Der zweite<br />

Weg führt demnach gleichfalls zu e<strong>in</strong>em konkreten <strong>in</strong>haltlichen<br />

Verständnis der Problematik der <strong>Philosophie</strong> selbst und betrifft<br />

nicht nur <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das formale Verhältnis von <strong>Philosophie</strong><br />

und Weltanschauung. Das wahre Verständnis der <strong>Philosophie</strong><br />

aber macht nun auch deutlicher, was es besagt: <strong>Philosophie</strong>ren<br />

ist ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren. Im Se<strong>in</strong>s- und Weltproblem<br />

br<strong>in</strong>gt sich <strong>die</strong> Transzendenz zur begrifflichen Ausarbeitung.<br />

Aber das besagt nun nicht: Im <strong>Philosophie</strong>ren wird <strong>die</strong> Transzendenz<br />

eigens Thema, so wie e<strong>in</strong>e Wissenschaft e<strong>in</strong> bestimmtes<br />

vorliegendes Gebiet, etwa <strong>die</strong> Pflanzen, zum Gegenstand der<br />

Erforschung macht. Wir sagen nicht; <strong>Philosophie</strong>ren ist Erforschung<br />

der Transzendenz, sondern: <strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrückliches<br />

Transzen<strong>die</strong>ren. Die Ausarbeitung des Se<strong>in</strong>s- und Weltproblems<br />

beschreibt nicht <strong>die</strong> Transzendenz als irgend etwas<br />

Vorhandenes; sie beschreibt nicht, weil sie nicht beschreiben<br />

kann und kann es nicht, weil Transzendenz sich nicht beschreiben<br />

läßt, sofern <strong>die</strong> Transzendenz nichts ist, was vorliegen<br />

könnte wie e<strong>in</strong> Gegenstand der Wissenschaft.<br />

Die begriffliche Ausarbeitung der Transzendenz ist e<strong>in</strong> verstehendes<br />

Ausbilden des Transzen<strong>die</strong>rens selbst, ist <strong>in</strong> sich<br />

Vollzug des Transzen<strong>die</strong>rens, und zwar e<strong>in</strong> solcher ureigener Art.<br />

Denn Transzendenz geschieht <strong>in</strong> jedem Dase<strong>in</strong> als solchem.<br />

Hier aber handelt es sich wn e<strong>in</strong> Geschehenlassen der Transzendenz<br />

aus und <strong>in</strong> ihrem Grunde. Sie soll »sich zeigen«, nicht<br />

wie e<strong>in</strong> vorhandenes beschreibbal1es Gemälde, sondern <strong>die</strong><br />

Transzendenz zum Phänomen, zum Sichzeigen br<strong>in</strong>gen, heißt,<br />

sie sich allererst im Grunde ihres Wesens bilden lassen.<br />

Das ist der eigentliche philosophisch-transzendentale Begriff<br />

des Phänomens. Es ist e<strong>in</strong>e Oberflächlichkeit, wenn man mit<br />

Bezug auf <strong>die</strong> Erörterungen <strong>in</strong> »Se<strong>in</strong> und Zeit« und das dort


396 Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

über das Phänomen Dargelegte sagt, das Phänomen, sei im<br />

Grunde auch wie <strong>die</strong> Sachen und <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge. Es ist deshalb e<strong>in</strong>e<br />

Oberflächlichkeit, weil der Paragraph, der dort den Begriff des<br />

Phänomens und der Phänomenologie entwickelt, ausdrücklich<br />

überschrieben ist: Der »Vorbegriff« der Phänomenologie, und<br />

weil später e<strong>in</strong>e große Abhandlung über Verstehen als Grundbestimmung<br />

der Transzendenz folgt. Der <strong>in</strong>nere Gehalt <strong>in</strong> der<br />

zentralen Bedeutung des Verstehens als Entwurf liegt dar<strong>in</strong>, daß<br />

das ursprüngliche Verstehen der Transzendenz als Entwerfen<br />

den Charakter der Konstruktion hat. Mit anderen Worten, <strong>Philosophie</strong>ren<br />

ist se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Wesen nach Konstruktion.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren ist <strong>die</strong>ses begreifende, durch Se<strong>in</strong>s- und Weltproblem<br />

angezeigte Geschehenlassen der Transzendenz aus<br />

ihrem Grunde; <strong>Philosophie</strong>ren ist ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren.<br />

