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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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94 Wahrhelt und Sem<br />

Wir haben beiläufig schon gesehen, daß wir uns zum SeI bigen<br />

verhalten, obzwar dabei jeder eben <strong>die</strong>ses Selbe verschieden<br />

sieht. Selbigkeit schließt Veränderung nicht aus und überhaupt<br />

nicht Unterschied. Die Verschiedenheit der Anblicke, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se<br />

Kreide für jeden von uns bietet, stört uns nicht. Wie soll sie auch<br />

stören, wenn am Ende gerade <strong>die</strong> Verschiedenheit der Anblicke<br />

mithilft, damit wir mite<strong>in</strong>ander <strong>die</strong> Kreide selbst wirklich sehen.<br />

Nehmen wir für e<strong>in</strong>en Augenblick an, wir alle würden <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge um uns ständig m e<strong>in</strong>em durchgängig gleichen Anblick<br />

sehen, hören und erfahren. Das gäbe e<strong>in</strong>e phantastische» Welt«<br />

- oder am Ende überhaupt ke<strong>in</strong>e. Diese Fiktion, alle D<strong>in</strong>ge<br />

böten sich für alle <strong>in</strong> derselben Weise dar, liegt <strong>in</strong> dem kantischen<br />

Gedanken des D<strong>in</strong>g an sich. Das D<strong>in</strong>g an sich ist nur<br />

gedacht als Gegenstand e<strong>in</strong>er absoluten Erkenntnis, Gottes<br />

nämlich, <strong>die</strong> nicht durch irgende<strong>in</strong>e Relativität, nicht durch<br />

irgende<strong>in</strong>e Perspektive <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge sieht. Auf Grund <strong>die</strong>ser Annahme<br />

e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>ges an sich müßte man konsequent sagen, daß<br />

es für Gott überhaupt nicht so etwas wie e<strong>in</strong>e Welt gibt. Wir<br />

werden <strong>die</strong>sen Gedanken, der bei Kant nicht zu Ende gedacht<br />

ist, später bei der Analyse des Weltbegriffs noch e<strong>in</strong>gehender<br />

betrachten. Jetzt stellen wir nur fest, daß uns <strong>die</strong> Mannigfaltigkeit<br />

und Verschiedenartigkeit der Anblicke, <strong>in</strong> denen sich<br />

<strong>die</strong>selben D<strong>in</strong>ge für uns darbieten, nicht stört, sondern daß <strong>die</strong>se<br />

Verschiedenartigkeit vielleicht e<strong>in</strong>e wesentliche Funktion hat.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>se Verschiedenartigkeit beim Erfassen der D<strong>in</strong>ge<br />

nicht <strong>in</strong> Rechnung setzen, sondern uns alle geme<strong>in</strong>sam durch<br />

<strong>die</strong> Verschiedenartigkeit der Anblicke h<strong>in</strong>durch zu demselben<br />

D<strong>in</strong>g verhalten, wozu verhalten wir uns dann schließlich? Wir<br />

ziehen doch nicht <strong>die</strong> Verschiedenheit der Anblicke ab; erstens<br />

wissen wir von solchem Abziehen nichts, zweitens vergleichen<br />

wir doch nicht <strong>die</strong> uns sich bietenden Anblicke mit denen anderer.<br />

Was soll auch der nach Abzug aller verschiedenen Anblicke<br />

verbleibende Restbestand? Man könnte sagen: das ist<br />

eben <strong>die</strong> Kreide an sich selbst. Es mag se<strong>in</strong>, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Betrachtungsart der~Natur - z.B. <strong>in</strong> der theoreti-<br />

§ 1}. Semsart und Qffenbarknt 95<br />

schen der Physik und der Chemie - <strong>die</strong> Kreide <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise<br />

als Exempel für e<strong>in</strong> materielles D<strong>in</strong>g nehmen können. Dies ist<br />

aber dann gewiß nicht <strong>die</strong> Kreide, <strong>die</strong> wir mite<strong>in</strong>ander me<strong>in</strong>en;<br />

SIe gibt sich für uns vielmehr als dasselbe Gebrauchsd<strong>in</strong>g zum<br />

Schreiben. Was sie da als materielles D<strong>in</strong>g ist, fällt für uns nicht<br />

ms Gewicht - ganz abgesehen davon, daß <strong>die</strong>ser verme<strong>in</strong>tlich<br />

gleichbleibende Restbestand der materiellen D<strong>in</strong>gsubstanz<br />

VIelleicht, ja höchst wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> jedem Zeitmoment etwas<br />

anderes ist, daß er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ständigen Verlagerung se<strong>in</strong>er Elementarteilchen<br />

begriffen ist. Das Selbige ist also nicht <strong>die</strong>se<br />

materielle Substanz im physikalischen S<strong>in</strong>n. So sche<strong>in</strong>t es, daß<br />

WIr mit allen <strong>die</strong>sen Fragen nach der Selbigkeit <strong>die</strong>ses SeI bigen,<br />

wozu wir uns im Mite<strong>in</strong>ander verhalten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Abgrund<br />

kommen.<br />

Was bleibt dann noch, was Selbigkeit und Verhalten zum<br />

Selbigen besagen könnte? Erfassen wir etwa das Selbige als<br />

Selbiges <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem geme<strong>in</strong>samen Se<strong>in</strong> bei der Kreide? Zwar s<strong>in</strong>d<br />

WIr bei derselben Kreide, aber wir erfassen sie nicht als <strong>die</strong>selbe;<br />

WIr s<strong>in</strong>d nicht auf sie <strong>in</strong> ihrer Selbigkeit oder gar auf <strong>die</strong> Selblgkeit<br />

selbst gerichtet. Erfassen wir etwa als das Geme<strong>in</strong>te den<br />

Tatbestand, daß <strong>die</strong> Kreide mit sich selbst identisch ist? Also 1st<br />

mit <strong>die</strong>ser Selbigkeit auch nicht <strong>die</strong> Identität des D<strong>in</strong>ges geme<strong>in</strong>t.<br />

Bisher hörten wir schon so vielerlei über <strong>die</strong>se rätselhaftige<br />

Selbigkeit, daß alles wirr durche<strong>in</strong>anderläuft, ohne daß wir den<br />

ger<strong>in</strong>gsten Aufschluß über das Mite<strong>in</strong>ander erfahren hätten.<br />

Das Durche<strong>in</strong>ander 1st aber zunächst Absicht, um zu zeigen, daß<br />

<strong>die</strong>se sche<strong>in</strong>bar selbstverständlichen Begriffe wie Selbigkeit<br />

mcht ausreichen. Sche<strong>in</strong>bar gewannen wir wieder nur lauter<br />

negative Ergebnisse:<br />

1. Das Selbige me<strong>in</strong>t nicht Unverändertes und UnveränderlIches,<br />

also nicht Unveränderung.<br />

2. Das Selbige me<strong>in</strong>t nicht etwas, das sich <strong>in</strong> der Verschiedenheit<br />

der Anblicke als gleichbleib end durchhält, also nicht<br />

substanzielle Beharrlichkeit.

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