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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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270 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit noch untergeordnet ist. Gleichwohl bekommt unter<br />

dem Zwang des zentralen Problems der Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft e<strong>in</strong>e Funktion, <strong>die</strong> ihr nach Kants<br />

systematischen Gesichtspunkten nicht zukommen dürfte. Kant<br />

hält sich an <strong>die</strong> traditionelle Psychologie. Er nimmt wörtlich <strong>die</strong><br />

Bestimmung auf, wie sie bei Wolff sich f<strong>in</strong>det und auf den<br />

aristotelischen Begriff der q>uv-taa!.a zurückgeht (Kants Anthropologie<br />

§ 28): »Die E<strong>in</strong>bildungskraft (facultas imag<strong>in</strong>andi), als<br />

e<strong>in</strong> Vermögen der Anschauung, auch ohne Gegenwart des Gegenstandes<br />

ist entweder produktiv, d.i. e<strong>in</strong> Vermögen der ursprünglichen<br />

Darstellung des letzteren, exhibitio orig<strong>in</strong>aria,<br />

welche also vor der Erfahrung vorhergeht.«9 Die E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

ist e<strong>in</strong> Vermögen des Anschauens, d. h. e<strong>in</strong> Vermögen, das<br />

etwas zu geben vermag, und zwar gibt <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft uns<br />

e<strong>in</strong>en Anblick von etwas, ohne daß dasjenige, was wir anblikken,<br />

selbst gegenwärtig anwesend wäre. Das ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />

und treffende Def<strong>in</strong>ition der E<strong>in</strong>bildungskraft.<br />

Aufgrund <strong>die</strong>ses Vermögens wird der Mensch gewissermaßen<br />

wie Gott, d. h. <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Vermögen hat er <strong>die</strong> Möglichkeit, sich<br />

selbst etwas Anschaubares zu geben, re<strong>in</strong> von sich her, freilich<br />

so, daß das, was da als Anblick gegeben wird, selbst nicht e<strong>in</strong><br />

seiender Gegenstand ist, so wie bei Gott <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nicht nur als<br />

anschau bare s<strong>in</strong>d, sondern <strong>in</strong> ihrem D<strong>in</strong>gse<strong>in</strong> wirklich werden.<br />

Das ist der wesentliche Unterschied zwischen der exhibitio orig<strong>in</strong>aria<br />

und dem <strong>in</strong>tuitus orig<strong>in</strong>arius. Wir müssen daher unseren<br />

guten deutschen Ausdruck »E<strong>in</strong>bildung« <strong>in</strong> doppeltem S<strong>in</strong>n<br />

verstehen, gemäß e<strong>in</strong>er doppelten Bedeutung des Ausdruckes<br />

»bilden«: bilden heißt erstens herstellen, zweitens, wir können<br />

uns e<strong>in</strong> Bild, e<strong>in</strong>en Anblick von etwas verschaffen; Bild hier<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Abbildes. E<strong>in</strong>bilden heißt sich e<strong>in</strong> Bild<br />

derart verschaffen, daß <strong>die</strong>ser Anblick von uns selbst gebildet<br />

wird. Dieses Bilden ist also e<strong>in</strong>e gewisse Art des Gestaltens der<br />

9 Kant, WW (Cassirer). Band VIII, Berl<strong>in</strong> 1923. Anthropologie <strong>in</strong> pragmatischer<br />

H<strong>in</strong>sicht. Hrsg. von Otto Schöndorffer. § 28, S. 54.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 271<br />

Synthesis. Daher nennt Kant auch <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

<strong>in</strong> late<strong>in</strong>ischer Term<strong>in</strong>ologie synthesis speciosa. Speeies<br />

heißt Bild, d.h. <strong>die</strong> Gestaltung, <strong>die</strong> uns e<strong>in</strong> Bild verschafft,<br />

ohne daß das, was wir anblicken, anwesend wäre. In deutscher<br />

Ausdrucksweise bezeichnet er <strong>die</strong>se synthesis speciosa als figürliche<br />

Synthesis. Das ist <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Charakteristik der transzendentalen<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft, <strong>die</strong> er zugrunde legt bei der<br />

Herausarbeitung des Wesens der Beziehung von e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en<br />

Denken auf e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung.<br />

Damit kommen wir zur 3. Stufe: Grund der <strong>in</strong>neren Möglichkeit<br />

der Erkenntnis. Bei <strong>die</strong>sem Problem kann es sich um<br />

nichts anderes handeln als um <strong>die</strong> Frage: Wie soll re<strong>in</strong>es Denken,<br />

d. h. <strong>die</strong> re<strong>in</strong>en Verstandesbegriffe, auf re<strong>in</strong>e Anschauung<br />

bezogen werden? Sich auf e<strong>in</strong>e Anschauung beziehen bzw. als<br />

Bestimmung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung fungieren, heißt nichts<br />

anderes als <strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Anschauung sich darstellen. Das Problem<br />

e<strong>in</strong>er möglichen Beziehung der Kategorien auf <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung,<br />

genannt Zeit, ist das Problem der möglichen apriorischen<br />

Darstellbarkeit der Kategorien <strong>in</strong> der Zeit. Wie können<br />

re<strong>in</strong>e Verstandesbegriffe, d.h. Kategorien, apriori <strong>in</strong> der Zeit<br />

angeschaut werden, oder wie kann <strong>die</strong> Zeit das re<strong>in</strong>e Bild der<br />

Kategorien se<strong>in</strong>? Das ist <strong>die</strong> Formel, auf <strong>die</strong> das Problem der<br />

synthetischen Erkenntnis apriori gebracht wird. Dieses Problem<br />

löst Kant im Schematismus-Kapitel, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Abschnitt<br />

von zehn Seiten. Das Verfahren unseres Gemütes, <strong>in</strong> dem sich so<br />

etwas wie <strong>die</strong> anschauliche Darstellung der Kategorien <strong>in</strong> der<br />

Zeit vollzieht, ist der Schematismus. Schema = Bild = Anblick.<br />

Schematismus ist das Vermögen, den re<strong>in</strong>en Begriffen e<strong>in</strong> Bild<br />

zu verschaffen, sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Bild zu br<strong>in</strong>gen. Mit anderen<br />

Worten: Der <strong>in</strong>nerste Grund der Möglichkeit der synthetischen<br />

Erkenntnis apriori ist <strong>die</strong> transzendentale E<strong>in</strong>bildungskraft als<br />

Schematismus.<br />

Kant nennt <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung. Als Anschauung<br />

ist sie Rezeptivität, sie gibt, läßt empfangen. Sie ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung, d.h. e<strong>in</strong>e apriorische Rezeptivität oder e<strong>in</strong>e spon-

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