Nun ergab sich, daß das Se<strong>in</strong>sproblem selbst nur möglich ist<br />

auf dem Grunde der Weltanschauung als Haltung; denn nur e<strong>in</strong><br />

In-der-Welt-se<strong>in</strong>, das von Grund aus sich bestimmt als Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Seienden im Ganzen, kann und muß <strong>die</strong><br />

Se<strong>in</strong>sfrage stellen. Zugleich sahen wir: Das Se<strong>in</strong>sproblem entrollt<br />

sich zum Weltproblem. Daran wird nun erst recht offenkundig,<br />

daß solche Problematik der Welt selbst nur da möglich<br />

ist, wo das In-der-Welt-se<strong>in</strong> als solches, das Dase<strong>in</strong> selbst, sich<br />

selbst <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung mit e<strong>in</strong>bezieht, d. h. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Se<strong>in</strong> ausdrücklich wird.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren als E<strong>in</strong>heit der Problematik von Se<strong>in</strong> und<br />

Welt, als ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren, geschieht nur auf dem<br />

Grunde der Weltanschauung als Haltung. <strong>Philosophie</strong>ren ist<br />

Weltanschauung als Haltung. Aber wir müssen nach dem jetzt<br />

Gewonnenen noch wesentlich mehr sagen: Das <strong>Philosophie</strong>ren<br />

als ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren ist e<strong>in</strong> Geschehenlassen der<br />

Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s aus ihrem Grunde, d.h. im <strong>Philosophie</strong>ren<br />

geschieht <strong>die</strong> ursprünglichste mögliche Haltung.<br />

§ 46. <strong>Philosophie</strong> als Grund-haltung:<br />

Geschehenlassen der Transzendenz aus ihrem Grunde<br />

<strong>Philosophie</strong>ren ist nicht e<strong>in</strong>e Weltanschauung als Haltung unter<br />

anderen, sondern sie ist <strong>die</strong> Grund-haltung schlechth<strong>in</strong>. Erst im<br />

ausdrücklichen Geschehenlassen der Transzendenz, im Aufbrechen<br />

der <strong>in</strong>neren Weite und Ursprünglichkeit derselben öffnen<br />

sich <strong>die</strong> konkreten Möglichkeiten der Haltung. Diese konkreten<br />

Möglichkeiten aber bestimmen sich nicht auf dem Wege der<br />

<strong>Philosophie</strong>, sondern aus dem jeweiligen Dase<strong>in</strong> selbst. Gerade<br />

weil aber <strong>Philosophie</strong>ren als ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren<br />

Grund-haltung ist, ist es nicht ihr Wesen und ihre Aufgabe, e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Haltung auszubilden, um sie als maßgebend zu verkünden<br />

oder gar verme<strong>in</strong>tlich <strong>in</strong> <strong>die</strong> anderen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zupflanzen.<br />

Je re<strong>in</strong>er sie sich selbst versteht, je re<strong>in</strong>er ihr nur liegt am Geschehenlassen<br />

der Transzendenz- aus ihrem Grunde, um so<br />

re<strong>in</strong>er und unmittelbarer genügt sie dem, was sie mit Rücksicht<br />

auf faKtische Weltanschauungs bildung alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong> kann, für <strong>die</strong><br />

je faktisch existierenden Menschen Veranlassung zu se<strong>in</strong> für das<br />

Aufbrechen der Möglichkeiten e<strong>in</strong>er Haltung <strong>in</strong> ihnen. Je ursprünglicher<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> philosophiert, also e<strong>in</strong> Geschehenlassen<br />

der Transzendenz ist, um so freier und unverb<strong>in</strong>dlicher ist<br />

sie Mitgeschehenlassen je e<strong>in</strong>er Haltung im Dase<strong>in</strong> des anderen.<br />

