01.11.2013 Aufrufe

Hölderlins Hymne “Der Ister” - gesamtausgabe

Hölderlins Hymne “Der Ister” - gesamtausgabe

Hölderlins Hymne “Der Ister” - gesamtausgabe

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

MARTIN HEIDEGGER<br />

N,IARTIN HEIDEGGER<br />

GESAMTAUSGABE<br />

II. ABTEILUNG : VORLESUNGEN 19211944<br />

HOLDERLINS HYMNE<br />

UDER ISTER"<br />

BAND 55<br />

HOLDERLINS HYMNE >DER IS'IER"<br />

llEll<br />

llsll<br />

VITTORIO KLOSTERMANN<br />

FRANKFURT AM MAIN<br />

VITTORIO KLOSTERMANN<br />

FRANKFURT AM MAIN


MARTIN HEIDEGGER<br />

N,IARTIN HEIDEGGER<br />

GESAMTAUSGABE<br />

IL ABTEILUNG : VORLESUNGtrN 1925-1944<br />

HOLDERLINS HYMNE<br />

)t)ER ISTtrR.<br />

BAND 53<br />

HOLDERLINS HYMNE >DER IS'IER"<br />

:<br />

llsll<br />

ilqil<br />

VITTORIO KLOSTERMANN<br />

FRANKFURT AM MAIN<br />

VITTORIO KLOSTERMANN<br />

FRANKFURT AM MAIN


|}_].:'/,:t - i{+l-' 1':J,!r- h,-j- l'-:<br />

I'ltrdc:gg*r, I'1ar 1..: ir, l.{-lll,'.t 1"'l.t'i'i<br />

llul.ilr,rr' -l !ri:.; ll;'iri:,-.'' l-ir?i l ::1..n-r"<br />

Freiburger Vorlesung Sommersemester 1942<br />

Herausgegeben von Walter Biemel<br />

INHALT<br />

ERSTER TEIL<br />

Das Diclzten des W eseru der Strijme - die I ster-<strong>Hymne</strong><br />

1. Thema der Vorlesung: Anmerkungen zu Hijiderlins I-Iymnen-<br />

Di&tung<br />

a) Die Ister-<strong>Hymne</strong><br />

b) Eriirterung des Anfangs: >>Jezt komme, Feuer!s&windendenahnungsvollenStimme des Volkes< . . .<br />

Wiederholung<br />

7. Der Strom als Ortschaft der Wanderschaft und Wanderschaft der<br />

Ortschaft<br />

a) Der Strom ein >Riitsel< - das dichterische Vermuten und<br />

Meinen<br />

b) Die Ei.heit von Ortschaft und Wanderschaft ist nicht die re&-<br />

nerisch bestimmte, klare, ordnungshafte Eiaheit von Raurn und<br />

Zeit. Zur neuzeitlidren Bestimmung des Wirklidren<br />

Wiederholung: Exkurs iiber die Technik als Ort der >Wahrheit


VI<br />

11. Die dichterische Zwiesprache zwischen Hijlderlin<br />

fz-<br />

1A<br />

Inhalt<br />

Die Bedeutung des 0elv6v. (Erliiuterung<br />

Iiedes.)<br />

a) Bemerkung zum Ubersetzen<br />

b) Zur Ubersetzung von td 6erv6v .<br />

lViederholung<br />

15. Das Unheimliche als Grund des Mens&en.<br />

liiuteruns zu rol,ld td, 0ervd und nr6l.elv.)<br />

15. Fortsetzung der Erliiuterung des Wesens der l6l.lE .<br />

a) Die Bedeutung des xal"6v und die r6)"pc<br />

b) Das Offene<br />

lo.<br />

Wiederholung<br />

und Sophokles<br />

des Anfangs des Chor-<br />

(Fortsetzung der Er-<br />

Weitere Wesensbestimmungen des Menschen<br />

a) Uberallhinausfahrend - erfahrungslos. (Erliiuterung des Mittelstiicks<br />

der zrveiten Strophe.) .<br />

b) Ho&iiberragend die Statte - verlustig der Stiitte. Die a6l"rg als<br />

Stdtte. (Erltiuterung des Mittelstiicks der zweiten Gegenstrophe.)<br />

lViederholung<br />

Die Versto{Jung des Menschen als des unheimli&sten Seienden.<br />

@er Bezug des Schlu8wortes zum einleitenden Wort des Ch.orgesanges,)<br />

Wiederholung<br />

1J Die einleitende Zwiesprache von Antigone und Ismene<br />

a) Das Wesen der Antigone - das hijchste Unheimliche. ro0eiv<br />

td 6erv6!<br />

b) Die Mehrdeutigkeit der Dichtung<br />

c) Das Wissen vom Herd und das Wiihnen. Das Ungesagte im<br />

Gesagten<br />

18. Der Herd als das Sein. (Erneutes Bedenken des Anfangs des<br />

Chorliedes und des Schlu8wortes.)<br />

Wiederholung<br />

19. Fortsetzung der Ausfiihrungen iiber den Herd als das Sein .<br />

a) Zusammengehiirigkeit von Di&ten und Denken<br />

b) 'Eotia und Sein bei Platon .<br />

20. Das Heimisdrwerden im Unheimisdrsein - die Zweideutigkeit<br />

des Unheimischseins. Die Wahrheit des Chorliedes die innerste<br />

Mitte der Tragddie .<br />

2I.<br />

Hijlderlins<br />

DRITTERTEIL<br />

Dichten des Wesens des Dichters als Halbgott<br />

Hijlderlins Stromdichtung und das Chorlied des Sophokles - das<br />

j eweils geschichtliche Heimischwerden<br />

69<br />

a1<br />

74<br />

76<br />

79<br />

85<br />

90<br />

91<br />

91<br />

97<br />

r03<br />

r07<br />

108<br />

173<br />

115<br />

I16<br />

t22<br />

127<br />

150<br />

150<br />

It+<br />

l lt)<br />

i59<br />

159<br />

1+r<br />

t45<br />

r53<br />

Inhalt<br />

22. Der geschidrtli& grii:rdende Geist. ErlHuterung der Verse: >>nemlich<br />

zu HauB ist der Geist ni&t im An-fang, nicht an der Quell.<br />

Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der<br />

Geist. Unsere Blumen erfreun und die Sdratten urlserer W?ilder<br />

den Vers&machteten. Fast wiir der Beseeler verbrandt.Zeichen


ERSTERTEIL<br />

DAS DICHTEN DES WESENS DER STROME -<br />

DIEISTER-HYMNE<br />

1. Thema der Vorlesung: Anmerkungen zu Hiilderlins<br />

<strong>Hymne</strong>n-Dichtung<br />

Diese Vorlesung versucht, auf einige der Didrtungen Htilderli:rs<br />

aufmerksam zu machen, die man ><strong>Hymne</strong>n<strong>Hymne</strong>Seht mi&, ihr der vdterlichen Erde Miinner. . .


7<br />

2 Das Dichten des Wesens der Str\me<br />

und d. h. ahnen von dem, was im Wort dieses Dichters gesagt<br />

sein kiinnte.<br />

Was die Vorlesung mitzuteilen vermag, sind Anmerkungen<br />

zu den fiir sie ausgewdhlten Didrtungen. Solche Anmerkungen<br />

sind stets nur eine Beigabe. So kann es sein, daB manches<br />

oder vieles oder gar alles von dem, was angemerkt ist, eben<br />

hinzugebracht wird und nicht >>insteht>Auslegung<<br />

der Dichtung heiBen diirfte. Die Anmerkungen geben,<br />

auf die Gefahr, die Wahrheit der Hijlderlinschen Dichtungen<br />

zu verfehlen, nur einige Merk-male, Zeichen fiir das Aufmerken,<br />

Haltepunkte fiir die Besinnung. Weil diese Anmerkungen<br />

nur eine Beigabe zum Gedicht sind, mu8 die Dichtung selbst<br />

zuerst und stiindig das Erste und Gegenwdrtige sein.<br />

Die in dieser Vorlesung zugrundegelegten Texte sind der<br />

Ausgabe entnornrnen, auf die knnftig jedes Hiiren des Hiilder-<br />

Iinschen Wortes zuriickgehen mu8. Diese Ausgabe wurde von<br />

Norbert von Hellingrath um das Jahr 1911 entworfen und von<br />

ihm selbst in den wesentlichen Stiicken Band I, IV und V gesclraffen.l<br />

Norbert von Hellingrath ist als achtundzwanzigjiihriger<br />

im Dezember 1916 vor Verdun gefallen. (Zu gebrauchen<br />

ist auch die Ausgabe von Zinkernagel.)<br />

a) Die Ister-<strong>Hymne</strong><br />

Die Vorlesung beginnt mit Anmerkungen zu einer ><strong>Hymne</strong>Der Ister< (d. h. die Donau).2<br />

1 Htilderlin, Sdmtli&e Werke. Historisch-kritische Ausgabe, begonnen<br />

durch Norbert von Hellingrath, fortgefiihrt durch Friedrich Seebass und<br />

Ludwig von Pigenot. Berlin, Band III,21922, Biinde I, II, IV, V, W, 21923.<br />

2 Vgl. >Andenken


Das Didtten des Wesens der Strtime<br />

Ferngldnzend, am Olympos drunten,<br />

Da der, sich Sihatten zu suchen<br />

Vom heissen Isthmos kam,<br />

Denn voll des Muthes waren<br />

Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,<br />

Der Kiihlung auch. Darum zog jener lieber<br />

An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,<br />

Hoch duftend oben, und sdewarz<br />

Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen<br />

Ein Jiiger gern lustwandelt<br />

Mittags, und Wachstum hiirbar ist<br />

An harzigen Bdumen des Isters,<br />

Der sdreinet aber fast<br />

Riikwiirts zu gehen und<br />

Ich mein, er miisse kommen<br />

Von Osten.<br />

Vieles wd.re<br />

Zu sagen davon. Und warum hd.ngt er<br />

An den Bergen gerad? Der andre<br />

Der Rhein ist seitwdrts<br />

Hinu'eggegangen. Umsonst nicht gehn<br />

Im Troknen die Striime. Aber wie? Sie sollen nemlich<br />

Zur Sprache seyn. Ein Zei&enbraucht es,<br />

Nichts anderes, sdrlecht und recht, damit es Sonn'<br />

Und Mond trag'im Gemiith', untrennbar,<br />

Und fortgeh, Tag und Na*rt auch, und<br />

Die }limmlischen warm sich fiihlen aneinander.<br />

Darum sind jene auch<br />

Die Freude des Hiichsten. Denn wie kdm er sonst<br />

I{erunter? Und wie Hertha griin,<br />

Sind sie die Kinder des Himmels. Aber allzugedultig<br />

Scheint der mir, nicht<br />

Freier, und fast zu spotten. Nemlich wenn<br />

Angehen soll der Tag<br />

Anmerhungen zu Hijlderliru <strong>Hymne</strong>ndidttung 5<br />

In der Jugend, wo er zu wachsen<br />

Anfringt, es treibet ein anderer da<br />

Hoch schon die Pracht, und Fiillen gleich<br />

In den Zawrn knirscht er, und weithin hiiren<br />

Das Treiben die Liifte,<br />

Ist der betriibt;<br />

Es brauchet aber Stiche der Fels<br />

Und Furchen die Erd',<br />

Unwirthbar wdr es, ohne Weile;<br />

Was aber jener thuet der Strom,<br />

Weis niemand.<br />

Das Gedicht dichtet einen Strom. Die Strijme gehilren zu den<br />

Wassern. Wenn zu solcher Dichtung einiges angemerkt wird,<br />

bedenken wir, was anderen Orts von den Wassern gesagt ist:<br />

Der Urahn aber<br />

Ist geflogen iiber der See<br />

Sdrarfsinnend, und es wunderte sich<br />

Des Kiiniges goldnes Haupt<br />

U"* Geheimniss derWasser,<br />

3f<br />

>DerAdler< (IY,225)<br />

b) Eriirterung des Anfangs: >Jezt komme, Feuer!<<br />

Das Gedicht >>Der Ister< beeinnt als ein Rufen:<br />

l"rt io-*".<br />

Feuer!<br />

>>DasZitieren


7<br />

6 Das Dichten des Wesens der Striirne<br />

\Nenn ,tdas Feuervom Indus herJezt komme, Feuer!Ko"'''eJezt korrrrrre, Feuer!


Y<br />

8 D as Dichten des V[/ esens der Strdrne<br />

Am Beginn des Gedichtes steht wie ein plijtzlich aufgegangener<br />

Stern, der alles iberleuchtet, dieses >>Jezt>Jezl>Jezt


10 Das Dichten des lAesens der Str6me<br />

Wir singen aber vom Indus her<br />

Fernangekommen und<br />

Vom Alpheus,. . .<br />

>Indus< und >Alpheus< sind Namen fiir Strijme und Fliisse.<br />

Der eine gehiirt in das Land der >Indier>Ister


12 Das Dichten des Wesens der Striime<br />

Die <strong>Hymne</strong>n als Dichtung des Wesens der Striime<br />

L3<br />

Wer liebt sie nicht? und immer bewegen sie<br />

Das Herz mir, hiir ich ferne fie Schwindenden<br />

Die Ahnungsvollen, meine Bahn nicht<br />

Aber gewisser ins Meer hin eilen.<br />

Die Striime kiimmern sich nicht um die Weisheit der Menschen.<br />

Dies aber keineswegs deshalb, weil sie der Weisheit und<br />

dem Geist abhold sind, sondern deshalb, weil sie ihren eigenen<br />

>GeistStromgeist< (V,272 f.). Und<br />

daher heiBen in dem jetzt angefiihrten Gedicht die Strijme<br />

auch >>die Ahnungsvollenrdie Schwindenden>Jezt>Jezt aber...>in der ZeitStellen< iiber die Strijme<br />

und die Gewdsser zusammenzutragen, um Llns daraus dann<br />

im allgemeinen eine Vorstellung von dem zurecht zu zimmern,<br />

was Htjlderlin mit den >Strijmen< und den >>WasserngemeintI{yrnnen< nennt. f)as griechische<br />

Wort ilpvog bedeutet Gesang zum Preise der Gdtter,<br />

Lied zum Ruhme der Helden, zur Ehrung der Sieger in den<br />

Kampfspielen. Das Wesentliche im >>Gesang< und Lied ist das<br />

Wort. ttrrveiv bedeutet sagen im Sinne von preisen, riihmen,<br />

ehren, weihen. Der Grundzug des so sagenden Wortes ist das<br />

Feiern: die wesenhafte Bereitung des Festes. Der {ipvog ist nicht<br />

>Mittel< zu einer Veranstaltung, ist nicht >Umrahrnung


t+ Das Diclien des Wesens der Strcime<br />

Die <strong>Hymne</strong>n ak Dichtung des Wesens der Strdme<br />

t5<br />

> auch nicht als Bereitung des Brautfestes<br />

feiert mich je ein Feiergesang. <strong>Hymne</strong>< auch fernerhin, dann kann dieser Titei<br />

nr-rr dort iiber eilen bloB literatur-wissenschaftlichen Titel zur<br />

Abgrenzung von Gedichtarten hinausgebracht und wesentlich<br />

begriindet werden, wo Dichtungen sind, die sich in einem wiedemrn<br />

einzigen Sinne auf F'est und Feier beziehen. Ob Hijlderlins<br />

Dichtungen solchen Wesens sind und wenn sie es sind, in<br />

'rvelchem einzigen Grundzug sie festliche Gesdnge sind, lvann<br />

und rn'o dann dies gesungene Fest >istVorldufige>kennen lernen>merkenAuslegung<<br />

der Gedichte. Und weil die Anmerkungen von uns<br />

her angebracht sind und so >>von au8en., kommen und daher<br />

aus der Verstreuung, mu8 allem zuvor stiindig das Gedicht<br />

selbst das Erste und d. h. das Einzige bleiben. Nach dieser Art<br />

kijnnen wir in einer Vorlesung nur auf wenige Gedichte aufmerksam<br />

machen. Daher mtissen wir auswd.hlen. Darin liegt<br />

eine Willkiir, und dies bedeutet: eine Beschrdnkung dessen,<br />

u'as eine Vorlesung hier iiberhaupt vermag.<br />

Die Vorlesung beginnt mit Anmerkungen zu einem Gedicht,<br />

das Hijlderiin selbst nicht verijffentlicht hat. Das Gedicht ist<br />

bei der Niederschrift und im Entwurf ohne Uberschrift geblieben.<br />

Uber hundert Jahre spdter erst kam das Gedicht durch<br />

die Ausgabe von Norbert von Hellingrath an das Ohr der Menschen.<br />

Er hat dem Gedicht den Titel: >I)er Ister


16 Das Dichten des Wesens der Striime<br />

Wir beachten, daB Hcilderlin auch >sonst>JeztZeitpunktJeztHier>Hier>Hier< am Strorn, der<br />

>der Ister>HierStim-rrre des VolkesSchwindenden>Ahnungsvollen< (IV, 1bg ff. und I42tr.):<br />

STIMME<br />

DES VOLKES<br />

Du seiest Gottes Stimme, so glaubt ich sonst,<br />

In heilger Jugend;ja und ich sag es noch!<br />

IJm unsre Weisheit unbekiimmert<br />

Rauschen die Strijme doch auch, und dennoch<br />

Wer liebt sie nicht? und immer bewegen sie<br />

Das I{erz mir, htir ich ferne die Schwindenden<br />

Die Ahnungsvollen, meine Bahn nicht<br />

Aber gewisser ins IVIeer hin eilen.<br />

Als >Schwindende< gehen sie weg, sind sie nicht mehr gegenwdrtig<br />

- sie verstriimen und vergehen. Als >>Ahnungsvolle>HierTriigerBedeutung>Natur>bedeuten>geistigenSinnSinnbild>Allegorie.< heilJt. Das aus dem Griechischen stammende Wort<br />

sagt treffend, worurar es sidr handelt: &l"l.o- riyogerler,v. riyopefer,v<br />

(dyoqd - der iiffentliche Platz der Volksversammlung): 6ffentlich,<br />

fiir jedermann verstd.ndlich kundtun. dllo - etwas<br />

anderes - kundtun, etwas anderes ndmlich, als das ist. was<br />

das Bild fi.ir sich erscheinen la8t. ,illqyogla ist eine Kundgabe<br />

von etwas anderem durch etwas - niimlich durih sinnlich Erfahrbares<br />

und Bekanntes. Zw den >AllegorienAllegorienGleichnisse


Ir I<br />

18 Das Dichten des Vl/esens der Strdme<br />

Recht setzt. Audr im Symbol liegt die Verweisung eines Sinnlichen,<br />

des Ringes, auf ein Nichtsinniiches - Seelisches - Geistiges<br />

- zundchst die Zusammengehiirigkeit der Freunde, die<br />

Freundschaft. Auch das >>Syrnbol< ist Sinn-bild.<br />

Za den Sinn-bildern nach deren weitestem Begriff kann<br />

auch das gerechnet werden, was wir >BeispieleMetapher< - peroqopd - Ubertragung;<br />

