Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe
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210 Zum Unterschied von Wissenschaft und <strong>Philosophie</strong><br />
Nur weil das Dase<strong>in</strong> im Grunde se<strong>in</strong>es Wesens transzendent ist<br />
deshalb ist ontologische Wahrheit »und« ontische Wahrhei:<br />
möglich. Wir sagen mit Absicht ontologisch und ontisch. Denn<br />
es ist nicht so, daß hier nur e<strong>in</strong>e Reihe von Bed<strong>in</strong>gungen nebene<strong>in</strong>ander<br />
aufgerollt würde, ontisch auf ontologisch und <strong>die</strong>se<br />
auf Transzendenz. Sondern vor-ontologische Wahrheit, d. h. entwerfendes<br />
Verstehen des Se<strong>in</strong>s ist als solches e<strong>in</strong> Verstehen des<br />
Se<strong>in</strong>s von Seiendem, mag <strong>die</strong>ses Seiende faktisch tatsächlich<br />
existieren oder vorhanden se<strong>in</strong> oder nicht. Umgekehrt ist Erfahrung<br />
von Seiendem, ontische Wahrheit, solche nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Verstehen von Se<strong>in</strong>.<br />
Ontologische Wahrheit und ontische Wahrheit stehen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em ursprünglichen Zusammenhang ~ entsprechend dem<br />
Unterschied von Se<strong>in</strong> und Seiendem. Das s<strong>in</strong>d nicht zwei Reiche,<br />
<strong>die</strong> e<strong>in</strong>fach durch »und« nebene<strong>in</strong>ander gesetzt s<strong>in</strong>d, sondern<br />
<strong>die</strong> spezifische E<strong>in</strong>heit und der Unterschied beider <strong>in</strong> der<br />
Zusammengehörigkeit ist das Problem. Sie selbst, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />
Unterschied Unterschiedenen, können <strong>in</strong> ihrem Wesen nur begriffen<br />
werden aus dem, was <strong>die</strong>ses Unterscheiden als solches<br />
ermöglicht. Mit anderen Worten: Die Transzendenz ist Jücht nur<br />
<strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Möglichkeit für <strong>die</strong> ontologische Wahrheit und <strong>in</strong>direkt<br />
dann auch für <strong>die</strong> ontische, sondern gerade <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung<br />
der Möglichkeit für <strong>die</strong>ses »und auch«, für deren<br />
Zusammenhang, ja, für <strong>die</strong> Möglichkeit des Unterscheidens von<br />
Se<strong>in</strong> und Seiendem, auf Grund dessen wir überhaupt von Ontologie<br />
sprechen können. Diesen Unterschied bezeichnen wir<br />
als »ontologische Differenz«, »ontologisch« im dargelegten S<strong>in</strong>ne<br />
(vgl. oben S.200ff.). So ergibt sich <strong>die</strong> weitere Grundthese:<br />
11. Die Transzendenz des Dase<strong>in</strong>s ist <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung der Möglichkeit<br />
der ontologischen Differenz, dafür, daß Unterschied<br />
von Se<strong>in</strong> und Seiendem überhaupt aufbrechen kann, daß es<br />
<strong>die</strong>sen Unterschied geben kann. Aber auch hier<strong>in</strong> erschöpft sich<br />
nicht das Wesen der Transzendenz.<br />
So unbestimmt <strong>die</strong>ses für uns jetzt noch se<strong>in</strong> mag, das e<strong>in</strong>e<br />
und e<strong>in</strong>zige, dem wir zunächst zustrebten, muß deutlich gewor-<br />
§ 28. Ontische und ontologische Wahrheit 211<br />
den se<strong>in</strong>: Wir fragten, was ist das Wesen der Wissenschaft, und<br />
<strong>in</strong>wiefern hat sie e<strong>in</strong>e Grenze? Nunmehr wird deutlich, daß <strong>die</strong><br />
Wissenschaft nicht etwas ist, was es eben unter vielem anderen,<br />
womit man sich beschäftigen kann, auch gibt, sondern daß sie,<br />
um zu se<strong>in</strong>, was sie ist, ihre Wurzeln im ursprünglichen Wesen<br />
des Dase<strong>in</strong>s selbst, <strong>in</strong> der Transzendenz, geschlagen haben muß.<br />
Jetzt wird schon konkreter verständlich, was wir früher als vorgreifende<br />
Def<strong>in</strong>ition der Wissenschaft anzeigten: Sie ist e<strong>in</strong>e<br />
:v1öglichkeit der Existenz des Dase<strong>in</strong>s. Wenn sie e<strong>in</strong>e echte Möglichkeit<br />
ist, muß <strong>die</strong> Wissenschaft sich aber auch notwendig<br />
bt'grenzen, wenn anders jede Möglichkeit ihre Grenze <strong>in</strong> sich<br />
selbst trägt, ja, <strong>die</strong> Begrenzung ihrer selbst mitbr<strong>in</strong>gt. Die Frage<br />
nach,dem Wesen der Wissenschaft wurde ja für uns nur deshalb<br />
brennend, um aus ihrem Wesen zu ersehen, <strong>in</strong> welcher Weise<br />
<strong>die</strong> Wissenschaft sich selbst begrenzt.<br />
Offenbar handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>e Begrenzung derart,<br />
daß <strong>die</strong> Wissenschaft gleichsam lediglich an etwas anderes<br />
stößt, davon sie durch e<strong>in</strong>en Zaun geschieden ist, nicht um e<strong>in</strong>e<br />
Umzäunung, <strong>die</strong> ihr gleichgültig se<strong>in</strong> kann, sondern um e<strong>in</strong>e<br />
Begrenzung, <strong>die</strong> gerade als solche ihr das eigene Wesen verleiht.<br />
Wissenschaft muß sich selbst notwendig <strong>die</strong> Grenze nehmen<br />
und e<strong>in</strong>e Begrenzung geben. Die Grenze liegt <strong>in</strong> ihr selbst als<br />
das andere, das sie ist und dessen sie gerade als Wissenschaft<br />
nicht mehr mächtig ist. Dieses andere aber gibt der Wissenschaft<br />
<strong>die</strong> Kraft ihres Wesens, so zwar, daß <strong>die</strong>ses andere reicher<br />
1st und noch anderes vermag, als gerade nur <strong>die</strong> Möglichkeit der<br />
Wissenschaft zu tragen.<br />
Die spezifisch wissenschaftliche Zuwendung zum Seienden<br />
an s~ch selbst im Wollen se<strong>in</strong>er Wahrheit geschieht im gekennzeIchneten<br />
Entwurf; nur <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem wird das Seiende als Vorliegendes<br />
offenbar. Nur wenn es so offenbar vorliegt, kann es zum<br />
Ci-egenstand e<strong>in</strong>es Befragens gemacht werden. Nur wenn es Frage<br />
gegenstand geworden ist, kann es Thema möglicher Untersuchung<br />
werden. Untersuchung verlangt Themastellung, Thematisierung,<br />
<strong>die</strong>se verlangt zuvor Vergegenständlichung, <strong>die</strong>se