Denn das philosophische Dase<strong>in</strong> ist se<strong>in</strong>em Wesen nach<br />

Mitse<strong>in</strong> mit anderen. Je unverb<strong>in</strong>dlicher aber <strong>in</strong> sich <strong>die</strong> Grundhaltung<br />

ist, um so erweckender kann ihr Geschehen se<strong>in</strong>.<br />

e Daraus wird das Verhältnis von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

erst vollends deutlich: <strong>Philosophie</strong> ist Grund-haltung<br />

heißt 1. nur <strong>in</strong> der Weltanschauung als Haltung ist <strong>Philosophie</strong>ren<br />

möglich; 2. das <strong>Philosophie</strong>ren selbst bildet <strong>in</strong> der gekennzeichneten<br />

Weise »<strong>die</strong> Voraussetzungen« der Möglichkeiten der<br />

konkreten Weltanschauung als Haltung aus; 3. es ist selbst aber<br />

weder e<strong>in</strong> exemplarischer thematischer Aufbau e<strong>in</strong>er Weltanschauung,<br />

noch gar <strong>die</strong> Verkündigung e<strong>in</strong>er solchen, sondern<br />

Geschehenlassen der Transzendenz aus ihrem Grunde. Philoso-


398 Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

phieren heißt gerade Ausbilden derjenigen Transzendenz des<br />

Dase<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> wir Freiheit nennen, <strong>in</strong> der alles Wesentliche auf<br />

Freiheit gestellt ist. Das Wesen der <strong>Philosophie</strong> besteht dar<strong>in</strong>,<br />

daß sie den E<strong>in</strong>bruchsspielraum ausbildet für das konkrete geschichtliche,<br />

durch Haltung bestimmte Dase<strong>in</strong>; damit ist sie<br />

aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursprünglichen und gen auen S<strong>in</strong>ne zukünftig. So<br />

wie der Mythos für <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e wesentliche Er<strong>in</strong>nerung<br />

ist, so ist <strong>die</strong> Zukunft ihre eigentliche Kraft, alle Gegenwart<br />

aber nur <strong>die</strong> Spitze des Augenblicks, der se<strong>in</strong>e Macht und<br />

se<strong>in</strong>en Reichtum aus zukünftiger Er<strong>in</strong>nerung nimmt. Es ist wesentlich,<br />

daß <strong>die</strong> Gegenwart alle<strong>in</strong> für sich gegen sich bl<strong>in</strong>d ist<br />

und daher me<strong>in</strong>t, sie alle<strong>in</strong> sei das Wirkliche, wo sie es gerade<br />

nicht ist. /<br />

Das Verhältnis von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung war<br />

zwar allseitig zu klären, aber es ist viel zu reich und verwickelt,<br />

als daß es auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache, glatte Formel zu br<strong>in</strong>gen wäre. In<br />

jedem Falle kommen <strong>die</strong> vulgären Vorstellungen <strong>die</strong>ses Verhältnisses<br />

und <strong>die</strong> aus solchen Vorstellungen erwachsenden Fragen<br />

und Wünsche nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Sphäre des Wesentlichen.<br />

E<strong>in</strong>s wird aber klar, daß <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong> betontes Verhältnis<br />

zur Weltanschauung als Haltung hat. Aber daraus erwächst<br />

nun e<strong>in</strong>e neue Schwierigkeit, wenn wir bedenken, daß<br />

wir früher, zu Beg<strong>in</strong>n der Vorlesung, sagten: Das Dase<strong>in</strong> als<br />

solches philosophiert; <strong>Philosophie</strong>ren gehört zum Dase<strong>in</strong>, sofern<br />

es existiert. Nun sagen wir aber: <strong>Philosophie</strong>ren ist nur möglich<br />

auf dem Grunde der Weltanschauung als Haltung, also nur <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Grundform der Weltanschauung, mith<strong>in</strong> nicht <strong>in</strong> dem<br />