Sinn-bild ist in ge'lvisser Weise auch jedes >Ab-zeichenSinn-bildes< und dieses iiberhaupt seinen Grund hat. Das ist<br />

die Unterscheidr"rng eines sinnlichen Bereiches und eines nichtsinnlichen<br />

Bereiches. In allem Gebrauch von Sinn-bildern wird<br />

diese Unterscheidung als vollzogen vorausgesetzt. fJer entscheidende<br />

Vollzug dieser Unterscheidung und ihre fiir das Abendland<br />

ma8gebende Entfaltung und Gliederung geschah im<br />

Denken Platons. Dabei wird wesentlich, dafi der nichtsinnliche,<br />

der seelisdre, geistige Bereich die wahre Wirklichkeit ist, der<br />

sinnliche Bereich eine Vor- und Unterstufe. Bezeichnet man<br />

nun den Bereich des Sinnlichen im weitesten Sinne als den<br />

>physischenWeItmetaphysischVorlesungen iiber die Asthetik<<br />

(WW.X 1, 48): >Das Sinnliche des Kunstwerkes soll nur Daseyn<br />

haben, insofern es fiir den Geist des Menschen, nicht aber<br />

insofern es selbst als Sinnliches fiir sich selber existiert.< fm<br />

Sinne Hegels ist ein fiir sich seiber existierendes Sinnliches<br />

z. B. das mit mancherlei Farbe iiberstrichene Stiick Stoff -<br />

dieses Ding aber ist nicht das Gemiilde Rembrandts. Das Gem?ilde<br />

ist aber auch nicht nur auf das stoffIiche Ding aufgetragen,<br />

sondern dieses stoffliche Ding ist in das Gemiilde aufgehoberr<br />

und ist ietzt, was es ist, nur durch dieses. Im Hinblick<br />

auf das metaphysische Wesen der Kunst kijnnen wir auch sagen:<br />

Alie Kunst ist sinnbildlich. >Bild< steht dann fiir das<br />

sinnlich Wahrnehmbare iiberhaupt, das auch der Ton sein<br />

kann. >Sinn< steht fiir das Nichtsinnliche, das verstanden und<br />

gedeutet wird und im Verlauf der Metaphysik mannigfache<br />

Bestimmungen erhalten hat: Das Nicht- und lJbersinnliche ist<br />

das Geistige, das Ideelle sind die Ideale und die >Werte


20 Das Dichten des Wesens der Strdme<br />

4. H iilderlins Dichtung nicht sinnbildlich metap hy sis ch'<br />

Das uerborgene Wesen des Stromes<br />

Im Gang der Geschichte der abendliindischen Metaphysik und<br />

Kunst ersiheint nun aude Htilderlins Dichtung' Wir liijnnen<br />

sie sogar zeitiich genau in diesen Geschichtszusammenhang<br />

einordnen. Die Entstehung der <strong>Hymne</strong>n fiillt in die Jahre 1800<br />

bis 1806. Genau dieselbe Zeitspanne umfaBt die Zeit der Entstehung<br />

des Hauptwerkes im Denken Hegels, der >>Phdnomenologie<br />

des Geistes< (1807). Hegel, der Denker, war der Freund<br />

des Diehters Hiilderlin in der gemeinsamen Studentenzeit in<br />

Tiibingen, aber audr spd.ter wdhrend der gemeinsamen Jahre<br />

in Frankfurt bis 1799. Daher wird auch Hijlderlins Dichtung,<br />

wenn sie Kunst ist, metaphysisch und d. h. >sinnbildlich< sein.<br />

Die in seinen Gedichten besungenen deutschen Strijme, der<br />

Main, der Neckar, die Donau, der Rhein, sind die >Sinnbilder<<br />

deutschen Wesens und Lebens. Nichts hindert uns, die Stromdichtungen<br />

Hijlderlins nach dieser Hinsicht und in solcher !Veise<br />

zu deuten.<br />

Vielleicht ist zwar der Sinn, den Htilderlin diesen Strombildern<br />

gibt, schwerer auszumadren als der Gehalt anderer<br />

Dichtungen anderer Dichter, die auch Striime und Fliisse und<br />

B2iche und das Meer und die Seen besingen. Diese grii8ere<br />

Sdawierigkeit der Deutung mag darin ihren Grund haben, da8<br />

Hijlderlin geheimnisvoller dichtet, vielleidrt auih darin, daB<br />

seine Dichtung vielfach unvollendet geblieben ist und auch zuweilen<br />

scion von dem drohenden Wahnsinn iibersdeattet und<br />

verwirrt wird.<br />

Allein, die Strijme sind in Hiilderlins Dichtung keineswegs<br />

nur gradweise schwerer zu deutende Sinnbilder. Wdren sie das,<br />

dann blieben sie im Wesen immer noch >>Sinnbilder>Striime< kiinnen daher auch nicht<br />

als Symbole hijherer Stufe und >tieferen< >religiiisen< Gehaltes<br />

gelten. Hiilderlins <strong>Hymne</strong>ndichtung, die nach 1799 den<br />

Dichter bestimmt, ist iiberhaupt nicht sinnbildlich.<br />

Das uerborgene Wesen des Stromes<br />

Aber dann miif3te ja diese Dichtung nach dem Gesagten<br />

-,.r,i"."frtfri" au$erhalb der Metaphysik *nd damit augerhalb<br />

lllW"r"otbereiches<br />

der abendldndischen Kunst stehen' Dann<br />

;;;"" alle iiblichen Auslegungen und Deutungen dieser Ge-<br />

Ji.h," o".g"biich, weii alle Interpretation ihr Werkzeug und<br />

ihr"n A.,fwand unbesehen der Metaphysik und der metaphy-<br />

,ir.h"o Kunstlehre, d' h' der Asthetik entnimmt'<br />

lVenn nun aber die Strijme in Htjlderlins Dichtung in<br />

Wahrheit keine >Sinnbilder< sind, was sollen sie dann sonst<br />

sein? Wie sollen wir dann noch von ihnen etwas wissen k6nnen,<br />

wo doch all unser Wissen' und die Wissenschaft erst recht' in<br />

der Metaphysik Grund und Halt hat? Fast scheint es so' als<br />

sagte der Dichter selbst, da8 wir von den Strijmen nidrts wissen<br />

kiinnen. Die Ister-<strong>Hymne</strong> schlieBt, genauer: sie hiirt auf'<br />

mitdemWort:<br />

Was aber jener thuet der Strom,<br />

Weis niemand.<br />

VerstijBt dann also schon das geringste Bemiihen, auf diese<br />

Stromdichtung aufmerksam zu machen, gegen das eigene<br />

Wort des Diihters? Nein. Die angefiihrten Verse sagen' daB<br />

das Strijmen des hier genannten Stromes ein Tun zu eigener<br />

Zeit und daB es verborgen ist. Diese Verborgenheit des Tuns<br />

des Stromes zeichnet ihn aus. Von dieser Verborgenheit wei8<br />

der Dichter. Wie ktjnnte er es sonst sagen, daB niemand vom<br />

Tun des Stromes wisse? (Au8erdem aber miissen wir bedenken,<br />

daB dieses Wort, mit dem die Isterhymne abbricht, in einer<br />

eigenen Weise von jenem Strom gesagt wird, als welcher<br />

>>der Rhein.< im Unterschied (>>aber>Ister>dichterischeder scheinet. . .u)<br />

Das dichterisdre Wort enthiillt diese Verborgenheit des<br />

stromhaften Tuns, und zwar als ein solches. Dieses Enthiillen<br />

ist dichterisch. Was und wieviel der Gesang hier vermag, wenn<br />

2I


24 Das Didtten des Wesens der Striime<br />

Der Stront als Aufenthalt des Mensdr.en<br />

25<br />

wird und was das Schicklidre ist. Doch bleibt das Eigene oft<br />

lange Zeit dem Menschen fremd, weil er es verldBt, ohne ss<br />

angeeignet zu haben. Und er verld8t es, das Eigene, weil dieses<br />

am ehesten den Menschen zu iiberwiiltigen droht. f)as<br />

Eigene ist am wenigsten das, was sich von selbst macht. Das<br />

Eigene bedarf einer Zu-eignung. Und das Zugeeignete wiederum<br />

bedarf der Aneignung. Dies alles ist wahr nur unter<br />

der Voraussetzung, da8 der Mensch zunichst nicht und nie<br />

>von selbst>NaturNaturmacht


26 Das Dichten des Wesens der Strdme<br />

um den Grund dafiir einzusehen, da8 wir jetzt mit Anmer'<br />

kungen beginnen, die fragen wollen' in welcher Weise dis<br />

>>Isterhyrnne>neuen Ansiclt< iiber<br />

die Dichtung iiberwinden; denn was der geschichtliche Mensch<br />

von der Dichtung htilt und halten kann, bestimmt sich aus<br />

dem, was er vom Wesen der Kunst halten mu8 und hiilt. Und<br />

was der gesdeichtliche Mensch von der Kunst hiilt, regelt sich<br />

aus der Art, wie der geschidrtliche Mensch seinerseits vom Wesen<br />

der Kunst gehalten und getragen wird. Die Weise jedoch,<br />

nach der die Kunst das In-der-Welt-sein des geschichtlichen<br />

Menschen durchspannt, ihm die WeIt und ihn selbst erhellt<br />

und zustellt,die Weise, wie die Kunst Kunst ist, das empfdngt<br />

Gesetz und Gefiige aus der Art, wie das Weltganze iiberhaupt<br />

dem Menschen geiiffnet ist. Dieser Offenheit zufolge und je<br />

gemiifJ ist dann der Mensch selbst weltoffen. Wir gebrauchen<br />

hier >Welt> Interesse nimmt Metaphysikist


Ir<br />

!<br />

28 Das Dichten des Wesens der Str6me<br />

Der Strom ak Aufenthalt des Menschen<br />

29<br />

nun die Kunst notwendig ihren Bereich des Darstellens irq<br />

Werk hat und das Werk je aus einem sinnlichen Werkstoff;<br />

Wortklang, Farbe, Stein, Holz, Ton, besteht, ist alle Kunst<br />

sinn-bildlich, das Wort in der weiten metaphysischen Bedeu.<br />

tung genommen.<br />

Weil nun seit Platons Zeiten die Metaphysik in ihrer<br />

zweitausendjiihrigen Geschichte bis zu Nietzsche wesentliche<br />

Wandlungen durchgemacht hat, muBte sich auch das Verhiiltnis<br />

des sinnlichen und iibersinnlichen Bereiches und die Bestimmung<br />

der Bereiche selbst verschiedenartig gestalten - so<br />

verschiedenartig, daB zuletzt die platonische Unterscheidung<br />

und Rangordnung des Sinnlichen und Ubersinnlichen siih umkehrte.<br />

Dem reiihen inneren Wandel des Wesens der Metaphysik,<br />

der bine- uns noch verborgenen Gesetz einer verborgenen<br />

Geschichte folgt und keineswegs die Ausgeburt beliebig wechselnder<br />

Ansichten einzelner Denker und ihrer >>sonderbaren<<br />

Standpunkte ist, diesem Wesenswandel der Metaphysik entspricht<br />

auch der Wandel des sinnbildlichen Wesens der<br />

Kunst.<br />

Deshalb sind z. B. die griechische Vasenmalerei, die pompejischen<br />

Wandgemdlde, die Reichenauer Fresken der ottonischen<br />

Zeit, die Gemiilde Giottos, ein Gem?ilde Diirers und ein<br />

Bild von C. D. Friedrich nicht nur ihrem Stil nach verschieden,<br />

sondern der StiI selbst ist verschiedenen metaphysisihen Wesens.<br />

\Mas in Diirers BiId der >Akelei>Reale>realistischEntwertung


50 Das Dichten des Wesens der Striime<br />

Der Strom als Aufenthalt des Menschen<br />

51<br />

Landschaftssdeilderungen sind, was sie offensichtlich nicht seix<br />

wollen.<br />

Wenn nun aber Hijlderlins <strong>Hymne</strong>ndichtung ein Nennen ist<br />

und das Nennen das Genannte erst ins Wesen hebt und dichtet,<br />

dann kdnnen die Stromdichtungen nicht Gedichte >iiber<<br />

Strtime sein, wobei diese, in ihrem Wesen sdron bekannt, als<br />

Bild- und Kennzeichen fiir anderes genommen werden. Wir<br />

behaupten deshalb: Htjlderlins Stromdichtung, ja seine <strong>Hymne</strong>ndichtung<br />

im Ganzen, ist nicht sinnbildlicb. Darin liegt<br />

die weitertragende Behauptung: Diese Dichtkunst ist nicht metaphysisch.<br />

Insofern es Kunst im strengen abendliindischen Begriff<br />

nur als metaphysische Kunst gibt, ist Hijlderlins Dichtung,<br />

wenn sie nicht mehr metaphysisch ist, auch nicht mehr<br />

>KunstPhilosophiePhilosophie< heiBt, ist Metaphysik.<br />

Der Satz: Hiilderlins Dichtung ist nicht sinnbildlich, mdchte<br />

nun aber zundchst nur als Anmerkung genommen werden, die<br />

uns helfen soll, auf die eine Stromdichtung >>Der Ister< aufmerksam<br />

zu werden, das in ihr Gesagte deutlicher zu vernehmen.<br />

Hciiderlins Stromdichtung fa8t also nach der vermerkten<br />

Behauptung den Strom nicht als >Bild< fiir einen in irgendeinem<br />

Hintergrund wartenden hintergriindigen Sinn. Der<br />

Strom ist nicht Symbol und Kennzeichen. Nun sagt aber die<br />

Isterhymne selbst V. 49 ff. dieses:<br />

. . . Umsonst nicht gehn<br />

Ln Troknen die Strcime. Aber wie? Sie sollen nemlich<br />

Zur Sprache seyn. Ein Zerchenbraucht es, . . .<br />

Wird uns hier nicht in aller handgreiflichen Deutlichkeit gesagt,<br />

da13 die Strijme ,zur Sprache< sind, also >AusdruckZeichen< sind - also Kennzeichen fi.ir anderes? Der<br />

Dichter bezeugt doch selbst das Sinnbildhafte seiner Dichtung.<br />

rlnrl das nicht nur hier und im Bezug auf die Striime. Denken<br />

5" an den Beginn einer andereD Hyrnne, die iiberschrie-<br />

""r<br />

*, irt ,>Mnemosyne


50 Das Dichten des Wesetu der Str6rne<br />

Land.scleaftsscJeilderungen sind, was sie offensichtlich nicht sein<br />

wollen.<br />

Wenn nun aber Hijlderlins <strong>Hymne</strong>ndichtung ein Nennen ist<br />

und das Nennen das Genannte erst ins Wesen hebt und dichtet,<br />

dann kdnnen die Stromdichtungen nicht Gedichte >>iiber<<br />

Strijme sein, wobei diese, in ihrem Wesen schon bekannt, als<br />

Bild- und Kennzeichen fiir anderes genommen werden. Wir<br />

behaupten deshalb: Hijlderlins Stromdichtung, ja seine <strong>Hymne</strong>ndichtung<br />

im Ganzen, ist nicht sinnbildlich. Darin liegt<br />

die weitertragende Behauptung: Diese Dichtkunst ist nicht metaphysisch.<br />

Insofern es Kunst im strengen abendliindischen Begriff<br />

nur als metaphysische Kunst gibt, ist Hijlderlins Dichtung,<br />

wenn sie nicht mehr metaphysisch ist, auch nicht mehr<br />

>KunstDer Ister< aufmerksam<br />

zu werden, das in ihr Gesagte deutiicher zu vernehmen.<br />

Hijlderlins Stromdichtung faBt also nach der vermerkten<br />

Behauptung den Strom nicht als )Bild< fiir einen in irgendeinem<br />

Hintergrund wartenden hintergriindigen Sinn. Der<br />

Strom ist nicht Symbol und Kennzeichen. Nun sagt aber die<br />

Isterhymne selbst V. 49 ff. dieses:<br />

. . . IJmsonst nicht gehn<br />

Im Troknen die Striime. Aber wie? Sie sollen nemlich<br />

Zur Sprache seyn. Ein Zeichen braucht es, . . .<br />

Wird uns hier nicht in aller handgreiflichen Deutlichkeit gesagt,<br />

dalS die Strijme >zur Sprache< sind, also >Ausdruck>Zeichen>Mnemosyne>Zeiihen<<br />

heiBt und >SpracheHier aber wollen<br />

wir bauen


l<br />

32 Das Didtten des Wesens der Strtime<br />

Die Striirne in "Stimme<br />

desVolkes"<br />

c3<br />

6- Die Strijme als die "schutindenden"<br />

und "ahnungsuollenn<br />

in"Stimme desVolkes"<br />

fn den beiden ersteu Strophen des Gedichtes >Stimme dgs<br />

Volkes,< hei8t es von den Striimen:<br />

(Jm unsre Weisheit unbeki.immert<br />

Rauschen die Striime do& auch, und dennodr<br />

Wer liebt sie niiht? und irnmer bewegen sie<br />

Das Herz mir, hiir ich ferne die Schwindenden<br />

Die Ahnungsvollen, meine Bahn nicht<br />

Aber gewisser ins Meer hin eilen.<br />

Wir bemiihen uns allerdings vergeblich um diese Verse, wenn<br />

wir die beiden ersten Strophen nicht aus dem Ganzen des Gedidrtes<br />

denken und au8erdem im Hinblick auf die Art, wie<br />

Hiilderlin die zweite Fassung gegeniiber der ersten gedndert<br />

hat. Daher kann jetzt, wo wir dieses Gedidrt iibergehen miissen,<br />

nur aus einer fast unaufheblichen Dunkelheit das erwdhnt<br />

werden, was Htilderlin hier von den Striimen sagt.<br />

Unbekii-'"ert sind die Strijme um mensdrliche Weisheit,<br />

weil sie niirrrlich ihr eigenes Wissen haben, den >>Stromgeistzentris&e>zentrale< Aufenthalt im Exzentrischen hat seine<br />

Vorstufe in der Liebe. Die eigentliche Sphdre des Stehens in<br />

i", exz"otischen<br />

Mitte des Lebens ist der Tod' Die schwina"oa""<br />

und ahnungsvollen Strijme gehen nicht die Bahn des<br />

M"or"h"tt.<br />

Hart steht am Ende des Verses 7 das >nicht>wie der Gott und Mensch sich paart, und grdnzenlos<br />

