Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe
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254 Weltanschauung und Weltbegriff<br />
solchen im Ganzen, Erkenntnis des Seienden im allgeme<strong>in</strong>en,<br />
d. h. <strong>in</strong> Begriffen, und das besagt zugleich: aus Begriffen und<br />
lediglich aus Begriffen. Dieser Charakter der Metaphysik hat<br />
sich <strong>in</strong> der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong> seit Descartes dadurch<br />
verschärft, daß <strong>die</strong>se allgeme<strong>in</strong>e rationale Erkenntnis des Seienden<br />
im Ganzen der mathematischen Erkenntnis angeglichen<br />
wird, <strong>die</strong> völlig erfahrungsfrei aus e<strong>in</strong>igen Grundsätzen, d. h.<br />
Axiomen, das Ganze ihrer Erkenntnisse deduktiv entwickelt.<br />
Die größte Anstrengung <strong>in</strong> Absicht auf e<strong>in</strong>e solche rationale<br />
Metapyhsik vollzieht sich bei Leibniz, so weit, daß er versucht,<br />
auch Tatsachenwahrheiten, veritates facti, auf Vernunftwahrheiten,<br />
veritates rationis, zurückzuführen, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen zu begründen.<br />
Freilich hat Leibniz nur e<strong>in</strong>zelne Beiträge, Ansätze und<br />
H<strong>in</strong>weise gegeben; es gelang ihm ke<strong>in</strong> Gesamtentwurf <strong>in</strong> Absicht<br />
auf das Ganze der Metaphysik. Diese Aufgabe haben se<strong>in</strong>e<br />
Schüler - Wolff, Baumgarten, Crusius - übernommen, <strong>in</strong>dem<br />
sie <strong>die</strong> Resultate der Leibniz'schen <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> den Rahmen<br />
der Schulphilosophie e<strong>in</strong>bauten. Kant weist auf den Widerstreit<br />
der Me<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> Unsicherheit der Ergebnisse h<strong>in</strong>.<br />
Ad 2. In welcher Richtung geht <strong>die</strong> Aufhellung? Sie zielt auf<br />
<strong>die</strong> Möglichkeit der Erkenntnis des Seienden im allgeme<strong>in</strong>en.<br />
Eigentliche Metaphysik ist das Ziel, »Metaphysik und Endzweck«.<br />
Die Frage ist: Woher nimmt <strong>die</strong>se Metaphysik ihre<br />
Ausweisung und Bewährung, wo doch e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> Erfahrung<br />
immer nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes Seiendes zu Gesicht bekommt und<br />
andererseits <strong>die</strong> re<strong>in</strong>en Begriffe nicht ohne weiteres auf das<br />
Seiende bezogen s<strong>in</strong>d? Es handelt sich also bei der Frage nach<br />
der Möglichkeit der Metaphysik als Erkenntnis von Seiendem<br />
als solchen im Ganzen um <strong>die</strong> Frage nach dem Wesen e<strong>in</strong>er<br />
Erkenntnis von Seiendem, um <strong>die</strong> Möglichkeit und das Wesen<br />
der Metaphysik, das Problem der Möglichkeit von Erkenntnis<br />
des Seienden überhaupt. Was heißt das, und was gehört dazu?<br />
Gibt es dergleichen?<br />
Ja, sagt Kant. Wir haben das Beispiel der wissenschaftlichen<br />
Erkenntnis der Natur <strong>in</strong> der mathematischen Physik von Galilei<br />
§ J4. Kants Weltbegriff 255<br />
und Newton. Kants Frage ist grundsätzlich gerichtet auf <strong>die</strong> Erkenntnis<br />
von Seiendem. Das Charakteristische <strong>die</strong>ser Erkenntnis<br />
von Seiendem im S<strong>in</strong>ne der mathematischen Physik liegt dar<strong>in</strong>,<br />
daß allen Naturforschern, d.h. allen denen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Erkenntnis<br />
wesentlich von der Stelle brachten, e<strong>in</strong> Licht aufg<strong>in</strong>g. Es g<strong>in</strong>g<br />
ihnen.auf, daß <strong>die</strong> Natur nur dann erkannt werden könne, genauer<br />
<strong>die</strong> Natur nur dann befragt werden könne im Experiment,<br />
wenn zuvor e<strong>in</strong> Plan von ihr selbst entworfen ist. Der Erkenntnis<br />
von Seiendem muß also e<strong>in</strong>e eigentümliche Erkenntnis vor aller<br />
Erfahrung vorausgehen, <strong>in</strong> der ausgemacht wird, was zu e<strong>in</strong>er<br />
Natur überhaupt gehört. E<strong>in</strong>e solche Erkenntnis, <strong>die</strong> vor aller<br />
Erfahrung des Seienden gerade <strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden<br />
bestimmt, nennt Kant e<strong>in</strong>e Erkenntnis apriori, <strong>die</strong> früher ist <strong>in</strong><br />
dem S<strong>in</strong>n, daß sie vorhergeht <strong>in</strong> der Ordnung der Begründung<br />
der empirischen Erfahrung. Diese merkwürdige Erkenntnis, deren<br />
grundsätzliche Bedeutung der Naturforscher kennt, ist e<strong>in</strong>e<br />
apriorische; sie bestimmt, was zu e<strong>in</strong>er Natur gehört. Sie bestimmt<br />
das Wesen der Natur, ihre Sachheit oder Realität. Realität<br />
heißt für Kant nicht, wie wir den Term<strong>in</strong>us heute gebrauchen,<br />
Wirklichkeit, Existenz des Seienden, sondern Realität gebraucht<br />
er im S<strong>in</strong>ne der Scholastik als das, was e<strong>in</strong>e res, e<strong>in</strong>e Sache <strong>in</strong><br />
ihrem Wasgehalt bestimmt. Realität ist also gleichbedeutend mit<br />
essentia. Der ganze Neukantianismus hat <strong>die</strong>sen Begriff vollkommen<br />
verkannt und wurde daher zum Teil zu widers<strong>in</strong>nigen<br />
Fragestellungen getrieben.<br />
Es handelt sich <strong>in</strong> der Erkenntnis von Seiendem um e<strong>in</strong>e vorgängige,<br />
apriorische Erkenntnis des Wesens des betreffenden<br />
Seienden, der Sache, um e<strong>in</strong>e apriorische sachhaltige Erkenntnis,<br />
e<strong>in</strong>e solche Erkenntnis, <strong>die</strong> mir Aufschluß gibt über das, was<br />
zu e<strong>in</strong>er Sache gehört; e<strong>in</strong>e Erkenntnis, <strong>die</strong> das Wissen erweitert,<br />
nennt Kant synthetische. E<strong>in</strong>er Erkenntnis von Seiendem muß<br />
also e<strong>in</strong>e sachhaltige Erkenntnis der Se<strong>in</strong>sverfassung derselben<br />
vorausgehen, e<strong>in</strong>e synthetische Erkenntnis und, sofern sie vorausgehend<br />
= apriori ist, e<strong>in</strong>e synthetische Erkenntnis apriori.<br />
Synthetische Erkenntnis apriori ist mögliche Erkenntnis von