Dase<strong>in</strong>, dessen In-der-Welt-se<strong>in</strong> primär als Bergung bestimmt<br />

ist.<br />

Bevor wir auf unsere E<strong>in</strong>gangsthese zum Schluß e<strong>in</strong>gehen,<br />

muß kurz auf das Verhältnis der <strong>Philosophie</strong> als Grundhaltung<br />

zum Dase<strong>in</strong> als Bergung h<strong>in</strong>gewiesen werden. Schon <strong>die</strong> Interpretation<br />

<strong>die</strong>ser beiden Grundmöglichkeiten zeigte, daß Haltung<br />

aus Bergung entsteht, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wesens geschichtlichen<br />

Zusammenhang mit ihr steht und immer bleibt. Das besagt:<br />

§ 46. <strong>Philosophie</strong> als Grund-haltung 399<br />

E<strong>in</strong>erseits ist <strong>die</strong> Bergung, das mythische Dase<strong>in</strong> als das vorphilosophische<br />

im strengen S<strong>in</strong>ne, wesensnotwendig bleibende<br />

Er<strong>in</strong>nerung der <strong>Philosophie</strong> als Grundhaltung; gerade weil <strong>die</strong>se<br />

<strong>in</strong> sich etwas anderes ist auf Grund e<strong>in</strong>er Geschichte, bleibt<br />

<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> auf den Mythos zurückbezogen. Was das heißt<br />

im e<strong>in</strong>zelnen, ist hier nicht zu erörtern.<br />

, Andererseits aber ist <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als Grundhaltung notwendig<br />

für jede Weltanschauung als Bergung e<strong>in</strong> Ärgernis. Man<br />

darf <strong>die</strong>ses Verhältnis weder verschleiern noch abschwächen;<br />

versucht man es, dann versteht man weder sich selbst als <strong>in</strong> der<br />

Bergung existierend, noch versteht man <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>. Nur<br />

wenn <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> als Grundhaltung für <strong>die</strong> Weltanschauung<br />

als Bergung zum wirklichen Ärgernis und Ste<strong>in</strong> des Anstoßes<br />

wird, nur dann kommt <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Lage, <strong>in</strong> der<br />

unverb<strong>in</strong>dlichen, freien Weise der Veranlassung selbst der Bergung<br />

e<strong>in</strong>en Dienst zu erweisen, und sei es nur den, daß sie sich<br />

dessen er<strong>in</strong>nert, auf e<strong>in</strong>em wesenhaft Anderen den Halt zu haben<br />

als jede Haltung. Wie steht, eS nun aber angesichts der<br />

genaueren Klärung des Wesens des <strong>Philosophie</strong>rens um <strong>die</strong> E<strong>in</strong>gangsthese,<br />

daß zum Dase<strong>in</strong> als solchem <strong>Philosophie</strong>ren gehört?<br />

Müssen wir <strong>die</strong>se These jetzt nicht zurücknehmen, wenn anders<br />

<strong>Philosophie</strong>ren nur als Haltung möglich ist? In der Tat, wir<br />

müssen <strong>die</strong> These zurücknehmen; sie wurde ausgesprochen, damit<br />

wir sie ausdrücklich jetzt zurücknehmen können. Denn <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem ausdrücklichen Zurücknehmen sehen wir etwas Wesentliches:<br />

daß der <strong>Philosophie</strong>rende sich ausdrücklich <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

durch Haltung bestimmte Existenzweise verlegen muß, daß das<br />

<strong>Philosophie</strong>ren nicht nur so im allgeme<strong>in</strong>en irgendwo unbestimmt<br />

oder an sich passiert. Wenn wir am Anfang so dah<strong>in</strong><br />

sagten, <strong>Philosophie</strong>ren gehört zum Dase<strong>in</strong>, so haben wir dabei<br />

vergessen, daß wir im Grunde unser durch Haltung jedenfalls<br />

mitbestimmtes Dase<strong>in</strong> me<strong>in</strong>ten.<br />

Wir sagen: Zum Wesen des <strong>Philosophie</strong>rens gehört der ausdrückliche<br />