die Naturmadet (das Heiliget) ,r.td des Mensihen Innerstes<br />

im Zorn Eins wird.< (V' 181). Das ahnungsvolle Wegschwinden<br />

der Strijme in ihre eigene Bahn ist wie ein Verlassen<br />

des Bereiches der Landschaft des Menschen; ist wie eine<br />

Untreue gegen diese. >Und dennoch, wer liebt sie nicht?< Es<br />

will scheinen, als sei in der Gestalt der Schwindenden der<br />

Stromgeist am besten zu behalten, als gehiire dieser rdtselhaften<br />

l-Intreue gerade das eigentliche Andenken. Befremd-<br />

Iiche Ausblicke iiffnen sic.h hier in das Wesen und die Art der<br />

Miigliihkeit, nadr der die >>Naturmadrt>Stromgeist<<br />

allein ergriffen werden [ann, ninrlich durch ein Mitgehen mit<br />

ihnsa, welches Mitgehen dodr wieder ihre Bahn nicht geht und<br />

ihr sonadr auswei&t. (Hiiiderlin schreibt einmal aus dem Nachdenken<br />

iiber das Wesen des Tragischen der griechischen Tragiidie:<br />

>>Es ist ein grosser Behelf der geheimarbeitenden Seele,<br />

dass sie auf dem hijchsten Bewusstseyn dem Bewusstseyn ausweicht,<br />

und ehe sie wirklich der gegenwaftige Gott ergreift,<br />

mit kiihnem oft sogar blasphemischem Worte diesem begegnet<br />

und so die heilige lebende Miiglichkeit des Geistes erhalt.<<br />

v,255).<br />

Deutlicher sehen wir zund.chst nur dieses, da8 die Striime<br />

selbst in ihrem Striimen zwiefach gerichtet sind. Als der<br />

Schwindende ist der Strom unterwegs in das Gewesene. Als<br />

der Ahnungsvolle geht er in das Kommende. Der Strom ist<br />

eine Wanderung von einziger Art, sofern sie zumal in das Gewesene<br />

und in das Kom'nende geht. Wobei wir zu bedenken<br />

haben, daB sich das Ahnen nicht allein auf das Kommende,<br />

I (das Heilige)<br />

Zusatz von Heidegger,


54 Das Dichten des Wesens der Strdme<br />

sondem zugleich auf das Gewesene bezieht. Insgleichen geht<br />

das Schwinden nicht nur in das Gewesene, sondern ebenso in<br />

das Kommende. Geahnt wird zwar, na&' der gewiihnlichen<br />

Meinung, stets nur das Kornmende. Allein, aude das Gewesene<br />

liiBt sich ahnen. Das Gewesene erlangen wir als das Gewesene<br />

und so als das Wesende nur in der Erinnerung. Dodr das<br />

eigentliche Erinnern ist ein Ahnen; denn die eihte Erinnerung<br />

erschi;pft sich nicht darin, zu einem Vergangenen nur zuriickzukehren<br />

und dabei zu beharren und in solcher Beharrung<br />

beim Vergangenen sich zu verhd.rten. Solange das Erinnern<br />

nur ein Vergangenes bestarrt, ist es noch gar nicht Erinnern.<br />

Es geht nicht dem Inwendigen des Gewesenen nach und<br />

nimmt das Inwendige auch nicht in den Bezug zu der inneren<br />

Mitte, aus der das Erinnern selbst kommt. Das Erinnern bleibt<br />

als unechtes an der AuBenfliiche des bloBen Vergangenseins<br />

des >>Erinnerten< haften und bezieht diese AuBenfldche wiederum<br />

nur auf das gerade Gegenw6.rtige, was selbst nur das<br />

Au8enwendige des eigentlich Jetzigen ist.<br />

Echte Erinnerung ist Zuwendung zum unerschlossenen Inwendigen<br />

des Gewesenen. Echtes Erinnern ist ein Ahnen. VieIleicht<br />

ist die Erinnerung sogar ein urspriinglicheres Ahnen als<br />

dasjenige, das nur in ein Kommendes hinausvermutet. Und<br />

vollends wdre die Erinnerung dann die tiefste Ahmrng, wenn<br />

das I(ommende, worauf das Ahnen sonst geht, aus dem Gewesenen<br />

kommt. Das Ahnen und gar erst die Ahnungsvollen reichen<br />

und gehen zumal in das Kommende und Gewesene. Insgleichen<br />

aber ist das Schwinden der Schwindenden nicht nur<br />

das grobe Verschwinden in das Erledigte und Vergangene.<br />

Wegschwinden kann auch sein: das unauffdllige Weggehen in<br />

das Kommende, in die entschiedene Zugehiirigkeit zu diesem.<br />

Solches Wegschwinden in das Kommende kehrt dem Gewesenen<br />

nicht den Riicken. Das Gewesene ist ihm vielmehr aus dessen<br />

eigener Wesensfi-ille vertraut, so da8 das Wegschwinden<br />

in das Kommende gar nicht erst einer nachtriiglichen Zuwendung<br />

zum Gewesenen bedarf.<br />

Die Strdrne in >Stimme desVolkeso<br />

Der Strom ist zumal der in einern gedoppelten Sinne<br />

Srhwindende<br />

und Ahnungsvolle. Dem Strom eignet so die<br />

itill" d"r lVesens der Wanderung. Der Strom ist Wanderung<br />

n"io", erfiillten einzigen Weise'<br />

Wir nennen das erfiillte Wesen der Wanderung die Wanderschaft,<br />

in der Entsprechung zur Ortschaft des Ortes. Der Strom<br />

ist die Wanderschaft. Wir sagen nicht, er sei ein >Bild< der<br />

Wanderschaft, etwa des Menschen auf seinem Weg von der<br />

Geburt zum Tod. Dieser Weg kann iiberdies christlich gedeutet<br />

werden als ein Durchgang durch das Irdische, das fiir ein Jammertal<br />

gilt. Dieser Durchgang ist dann eine Ableistung von<br />

Forderungen, durde deren Erfiillung der Besitz des Uberirdischen<br />

verdient wird. Von dieser christlichen Vorstellung eines<br />

irdischen Weges des Menschen ist das, was hier im Hinblick<br />

auf die Strijme Wanderschaft genannt wird, grundverschieden.<br />

Diese Wanderschaft, die der Strom selbst isf, bestimmt die Weise,<br />

wie der Mensch auf dieser Erde heimisch wird. Wenn Hijlderlin<br />

aber >Erde< sagt, meint er keineswegs das metaphysisch-christlich<br />

verstandene >IrdischeverlorenGrund< des Heimischen zu gewinnen.<br />

Hiilderlin hat eine <strong>Hymne</strong> gedichtet, deren Uberschrift hei8t<br />

>Die Wanderung


50 Das Didtten d.es Wesens der Strome<br />

Die Str6me in >Stimme desVolhes"<br />

JI<br />

zeugt der Name >>Hertha>die Mutter ErdeWerte< und >Ideen>ErdeIrdische>Stirn"'e des Volkes< wurden die beiden<br />

ersten Strophen zu Hilfe genommen, um ein Wort Hijlderlins<br />

iiber die Strtime zu hiiren. Das Gedicht selbst lassen wir in sich<br />

beruhen. Die beiden vorliegenden Fassungen, die um 1800/01<br />

-nfftanden sind, zeigen die Vielr2iumigkeit des Hijlderlinschen<br />

il"ot""t. Wir ktinnen hier nicht darauf eingehen. Auch der<br />

it ,terschied der beiden Fassungen bediirfte einer eigenen Bei"ar.*g.Er<br />

erschtipft sich nicht darin, daB die zweite Fassung<br />

ia& dem Vorbild Pindars einen Mythos einfiigt' Entscheidend<br />

ist die verschiedene Gestaltung der beiden Schlu8strophen, die<br />

i:r der Abweichung voneinander sich eigentiimlich ergdnzen<br />

und in ihrer Einheit erst sagen' wie Hiilderlin das Wesen der<br />

des VolkesWandersihaftder< Strijme<br />

als eine Eigenschaft, die ihnen unter anderen audr zukommt,<br />

wobei sie dann au8erdem immer auch noch die Striime sind.<br />

Vielmehr sind sie als Strtjme gerade dies: Wanderschaft. Und<br />

wenn wir sogleich dazu fragen, wer oder was da wandere und<br />

in solcher Wanderschaft sei, dann lii8t side darauf zunddrst<br />

keine Antwort geben; denn die Behauptung - die Striime sind<br />

die wandernden, ist zwar richtig, aber sie ist keine Antwort,<br />

weil sie sich ja unversehens und unbestinamt auf das Erfahrungsbild<br />

der wirklich genannten Strijme beruft, dieses in der<br />

Antwort unterstellt, statt jetzt zu bedenken, daB das Wesen<br />

der Striime als Striime erst aus der Wanderschaft ersehen werden<br />

soll. Der Strom ist die Wanderschaft des Heimischwerdens


58 Das Dichten des Wesens der Str6me<br />

des geschichtlichen Menschen auf dieser Erde. Hiilderlin den[.<br />

die Erde, wie es z. B. der Name >Hertha< ankiindigt, als Q;;1,<br />

tin. Hijlderlin denkt die Erde nicht >irdisch< im christlicheq<br />

Sinne als das von dem einen und einzigen Schiipfergott Geschaffene,<br />

zu dem derselbe Gott als Erltjser in Menschengestalt<br />

herabgestiegen. Nun ist dies freilich leicht gesagt, die Er_<br />

de sei fiir Hiilderlin die >>Murter Erde< und diese sei Giittin.<br />

Seitdem Norbert von Hellingrath den Deutschen erstmals den<br />

Blick fiir Hiilderlins Dichtung geiiffnet hat, steigt nun auch<br />

die Gefahr, da8 man in der Literaturwissenschaft von >Flijlder-<br />

Iin und seinen Giitterniiber< sie, oder gar noch<br />

Auszige aus solchen Biichern zu lesen, verschdrft sich die Gefahr<br />

noch einmal, da8 die Meinung sich verfestigt, die Gtjtter<br />

in der Dichtung Hcilderlins iie8en sich auf literarisihem Wege<br />

feststellen und ertirtern. Es rnacht im Wesentlichen keinen Unterschied,<br />

ob man dazu noch die christliche Theologie zuhilfe<br />

ruft und darlegt, daB die Gijtterlehre Hijlderlins eine Verfallsform<br />

des einen wahren christlichen Monotheismus sei, oder ob<br />

man mit Hilfe der Mythologie der Griechen und ihrer Abwandlung<br />

bei den Rijmern die Gijtter >erkldrt


40 Das Dichten des Wesens der Strtinrc<br />

tausiht, welches Verfahren die ohnedies sihon bestehende Uabestimmtheit<br />

ihrer Bedeutung und des von ihnen gemeinten<br />

Wesens nur noch steigert. Dieser Sihein eines blo8en Spielens<br />

mit Wijrtern lnBt sich nidnt sogleida beseitigen' Wir miissen<br />

sogar zugestehen, da0 solche Siitze iiberhaupt nicht unmittelbarverstandenwerden<br />

kijnnenwie die Aussage: Heute ist Dienstag.<br />

Die genannten Sdtze sind aus einem wesentlichen Grunde<br />

in einem gewissen Verstiindigungsbezirk immer unverstdndlicle.<br />

Die Unverstd.ndlichkeit soldrer Sdtze griindet nicht in einem<br />

zufdlligen Mangel sonst erreichbarer Kenntnisse' Auch<br />

wer solche Sd.tze einmal versteht, versteht sie doch nicht zu<br />

jeder beliebigen stunde. wir sind vom Begreifen solcher siitze<br />

so lange ausgeschlossen, als nicht ein wesentlicher Wandel<br />

unseres Wesens sich >>ereignet< hat'<br />

Wozu mtigen wir dann aber solche Sdtze vortragen? Um diesen<br />

Wandel vorzubereiten, eher noch, um iiberhaupt einmal<br />

zu wissen, da8 der Strom ein >RdtselKreuzwortrdtsel>der vom Indus kommtRatRdtsel< iedenfalls im Umkreis dieser {Jberlegungen sorgfdltiger<br />

denken. Der Strom ist ein Riitsel. lVir diirfen es nicht<br />

>Itfsen


+2 Das Dichten des Wesens der Strdme<br />

Der Strom ak Ortsduft undWanderschaft<br />

4Z<br />

terische Aussage: Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft.<br />

Der Strom ist die Wanderschaft der Ortschaft.<br />

Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft, weil er dn5<br />

>>Dort< und das >>Da< bestimmt, wo das Heimischwerden ankommt,<br />

von wo es aber auch als Heimischwerden seinen Ausgang<br />

nimmt. Der Strom gewdhrt nicht nur den Ort, im Sinne<br />

des bloBen Platzes, den der wohnende Menseh besetzt. Der<br />

Strom selbst hat den Ort inne. Der Strom selbst wohnt.<br />

Im Beginn der zweiten Strophe der Isterhymne heiBt es vom<br />

Ister selbst: >Schiin wohnt er>Hier>vom Indus her.rl und dies Von-dort-hierher geht<br />

iiber den Alpheus. Der Strom bestimmt die Wanderung und<br />

den in ihr gegriindeten Bezug der erwanderten und so selbst<br />

wandernden Orte. Die Wanderung geht vom Indus, also vom<br />

Osten her, iiber das Griechenland hieher an die obere Donau<br />

nach Westen. Die Donau striimt nun aber doch in Wirklichkeit<br />

genau in der entgegengesetzten Richtung. Wenn also der<br />

Strom selbst die Wanderschaft vom Morgenland nach dem<br />

Abendland wd.re und sollte sein kiinnen, dann miiBte der Ister<br />

seinem eigenen wirklichen Striimen entgegenlaufen. Nun<br />

bleibt aber der wirkliche Lauf der Donau von Westen nach<br />

Osten so gewiB festgestellt, daB dariiber kein Wort zu verlieren<br />

ist. AJlein, im Beginn der dritten Strophe der Isterhymne<br />

heiBt es vom rster: Der scheinet aber fast<br />

Riikwiirts zu gehen und<br />

Ich mein, er miisse kommen<br />

Von Osten.<br />

Vieles wdre<br />

Zu sagen davon.<br />

Das behutsame und behiitete Auge des Dichters sieht den<br />

Strom >rilckwdrts gehender scheinet<br />

aber fastnatiirlich< nur ein Schein ist. Vielmehr sagt der Vers, dichterisch<br />

gedacht: Der Strom geht in Wahrheit riiclUnd ich meinund mir ist soich erfahre die Notwendigkeit, aus der der Strom von Osten<br />

kommt.< DaB nun aber dieses Vermuten und Meinen keine<br />

willkiirliche Annahme und keine leere Ansicht und kein fliichtiger<br />

Einfall ist, vielmehr aus dem Mut und dem Gemiit der<br />

dichterischen Grundstimmung entspringt, das sagen die folgenden<br />

zwei Verse:<br />

Vieles wdre<br />

Zu sagen davon.


44. Das Dichtan des Wesens der Striime<br />

>Wdre zu sagen( - lvenn es nrirnlich schon dafiir an der Z-gi1<br />

wdre, wenn nicht zuvor noch vieles andere zum Austrag gu.<br />

bracht und getragen werden miiBte. Dieses dichterische $lirsen<br />

von der Wanderschaft des Stromes, das bis in das unmittel.<br />

bare landschaftliche Erscheinen dem greifbaren und sichtbarerr<br />

Wirklichen entgegengesetzt ist, diirfen wir daher auch nicht<br />

an der Erkenntnis des Wirklichen messen, die >Tatsachen<<br />

feststellt und vorgibt, auf Grund des >>Tatstidrlichen< im Besitz<br />

des >>Wahren< zu sein. Das dichterische >>Meinen< hat scine<br />

eigene Wahrheit und diese wieder ihr eigenes MaB. Wenn wir<br />

darauf hinweisen, dann verfdllt dieser Hinweis im voriterrschenden<br />

Gesichtskreis des neuzeitlideen Denkens doch leicht<br />

der MiSdeutung. Fiir das rechnerische Tatsaihenwissen ist<br />

Kunst eine Illusion: das Zuspielen einer Scheinwelt' Aber das<br />

neuzeitlidr-rechnerische Denken ist in seinem umfassenden<br />

Anspruch auf Allgemeingiiltigkeit viel zu beredrnend, als da8<br />

es den >>WertAktivit?it< bleibt sie doch unentbehrlidr.<br />

Im Sinne solcher Unentbehrlichkeit ist auch die<br />

Kunst etwas >Wirkliches< und das heiBt dann Wahres. Die<br />

Kunst hat im Verband der zum >>Einsatz>Wahrheit>Kunst>Kunst< fiillt. Das griechisdre Wort fiir Kunst hei3t<br />

t61vq. DaB Platons Besinnung auf das Wesen des Schiinen in<br />

eine Eriirterung des Wesens der t61v1 einmi.indet, ist fiir die<br />

gesamte abendliindisch-metaphysische Deutung der Kunst und<br />

ihrer >WahrheitHierschtin wohntn, ist die Fleimat<br />

des Dichters. Die zweite Strophe der Isterhymne sagt es:<br />

. . . Es brennet der Sdulen Laub,<br />

Und reget sich. Wild stebn<br />

Sie aufgerichtet, untereinander; darob<br />

Ein zweites Maas, springt vor<br />

das Dach. ..<br />

]:1t".""<br />

. . . . Darum zog jener lieber<br />

An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,<br />

Hoch duftend oben, und schwarz<br />

Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen<br />

Ein Jdger gern lustwandelt<br />

Mittags, und Wachstum hiirbar ist<br />

An harzigen Bdumen des Isters, . . .


46 Das Dichten des Wesens der Striime<br />

Wir kiinnen . iirtlidr und zeitlich diese Landschaft genau [g.<br />

stimmen; gemeint ist das obere Donautal zwischen Beuron u14<br />

Gutenstein im beginnenden Herbst. Also nun doch eine Landschaftsschilderung,<br />

und wenn nicht gerade eine >realistische<<br />

Abschilderung, dann wenigstens die Darstellung einer >idealen<br />

Landschaft


4€ Das Dicltten des Wesens der Strdrne<br />

ten< gebracht: x y z - Koordinaten, d. h. Zuordnungslinien<br />

Diese Koordinaten sind zugleich analytisch, und d. h. a.ithnru.<br />

tisch-algebraisch gedacht, Zahlen, die in ihrer Verdnderlichkeit<br />

jeweils den Ort des jeweils gewd.hlten Raumelemells.<br />

bestimmen. Wird das Raumelement als bewegt gedacht, d. h<br />

als solches, das >in der ZeitfolgeWeltlinie< begreift und sie<br />

als vierte Dimension den Raumkoordinaten zuordnet. Die vierdimensionale<br />

Raum-Zeit-Welt und nur sie bestimmt jedes<br />

Weltelement zu einem solchen. Etwas isf aber fiir die rechnen_<br />

de Betrachtung das, was es ist, nur durch das, was es leistet.<br />

Und die Leistung, d. h. Arbeit pro Zeiteinheit, bestimmt sich<br />

aus dem Produkt von Kraft und Weg dividiert durch die Zeit.<br />

Die Wirklichkeit eines Wirklichen bestimmt sich, d. h. berriBt<br />

sich, aus seiner WirkungsgrijBe. Dabei ist die Grii8e der !Virkung<br />

nicht eine bloBe Eigenschaft des Wirklichen, sondern das<br />

allein giiltige wirkliche selbst. Das wirkliche ist nichts anderes<br />

als das Wirkungsquantum. Nur eine so bestimmte und bestimmbare<br />

Wirkungsgrti8e ist ein Wirkliches. Genauer: von dicsem<br />

Wirklichen aus wird alle >Wirklichkeit< gedacht.<br />

Alles neuzeitliche Denken iiber das Wirkliche jeder Art ist<br />

Ordnungsdenken im Sinne des Zuordnungsdenkens. Zugeordnet<br />

wird Leistung zu Leistung, Arbeit zu Arbeit. Der Name<br />

fiir menschliches Tun und Trachten, >arebeitLeistungFunctio<<br />

,*-di" Verrichtung und Leistung, das, was ein Vorgang ab-<br />

"irft,na Etfol9,."rgibt' Die Wirklichkeit des Wirklichen<br />

"1<br />

iot"Ut in seinem Wirken, d' h' in der Wirksamkeit, d. h. in<br />

i,, Leistung, d. h. in der Funktion' Das Wirkliche ist nicht<br />

J"U aur in sich Bemhende und Ruhende und Bestehende, die<br />

Substanz,<br />

sondern die Funktion. Die Philosophie hat bereits<br />

irn vorigen Jahrhundert die Umbildung des Substanzbegriffes<br />

in den Funktionsbegriff klar erkannt und ausgesprochen. Sofern<br />

nun das Wirkliche als Funktion begriffen und zugleich<br />

der mathematisch-technischen Berechenbarkeit unter-<br />

,-t"[t *i.d, muB auch das mathematische Denken sich entsprecihend<br />

wandeln.<br />

Im Beginn der Neuzeit entsteht die Fluxions- und Funktionsrechnung,<br />

die rnetaphysisde der Naturrvirklichheit als<br />

einem funhtionalen Wirkungszusammenhang in Raum und<br />

Zeit zugeordnet ist. Das Ganze des Wirklichen ist ein System<br />

von wechselweise abhdngigen funktionalen Zustandsd.nderungen.<br />

a : f (b). a ist nichts anderes als Funktion von b. >Sein<<br />

heiBt niihts anderes als Funktionsein und Funktiondrsein von<br />

b. Insgleichen wird das Ursachesein von etwas (Kausalitdt), also<br />

das Wirken eines Wirkenden, d. h. die Wirklichkeit des Wirklichen,<br />

>funktional< gedacht. Kant hat diese Auffassung des<br />

Ursadreseins, d. h. des Wirkens, erstmals auf den philosophischen<br />

Begriff gebracht: >rverursachtsein durch etwas>Zwecke< sind nur eine Art von lJrsachen, und<br />

die Zweckmii8igkeit ist ein Ursache-Wirkungsverhdltnis, das<br />

der Funktionalisierung muB unterworfen werden kijnnen.<br />

WeiI nun diese Weltordnung in ihrem eigenen Bezirk fortgesetzt<br />

durch das Geordnete neu bestdtigt und durch die Anhdufung<br />

von Erfolgen immer bestdtigter wird, miissen auch<br />

die Grundztige dieser Ordnung und sie erst recht als das erscheinen,<br />

was keiner weiteren tsestiitigung mehr bedarf. Dieses<br />

ist mit das metaphvsisch Entsdreidende im Wandel des


50 Das Didtten des Wesens der Striime<br />

abendldndischen Wirklichkeits- und Seinsbegriffes, daB 4iu<br />

Grundziige der Ordnung der >vierdimensionalen WeltErkldmng< gar keinen Nutzen abwirft. So<br />

leistet z. B. eine Besinnung auf das Wesen der Zeit nichts fiir<br />

die Verbesserung der Apparate der Zeitmessung, weshalb eine<br />

Besinnung auf das Wesen der Zeit mit Recht zu den ergebnislosen<br />

Sachen gerechnet wird. Insgleichen ist auch in ihrer Weise<br />

die Haltung begriindet, die meint, was einer weiteren berechnenden<br />

Befragung nidrt wert, ihrer iiberhaupt auch nicht<br />

wiirdig sei. Somit wird der Umkreis des an sidr Klaren durch<br />

das ausgegrenzt, wori.iber nicht mehr nachzudenken man sich<br />

stillschweigend geeinigt hat. In diesem Sinne sind Raum und<br />

Zeit fi.J;r alle Raum und Zeit beherrschenden Verhaltungsweisen<br />

das Klare. Und deshalb finden wir es auch >>in der OrdnungWahrheitSinnbild< des<br />

