Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe
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88 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />
Erfassen von Vorhandenem, jetzt um das Erfassen von Dase<strong>in</strong>.<br />
Dase<strong>in</strong> muß zuvor schon für Dase<strong>in</strong> offenbar se<strong>in</strong>, damit gegenseitiges<br />
Erfassen möglich wird. Trifft <strong>die</strong>ses Für-e<strong>in</strong>anderoffenbarse<strong>in</strong><br />
von Dase<strong>in</strong> und Dase<strong>in</strong> das Wesen des Mite<strong>in</strong>ander<br />
oder gehört es gar ·nicht wesentlich zum Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>? Jedenfalls<br />
müssen wir versuchen, <strong>in</strong> der Orientierung an <strong>die</strong>sem<br />
Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> das Mite<strong>in</strong>ander zu erörtern.<br />
Wenn das Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> sich nicht deckt mit<br />
dem gegenseitigen Erfassen, dann fallen von vornhere<strong>in</strong> alle<br />
Weisen des Erfassens als nicht h<strong>in</strong>reichend zur Aufklärung des<br />
Mite<strong>in</strong>ander aus. Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong> besteht also nicht<br />
dar<strong>in</strong>, daß ich den Anderen - und umgekehrt der Andere mich -<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em sogenannten Innenleben kenne, daß ich weiß, was <strong>in</strong><br />
ihm vorgeht, was er für Anlagen, Eigentümlichkeiten und Grillen<br />
hat; es besteht dann auch ebensowenig im Erfassen der<br />
äußeren Ausstattung oder des Benehmens. Wenn das Für-e<strong>in</strong>ander-offenbar-se<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weisung enthalten soll auf das<br />
Wesen des Mite<strong>in</strong>ander, dann werden wir es am Ende dort antreffen,<br />
wo wir e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander feststellten, z.B. im H<strong>in</strong>genommense<strong>in</strong><br />
der beiden Wanderer von dem Anblick. Hier waltet<br />
gerade e<strong>in</strong> gegenseitiges sich-nicht-Erfassen und doch e<strong>in</strong> eigentümliches<br />
Mit-dem-Anderen. Das »Mit« deutet auf Geme<strong>in</strong>samkeit.<br />
Das Geme<strong>in</strong>schaftliche liegt dar<strong>in</strong>, daß der e<strong>in</strong>e<br />
ebenso h<strong>in</strong>gerissen ist wie der andere, daß von beiden geme<strong>in</strong>sam<br />
das Gleiche gilt. So wie der e<strong>in</strong>e verhält sich auch der<br />
andere. Besteht also das Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> beider dar<strong>in</strong>, daß beide<br />
sich <strong>in</strong> gleicher Weise verhalten und verhalten können? Aber<br />
das gilt doch auch von den beiden Felsblöcken. Was an dem<br />
e<strong>in</strong>en möglich ist, kann auch am anderen vor sich gehen. Ja,<br />
<strong>die</strong>se D<strong>in</strong>ge gleichen sich <strong>in</strong> der Art, wie sie s<strong>in</strong>d, viel mehr als<br />
<strong>die</strong> Menschen. Obwohl beide <strong>in</strong> gleicher Weise s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d sie<br />
doch ganz und gar nicht mite<strong>in</strong>ander.<br />
§ 1 J. Semsart und Offenbarkeit 89<br />
b) Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong>: Sichverhalten mehrerer zu Selbigem<br />
Aber bei den Menschen handelt es sich um e<strong>in</strong> gleiches Verhalten<br />
zu D<strong>in</strong>gen, wie etwa beim Anblick des Gebirges. Mite<strong>in</strong>ander<br />
d.h. <strong>in</strong> gleicher Weise se<strong>in</strong>, wobei Se<strong>in</strong> besagt: verhalten zu.<br />
MIte<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> heißt sich <strong>in</strong> gleicher Weise verhalten zu ...<br />
Gibt es überhaupt dergleichen, daß Menschen sich <strong>in</strong> gleicher<br />
VVelse zu etwas verhalten?<br />
Nehmen wir unser ständiges Beispiel: Wir alle vollziehen<br />
Jetzt - mite<strong>in</strong>ander - im Blick auf <strong>die</strong>se Kreide <strong>die</strong> Aussage:<br />
Diese' Kreide ist weiß. Dieses Aussagen ist gegründet auf unserem<br />
Se<strong>in</strong> bei <strong>die</strong>sem Vorhandenen. Dieses unser Se<strong>in</strong> bei der<br />
Kreide ,ist aber auch nur bei Zweien von uns allen nie das<br />
gleiche. Von allem übrigen abgesehen zeigt schon alle<strong>in</strong> <strong>die</strong><br />
räumliche Orientierung, <strong>in</strong> der wir je verschieden bei der Kreide<br />
s<strong>in</strong>d, daß jedes Se<strong>in</strong> bei ... jedes e<strong>in</strong>zelnen e<strong>in</strong> verschiedenes<br />
1st. Ja, noch mehr, nicht nur jetzt ist faktisch ke<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ...<br />
von uns allen das gleiche, sondern es kann nie unterschiedslos<br />
das gleiche se<strong>in</strong>, faktisch nicht und wesensmäßig nicht. Aber der<br />
Verschiedenheit der räumlichen Orientierung läßt sich abhelfen;<br />
jedes Dase<strong>in</strong> kann doch z.B. an me<strong>in</strong>e Stelle treten und <strong>die</strong><br />
Kreide von hier aus vor sich haben. Gewiß kann jeder von uns<br />
den Platz e<strong>in</strong>es anderen e<strong>in</strong>nehmen, aber doch nie zu gleicher<br />
Zelt. Der Zeitpunkt ist notwendig e<strong>in</strong> verschiedener, und wenn<br />
er der gleiche ist, dann ist notwendig der Platz verschieden.<br />
Also gibt es ke<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> bei ... und entsprechend ke<strong>in</strong> Verhalten<br />
zu ..., das gleich wäre. Hieße Mite<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> soviel wie:<br />
sich <strong>in</strong> gleicher Weise zu e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g verhalten, dann gäbe es<br />
ke<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander. Nun sagen wir doch aber mit verständlichem<br />
S<strong>in</strong>n, daß wir alle »mite<strong>in</strong>ander« uns zu der Kreide verhalten.<br />
Gleich ist also nicht unser Verhalten zu ..., sondern gleich ist<br />
das, wozu wir uns verhalten. Aber sehen wir denn <strong>in</strong> der Tat <strong>die</strong><br />
gleiche Kreide? Sieht jemand auf der h<strong>in</strong>tersten Bank e<strong>in</strong>e Kreide,<br />
<strong>die</strong> derjenigen gleich ist, <strong>die</strong> ich sehe? Ich behaupte, ne<strong>in</strong>!<br />
Sie werden zustimmen und sagen: natürlich nicht; was für den