E<strong>in</strong>sprung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Weltanschauung als Haltung und<br />

nur so <strong>die</strong> Möglichkeit des Geschehenlassens der Transzendenz


400 Zusammenhang von <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung<br />

aus dem Grunde. Dieser E<strong>in</strong>sprung des <strong>Philosophie</strong>rens <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Transzendenz aus dem Grunde ist aber notwendig der E<strong>in</strong>sprung<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> eigene Geschichtlichkeit. Je geschichtlicher und<br />

ursprünglicher das philosophierende Dase<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e konkrete<br />

Transzendenz gew<strong>in</strong>nt, umso wesentlicher wird es. Das ist es an<br />

der <strong>Philosophie</strong>, was der vulgäre Verstand - und wenn er gar<br />

noch <strong>Philosophie</strong> zur Wissenschaft degra<strong>die</strong>rt - am wenigsten<br />

begreift, daß mit der Ausbildung der höchsten und allgeme<strong>in</strong>sten<br />

Probleme wie Se<strong>in</strong> und Welt notwendig zusammengehen<br />

soll der E<strong>in</strong>sprung <strong>in</strong> <strong>die</strong> konkrete geschichtliche Lage.<br />

In e<strong>in</strong>s aber geht der E<strong>in</strong>sprung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Leidenschaft des Begriffes,<br />

der Konstruktio~ der Transzendenz, Ursprünglichkeit<br />

und Strenge der Erkenntnis, wie sie Wissenschaft nie haben<br />

kann. Für <strong>die</strong> Wissenschaft der <strong>Philosophie</strong> kämpfen, heißt<br />

nicht nur sich selbst als verme<strong>in</strong>tlichen Philosophen mißverstehen,<br />

sondern <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> selbst degra<strong>die</strong>ren, damit aber das<br />

Dase<strong>in</strong> selbst um e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er höchsten Möglichkeiten berauben<br />

und an deren Stelle e<strong>in</strong> Hirngesp<strong>in</strong>st setzen.<br />

Daß wir <strong>die</strong>sen Wesenscharakter der <strong>Philosophie</strong> so wenig<br />

begreifen, hängt nicht nur daran, daß <strong>die</strong> Problematik von Se<strong>in</strong><br />

und Welt nicht h<strong>in</strong>reichend geklärt ist, sondern daß wir nicht<br />

sehen, daß es sich hier bei <strong>die</strong>ser Frage ganz und gar nicht um<br />

e<strong>in</strong>e private und persönliche Angelegenheit der Philosophen<br />

handelt, sondern um nichts Ger<strong>in</strong>geres als um das Problem der<br />

Wahrheit der <strong>Philosophie</strong>.<br />

Es ist aber e<strong>in</strong>leuchtend, daß <strong>die</strong>ses Problem erst konkret<br />

erwachsen kann aus dem Se<strong>in</strong>s- und Weltproblem <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>heit.<br />

Dieses Problem der Wahrheit aber ist das Wahrheitsproblem<br />

im Ganzen, d.h. <strong>die</strong> Frage der Wesenszugehörigkeit von<br />

Wahrheit zur Transzendenz. (Erst auf dem Grunde <strong>die</strong>ses ursprünglichen<br />

Wahrheitsproblems stellt sich <strong>die</strong> Frage nach<br />

wissenschaftlicher Wahrheit und wird e<strong>in</strong>e philosophische Auslegung<br />

der Wissenschaft möglich).<br />

Das Wahrheitsproblem <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser ursprünglichen Weite sollte<br />

uns auf dem dritten Wege erwachsen. Was geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als Logik<br />

§ 46. <strong>Philosophie</strong> als Grund-haltung 401<br />

behandelt wird, hat hier se<strong>in</strong>e Stelle, auch <strong>die</strong> mythische Wahrheit<br />

als Gött<strong>in</strong> (vgl. oben S. 385). Es wäre zu zeigen, daß jedes<br />

<strong>die</strong>ser Probleme, das Se<strong>in</strong>sproblem, das Weltproblem und das<br />

Wahrheitsproblem, das Ganze der <strong>Philosophie</strong> ausmacht und<br />

daß es e<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerer Verderb der <strong>Philosophie</strong> ist, wenn man sie an<br />

fest ausgeformten überlieferten Diszipl<strong>in</strong>en orientiert und aus<br />