>menschlichen Lebensdem<br />

Menschen< die Rede ist. dann meinen wir stets das Wesen des<br />

geschichtlichen Menschen der Geschichte, in die wir selbst gehiiren:<br />

das Wesen des abendliindischen Menschentums. >>Der<br />

Mensch< bedeutet weder >der Mensdr iiberhauptallgemeine Menschheit,., noch audr nur den >einzelnen<<br />

Mensdeen, noch auch nur irgendeine Form der Einigung mehrerer<br />

und vieler. Aber im Begriff des Wesens des abendliindi-<br />

5l


52 Das Didtten des Wesens der Striirne<br />

schen Menschentums sind audr notwendig und daher stets die<br />

wesentlichen Beziige mitgedadrt, in denen dieses Menschentum<br />

steht: der Bezug zur Welt, der Bezug zur Erde, der Bezug<br />

zu den Gijttern und zu den Gegengijttern und Abgiittern. Diel<br />

se Beziige sind jedoch >>dem Menschen< niiht auBerdem, dafi<br />

>>erDer Ister< geuannten Eigennamen ausclriickt.<br />

>>Hertha< ist der germanische Name der Mutter Erde. Das Heimatliche<br />

der Erde ist eigens gesagt in der zweiten Strophe.<br />

Der Name ,rlndusHerkules


5+ Das Didtten des Weseru der Strime<br />

Die metaphysisdteVorstellung uon Raum und Zeit<br />

cc<br />

dert aus sich und fiir sich und entwickelt in siih eine eigens<br />

Art von Disziplin und eine eigene Art von BewuBtsein d". Si":<br />

ges. so ist z. B. die Fabrikation von Fabriken zur Fabrizierun-o<br />

von Fabrikaten, nd.mlich Masdrinen, die selbst wieder Mu..hil<br />

nen fabrizieren, also die Erstellung einer Werkzeugmur.hinunfabrik,<br />

ein einziger in sich gestaffelter Triumph. Oru Fu.ri<br />

nierende dieses Vorgangs kann weithiir und zumal in der<br />

Koppelung mit der technisihen Disziplin das >Elendu tib"._<br />

decken, in das die Technisierung den Menschen stiiBt. Vielleicht<br />

gibt es dieses >Elend< fiir den vollendeten technisc.hen<br />

Menschen gar nicht mehr. nie neuzeitliche Maschinentechnik<br />

ist metaphysisdr begriffen eine eigene Art der >Wahrheit>WerkzeugesMittel< bleiben. Diese fiir den gemeinen Ver_<br />

stand einleuchtende Uberlegung ist gleichwohl irrig. Wer sagt<br />

denn, da8 etwas, was nicht Mittel sei, dann notwendig Zweik<br />

sein mtisse, da8 umgekehrt, was niiht der Zweck sei, dann<br />

eben doch nur den Charakter eines Mittels behalten kiinne?<br />

wer sagt denn, daB dieses Zweck-Mittel-verhdltnis iiberhaunt<br />

und sogleich ausreiche als das Entweder-Oder, in das die Bestimmung<br />

der neuzeitliihen Technik hineingepre8t werden<br />

miisse? Die Frage, ob die neuzeitlidre Technik ein Mittel oder<br />

Zweck sei, ist als Frage schon irrig, weil sie das Wesen der neuzeitii&en<br />

Technik gar nicht fa6t. Und dieses Wesen wird<br />

nicht fa8bar, weil wir gerade das, worin es festgemacht ist, die<br />

Raum-Zeit-Ordnung und die Raum-Zeit-Einheit. fiir das<br />

Fraglose nehmen.<br />

Diese selbe Fraglosigkeit von Raum und Zeit und ihrer for-<br />

,n"lhaft gewordenen Einheit ist es nun auch, die sich uns so-<br />

.-t"i& uh die Zuflucht anbietet, mit deren }Iilfe wir die Einund<br />

Wandersdraft und damit<br />

{"ituonOrtschaft<br />

diese selbst in<br />

ilrer Sondetung bestimmen m6drten. Weil wir in der Beherr-<br />

,&uog<br />

von Raum- und Zeitverhdltnissen iiber ein HijchstmaB<br />

der maschinellen Sicherheit verfiigen, hat sich der Anschein<br />

breit gemacht, als seien wir deshalb auch des \{esens von Raum<br />

wd.Zeit<br />

gewiB. Weil fi.ir die Physiker und Techniker die vierdimensionale<br />

Mannigfaltigkeit x y z t das physikalisch und<br />

te&nisch Fraglose bleibt, ja bleiben mu8, deshalb sieht es so<br />

aus, als sei die Einheit von Raum und Zeit solches, was einer<br />

Befragung nicht nur nicht bediirfe, sondern ein Fragen auch<br />

nic.ht mehr zulasse. Doch ist diese Sicherheit dieses Fraglosen<br />

nur ein Schein. Wenige Schritte geniigen, um diesen Schein<br />

zu zerstiiren.<br />

8. Die metaphysische Vorstellung uon Raum und Zeit und ihre<br />

Fragwilrdigkeit<br />

Wir fragen: Was ist und wie ist dieses Selbstverstdndliche,<br />

worinnen wir uns bewegen und was Raum und Zeit hei8t?<br />

Sind Raum und Zeit etwas )ObiektivesGegenstdndeRaum>wann>zwischenObjekte


co<br />

Das Dichten des Wesens der Strdme<br />

sind, welche Miiglichkeit der Bestimmung ihres Wesens blo*.<br />

dann noch? Was nidrt objektiv und Objekt ist, aber gl"i.U*"il<br />

ls/, kann nur Subjekt und subjektiv sein, d. h. von Gn"a_l<br />

der Vorstellungstiitigkeit des Subjektes. Raum Z"it "od<br />

.;-"r'<br />

Formen des Vorstellens, nadr denen wir Menschen die G.;.;:<br />

stdnde und die gegenstd'dlich gegebenen Abliiufe a.,tfaiii<br />

und zwar dann und immer dann, wenn wir sie nord""ru. l.*i<br />

also der Raum, um den Viilkerkiimpfe entbrenn"rr, ,u" .fiu<br />

subjektive Einbildung des Menschen, nichts, *u, ,u, ,i.6i<br />

>irgendwo< vorhanden ist? Und ist die rei8ende Zeit rrnd ihr<br />

Fortri8 nur eine subjektive Vorstellung? Wir sperren uns dugegen,<br />

Raum und Zeit fnr bloB >subjektive< Gebilde z.u nehmen.<br />

Wenn aber Raum und Zeit mehr sind als subjektive<br />

vorstellungsformen und wenn sie doih auch wieder nicht sind<br />

wie Objekte, wenn also Raum und Zeit weder etwas Obiektives<br />

nodr etwas Subjektives sein kiinnen, was sind sie dann,<br />

rvenn sie doch sind? Sie sind dann in jedem Falle solches, was<br />

im Schema des >Entweder-objektivOder-subjektiv<<br />

sich rricht unterbringen l2iBt. Und die Einheit von Raum und<br />

Zeit geht dann auch nicht darin auf, dal3 der Raum uncl clie<br />

Zeit im Vorstellen des denkenden Subjektes gewohnheitsmd-<br />

Big zusammengedacht werden.<br />

Wie kommen dann aber Raum und Zeit zu dieser doc.lr so<br />

gel2iufigen Einheit? IJnd wenn Raum und Zeit wahrhaft sind,<br />

sind sie erst geworden und entstanden? Welches ist ihr Ursprung?<br />

Eine Frage weckt hier die andere. An die Stelle der<br />

Klarheit und Fraglosigkeit der Raum-Zeit-Einheit tritt e.ine<br />

ernzige Dunkelheit und Fragwiirdigkeit. Wiederholen wir<br />

jetzt die vorigen Behauptungen, die uns so leicht eingingen:<br />

1. Ortschaft und Wanderschaft sind nur besondere Erscheinungen,<br />

gleichsam Fiille der Vereinzelung von Ort und von Zeitablauf,<br />

Besonderungen von rdumlichen und zeitlichen Verhiiltnissen.<br />

2. Raum und Zeit sind uns bekannt und klar. Uberdenken<br />

wir jetzt beide Behauptungen, dann sehen rvir: Iler<br />

Hinweis auf Raum und Zeit gibt uns keine Aufhellung iibcr<br />

i<br />

Die metaphysisclte Vorstellung uon Raum und Zeit<br />

^ -r.-ft rmd Wanderschaft, weil das, was ein Licht bringen<br />

E*""ilrt Dunkel bleibt. Nun mag es d.aran liegen, JaB<br />

des Wesens von Raum<br />

**Jntrichtlich -<br />

und Zeit im Dun-<br />

Tr Leeren tappen, da8 aber die gro8en Denker seit lan-<br />

Z<br />

""d<br />

ub", Raum und Zeit nachgedacht und die wesentlichen<br />

dariiber aufgestellt haben. In der Tat erlangte<br />

ilri--":rgen<br />

jo W"t"tt von Raum und Zeit seit Platon und Aristoteles in<br />

Hinsidrt eine Umgrenzung. Sie hiilt sich durch-<br />

I-oigt"a"r<br />

Bezirk des metaphysischen Denkens und in Begrif-<br />

Iro,<br />

"-Si1im di" in ihren Grundziigen durch Aristoteles festgelegt<br />

rurden'<br />

7;1;rrr.al die neuzeitliche Metaphysik denkt das Wesen von<br />

Raum und Zeitim' Hinblick auf die Ordnung und d. h. Messung<br />

und Grij8enbestimmung und Verteilung des Mannigfaltigen,<br />

das >in< Raum und Zeit gegeben ist. Wenn Leibniz<br />

ragt: )tempus nihil aliud est quam magnitudo motus< (die<br />

7*it ist nichts anderes als die Bewegungsgrii8e),l dann wird<br />

dte Zeit im Hinblick auf das t in der mathematisch-physikalis&en<br />

Formel gedacht. Zugleich aber erscheint in dieser<br />

Kennzeidrnung der Zeit eindeutig die aristotelische Bestimmung<br />

der Zeit wieder, wonach 1p6voE ist rigr$pdg xrvtoecoE - das<br />

geziihlte Ziihlende an der Bewegung.2 Und wenn Kant den<br />

Rau"' und die Zeit fa8t als dasjenige, >>welches macht, da8<br />

das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhdltnissen<br />

geordnet werden hann< (Kr. d. r. V. B 54), damr wird das<br />

durchg?ingig Einheitliihe der metaphysisdren Auffassung von<br />

Raumund Zeitilar.<br />

Wenn nun aber Ortschaft und Wanderschaft in der Dichtung<br />

Hiilderlins gedichtet sind, und wenn diese Dichtung nicht in<br />

den Bezirk der Metaphysik gehiirt, dann verspri&t uns die Zuflucht<br />

zu den metaphysischen Bestimmungen von Raum und<br />

Zeit keine Hilfe fiir das Verstehen von Ortschaft und Wandersehaft.<br />

Vielleicht verwehrt sogar die Metaphysik ihrer >Natur<<br />

I Leibniz. WW. Bd. V (Gerh.).<br />

t<br />

159.<br />

Aristoteles, Physik 11,21g b 1.<br />

ct


Das Dichten des Wesens d'er Strdme Die metaphysische Vorstellung 1)on Raurn und Zeit 59<br />

nach, dergleichen wie Ortsdtraft und Wanderschaft ii.1$to.<br />

;;;r-v""r*ehren hat freilide nicht die Art derausl*:kit.t uo<br />

,tU*"ft.t denn dazu miiBte ja die Metaphysik dergleichen q'iu<br />

O"rar"n und Wand.erschaft gerade kennen' Solches jedoq6 |<br />

nicht zttkennen, ist aber die Wesensart der Metaphysik. Vyn..<br />

um wenden wir uns dann aber iiberhaupt noch an die Meta'<br />

physik, warum lassen wir uns dann iiberhaupt noch auf die<br />

,"ho.r r*"i Jahrtausende hindurch herrschenden Vorstellungen<br />

von Raum und Zeit ein? Einzig deshalb, weil die Losliisung<br />

aus solcher Uberlieferung weder iiber Nacht, noc-h gewaltsaq,<br />

noch besinnungslos geschehen kann' Einzig deshalb' weil nur<br />

aus dem ausdriicklichen Hinblick auf die geliiufigen Raumund<br />

Zeitvorstellungen und. ihre metaphysische (nic.llt historische)<br />

Herkunft uns zunddrst erlaubt ist, auf das Andere' was<br />

Hiilderlin didrtet, aufmerksam zu werden' Indem er die Strti'<br />

me d.idrtet, denkt Hijlderlin in den Wesensbereich von Ort'<br />

schaft und Wanderschaft. Das auszusprechen kommt zund'chst<br />

nicht iiber eine leere Behauptung hinaus, zumal ja Hiilderlin<br />

nirgends von Ortschaft und Wanderschaft spriiht' Das sei zug"f"b".r.<br />

Wir miissen d'aher genauer sagen: Der denkende<br />

ftiir*"i, auf Ortschaft und Wanderschaft soll uns nur auf<br />

Merkmale aufmerksam machen, von denen aus das in sich ruhencle<br />

dichterische Wesen des Stromes deutlicher und das Hbren<br />

des dichtenden Wortes beholfener wird' Und weil doch auch<br />

ortschaftundWanderschaftbeiallerDunkelheitihresWesens<br />

eine Beziehung zu Raum und Zeit bei sich tragen' mu8- der<br />

Versuch, Ortschaft und Wanderschaft im Wesen zu denhen'<br />

auch stets das metaphysische Wesen von Raum und Zeit im<br />

Gedanken behalten; denn es ktjnnte sein, da8 der lVesensursprung<br />

von Raum und Zeit in dem verborgen liegt' was lvir<br />

'.rnterdemNamenortschaftundWanderschafteinheitlichzu<br />

denken versuchen. Auch miiBte dann hier der merkwiirdige<br />

Zustand seine Wurzel haben, daB wir uns zwar innerhalb von<br />

Raum und Zeit selbstherrlich bewegen und doch zugleich aut<br />

ihr wesen nicht achten. Damit wir jedoch in dem ietzt ge'<br />

trffi't'""';$ili#J}:l*i,i#t*<br />

%y,,:-"T; Zeit sind der Rahmenbau fiir das rechnend bercilt""a"<br />

ordnender >welt< als Natur und Geschichte. Die-<br />

.o rechnende, entoecrende' erobernde Durchmessung der Welt<br />

*-t"]Jt<br />

der neuzeitlidre Mensch in einer \ffeise, deren ausffi{-"T"'-TilTl'i;ffi<br />

#,'H'"J*T,ffi ;rliil"'*Y':-<br />

ob das raumgreifende und zeitraffende Vorgehen<br />

ilr*Vot*u"*,<br />

Menschen nur dazu dient. innerhalb des GaniJ"""rl"irrlruen<br />

;;;"r Planeten eine Stellung zu beziehen, die der Lebenszeit<br />

ilI", M"or.lentums den ihm gemdBen >Lebensraum< sichert'<br />

J". ob diese Raum- und Zeitsicherung in sich die weitertragende<br />

Bestimmung hat, ihrerseits neue Miiglichkeiten des<br />

*1o*gr"if"od"rr rrrrd zeitraffenden Vorgehens zu erreichen<br />

uod di"r", zu steigern. Metaphysisih unentschieden bleibt' ob<br />

*i" dieser Will" ,rrr planetarischen Ordnung sich selbst<br />

-a seine Grenze setzt. Wenn es im Blick auf diesen Vorgang' der<br />

alle Viilkerschaften und Nationen des Planeten erfa8t hat' momentweise<br />

so aussehen mag, als werde der neuzeitliche Mensch<br />

zu einem blo8en planetarisihen Abenteurer' so tritt doch zugleich<br />

da eine andere und fast gegenteilige Ersdeeinung in den<br />

iordergrund: Die raumgreifenden Bewegungen stehen im<br />

Zusamlenhang mit Siedlung und Umsiedlung' Siedeln ist als<br />

Gegenbewegrrog ein" Bewegung zur Bindung an einen Platz'<br />

Allein, u,r"lt tti"l ist unser Gesichtskreis viel zu beschrdnkt' als<br />

daB entschieden oder auih nur verrnutet werden ktinnte' ob<br />

eine Drosselung des Abenteuerli&en ein Heimischwerden in<br />

sich schlie8t, oJ", doch wenigstens eine Bedingung desselben<br />

auszumachen vermag.


60 Das Dichten des Wesens der Striime<br />

Das Heimischwerden die Sorge Hiilderlins<br />

61<br />

9. Das Heimischwerden die Sorge der Dichtung Hiilderlins<br />

-<br />

die Auseinandersetzung des F'rernden und Eigenen die Grundutahrheit<br />

der Gesdtichte - die Zwiesprache Hijlderlins<br />

mit Pindar und Soplnhles<br />

Ortschaft und Wanderschaft, worin sich das dichterische Wesen<br />

der Strtime bekundet, sind aber auf das Heimischwerden im<br />

Eigenen bezogen, und dies in der ausgezeichneten Weise, daff<br />

das Eigene, die Findung des Eigenen und die Aneignung des<br />

gefundenen Eigenen nicht das Selbstverstdndlichste und Leichteste<br />

ist, sondern das Schwerste bleibt und als dieses Schwelste<br />

in die dichterisdre Sorge gestellt wird. Zwischen dem raumzeitlichen<br />

Ausgreifen der Weltbeherrschung und der in ihren<br />

Dienst genomnenen Siedlungsbewegung auf der einen Seite<br />

und dem Heimischwerden des Menschen durch Wanderschaft<br />

und Ortsihaft waltet wohl ein geheimer Bezug, dessen geschichtliches<br />

Wesen wir nicht wissen. Wir kiinnen nur >beide<br />

Seiten<strong>Hymne</strong>< eingegangen<br />

ist, wobei allerdings die ><strong>Hymne</strong>


62 Das Dichten des Weserus der Str6me<br />

davor bewahrt, einem leicht verfdnglichen Schein dcr histo6-<br />

schen Betrachtung anheirnzufallen, ndmlich zu meinen, der<br />

Nadrweis >historischerAntigone


6+ Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

O{Bg t6:v ngor6gov griog,<br />

BqdvSrlg nor'. . .<br />

O Strahl der Sonne, das<br />

schiinste dem siebentorigen Theben<br />

nie zuvor also scheinende Licht,<br />

endlich erschienen warst du . . .<br />

Der Einzugsgesan{J beginnt mit einem Anruf der aufgehendel<br />

Sonne, die das strahlendste Licht iiber die Stadt ausgieBt. d6.,<br />

in demselben Gesang deutet sidr schon an, da8 gegen das Lichte<br />

eine Verdiisterung aufbricht, die gelichtet und entschieden<br />

werden mu8. Das aufgehende Licht gibt dem Unverborgcnen<br />

den Raum und ist zugieich die Anerkennung des Dunkels, der<br />

Verfinsterung und der Schatten. All dieses bleibt keineswegs<br />

im einfachen Gegensatz zu:-- Hellen und Durchsiihtigen, sondern<br />

Jegliches? was ist, wird durchwest vom Gegenwesen.<br />

Die beiden Hauptgestalten Kreon und Antigone stehen einander<br />

nicht gegeniiber wie Dunkel und Licht, wie schwarz und<br />

weiB, wie Schuld und Unschuld. Das Wesenhafte beider isf , rvie<br />

es ist, aber je in anderer Weise, aus der Einheit des Wesens<br />

und Unwesens. Ijnser neuzeitliches Denken ist viel zu >inteilektuellzuhause.< zu sein. Fiir unsere nddrste Aufgabe muB geniigen,<br />

dem Beginn dieses Einzugsliedes den Beginn des ersten Standliedes<br />

des Chores entgegenzuhalten, um Einiges zu ahnen von<br />

der Weite und Gegensiitziichkeit der Wahrheit, in der diese<br />

Tragiidie hin und her schwankt und doch steht. Das wahrhaft<br />

Standige muB schwanken kijnnen im gegenwendigen Andrang<br />

der offenen Bahnen der Stiirme. Das bloB Starre zerbricht<br />

aus der eigenen Erstarrung. Dem Aufgang des strahlenden<br />

Lichtes entspricht, was der Beginn des ersten Chorliedes sagt<br />

(Soph. Antig. Y. 552 ff .) :<br />

no],?,d, rd 0etvd xorl8dv dvrlp\{esenPhysik< dargelegt hat. Diese >Physik< ist die erste ausgefiihrte<br />

>Metaphysik>OntoLogiePhysik< des Aristoteles etwas wesentlich anderes<br />

meint als die neuzeitliche Naturwissensdr.aft, die wir unter dem<br />

Titel >mathematische Physik< kennen, so lliBt sich doch ein<br />

Wink entnehmen aus der Tatsache, da8 die fiir alle Metaphysik<br />

ma8gebende Wesensumgrenzung von Ort und Zeit in einer<br />

>Physik< steht. Darin liegt, grob gesagt, da8 Ort und Zeit nicht<br />

aus dem Bezug zur Geschichte und zum geschichtlichen Menschen<br />

begriffen sind, sondem aus dem Hinblick auf bloBe Be-


66 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

wegungsvorgenge iiberhaupt. Als soldre fallen auch die Ort"<br />

und Abldufe der menschlichen Geschichte in die "Dimensio_<br />

nenDeutsch-<br />

1um


68 Die Deutung des Menschenin Sophokles' Antigone<br />

und anerkannt ist, besteht die Miiglichkeit der edrten Be2iu.<br />

hung, und d. h. der Einigung, die nicht wirre Vermischune.<br />

sondern fiigende Untersdeeidung ist. Wo es dagegen ttot dubii<br />

bleibt, das Fremde zuriickzuweisen oder gar zu vernichtel.<br />

geht notwendig die Miigiiihkeit des Durchgangs durch 4ui<br />

Fremde und damit die Miiglichkeit der Heimkehr ins Eigens<br />

und damit dieses selbst verloren.<br />

Wir wissen heute, da8 die angelsddrsisdre Welt des Arnerikanismus<br />

entschlossen ist, Europa, und d. h. die Heimat, qad<br />

d. h. den Anfang des Abendlindischen, zu vernichten. Anfiingliihes<br />

ist unzerstiirbar. Der Eintritt Amerikas in diesen planetarischen<br />

Krieg ist nicht der Eintritt in die Geschichte, sondern<br />

ist bereits schon der letzte amerikanische Akt der ameril


70 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

tums entscleidet. Vgl. Hiilderlin: Der Tod des Empedo[lur,<br />

Erste Fassung, 1. Akt, 1. Szene (III, S. 79):<br />

Wirhaben auch<br />

An grossen Mdnnern unsre Lust, und Einer<br />

Ist izt die Sonne der Athenerinnen.<br />

Sophokles ! dem von allen Sterblichen<br />

Zuerst der Jungfraun herrlicfrste Natur<br />

Erschien und sich zu reinem Angedenken<br />

In seine Seele gab. - - -<br />

- - - jede wiinscht sich, ein Gedanke<br />

Des Herrlichen zu seyn, und miiclte gern<br />

Die immerschiine Jugend, eh'sie welkt,<br />

Hiniiber in des Dichters Seele retten,<br />

Und fr2igt und sinnet, welche von den Jungfern<br />

Der Stadt die ziirtlideernste Heroide sei,<br />

Die seiner Seele vorgeschwebt, die er<br />

Antigoniigenannt;...<br />

Da Hijlderlin selbst die ganze Antigone-Tragiidie des Soptrokles<br />

iibersetzthat, scheint es angemessen zu sein, auch das genannte<br />

Chorlied naih der Ubersetzung Hijlderlins zu Gehijr zu<br />

bringen. Allein, diese Ubersetzung ist nur aus dem Ganzen der<br />

Hijlderlinschen Ubertragung verstd.ndli& und auch dies wiederum<br />

nur bei der unmittelbaren N?ihe des urspriinglichen<br />

griechischen Wortes. Das gilt zwar von ieder Ubersetzungl wir<br />

miissen uns aber im Aufgaben-Bezirk dieser >Anmerkungen<<br />

zur Isterhymne mit einer Aushilfe begniigen, d. h. mit einer<br />

Ubersetzung, die im Hinbiicl. auf das, was es zu durchdenken<br />

gilt, einiges deutlicher umschreibt und heraushebt, ohne auf<br />

das Ganze der Tragiidie ausdriicklidr Bezug neh"''en zu kiinnen.<br />

Der Hinweis auf das Chorlied ist bei diesen >Anmerkungen(<<br />

zu Hijlderlins Isterhymne nicht auszulassen. Aber die Art<br />

der Ausfiihrung dieses Hinweises bleibt doch ein Not\ehelf.<br />

Sie kann im Einzelnen nicht begriindet werden, weil die Griin-<br />

Die Zwiesprache zwischen Hijlderlin und Sophokles<br />

sc. dte diese Erliiuterung und Auffassung allein begriinden<br />

ii,o,..", ihren einfachen Grund haben in einer Auslegung des<br />

Tiedtentums,<br />

die von allen bisherigen sich wesentlich unter-<br />

.-&"id"r. DaB somit die folgende Ubersetzung und Erld.uterung<br />

les Chorliedes den Anschein des >Dogmatisdren


72 Die Deutung des l\Ienschen in Sophokles, Antigone<br />

2. Strophe Auch in das Getijne des Wortes<br />

und ins windige Allesverstehen<br />

fand er sich, auch in den Mut<br />

der Herrschaft iiber die Stadte.<br />

Auch wie er entfliehe, hat er bedacht,<br />

der Aussetzung unter die Pfeile<br />

der Wetter, der ungattigen auch der F-rijste.<br />

Uberall hinausfahrend unterwegs erfahrungslos<br />

ohne Ausweg<br />

hommt er zum Nichts.<br />

Dem einzigen Andrang vermag er, dem Tod,<br />

durih keine Flucht je zu wehren,<br />

sei ihrn gegliickt auch vor notvollem Siechtum<br />

geschicktes Entweichen.<br />

2. Gegen- Gewitziges wohl, weil das Gemache<br />

strophe des Kijnnens, iiber Verhoffen bemeisternd<br />

verfiillt er einmal auf Arges<br />

gar, Wackeres zum anderen wieder gerdt ihm.<br />

Zwisdren die Satzung der Erde und den<br />

beschworenen Fug der Gijtter hindurch ftihrt er:<br />

Hochiiberragend die Stdtte, verlustig der Stiitte<br />

ist er, dem immer das Unseiende seiend<br />

der Wagnis zugunsten.<br />

Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,<br />

nicht auch teile mit mir sein Wiihnen mein \{issen,<br />

der dieses fiihret ins Werk.<br />

DaB eine zureichende Auslegung dieses Chorliedes, auch abgesehen<br />

von den sdron genannten Einschrdnkungen, unser<br />

Vermiigen naeh allen Hinsiehten iibersteigt, bedarf keiner umstdndlidren<br />

Versicherung. Auch hier milssen Anmerkungen geniigen.<br />

Was jetzt im besonderen zu seiner Verdeutlichung erw?ihnt<br />

wird, ist aus dem Ganzen des Chorliedes herausgegriffen<br />

und daher, wenn man so will, einseitig. Aber die hier verdeutlichten<br />

>Seiten< sind doch nidet beliebige. Sie haben aus<br />

Die Zwiesprache zu.,ischen Hiilderlin und Sophohles<br />

lea<br />

Gef-ige des Gesanges schon ihre Auszeidrnung' Die vier<br />

Iiii*", die herausgegriffen sind, stimmen in ihrer Z',rsammen-<br />

'oeb1igkeit das verborgene Gezilge des Gesanges' und sie gei"o<br />

aur an, was wir im Vorblick auf das dichterische Wesen<br />

L, St.o-"t erfragen wollen. Wenn wir in solcher Weise das<br />

Chortied<br />

erldutern, denken wir stets auf die Erhellung des Wesens<br />

der Strtime, d. h. des Grundgesetzes des Heimischwerdens.<br />

lndem wir an diese Sophokleische Dichtung erinnern, sind wir<br />

dabei, das Ilerzstiick der <strong>Hymne</strong>ndichtung Htjlderlins in seiner<br />

anfiinglichen Gestalt zu durchdenken. Wir gehen da, scheint<br />

es, einen Umweg. Aber im Bereich solcher Bemiihungen sind<br />

zuweilen die Umwege die ndchsten Wege.<br />

Wir erldutern kurz:<br />

1. Die beiden ersten Yerse (553/54) der ersten Strophe, die<br />

dem ganzen Chorlied das Vorspiel zu sein scheinen, in Wahrheit<br />

aber auf seine innere Mitte hinweisen, ja der Wesensgmnd<br />

dieser Tragtidie, ja sogar der Sophokleischen Dichtung im<br />

Ganzen sind:<br />

rolld rri 6ervd xorl8iv rivtlp


7+ Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

Die Bedeutung des 6er.v6v<br />

IJ<br />

Gegenstrophe, die das ga\ze Chorlied in sidr aufnehmen qo,1<br />

so erst die entscheidenden Verse im Beginn zu ihrer Wahrheii<br />

bringen (Y.575175):<br />

pflr' 6poi no,g6orrog<br />

l6vorto p{r'ioov gqov6v 6g rd6'dg6or,.<br />

Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,<br />

nicht auch teile mit mir sein Wiihnen mein Wissen,<br />

der dieses fiihret ins Werk.<br />

12. Die Bedeutung des Detv6v.<br />

(Erliiuterung des Anfangs des Chorliedes.)<br />

*olld ta 6ervd rcorl8tv dv0qcilaou 0elv6regov n6l.eu<br />

Vielfiiltig das Unheimlidre, nidrts dode<br />

iiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sidr regt.<br />

Das entscheidende Wort, das zu Beginn des Chorliedes fdllt,<br />

heiBt rd 6erv6, td 0er,v6v. Wir iibersetzen: das Unheimliche.<br />

Wenn jede Ubersetzung stets nur das Ergebnis einer Auslegung,<br />

nicht etwa ihre Vorstufe ist, dann kann die Ubersetzung<br />

des 6erv6v mit >>unheimlich< erst auf Grund der folgenden Auslegung<br />

als berechtigt oder gar als notwendig eingesehen werden.<br />

Denn zundchst ist diese Ubersetzung befremdlich, gewalts<br />

am oder > philolo gisch < gesp ro chen : >> f alsch.Ubersetzung


o Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

des Geisteshalben Htihen< sn4<br />

>Stufen


78 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

sich nichts zt entzie}r.en vermag. So kiinnen wir in der Zusammenfassung<br />

ungefdhr den Bedeutungsbereich des 6etv61<br />

umgrenzen: Es bedeutet das Dreifache: das Furchtbare, dq,<br />

Gewaltige, das Ungewiihnliche. Jedesmal ist es gegensetzlich<br />

bestimmbar: das Furchtbare als das Fiirchterliche und als das<br />

Ehrwiirdige; das Gervaltige als das Uberragende und als das<br />

nur Gewalttiitige; das Ungewiihnliche als das Ungeheure und<br />

als das in allem Geschickte. In seinem Wesen aber ist das De rv6v<br />

weder nur das Furchtbare, noch ist es auch nur das Gewaltige,<br />

noch nur das Ungewiihnli&e und gar jedesmal dieses nur nach<br />

einer Seite; das Eerv6v ist aber auch nicht bloB dieses alles zusammengehduft.<br />

Das Wesentliche des Wesens des Eer,v6verbirgt<br />

sidr in der urspriinglichen Einheit des Furchtbaren, Gewaltigen,<br />

Ungewiihnlichen. Das Wesentliche alles Wesens ist<br />

stets einzig. Das volle Wesen des 0erv6v kann daher nur in einem<br />

Einzigen sich entfalten. Wir haben in der Ubersetzung<br />

tri DeLvri wiedergegeben durch >das UnheimlicheUnheimlichen>unheimlich< iiber das im Griechischen<br />

Ausgesprochene hinsir*rtlich des Grades der Ausdriicklichkeit<br />

hinausgeht. Wir kijnnen auch sagen, die Ubersetzung<br />

sei unrichtig. Vielleicht ist sie aber deshalb wahrer, als die<br />

Ubersetzun g durch > f urchtb ar


80 Die Deutung des Menschenin Sophokles' ,4ntigone<br />

Die Bedeutung des 6elv6v<br />

81<br />

derum zeigt an, daB ein gesdrichtliches Volk nicht von selbst.<br />

und d. h. nicht ohne sein Zwtun, in seiner eigenen Sprache<br />

beheimatet ist. Daher kann es sein, daB wir zwar >deutsch<<br />

sprechen, und doch ganz >) amerikanisih< reden.<br />

Wenn zur Geschiihtlichkeit wesentliih das Heimischwerden<br />

gehtirt, dann kann auch ein geschidrtliches Volk niemals von<br />

selbst und unmittelbar in der eigenen Sprache das Geniigen<br />

seines \ffesens finden. Ein geschichtliches Volk ist nur aus der<br />

Zwiesprache seiner Sprache mit fremden Sprachen. Vermutlich<br />

lernen wir deshalb auch heute noch Fremdsprachen. Wir sowohl<br />

lvie die Japaner lernen die englisch-amerikanische Sprache.<br />

Dies hat seine eigene technisch-praktische Notwendigkeit, die<br />

niemand anzweifelt, der bei Verstand ist. Die Frage bleibt nur,<br />

ob wir auBer der Niitzlichkeit solcher Sprachkenntnisse auch<br />

ihre wesentliche Gefahr kennen. Sie liegt darin, daB wir nun<br />

iiberhaupt ieden Bezug zur fremden Sprache einzig aus dem<br />

geliiufigen technischen Verhiiltnis zu den geliiufigen Fremdsprachen<br />

beurteilen. Tun wir das, dann gilt uns z. B. das Ubersetzen<br />

fiir nidrts anderes als eine technische Vorkehrung. Das<br />

>Ubersetzen< ist eirre Art >Umleitung(< des spraihlicJren Verkehrs.<br />

Wir ahnen kaum noch etwas davon. daB das Ubersetzen<br />

eine Zwiesprache sein kann, gesetzt nimlich, da0 die zu iibersetzende<br />

Sprache noch die Art einer wesenhaften Sprache hat.<br />

>Ubersetzen< ist gar nicht so sehr ein >>Uber-setzen


RO<br />

Die Deutung des Mensdten in Sophokles' Antigone<br />

1. Die beiden ersten Verse des Beginns (Y. 53515$:<br />

>Vielfiiltig das Unheimliche, nichts dodr<br />

iiber den Menschen hinaus Unheirrrlicheres ragend sich regt<br />

2. Das Mittelstiick der zweiten Strophe (V. 560):<br />

> uberall hinausf ahrend unterwegs erfahrungslos ohne<br />

Ausweg<br />

kommt er zum Nichts. <<br />

5. Das Mittelstiick der zweiten Gegenstrophe (Y.570/7I):<br />

>Hodriiberragend die Std.tte, verlustig der Stiitte<br />

ist er, dem immer das Unseiende seiend<br />

der Wagnis zugunsten. Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,<br />

nicht auch teile mit mir sein Wdhnen mein Wissen,<br />

der dieses fiihret ins Werk. <<br />

Zu 7. Die ersten Verse enthalten das Grundwort dieser Tragiidie,<br />

ja der griechischen Tragiidie iiberhaupt und damit das<br />

Grundwort des Griechentums. rd 6elv6v bedeutet einmal das<br />

Furdrtbare, zugleidr aber das Gewaltige und schlieBlich das<br />

Ungewtihnliche. Jede dieser drei in siih aufeinander bezogenen<br />

Bedeutungen meint zugleich, ob ausgesprochen oder nicht, ein<br />

Gegenwendiges. Das Furchtbare ist das Fiirchterliche, aber auch<br />

das Ehrfurchtgebietende. Das Furchtbare zeigt sich im Entsetzen<br />

sowohl als audr in der Scheu. Das Gewaltige kann das<br />

iiberall hinaus Waltende und Uberragende sein, aber zugleich<br />

das Gewalttdtige, die Verzwingung, die alle Notwendigkeit<br />

verzwingt zu einem einzigen, einfrirmigen Zwang. Das Ungewiihnliche<br />

ist das [Jngeheure, das unmittelbar jedes Gewohnte<br />

wesentlich iibertrifft, so da8 es in gewisser Weise >au8erhalb<<br />

des Gewijhnlichen steht. Das Ungewiihnliche kann sich aber<br />

auch in der Gegenrichtung innerhalb des Gewiihdichen breit<br />

machen als die Geschicklidrkeit in allem und jedem. Wir iibersetzen<br />

hier td 6er,v6v durch >das Unheimlicheeinheitlich< allerdings nur in dem Sinne, da8 der<br />

a"*"o;<br />

Grund ihrer urspriinglichen we&selweise gegenwendigen Zusarrmengehiirigkeit<br />

erfahrbar wird. Mit dieser Ubersetzung,<br />

die das griechische Wort fiir uns auslegt, soll nicht behauptet<br />

sein, daB fiir die Griechen das in Begriffe gefaBt war, was unser<br />

Wort >das Unheimliche< nennen miichte. Gleichwohl miissen<br />

wir zugestehen, daB das griechische Wort rd 6arv6v nicht<br />

nur das Unheimliche bezeichnet, sondern als echtes Wort sein<br />

Gesagtes so nennt, daB es als Wort selbst von der Art des Genarulten,<br />

also selbst ein unheimliches Wort ist. Eine Ahnung<br />

dieses Charakters diirfte uns vielleicht allein schon aus der jetzt<br />

gegebenen vorlAufigen Erlduterung aufgehen.<br />

73 . Das Unheimliche ak Grund des Menschen.<br />

(Fortsetzung der Erliiuterung zu rol'i.d td, 6ew& und r6Le rv.)<br />

85<br />

Die beiden ersten Verse des Chorliedes nennen nun aber das<br />

6er,v6v nicht unbestimmt und beiliiufig. Am Beginn des ersten<br />

Verses steht notrld rd Dstvd. Die echte Bedeutung von rolfui<br />

meint nicht >>Vieles< im Sinne der blol3en Anzahl und Menge,<br />

sondern stets das Vielerlei, das Mannigfaltige, Yielfiiltige.Yielfach<br />

gefaltet, d. h. zusammengelegt und so vereinzelt und ais<br />

so Gefaltetes zugleich verflochten und versteckt ist das Unheimliche.<br />

So erscheint es gefaltet und verstreut in vielen Arten,<br />

aber so, da8 es hier nicht in das Einfache seines vollen und reinen<br />

lryesens entfaltet ist. Alle diese Weisen des Unheimlichen<br />

bleiben daher in ihrer Urrheirnlichkeit hinter dem Unheimlichen<br />

zuriick, das der Mensch ist. Das Unheimlichste des Unheirnlichen<br />

ist der Mensch. Dieses Hiichste des Unheimlichen<br />

ist nicht nur dem Grade und der Menge nach, sondern vor<br />

allem der Art nach dasjenige, was in seiner Art schlechthin<br />

nicfrt iibertroffen werden kann, weil es einzig ist. Demnach


84, Die Deuturug des Menscltenin Sophohles' Antigone<br />

Das Unheimliche als Grund des Menschen<br />

65<br />

mu8 hier audr das Unheimlidre seinen eigenen Wesensgrund<br />

entfalten, der im iibrigen Unheimlichen sich nidrt zeigt, y611<br />

er dort fehlt. Die e\nzige Art der Unheimlichkeit des IUsnschenwesens<br />

mu8 nun aber im Choriied selbst ans Licht konrmen,<br />

da dieses ausschlieBlich vom Mensdren sagt - freilich auch<br />

vorn Meer und von der Erde, von den Tieren der Wildnis pnd<br />

den Wettern, von Siechturn und Tod, von der Verstiindigkeit<br />

und dem Wort, von den Giittern und den Satzungen, denn zu<br />

all dem steht der Mensch im Bezug und all dieses hat je nach<br />

seiner Weise einen Zug und die Ziige des Furchtbaren, Gewaltigen<br />

und Ungewiihnlichen.<br />

Wenn nun der Mensch das hiichste 6erv6v ist und in iirm<br />

also das Wesen der 6er,v6qg in seiner einzigen Art erscheint,<br />

und wenn wir mit Recht dieses Wesen in der Unheimlichkeit<br />

sehen, dann kann, streng genommen, nur der Mensch rnit<br />

dem Namen >der Unheimliche< benannt werden.<br />

Aus den voraufgegangenen Erdrterungen iiber das lVesen<br />

der Strijme u'issen wir, daB Htilderlin ihr Wesen dichtet aus<br />

der dicirterischen Sorge um das Heimischwerden des geschich.tlich-abendliindischen<br />