<strong>die</strong>sen <strong>die</strong> Probleme sich vorgeben läßt, statt <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Notwendigkeit<br />

der Architektonik der <strong>Philosophie</strong> aus dem <strong>in</strong>neren<br />

Gehalt ihrer Grundproblematik zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Die beiden Wege, <strong>die</strong> wir gegangen s<strong>in</strong>d, sollten uns dazu<br />

verhelfen, das Wesen der <strong>Philosophie</strong> aufzuhellen, und zwar mit<br />

Rücksicht auf <strong>die</strong> zwei Mächte, <strong>die</strong> unser Dase<strong>in</strong> an der Universität<br />

bestimmen, ob wir es wollen oder nicht, Wissenschaft<br />

und Führerschaft bzw. Weltanschauung.<br />

Wissenschaft ist nur möglich als <strong>Philosophie</strong>; <strong>die</strong>se aber als<br />

ausdrückliches Transzen<strong>die</strong>ren - Grundhaltung - gibt <strong>die</strong> ursprüngliche<br />

Möglichkeit der Veranlassung, das je eigene Inder-Welt-se<strong>in</strong><br />

nach se<strong>in</strong>em Halt und se<strong>in</strong>er Haltung zu befragen.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren als Geschehenlassen der Transzendenz ist<br />

<strong>die</strong> Befreiung des Dase<strong>in</strong>s. Befreit wird <strong>die</strong> Freiheit desselben,<br />

und Freiheit ist nur <strong>in</strong> der Befreiung.<br />

Im Geschehenlassen der Transzendenz als <strong>Philosophie</strong>ren<br />

liegt <strong>die</strong> ursprüngliche Gelassenheit des Dase<strong>in</strong>s (vgl. oben:<br />

Se<strong>in</strong>lassen), das Vertrauen des Menschen zum Da-se<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihm<br />

und zu dessen Möglichkeiten. Hieraus alle<strong>in</strong> erwächst <strong>die</strong> echte<br />

Kraft der Zuwendung zum Seienden, <strong>die</strong> alle Haltung als Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Seienden <strong>in</strong>nerlich fordert. Mit dem<br />

<strong>Philosophie</strong>ren beg<strong>in</strong>nt <strong>die</strong> Wanderung auf den Höhen des<br />

Höhenzuges der Großen. Und wenn wir uns zuweilen wundern,<br />

daß <strong>die</strong>se nicht und nicht mehr wirken, dann vergessen wir<br />

dabei, daß Großes nur auf Großes wirkt. Wenn wir das aber<br />

verstehen, dann er<strong>in</strong>nern wir uns daran, daß es unwesentlich ist,<br />

ob wir über Zeitgenossen oder andere obsiegen oder nicht, sondern<br />

daß wir uns selbst <strong>in</strong>nere Größe verschaffen müssen<br />

dadurch, daß wir unsere eigenen Grillen besiegen.


NACHWORT DER HERAUSGEBER<br />

Die hier erstmals veröffentlichte Vorlesung »<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Philosophie</strong>« hielt Mart<strong>in</strong> Heidegger vierstündig im W<strong>in</strong>tersemester<br />

1928/29 an der Universität Freiburg.<br />

Die Edition ist aus drei Vorlagen entstanden: e<strong>in</strong>er Photokopie<br />

des handschriftlichen Manuskripts von Heidegger, e<strong>in</strong>er<br />

- im großen zuverlässigen - Schreibmasch<strong>in</strong>en abschrift von<br />

Frau Hildegard Feick und e<strong>in</strong>er, von Heidegger autorisierten,<br />

Vorlesungsnachschrift von Simon Moser. In wenigen Zweifelsfällen<br />

konnte <strong>die</strong> - allerd<strong>in</strong>gs nicht vollständige - handschriftliche<br />

Mitschrift von Eugen F<strong>in</strong>k herangezogen werden.<br />

Das Manuskript der »<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>« umfaßt<br />