Menschentums der Deutschen. Das<br />

Menschwerden ist Herkunft aus dem Unheimischen; das Heimische<br />

bleibt stets auf das Unheimis&e bezogen, dergestalt,<br />

da8 dieses in jenem anwest. Und wenn nun in der dichterischen<br />

Zwiesprache Hiilderlins mit dem Chorlied des Sophokles diese<br />

eigentliche dichterische Sorge des Heimischwerdens zur S;irache<br />

kommt, wird wohl ein innerer Bezug bestehen miissen zw'ischen<br />

dem Heimischwerden, d. h. Unheimisdrsein des lV1ensdeen,<br />

den Hijlderlin dichtet, :und, dem Mensihen, der von Sophokles<br />

al5 td Eer,v6totov gedichtet wird, rvas wir iibersetzen:<br />

das Unheimlichste. Wir deuten damit auf einen Zusarnrnenhang<br />

hin, der verrrutlich iiber den blo8 dufJeren Anklang der<br />

Wiirter >unheimisch< und >unheimlich< hinausreicht. In diesem<br />

Zusammenhang liegt nun auch der Grund, weshalb wir<br />

auf der zundihst gewaltsam anmutenden Ubersetzung des<br />

DeLv6v bestehen. Nun kann, redrt besehen, iiberhaupt der<br />

oewiihnliche<br />

Wortgebrauch, den das Wiirterbuch verzeichnet,<br />

irns kein" unmittelbare Auskunft geben, da im Chorlied das<br />

fuort<br />

Derv6v offenbar ein dichterisches lVort ist. Als solches<br />

fordert es sogar die Ubersetzung selbst dazu heraus,<br />

da-B sie dichtend iiber das Gebriiuctrliche hinauszugehen<br />

fichterisches<br />

versuche. Wohin, in welche Bedeutungsridltung, ist freilich<br />

llicht sogleich entscheidbar. Soll die (fbersetzung einer Dichtung<br />

selbst dichterisch sein, dann ist ein solcher Versuch, der<br />

von einer Dichtung des Sophokles gemacht werden muB, in<br />

seiner Vermessenheit einigerma8en leicht zu erkennen. Sogar<br />

Hiilderlin hat in seiner Ubersetzung des Wortes 0er'v6v geschrvankt.<br />

Es ist lehrreich filr uns, darauf zu achten. Die vollstiindige<br />

Ubersetzung der Antigone-Tragiidie des Sophokles<br />

hat Hiilderlin im Jahre 1804 ersdreinen lassen' Hier iibersetzt<br />

Hiilderlin den Beginn des Chorliedes so (V, 202):<br />

Ungeheuer ist viel. Doch nichts<br />

Ungeheuerer, als der Mensch.<br />

td 6ew6v ist das Ungeheuere. AuBer dieser Ubersetzung hat<br />

sich nodr das Bmchstiick einer friiheren Ubersetzung Hiilderlins<br />

erhalten, die Hellingrath in das Jahr 1801, also in das entscheidende<br />

Jahr der <strong>Hymne</strong>ndidrtung datiert. (V, 1) Dies<br />

Bruchstiick umfaBt nur die erste Strophe des Chorliedes. Die<br />

Ubersetzung lautet hier :<br />

Vieles gewaltige giebts. Doch nichts<br />

Ist gewaltiger, als der Mensch'<br />

rd 0er,v6v ist hier das Gewaltige. Wenn uns iiberhaupt eine<br />

vergleiihende Beurteilung beider {fbersetzungen Hijlderlins erlaubt<br />

ist, darf gesagt werden, da0 die erstgenannte, also die<br />

zeitlich spdtere, wohl die reifere ist, didrterischer als die friihere.<br />

Zwar bringt diese durih die Ubertragung des 6er'v6v mit<br />

>gewaltig< einen Wesenszug des 0elv6v zum Vorschein, der auf<br />

das deutet, was die Griechen sonst die 6gp{ nennen - das drdngende<br />

aus sich Aufbrechen und Hervorbrechen - das >Gewalt-


86 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

-tdtige< im weitesten Sinne, der nicht auf das nur >Brutalen<br />

eingeschrdnkt bleibt. Dagegen denkt die spdtere Ubersetzuns<br />

des 6erv6v durch >ungeheuerAusmaB< die Rede sein mu-B, bekundet die Anwesenheit<br />

des Riesigen. Aber das Ungeheure im Sinne des Riesigen<br />

der >AusmaBequalifiziertUngeheure


88 Die Deutung des Menschetz in Sophokles' Antigone<br />

Das Unheimliche ak Grund des Merxdten<br />

89<br />

Vielfiiltig das Unheimliche, nichts doch<br />

iiber den Menschen hinaus Unheimliiheres ragend sich regt.<br />

;r6l,er,v: von sich aus auf- und hervorkommen und so anwesen.<br />

6 r6trtrg ist der Nadrbar, der in der unmittelbaren Niihe sein<br />

Anwesen hat, was jedoch sagt, daB er nicht starr, bewegungslos<br />

vorhanden, sondern im Anwesen td.tig regsam ist, hin u14<br />

her geht. r6layog: das von sic]: aus sich Regende und demnach<br />

nicht weg FlieBende, sondern in seinem Wogen Bleibende und<br />

in sich Ruhende. r6?'ayog ist so das Wort fiir >das MeerDer Ardripelagus<<br />

(IV, 88-101), gemeint ist das iigiiische Meer. Hijlderlin nennt<br />

dieses vorziiglichste Meer der Griechen das >Erzmeeru, V. 2b<br />

das >ausdauernde


90 Die Deutung des I\4ensclrcn in Sophokles' Antigone<br />

Uberail hinausfahrend unterwegs und doch erfahrungslos<br />

ohne Ausweg<br />

kommt er zum Nichts.<br />

Wiederholung<br />

rd 6er,v6v iibersetzen wir mit >das Unheimliche


92 Die Deutung des Menschen in Sopholtles' Antigone<br />

man, daB da, wo die Gefahr als das Absolute gesetzt wird, di.<br />

Gefahr jede Gefiihrlichkeit verloren hat.<br />

Der Unheimisihe entbehrt das Heimische, das Entbehren ist<br />

die Art, wie der Unheimische das Heimische besitzt' genauer<br />

gesagt, die Weise, wie dieses, das Heimische, ienen, den Unheimischen,<br />

besitzt. In diesen Bez.iigen offenbart sich das Wesen<br />

d.er Unheirnlichkeit selbst: niimlidr die Anwesung in der<br />

Art einer Abwesung, so zwar' dafi das An- und Abwesende<br />

selbst hier zugleich der offene Bereich aller Anwesung und Abwesung<br />

ist. Zunichst fassen wir freilich am leichtesten die Gegenwendigkeit<br />

im Unheimliihen, ohne sogleich deutlich zu begreifen,<br />

wozwischen und auf welchem Grunde die Gegenwendigkeit<br />

besteht. Das Gegenwendige im Derv6v wird nun auch<br />

clichterisch rein ausgesprochen. l


94 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

zug auf es &rogog ist. Aber &noqog ist er nur als rcvto:r6gog<br />

und umgekehrt. Im Seienden, zu dem er kommt und worin<br />

er sich heimisch meint, kommt er zum Nichts. Er ist als der<br />

vermeintlich Heimische der Unheimische.<br />

Diese Art der Unheimlichkeit, ndmlich die Unheimischkeit,<br />

ist nur dem Menschen miiglich, weil er zum Seienden als einem<br />

solchen sidr verhdlt und dabei das Sein versteht. Und weil er<br />

das Sein versteht, kann er allein auch das Sein vergessen. Die<br />

Unheimlichkeit im Sinne der Unheimischkeit iibertrifft daher<br />

alle sonstigen Arten des Unheimlichen unendlich, d. h. im Wesen.<br />

Streng genomrnen ist die Unheimischkeit iiberhaupt keine<br />

Art des Unheimlichen neben anderen, sondern sie ist wesentlich<br />

>iiber< ihnen, was der Dichter dadurch ausdrickt, da8 er<br />

den Menschen das Unheimlichste nennt. Denken wir uns die<br />

gewaltigsten >KatastrophenKatastrophalen>Paradies< vertrieben und<br />

deshalb der Erlijsung bediirftig ist. Damit wird das >>Negative<<br />

des Unheimliclen, gesetzt, daB es ein solches ist, zum voraus<br />

schon abgeschwdcht und beseitigt, und gerade dieses widerspricht<br />

der anf iinglichen und urspriin glichen Wesenserfahrung<br />

des Menschenwesens im Griechentum. Die Geschichte des Griechentums<br />

erreicht eben dort die Hiihe seines Wesens, wo es die<br />

Gegenwendigkeit des Seins selbst bewahrt und zur Erscheinung<br />

bringt; denn da allein ist die Notwendigkeit, in dem Grund des<br />

Gegenwendigen zu verbleiben, statt sich auf die eine oder andere<br />

Seite zu fliichten. In dem geschichtliihen Augenblick, da<br />

die eine Seite im Gegenwendigen des Seins zum Minderen und<br />

Unteren herabgewertet wird, ftillt das Griechentum aus der<br />

Bahn seines Wesens heraus und der Niedergang ist entschieden.<br />

Das Zeidren dieses Wandels ist die Philosophie Platons.<br />

Der entscheidende Grund dafiir, daB wir Heutigen und Spdteren<br />

das Wesen des 6elv6v, wie es durch Sophokles zum ersten<br />

Mal vollstdndig, zugleich aber auch schon zum letzten Mal ausgesprodren<br />

wurde, kaum treffen, reicht daher in Bezirke zuriick,<br />

die im Verborgenen unsere eigene Geschichte tragen. Die<br />

im griechis&en Denken selbst mit Platon beginnende Metaphysik<br />

blieb dem Wesgn des >Negativen


96 Die Deutung des Menschen in Sophokles, Antigone<br />

gehalten, aber zugleich wieder unschiidlidr und riicksdnoi^<br />

gemacht durch die vorausgreifende Unterbringung i*-Ab:;:<br />

luten. Diese Uberwindung der Negativitat stellt aber orr. i*<br />

andere Form dar, die Sa&e der Negativitiit beim nAlteno "i<br />

I<br />

Iassen ,nd nicht an den wesensursprung zu riihren. sobalJ<br />

wir dieses aber versuchen, zeigt sich, daB schon die B".r"rnr.,ng<br />

des Gemeinten mit dem Namen des >Negativen>Negation>bekommtrbekomme,< iiberall etwas in seine Ge_<br />

walt. Das >uberallhin< lii8t jedoch die Bezirke menschlichen


98 Die Deutung des Mensdten in Sophohles' Antigone<br />

V[/ eitere W e s ensb e stimmungen des M enschen<br />

99<br />

Tuns unbestimmt; sie bediirfen hier auch keiner besonderen<br />

Nennung mehr, da ja vor und uach diesem Wort das Chorlied<br />

Vielerlei nennt.<br />

Jetzt dagegen wird die r6hg genannt, also gleichsam ein<br />

besonderer Bezirk des n6goE und ein Feld seines betonten Vollzugs.<br />

Die n6),rg. Man kann heute, wenn man es iberhaupt tut,<br />

kaum eine Abhandlung oder ein Buc.h iiber das Griechentupl<br />

lesen, ohne nicht iiberall auf die Versicherung zu stoBen, dafi<br />

hier, bei den Griedren ndmlich, ,Alles< >politisch< bestimmt<br />

sei. Die Griechen ersdreinen in den meisten >>ForschungsergebnissenErgebnissenPolitische>natiirlich< aus<br />

dem Hinblick auf das >PolitischePolitische< und die n6l.r,E in einem Zusammenhang stehen.<br />

Die Frage bleibt jedoch, wie dieser Zusammenhang im voraus<br />

gedacht werden muB. Offenbar ist das >Politisc"hePolitisctre<<br />

das, was zur r6hE gehiirt und aus ihr wesensmd8ig<br />

folgt, entsprechend wie >>das Logischedas Ethische>Politischen.< ausriisten, um damit bewaffnet das Wesen<br />

der n6l6 zu umgrenzen. So wiirden wir stets nur das Bedingende<br />

aus dem Bedingten, den Grund aus der Folge erkld.ren'<br />

und d. h. gar nichts erkldren, sondern das Wesen der Erklii-<br />

rung ilur verwirren. Vermeiden wir aber diese fast unausrott-<br />

Lare Verwirmng, die sich bei allen Erkl?irungen >'des Logischen.des Asthetischendes Technischen,., >des Metaphysischendes Biologischen


100 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

eigentliche Verkennung ihres Wesens, daIJ sie ndmlich .l^^<br />

Frag-wiirdige selbst ist und in dieser Wiirde gewahrt<br />

;.:<br />

wahrt sein will. Ist dem so, dann sieht es so aus, ""d<br />

als miifi*<br />

wir griechischer denken ais die Griechen selbst. Br sieht ni.hl<br />

nur so aus, es ist so. Denn wir selbst miissen in bezug u.rf un,<br />

selbst kiinftighin deutscher denken als alle bisherigen Deulschen;<br />

denn keine Uberlieferung verschenkt unmittelbar clas<br />

Wesentliche, es erscheint aber auch nicht ohne die Winli,: der<br />

Uberlieferung.<br />

Vielleicht ist die n6l.rg der Ort und der Bereich, um den sich<br />

alles Frag-wiirdige und {Jnhsirnlidre in einem ausgezeichneten<br />

Sinne dreht. Die 116l,19 ist 16lo9, d. h. der Pol, der Wirbel, in<br />

dem und um den sich alles dreht. In beiden Worten ist das<br />

Wesentliche genannt, was im zweiten Vers des Chorliedes das<br />

Zeitwort rr6l,erv sagt: das Bestdndige und der Wechsel. Das wesenhaft<br />

>>Polare< der n6l,lg geht das Seiende im Ganzen an.<br />

Das Polare betrifft das Seiende in dem, wonlm es, das Seicnde<br />

als das offenbare, sich dreht. Auf diesen Pol ist dann der<br />

Mensch in einem ausgezeidmeten Sinne bezogen, sofern cler<br />

Mensch, das Sein verstehend,inmitten des Seienden steht und<br />

hier notwendig jeweils einen >statusstatusStaat>Staat>Staat< des 18. Jahrhunderts<br />

sich unterscheidet, versic,hert man, die griechische n6lLg sei<br />

nicht so sehr >StaatStadtStadt<<br />

meine hier nicht den bloBen Unters&ied zum Dorf, sondern<br />

eben doch auch das >Staatliche< - die griechische .16l,19 sei der<br />

> Stadtstaat


t02<br />

Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

dieser Wiirde alles wesenhafte Tun und iede Haltung des M6ascfien<br />

durchwaltet. Das Vor-politische und alles Politische in<br />

urspriinglidren und im abgeleiteten Sinne erst ermiiglichende<br />

Wesen der a6l.tE liegt darin, die offene Stiitte zu sein ds1<br />

Schickung, aus der sich alle Beziige des Mensdren zum Seielden,<br />

und d. h. immer zuerst die Beziige des Seienden als solchen<br />

zum Menschen, bestimmen' Das Wesen der n6l"tE kommt<br />

daher stets ans Licht nach der Art, wie das Seiende als solches<br />

iiberhaupt ins Unverhorgene tritt: nach der Weite der Grenzen,<br />

zwisihen denen dies geschieht, und nach der Weise, wie<br />

sidr in einem mit der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen<br />

das Wesen des Menschen bestitnmt.<br />

Dieser Zusammenhang hat sich auch noch im Denken des<br />

Aristoteles erhalten. Aristoteles bezeichnet im Beginn seiner<br />

>Politik< den Menschen als lQov nol,rtlx6v. Oberfliichlich [bersetzt<br />

hei8t dieses oft angefiihrte Wort: >>Der Mens& ist ein politisches<br />

\Mesenpolitisches WesenPolitik< gibt. Der Mensch ist ein lQov nol,ltlx6v, weil er und<br />

nur er ein !6ov l.61ov 61,ov ist - ein Lebewesen, das das Wort<br />

hat, will sagen: das Seiende, das das Seiende als ein solches<br />

auf sein Sein anspredren kann' Wer oder was der Mensch sei,<br />

l?i8t sich im Sinne des Denkers, der den Menschen das >politische<br />

Wesenpolitischpolitisch


104, Die Deutung des Menschen in Sophohlzs' Antigone<br />

dig nach der Art des Unheimischen. Damit dieses in seine*<br />

\{esen miiglich sei, bedarf es einer Bedeutung und eines Gnrn]<br />

des, in dem zu ruhen und zu wesen die Auszeichnung des<br />

Menschen bleibt.<br />

DaB nun aber im Chorlied das inwendige Gegenwendige dg5<br />

0erv6ratov, d. h. des Unheimlichsten, als welches der Mensch<br />

ist, ausgesprochen wird, zeigen die lVorte ncrvron6goE-dropog<br />

und die Rede 6qirofu,E-&rol.r,E. Als der Uberallhinausfahrende<br />

hommt der Mensch iiberallhin und kommt dabei doch iiberall<br />

zum Nichts, sofern niimlich das, was er im Hinausfahren bekommt,<br />

niemals zureicht, sein Wesen zu erfiillen und zu tragen.<br />

Das, was der Mensch unternimmt, wendet sich in sich<br />

selbst, nicht erst in irgendwelchen schlimmen Folgen, gegen<br />

das, was er dabei im Grunde sucht, ndmlich das Heimischwerden<br />

inmitten des Seienden. Das Gegenwendige darf jedoch,<br />

soll es griechisch gedacht sein, nie als sdrlechte Eigenschaft,<br />

nicht als Mangel oder gar als >Siinde< gedeutet werden. Im<br />

Griechentum gibt es iiberhaupt keine Siinde, die ihr Gegenteil<br />

allein im christli& verstandenen Glauben hat. Aber der Satz:<br />

Im Grieihentum gibt es keine Siinde, hei8t ganz und gar<br />

nicht: Hier ist alles und jedes erlaubt * sondern der Satz sagt:<br />

Das >NegativeSiindeNegative< ist aber,<br />

wenn es und weil es nicht als >Siinde< gedeutet wird, deshalb<br />

nicht abgeschwiicht, im Gegenteil: Das Negative behiilt sein<br />

eigenes Wesen und steht nicht in der Rolle dessen, was beseitigt<br />

und iiberwunden werden kiinnte und sollte. WeiI es als<br />

Gegenwesen eigenen Wesens ist, mu8 es mit seinem Gegen-<br />

'wesen aus dem Grunde ihrer Einheit getragen und gewiirdigt<br />

werden.<br />

Dieser Hinweis auf das ungemd8 so genannte >>Negative<<br />

soll andeuten, daB das Un- im Un-heimischen keinen blo0en<br />

Mangel, auch nicht nur ein Fehlen ausdriickt. Mit der sprach-<br />

Weitere WesensbestimmLln.gen des Meruchen 105<br />

11c,5en<br />

Wendung navtot6qoE-iinoqog ist die Gegen."vendigkeit im<br />

Wesen<br />

des Nlenschen im >allgemeinen>unbestimmt<<br />

genannt; so scheint es wenigstensl denn die zw'eite Nennung<br />

frphotrL5-dro7'rE spricht in der Richtung eines besonderen Bezirkes,<br />

in dem sich das menschliche Flandeln vollzieht. Das ist<br />

ds1 Bezirk des >Politischen>das<br />

poiitischeo das ist, was zur Polis gehiirt und von ihr demnach<br />

i:n Wesen abhdngt, dann liil3t sich das Wesen der Polis niemals<br />

aus dem Politischen bestimmen, so wenig rvie der Grund aus<br />

der Folge erkldrt und abgeleitet werden kann.<br />

Was ist dann die n6),Lg uncl wie zeigt sich ihr Wesen, und<br />

zwar im Sinne und nach der I)errkungsart der Griechen? Sie<br />

ist und bleibt das eigentlich Frag-wiirdige im strengen Sinne<br />

des Wortes, also nicht einfach nur das Fragliche fiir irgendeine<br />

Frage, sondern jenes, auf das die eigentliche, die hijchste<br />

und weiteste Besinnung zugeht. DaB dem so ist, IdBt sidr sogar<br />

noch aus den spdten Betrachtungen ersehen, die uns in den<br />

Werken von Platon und Aristoteles iiberliefert sind. Platon<br />

sagt in seiner >PoliteiaLebensndhe


106 l)ie Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

eigentLich nicht >Staat< ist und >die Geschdfte< in ihr nicht<br />

das Wesentliche. Platon meint auch nicht, die Herrsc)ler sollten<br />

sich mit >Plflosophie beschdftigenPolitischen< her<br />

bestimmt sein mi.isse und daB das >Politisdre< den unbedingten<br />

Vorrang habe. Er denkt aiso gar nicht so >>IebensfernHochragend<<br />

und des Niedersturzes zuldBt, sondern das Wesen der ;r6hg<br />

ist es, in die Ubersteigr.rg zu drdngen und in den Sturz zu<br />

reiBen, so, daB der Mensch in beide gegenwendigen Mdglichkeiten<br />

geschickt und gefiigt wird und dergestalt beide Miiglichkeiten<br />

selbst sein mu8. Der Mensch >hat


108 Die Deutung des Menschen in Sr_tphokles, Antigone<br />

das unheimischsein serbst? Es steht i'r., wesensbunde mit der<br />

n6l'rg, d' h' der Stdtte des Aufenthaltes des gescrriihtli"h";<br />

Menschen inmitten des Seienden. Der Dichter ."g, ai",<br />

klar genug. Wer die Wesensstdtte seiner Geschichl, "".i<br />

d. h. ;;,<br />

Schickliche aller Geschicke verliert, indem er sie hochiiberra."r<br />

ist nur deshalb ein solcher, weil ihm das Unseiend" ,"i;";-;:;<br />

kann. Darin liegt: Der Bezug des Menschen zum S"i"od"n<br />

triigt in sich die M


110 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

wesende. Das Schijne aber ist nadr Platon td dxgcrv6otorov: was<br />

am reinsten in das Erseheinen heraustritt, niimlich im Bereich<br />

der Sinne, was jedoih als dieses zugleich ist Egcoprbtcrov (dgoE);<br />

das, was in den Bezug zum Fernen und Bestdndigen versetzt,<br />

das in allem Unstiindigen hindurchscheint. In derselben Richtung<br />

des Erscheinens und Anwesens wird von Platon aber auch<br />

td d1o06v gefaBt - das Gute -, d. h. jenes, was alles Erscheinende<br />

zu seinem Ers&einen tauglich macht und daher das allem<br />

zuvor und am reinsten Erseleinende ist. Das Gute ist die hiichste<br />

Idee, d. h. td guv6rcrov, und das in allem Erscheinende ist<br />

das Gute - will sagen, das, was alles in seinem Sein ermiiglicht.<br />

rd pi1 xol.6v bedeutet daher vor-platonisch das Un-seiende, jenes<br />

Seiende, das nicht schleihthin nichts - sondern als Seiendes<br />

gegenwend.ig dem Seienden >>zuwiderzusn.nmen iiberallhinaus unterwegs - ausweglos..<br />

und >Stdtte iibersteigend - Statte-Ios


112 Die Deutung des Menschenin Sophokles' ,4ntig,one<br />

Fortsetzung der Erliiuterung des Wesen..s der n6l,rq<br />

l77t<br />

auszeichnenden Bezugs zum Seierrden, dergestalt unheimisc[<br />

sein kann, gehdrt zu seinem Wesen das Hijchste an Unhei6-<br />

lichkeit. (Die Auszeichnung, das Unheimlichste zu seia, bedeutet<br />

also nicht ein blo8es Mehr, eine mengenmiiBige Steigerul*<br />

des Unheimlichen liinsichtlich des sogenannten >Ausmu8"ruI<br />

So wiirden rvir die Bestimnrung, das Unheimlichste zu sein.<br />

htjchstens >amerikanisch< denken.) Weil nun aber im brLv6v<br />

auch liegt das Gewalthafte und Gewalttetige, kiinnte man rnei_<br />

nen, das 6erv6rarov bedeute so viel wie: Der Mensch sei das<br />

gewalttiitigste Wesen irn Sinne des listenreichen Tieres, das<br />

Nietzsche die >blonde Bestie< und >das Raubtier< nennt. Diese<br />

raubtierhafte unheimlichkeit des geschichtlichen Menschen i st<br />

jedoch eine dulJerste Abart und Wesensfolge einer verborgenen<br />

Unheimlichkeit, die in der Unheimischkeit griindet, welche Unheimischkeit<br />

selbst wieder ihren verborgenen Gruncl hat im<br />

gegenwendigen Bezug des Seins zum Menschen.<br />

I(eineswegs also macht der N{ensch sich selbst zum unheimlichsten<br />

Seienden, gleichsam auf eigene Faust. Vielmehr ist<br />

dies >auf eigene Faust< schon eine \&eise, wie das Sein selbst<br />

den Menschen in seinenr Wesen sein LiBt. sofern er sich diesem<br />

Wesen zufolge stets zum Sein verhdlt. Kant hat einmal gesagt,<br />

der Mensch unterscheide sich dadurch von allem Vieh, dal3 er:<br />

>ich< sagen kiinne, d. h. ein Selbstbewu8tsein >>habeist< sagen kann, daB er iiberhaupt<br />

>>sagenich binist< sagen kann, also den Bezug zum Sein >>hatunheimlich<<br />

iibersetzt wird. Das Wort, der Mensch sei das unheim-<br />

fichste Wesen, wi]l nic]rt sagen, dafJ er am meisten Furcht erregt<br />

und Schrecl


|t+<br />

Die Deutung des Mensdzenin Sophokbs' Antigone<br />

Mensdr iiberhaupt im Sein heimisch ist, d. h. nicht nur ,r4u"<br />

Offene siehtBewu8tseinSelbstbewu8tsein< gedacht werden, riickt alles, was nicht<br />

in der Rechnung der Bewu8theit aufgeht, in die dadur&. erst<br />

gesetzte Sphdre des UnbewuBten und des der BewuBtheit<br />

(ratio) Unzuglingli&en. Auf diesen fatalen neuzeitlich-metaphysischen<br />

Begriff des >UnbewrrBten>Irrationale< bleibt als >Domdnenicht audr


716 Die Deutung des Menschen in Sophohles, Antigone<br />

pieVerstoBung, des }\llenschen aLs des Unheimlichsten<br />

It7<br />

den Chor der thebanischen Altesten, Iiegt klar am T"o<br />

ist Kreon, der Herrscher im Staat. Von<br />

^<br />

der 116l.19 i51 i":.:ut<br />

unmittelbar voraufgehenden Strophe auc-h ai" n"a".'^il.<br />

Wort: Nichts Unheimlicheres gibt es als den M"rr"h"n. **"]l<br />

eben dann nur, da8 im Geschlecht der MensA""<br />

einzelne den hiichsten Grad der Unheimlichkeit,<br />

"i"in"'",1t-l<br />

d. h. i;;:'<br />

waittatigkeit und des ubermutes erreichen dud"r.h tiili.<br />

haupt in den Bezirk des IJnheimiichen ""d<br />

hineinreiche", d"B ;;;<br />

>sonst


118 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

Das Politische bestimmt siih aus der bewgfitseinsmdfiig begriffenen,<br />

d. h. utedrnisch< erfahrenen Geschiihte. Das >politisihePolitischePolitis&en< p14<br />

seine Totalitiit gehiiren zusammen. Der Grund dieser Zusam_<br />

mengehiirigkeit und ihr Bestand beruht aber nicht,'wie naive<br />

Gemiiter glauben, auf der zufdlligen Willkiir von Diktatoren,<br />

sondern sie griindet im metaphysischen lVesen der neuzeitlichen<br />

Wirklichkeit iiberhaupt. Diese aber ist grundverschieden<br />

vom Sein, in dem und aus dem das Griechentum geschichtlich<br />

war. F'iir die Griechen ist die n6fug das schleihthin Fragwiirdige.<br />

Fiir das neuzeitliche Bewu8tsein ist das >Poiitische< das<br />

notwendig und unbedingt Fraglose. Die Art, wie fiir die Griechen<br />

die a6l.r,g die Mitte des Seienden ist, bedeutet etwas viillig<br />

anderes als der unbedingte Vorrang der neuzeitlichen >Totali<br />

t2it des Politischendes Politischen.. gilt, zeigt sich darin, da8<br />

z. B. die kuriale Herrschaft der katholischen Kir&e sich ldngst<br />

diese moderne politische Herrschaftsform angeeignet hat und<br />

zu behaupten versucht.)<br />

Weil die r6hE die St?itte des Seienden ist, enthdlt sie auih<br />

die weitesten Ausschldge der Miiglichkeiten allen menschliclen<br />

Verhaltens zum Seienden und damit des Unheimischseins. Der<br />

Grund fiir dieses offenbart sich aber darin, daB der Mensch<br />

das Seiende fiir unseiend und das Unseiende fiir das Seiende<br />

nehr.en kann, welche Miigli&keit mit der r6l.pc, mit der Wagnis,<br />

in gewisser Weise zur Notwendigkeit wird. In der Wagnis<br />

aber wagt der Mensch niiht nur dieses und jenes, er wagt dabei<br />

immer auch und zuerst sich selbst, und zwar nicht nur sich<br />

als Einzelnen, sondern sich im Wesen. Erst wenn wir nach dieser<br />

Richtung denken, treffen wir auf das eigentliche Wesen des<br />

Unheimischseins.<br />

DaB im Wort 6elv6v, genauer im Wort vom Menschen als<br />

DieVerstolJung des Meruchen als des Unheimlichsten 119<br />

aero Unheimlichsten, dieses unheimisdee Wesen des Mensihen<br />

o"darht und geahnt ist, l6Bt si& aus dem Wort 6erv6v gerade-<br />

?"g, oi" ablesen. Selbst nicht einmal die Auslegung des ChorleJes<br />

braucht notwendig einen Einblick in das unheimische<br />

Wesen der Unheimli&keit des Menschen zu eriiffnen. Versteht<br />

loan niimlich, was ja stets audr ri&tig bleibt, das 6erv6v zum<br />

voraus und nur im Sinne des Ungewiihnlidren und Ungemeinen,<br />

dann zeigt sich dieses Chorlied in einem ganz anderen<br />

Licht. Die Mehrdeutigkeit des Eelv6v und das Unbestimrnfs<br />

dieser Mehrdeutigkeit ist der Grund fiir fie Mannigfaltigkeit<br />

der Auslegungen dieses Chorliedes und fiir die Art, wie das<br />

SchluBwort gedacht oder einfach als Selbstverstdndlichkeit<br />

iibergangen wird.<br />

Eine neuere Deutung der sophokleischen Tragiidie meint:<br />

>Man ka'ttt das Ganze als das Hohelied der Kultur bezeiihnen.KulturReligion>\Merten>Kultur>Staat>WertReligion< vertritt. Solche Auslegungen kij..en<br />