106 Quartblätter, <strong>die</strong> im Querformat beschrieben s<strong>in</strong>d. L<strong>in</strong>ks<br />

steht der durchlaufende Text, rechts stehen Zusätze, E<strong>in</strong>schübe,<br />

Verweise, <strong>die</strong> zum Teil vermutlich nach Abhaltung der Vorlesung<br />

geschrieben worden s<strong>in</strong>d. Zwischen den numerierten<br />

Seiten f<strong>in</strong>den sich zahlreiche Blätter, <strong>die</strong> Ergänzungen, Zusammenfassungen<br />

oder Rekapitulationen enthalten. E<strong>in</strong> Beilagenheft<br />

mit Notizzetteln ergänzt <strong>die</strong> Unterlagen für <strong>die</strong> Edition.<br />

Aufgabe der Herausgeber war es, aus den divergierenden<br />

Vorlagen unter E<strong>in</strong>beziehung der separaten Notizen e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen<br />

Text zu erstellen. Während das Manuskript von<br />

Heidegger <strong>in</strong> knappem, konzentriertem Stil abgefaßt ist und<br />

über Passagen h<strong>in</strong> nur aus Stichworten besteht, ist <strong>die</strong> Vorlesungsnachschrift<br />

ausführlicher und reichhaltiger. Aus ihr geht<br />

hervor, wie Heidegger sich um Erläuterung se<strong>in</strong>es Denkens<br />

bemüht hat.<br />

So ließ es sich nicht ganz vermeiden, daß der Text <strong>die</strong>ser<br />

Ausgabe verschiedene Stilmomente aufweist, je nachdem ob er<br />

<strong>die</strong> ursprüngliche Heideggersche Diktion des Manuskripts zur<br />

Grundlage hat oder aber den weiter ausholenden mündlichen<br />

Vortrag, wie er <strong>in</strong> der Nachschrift erhalten ist. Auf sie wurde


404 Nachwort der Herausgeber<br />

dann zurückgegriffen, wenn das Manuskript nur aus Stichwor- ~<br />

ten besteht, oder wenn dort Gedanken entwickelt werden, <strong>die</strong><br />

nicht im Manuskript enthalten s<strong>in</strong>d.<br />

Heidegger hatte <strong>die</strong> »<strong>E<strong>in</strong>leitung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>« <strong>in</strong> drei<br />

Abschnitte - »Sta<strong>die</strong>n« bzw. »Wege« - gegliedert: <strong>Philosophie</strong><br />

und Wissenschaft, <strong>Philosophie</strong> und Weltanschauung, <strong>Philosophie</strong><br />

und Geschichte. Der zweite Abschnitt gewann an Umfang<br />

durch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Erörterung des Weltbegriffs von Kant,<br />

von der aber mehr als zwanzig Seiten nicht vorgetragen wurden.<br />

Der dritte Abschnitt \am nicht zur Ausführung.<br />

Gemäß Heideggers Leitsätzen für <strong>die</strong> Edition se<strong>in</strong>er Vorlesungen<br />

wurde e<strong>in</strong>e detaillierte Gliederung des Textes (vorgenommen,<br />

<strong>die</strong> sich im Inhaltsverzeichnis spiegelt. Abgesehen<br />

von der oben erwähnten Auf teilung der Vorlesung stammen <strong>die</strong><br />

Überschriften von den Herausgebern. Die Zeichensetzung wurde<br />

den derzeit geltenden Regeln angepaßt. Die Zitate sowie<br />

Literaturangaben wurden verifiziert bzw. vervollständigt.<br />

Me<strong>in</strong> herzlicher Dank gilt Herrn Dr. Hermann Heidegger,<br />

Herrn Professor Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann und vor<br />

allem Herrn Dr. Hartmut Tietjen für bereitwillige Unterstützung<br />

und Beratung. Besonders danke ich den Mitarbeitern des<br />

Studium generale der Universität Ma<strong>in</strong>z für ihre ausdauernde<br />

Hilfe. Ferner sei Herrn cand. phil. Peter von Ruckteschell für<br />

sorgsame Korrekturarbeit gedankt.<br />

Ma<strong>in</strong>z, im Juli 1996<br />

Ina Saame~Speidel

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