nicht verwundern, wenn man bemerkt, daB sie neben vielen<br />

anderen aude >Luther>widerlegen< und dabei fie eigene Meinung als die<br />

allein richtige )>gldnzenAnthropologieExistenzphilosophie< >>vertie-


120 Die Deutung des Menschen in Soplrckles' Antigone<br />

fenPersijnlichkeitCharakterenTypen>Staaten-<br />

Ienker>nicht< und >>nein<<br />

eine Verwerfung aus, und zwar die Verwerfung des Menschen,<br />

der zuvor als der Unheimlichste offenbar wurde. Wen trifft<br />

diese Venverfung? Wer sagt die Verstofiung vom Herde? Aus<br />

welcher Befugnis ist sie gesprochen?<br />

Die einfachste Liisung der Schwierigkeiten ist die, da8 man<br />

>>erkld.rt)ihre Ruhe< haben. Nach dieser Deutung des Schlu8wortes<br />

ware das Chorlied dann nicht >das Hohelied der Kultur


I22<br />

Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

17. Die einleitende Zwiesprache uon Antigone und lsmene<br />

Wovon spricht die einleitende Zwiesprache der beiden Schwestern?<br />

Was ist geschehen? Die Briider der beiden Schwestern,<br />

Eteokles und Polyneikes, sind im eigenen Zweikampf gefallen.<br />

Eteokles hat zuvor den Polyneikes aus der gemeinsamen Heimatstadt<br />

Theben vertrieben. Polyneikes ist aber darnach rqil<br />

einer neu gesamnr.elten Streitmacht unter sieben Fiihrem gegen<br />

Theben gezogen. Kreon, der Bruder ihrer Mutter Jokaste,<br />

der nach dem Tod der beiden Briider die Herrschaft in Theben<br />

iibernommen hat, liiBt den Eteokles feierlich bestatten und<br />

verbietet zugleich bei Todesstrafe die Bestattung des Polyneikes.<br />

Antigone aber ist bei siih entsddeden, gegen dieses Verbot<br />

zu handeln. Sie glaubt, in diesem >Willen< eines Sinnes mit<br />

der Schwester zu sein. In dem einleitenden Gesprdch iedoch<br />

versucht Ismene, die Schwester von ihrem Entsch-Iu8 abzubringen.<br />

Wir hijren hier nur die letzten lVechselreden, in denen<br />

Haltung und Wesen der beiden Schwestern in einer sich steigernden<br />

Helle offenbar werden.<br />

Hinsichtlich der Ubersetzung sei an friiher Gesagtes erinnert.<br />

Wenngleich die deutsche Sprache oft eher denn jede andere die<br />

Kraft des Ubersetzens des griechischen Wortes in sich birgt, hier,<br />

ndmlich in Jer Ubertragung des Wechselgesprdches, hiingt jeder<br />

Versuch der Ubertragung weit zuriick hinter dem griechischen<br />

Wort. Auch Htjlderlins Ubertragung bleibt hier, mag sie<br />

auch wie stets das Element des Edlen bewahren, merklich fern<br />

von der plastischen, strengen und doc-h nicht harten Fiigung der<br />

Reden und Gegenreden. Zuweilen trifft sie iiberhaupt nicht das<br />

Wesentliche. Wort und Gegenwort der beiden Schwesteln ist<br />

hier wie das Begegnen zweier Schwerter, deren Schdrfe, Glanz<br />

und Wucht wir erfahren miissen, um etwas von dem Blitz z.rt<br />

vernehmen, der aus ihrem Ineinanderschlagen leuchtet.<br />

Wir hiiren jetzt nur die letzten Wechselreden des Gesprdchs<br />

V. 88 ff. Ismene sagt zur Schwester im Hinblick auf deren Entschiedenheit<br />

zur Ehrung des unbestatteten Bruders:<br />

Die Zu;iesprache uon Antigone und Ismene r23<br />

J. geqpdv Bni rlrulqoior tagDiov d7,etg. Ein heiBes, doch den Kalten (Toten) zugewandtes Herz<br />

hast du.<br />

A. 1iI7" o10'dg6oxouo' oig pritrlo$'&Deiv pe zqpf .<br />

Doch wei0 idr, von woher gegrii8t, arn hijchsten zugefallen<br />

mir die Not.<br />

l. ei xai Duvflol y" dl),'&pqldvorv ig{E.<br />

lVenn audr du viel vermagst, doch steht, wogegen<br />

auszurichten nichts, darauf dein Sinn.<br />

[. orixotv, iitav bi1 pd o$6vol, neno,6oopo,u.<br />

Warum nicht dann, wenn offenbar ist, da8 die Kralt mir<br />

schwindet, wird auch die Ruhe schon um mich gedeihn.<br />

I. riqxilv 6d r)4gdv ori rgr6neL tdprllava.<br />

Als Anfang aber jenes zu erjagen, unschicklich bleibt's,<br />

wogegen auszurichten nichts.<br />

A. ei tsiro l6[eLE, i1$aqfr pAv i[ Bpo[,<br />

d10qd 6i tQ rlav6vrr rqooxeioll Dizq.<br />

ril'],' 6cr pe rcoi rilv 6E dpot 6uoporrl,lo,v<br />

no$eiv rd Esrvdv rotro' nelooplo,r, 1dp ori<br />

toootlov orl0Av rbore pl ori xc1,6g Saveiv.<br />

Wenn dies du sagst, im HaB stehst du, der mir entstamrnt,<br />

im HaB auch trittst entgegen du dem Toten, wie sic-h's<br />

schickt.<br />

Doch iiberla8 dies mir und jenem, was aus mir Gefdhrlich-<br />

Schweres rd.t:<br />

ins eigne Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt<br />

und hier erscheint.<br />

Erfahren niimlich werd'ich allenthalben Solches nichts,<br />

da8 nicht zum Sein gehiiren mufi mein Sterben.<br />

I. d).),' ei 6oxei oor, oreile 'roito D'io"$', 6rr.<br />

dvouE p6v dp11, roig qilotg 6'6q$6E qih.<br />

Doch lvenn's dir so erscheint, dann geh! Dies aber wisse, da8


72+ Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

Die Zutesprache uon Antigone und Isrnene<br />

r25<br />

ohn Wahrheit bei dir selbst du gehst, den Freunden {reilich<br />

wahrhaft Freundin bieibst.<br />

Dieses sehr hintergriindige Wort der Ismene schlie8t das Zrvie.<br />

gesprdch der Schwestern ab. Das unmittelbar voraufgehende<br />

Wort der Ismene ist jedoch dasjenige, worin sich alles sammell,<br />

was in diesern Zwiegesprd.ch ans erste Licht kommen soll. Und<br />

was so gleich am Beginn, obzwar noch unbegriffen, crscheine4<br />

muB, das ist nichts anderes als das Wesen der Antigone. IJas<br />

vorletzte Wort der Ismene in diesem Gesprdch lautet:<br />

L dqlitv Di S4q&v oi rg6nel rdpfllovo.<br />

AJs Anfang aber jenes zu erjagen, unschicklich bleibt's,<br />

wo gegen auszuridrten nichts.<br />

Zur Verdeutlichung dieses Wortes bedarf es einiger Hinweise<br />

auf den Bau des ganzen Verses, dem Ahnliches wir in aller<br />

Dichtung sonst vergeblich suchen. Am betonten Beginn steht:<br />

dg1f1v und am gleichbetonten Versende: r&pf1crvc.<br />

tdpfllavu - das, wogegen nichts auszurichten ist und was daher<br />

selbst das schlechthin Unausrichtbare bleibt. Dies aber ist<br />

das Zu-geschickte, das Geschick und sein Wesensgrund. Denken<br />

wir den Vers vom Ende her, dann sagt der Spruch, das<br />

Unausrichtbare zum alles bestimmenden Anfang (Ursprung)<br />

alles menschlichen Seins zu machen, ist ni


\<br />

126 Die Deutung des MenscJtenin Sophoklcs' Antigone<br />

wogegen nichts - im Wesen nichts - auszurichten ist, td dp{1cvo,<br />

ist d.as, was allem jenem pclav6ev widersteht, das als das Gemache<br />

des iiberallhin ausfahrenden Menschen ausdriicklich in<br />

der zweiten Gegenstrophe des Chorliedes genannt ist' Gleich<br />

als sei das lJnausrichtbarc, wozu Antigone entschieden ist, eil<br />

beliebiges Unmtigliches und nicht vielmehr das, 'rvas den toten<br />

Bruder angeht, das Gesetz der Toten und damit das Grundgesetz<br />

der Lebenden. Gleich als miiBte nidrt unmittelbar durc|<br />

die Ilntschiedenheit zum ljnausrichtbaren dieses auch schon<br />

zum beherrsdrenden Ausgang alles I'Iandelns geworden sein.<br />

Wir kijnnen, gesetzt, da8 wir das Wort im Zusammenhang des<br />

Gesprdchs und dieses Gesprdch als wesentliches Vorspiel der<br />

garrzer. Dichtung in Geltung lassen, iiberhaupt nicht anders<br />

iibersetzen, als so, wie wir es derrr Sinn nach versuchen'<br />

Das oi gehiirt dorthin, wo es steht, zu nq6ret' Und dieses<br />

Wort hat hier, wo das Unausrichtbare genannt ist, audr die<br />

Bedeutung, die ihm die griechische Sprache zuweist' td ng6nov<br />

ist das Schickliche im wesentlichen Sinne' das was im Gesetz<br />

dcs Sejns gefiigt und verfiigt ist. oi rg6ner, unschicklich - ge€ren<br />

das Schickliche - bleibt es' ndmlich das $1gdv, das Eriagen dessen,<br />

wogegen im Wesen nichts auszurichten, weil es das Zugeschickte<br />

und Schickliche ist. Wir wiirden, gleich wie beim<br />

Wort tdpllxav


t28<br />

Die Deutung des Menschen in Sophokles, Antigone<br />

Die Zwiesprache uon Antigone und Ismene<br />

r29<br />

mische nichts ist, was der Mensch selbst macht, sondern was umgekehrt<br />

ihn macht zu dem, was er ist und der er sein kann.<br />

na0eiv bedeutet hier jedoch nicht die blo8e >passivitdt< cles<br />

Hinnehmens und Duldens, sondern das Aufsichnehmen - dQl.qu<br />

0d rlrlgdv, das Durchmachen bis zum Ende: das eigentliche Er_<br />

fahren. Dieses norleiv - das Erfahren des 6erv6v, dieses Erleiden<br />

und Leiden ist der Gmndzug jenes Tuns und Handelns:<br />

rd 6pd,pc, was das >Dramatisihe>llelden< und >HeldinnenMdrtyrer>Herren.,<br />

im neuzeitlichen dramatischen Kunstwerk. >Das Tragische<<br />

bemi8t sich nidrt, wie der moderne Mensch meint, nach der<br />

psychologisch >erlebbarenIJnheimlichein<br />

Schiinheit sterben < verf dlschen.<br />

Riihrt das jetzt Vermerkte an die verborgene Wahrheit dieser<br />

griechischen Tragddie, dann ist Antigone nicht nur auch<br />

ein 6erv6v. Sie gehiirt als menschliches Wesen nicht nur auch<br />

zum Unheimlichsten, was innerhalb des Seienden ragend sich<br />

regt, sondern Antigone ist innerhalb des Unheimlichsten das<br />

hiichste Unheimliche. Aber gibt es denn innerhalb dessen, was<br />

an sich schon das Unheimlichste ist, iiberhaupt noch eine Steigerung?<br />

GewilJ - wenn wir die Steigerung nicht quantitativ,<br />

sondern wesenhaft denken und wenn wir das unheimlidrste<br />

Seiende aus seinem trVesen begreifen: da8 ndmlich jenes das<br />

unheimlichste Seiende ist, was in sich unheimisch ist. Aber<br />

dieses Un-heimischsein und eben dieses trdgt dann noch einmal<br />

Mtiglichkeiten denSteigerung( in side. Wie, wenn das<br />

zuinnerst Unheimische, allem Heimischen also Fernste, jenes<br />

wdre, was in sich zugleich die innigste Zugehiirigkeit zum Heimischen<br />

bewahrt? Wie, wenn iiberhaupt nur dieses im eigentlichen<br />

Sinne unheimisch sein kiinnte? Doch was ist hier das<br />

Heimische? Wir miissen zuvor anderes kldren.<br />

Wenn nimlich jetzt Antigone der unheimischste Mensch ist,<br />

und somit das Unheimlidrste alles Unheimlichsten, dann wird<br />

doch sie zuerst vom Schlufiwort des Chores getroffen. Gilt dann<br />

nicht ihr die Versto8ung zuerst? Dieses Schiu8wort beruft sich<br />

auf einen Herd, von dem das unheimlichste Seiende versto8en<br />

bleiben soll.


130 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

b) Die N4ehrdeutigkeit der Dichtung<br />

Schon in diesen wenigen Hinweisen auf wesentliche Worte dieser<br />

Dichtung ist uns jetzt das Riitselhafte begegnet, da8 sie in<br />

einer eigentiimlichen Mehrdeutigkeit sich halten. Diirfen wir<br />

da noch envarten, daB etwa das SchluBrvort davon sich ausnehme?<br />

Der Schein der klaren Entschiedenheit des SchluBwortes<br />

ist vielleicht in der Tat nur ein Schein und gar der htichste<br />

Schein.<br />

Wenn wir hier von der Mehrdeutigkeit des Wortes der griechischen<br />

Dichtung sprechen, meinen wir nicht, daB der Dichter<br />

mit den Worten spiele und daB nur die dichterische Behandlungsart<br />

des >Stoffes< sich dieses Kunstmittels bediene. Vielmehr<br />

gilt dies: Die griechische Dichtung ist in sich mehrdeutig,<br />

weil das zu Dichtende in der Wahrheit seines Wesens mehrdeutig<br />

ist. Fiir unser heutiges Erfassen freilich miissen wir<br />

Umwege suchen und erst eine Bedeutung und eine Eindeutigkeit<br />

festmachen, um von ihr aus urspriinglicher zu verstehen.<br />

c) Das Wissen vom Herd und das V[/iihnen. Das Ungesagte<br />

im Gesagten<br />

Was meint das Wort vom >Herd


t32<br />

Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

haben kann. Sein Wissen muB ein Wdhnen bleiben, das leich<br />

zum blo8en Wahn herabsinkt und darin sich verhdrtet. Wel.<br />

cher Art jedoch das eigentlidee Wissen sei' von dem der<br />

Unheimlichste ausgeschlossen wird, sagt dies Wort nicht.<br />

Wenn aber die Ausschlie8ung und die unterscheidende Absetzung<br />

von Wissen und Wissen gerade dort am niitigsten<br />

ist, wo sich der Anschein breit macht, das Wissen sei iedesmal<br />

loov - das Gleiche, dann muB auch das eigentiiche Wissen dem<br />

Schein nach so aussehen wie das Wdhnen. So sieht in der Tat<br />

das aus, was wir das Ahnen nennen, worunter wir iedoch keineswegs<br />

nur den ercten biolJen Schimmer des Wissens verstchen<br />

diirfen. I)as diirften wir nur dann, wenn das >eigentliche<br />

Wissen< in einer unbedingten >theoretischen< GewiBheit von<br />

der Art der mathematischen Kenntnis und Berveisbarkeit bestiinde.<br />

Allein, das Wissen der echten Ahnung ist anderen !Ve'<br />

sens und duldet nicht den Vergleich mit einer Form des Kennens,<br />

das den Gewinn der Zweifellosigkeit mit dem Verlnst<br />

aller Wesentlichkeit bezahJ.t, aber auch bezahlen kann und<br />

gern bezahlt, weil dieses Wissen nur das Rechnen ist und mit<br />

den Zahlen umzugehen wei8. (Das Rechnen als eine Art des<br />

echten Wahns.) Jenes Wissen aber, das den Unheirrrlichsten<br />

vom Herde verstii8t, kann aber selbst doch nur vom Herde<br />

wissen, wenn es einer Zugehiirigkeit zum Herde entstammt.<br />

Von dieser spricht der Chorgesang nirgends. Aber muB denn<br />

alles, was gesagt wird, auch ausgesprochen sein? MuB niciht<br />

vielleicht das eigentlich zu Sagende verschwiegen werden? Wo<br />

anders freilich kann es versdrwiegen sein als im Gesagten?<br />

Steht es so, dann verbirgt sich im ausgesprochenen Wort des<br />

Chorgesanges ein Anderes. Der >Inhalt< des Ausgesproc-henen<br />

erschiipft nicht die Wahrheit des Gesagten' Dariiber miissen<br />

wir uns im voraus klar geworden sein, sobaid wir uns anschikken,<br />

diese griechische Tragridie und in ihr diese Dichtung auch<br />

nur in den schwdchsten l]mrissen zu fassen. DaB die Wahrheit<br />

des Chorgesanges sich im vorhinein nicht in dem >Inhalt<<br />

erschiipft, der sich in der Anmessung an den Wortlaut >ange-<br />

Die Zwiesprache uon Antigone und Ismene<br />

bennatiirlidristHerd< das Heimis&e bestimmt und<br />

das 6er.v6v dasienige ist, was in seiner hijchsten Gestalt vom<br />

Herde ausgeschlossen bleiben muB, dann kann das 0eLv6v nur<br />

das Unheimliche sein, wenn es die Wesensart des Unheimisclten<br />

hat. Das SchluBwort des Chorgesanges spridrt so wenig<br />

gegen die Auslegung des 6etv6v im Sinne des Unheimischen'<br />

t55


il<br />

I<br />

154 Die Deutung des Menschenin Sophokles' Antigone<br />

Der Llerd ak das Sein<br />

155<br />

dafi es diese Auslegung vielmehr als die allein miigliche sindeutig<br />

fordert.<br />

Allein, mit dieser Binsidrt kommen wir nun erst an den echten<br />

Beginn des Verstehens. Denn jetzt gilt es folgendes zu bedenken:<br />

Wenn das Unheimlidre als ein solches nur wiBbar ist<br />

vom Heimischen her, dann mu8 alles Sagen vom Detv6v lsreits<br />

iiber dieses hinausgedacht haben. Doch wohin hinaus? In<br />

der Richtung auf das Heimische, den Herd. Allein, das Wissen<br />

von diesem spricht sich nicht unmittelbar aus. Es nennt sich<br />

aber selbst ein qgoveiv, ein Sinnen und Sichbesinnen, das aus<br />

der qpfv, d. h. aus dem >>Herzenherzhafte< Wissen ein Ahnen<br />

ist, dann werden wir dieses Ahnen niemals fiir ein im Unklaren<br />

verschwimmendes Meinen halten diirfen. Es hat seine<br />

eigene Helle und Entschiedenheit und bleibt doch von der<br />

Selbstsicherheit des rechnenden Verstandes grundverschieden.<br />

Was weiB dieses Wissen und was muB es wissen?<br />

18. Der Herd ak d.as Sein.<br />

(Erneutes Bedenken des Anfangs des Chorliedes und des<br />

Schluputortes.)<br />

Die Antwort auf diese Frage wird uns gli-icken, wenn wir das<br />

entscheidende Wort noch einmal bedenken, mit dem der Chorgesang<br />

beginnt und dessen Auslegung der Chorgesang selbst<br />

ist:<br />

roll.d td 0euvd xorl0dv dv0gcixou Eerv6tepov r6lel'<br />

Vielfiiltig das Unheimliche, nichts doch<br />

iiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.<br />

Worauf blickt dieser Spruch hinaus? Er spricht vom Unheimlichen;<br />

er spridrt vom Unheimlichsten; er spricht aus, da8 der<br />

Mensdr im Vielfiiltigen des Unheimlichen das Unheimlichste<br />

sei. Der Spruch sagt vom 6stv6v und nennt das n6J,erv - das<br />

sifrregende<br />

Ragen, das lvechselvolle Insichruhen, das Aussichhervorkommen<br />

und als dieses Kommen und Gehen doch Insichbleiben;<br />

dies nennen die Griechen sonst qtoLg, und das ist<br />

das Wort fiir das Sein. Und dieses Selbe nennt auch td n61.erv.<br />

Der Spruch blickt, das Unheimliche alles und in seinen Miig-<br />

Uchkeiten iiberblickend, auf das Sein alles Seienden. Wohin<br />

immer das Unheimlichste als das Unheimischste hinausfahren<br />

mag, es bleibt, sofern es als das Unheimischste noch ist, iiberall<br />

in dem Umkreis des Seins selbst. Wobei immer das Unheimlichste<br />

einen Ausweg suchen mag und wohin es immer zuriickgesto8en<br />

und hinabgeworfen wird, es fiillt dabei in den Umkreis<br />

des Seins zuriick. Das Sein setzt dem Uberailhinausfahrenden<br />

keine Grenzen, weil dem Menschen bei seinem Umherfahren<br />

endlos ))neues( Seiendes begegnet und zugeschickt<br />

wird. Und dennoch findet der Mensch da keinen Ausweg und<br />

stiirzt und wei8 dabei gar nicht, was ihn beschrdnkt und niedersdrldgt:<br />

daB es dasselbe Sein ist, das ihm alle Tore iiffnet.<br />

Das Unheimische bleibt bei aller Unheimischkeit im Umkreis<br />

des Seins. Das Unheimische bleibt auf das Heimische bezogen.<br />

Gesetzt, da8 es verschiedene Miiglichkeiten dieses Bezuges gibt,<br />

dann gibt es auch noch verschiedene Weisen des Unheimischseinsl<br />

dann hat die VerstoBung des Unheimlidren einen entsprechend<br />

verschiedenen Sinn.<br />

Aus dem Chorlied selbst kennen wir zundchst nur den Unheimischen,<br />

der im Seienden je durch eigenen Umtrieb den<br />

Ausweg zum Heimischen und die Stdtte des Seienden sucht.<br />

Sein Umtrieb gilt nur der Verkehrung des Seienden in das Unseiende.<br />

Wenn nun aber dieser Unheimliche ausgestoBen wird<br />

vom Herde, wenn ihm das SchluBwort des Chores das edrte<br />

Wissen abspricht, kommt er dann durch diese Versto8ung<br />

nicht auBerhalb des Seins zu stehen? Keinesfalls - denn ihm<br />

wird ja nidrt jede Art von qqoveiv abgesprodren, ihm wird<br />

vielmehr dies zugesprochen, da8 er im Seienden wahrhaft zu<br />

sein wiihne, ohne es doch zu sein. Die Verwerfung sagt, daB


136 Die Deutung des hlenschett in Sophokles' Antigone<br />

Der I-Ierrl aLs das Sein<br />

t57<br />

der Unheimliche zum Herd eine Wesensbeziehung habe, abql<br />

dieienige des Vergessens und der Verblendung, der zufolge q1<br />

nicht das Sein im Blick und im Andenken haben kann. Drrrq\<br />

die Versto8ung wird ja erst in aller Hdrte gesagt, wohin ds..<br />

Unheimliche gehiirt - niimlich zum Sein, das alles Seiende bsstimmt<br />

und in solcher Bestimmung bewahrt und in der F{u1<br />

h?ilt. Dann wdre der Herd, um den herum allein alles und zumal<br />

der Mensch heimisch sein kann, das Sein? Aber davol<br />

spricht das Schlu8wort des Chorgesanges doch nirgends. Gewi8<br />

nicht. Und wir behaupten am allerwenigsten dies, daB es<br />

davon sprechen sollte, weil es als Schlu8wort, das alles trrigt,<br />

eher den Charakter des Versdrweigens hat. Und doch ist der<br />

I{erd genannt - 6otiq,. Und doch beruft sich das Wort auf ein<br />

Wissen, das auf den Herd und das Heimische und das Heimischsein<br />

bezogen sein mu8. Wie anders sollte es sich sonst<br />

gegen das Wihnen des Unheimischen absetzen?<br />

Wiederholung<br />

Schon aus dem einleitenden Zwiegesprdch zwischen Antigone<br />

und Ismene wird offenbar, daB auch Antigone, ja sie sogar in<br />

einem hijchsten Sinne, dem Bereich des Eelv6v angehiirt. Sie<br />

macht das Erjagen des lJnausrichtbaren zum lJrsprung ihres<br />

Wesens. Sie wiihit das Gesdrick als das, was allein sc-hicklich<br />

ist. Dadurch nimmt sie das Unheimischsein auf sich. Dieses Erfahren<br />

und Durchmachen ist das hiichste Handeln und die eigentlidre<br />

Geschichte ihres Menschentums, die t6lpa ihres !Vesens<br />

selbst. Verborgen bleibt allerdings zundchst, worin ihr Unheimischsein<br />

besteht. Ungesagt bleibt daher auch, rvas zum<br />

Heimischwerden und Heimischsein gehiirt. Das Chorlied<br />

scheint sich iiberhaupt iiberall nur im Sagen des Un-heimischen<br />

zu halten. Das SdrluBwort aber scheint vollends dieserr<br />

Schein zu bestdtigen. Denn auch das SchluBwort und gerade<br />

dieses spricht verneiaend, in der Art einer Versto8ung. Dem-<br />

gefra0 ist sowohl das, was im Chorlied genannt wird, das 6elv6v,<br />

f,3s Ungemeine und Unheimliche, als auch die Art und Weise,<br />

g/ie zuletzt von ihm gesagt wird, die Verwerfung, jedesmal<br />

Dnegativ


138 Die Deutung des Mensclrcn in Sophohles' Antigone<br />

sen vom llerde? Ist demnach das Wissen vom Herde das Wis_<br />

sen vom Sein des Seienden? Solches Wissen vom Sein des Sei_<br />

enden, das nun eigens das Seiende in dieser Hinsicht denkt, ist<br />

ein ausgezeichnetes Denken, das seit Platon den Namen >phi_<br />

losophie< fiir sidr in Anspruch genornmen hat. Sollte nun im<br />

SchluBwort des Chorliedes ein Wissen vom Herde als Wissen<br />

vom Sein sich aussprechen, dann hieBe das, die Dichtung sage<br />

eine >>philosophische lVahrheitHerdeSein< umfiiischt? Das ist nicht die Absicht dieser<br />

Bemerkung, vielmehr liegt alles daran, die Richtun g zu zeigen,<br />

aus der dieses SchlulSwort des chorliedes als ein dichterisches<br />

\Mort verstehbar wird.<br />

Vielleicht ist das \Nissen, das qgoveiv, des hier Sprechenden<br />

nicht nur vom Didrter des Chorgesanges zu einer dichterischen<br />

Aussage gestaltet, sondern selbst als ein dichtendes Wissen gemeint.<br />

Dann wdre das SchluBwort keine bloBe Verwerfung.<br />

Dann endete das Chorlied nicht mit einer blo8en Abkehr von<br />

dem, was zuvor irn mdchtigen Wort genannt wurde. Sofern<br />

wir diese Miiglichkeit im Blick behalten, kommen wir nicht<br />

in die Gefahr, das SchluBwort in die Leitsiitze einer philosophischen<br />

Abhandlung umzudeuten. AuBerdem aber ist die Deutung<br />

des Wortes vom >Herd< im Sinne des Seins deshalb kein<br />

Hineintragen spdterer Ansicht und fremder Meinung in das<br />

Griechenturn, weil griechische Denker diese Auslegung selbst<br />

vollzogen haben. Zuvor mu8 auf das verwiesen werden, rvas<br />

zur allgemeinen Bedeutung des Wortes ioricr gesagt wurde.<br />

Damit steht in unmittelbarem Zusammenhang, daB bei FIesiod<br />

und in den >>homerischen <strong>Hymne</strong>n


I4'0<br />

Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

Weitere Ausfilhrungeni)ber den llerd ak das Sein<br />

fil<br />

eigens nach der >Aufkliirung>Aufkldrung< beginnt ihrem Wesen nach jedoch<br />

mit dem Beginn der Metaphysik, d. h. mit dem Beginn ds1<br />

>Philosophie


7+2 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

das Wesende im Sein, das ja die Griechen im Sinne der bestd.ndigen<br />

Anwesenheit erfahren. Wir mii8ten hier nun, dapil<br />

Platons Hinweis auf die Dichtung des Seienden vollstiindig gefa8t<br />

wdre, darauf eingehen, wie er selbst zu diesem dichtenden<br />

Sagen steht und seinem eigenen Denken die alle Dichtung<br />

iibersteigende und sie also unter sich lassende Bestimmung<br />

gibt, derzufolge dann fiir alle Metaphysik die Dichtung wesenhaft<br />

>>bloBe< Dichtung bieibt. Um dann kiinftighin das<br />

Recht und die Art der l)ichtung und der Kunst iiberhaupt vor<br />

der Macht der ratio zu retten, gibt man der Kunst die Auszeichnung,<br />

daB sie >Gefihlswerte< schaffe und dem >Leben<<br />

ndher sei. Der Unterschied zwischen Dichten und Denken wird<br />

ein psychologischer, und d. h. ein >dsthetischerGefiihl< gilt als willkommener Ersatz<br />

fiir die Ohnmacht des Denkens und seiner leeren Begriffe. Diese<br />

tdten angeblich das >Brlebnis>Erlebnis< und sogar sein einziges Erlebnis.<br />

Dieser Vorrang der t61v1 beginnt da, wo die Sophistik sich<br />

zur Philosophie vollendet: im Denken Platons. Platon sagt im<br />

unmittelbaren AnschluB an die mythologische dichterische<br />

Schilderung der Wohnstatte der Gijtter: Tdv 0i t:regouqrivtov<br />

t6nov oilTe rrE iipvrlo6 nor r6v tfrEe lorqrilg oilTe nord ripv{oel xar"<br />

dlicv. >Die iiberhimmlische Stdtte aber hat weder je einer der<br />

im Hiesigen weilenden Dichter preisend erhellt, nodh wird jemals<br />

einer sie wiirdigen nach der Gebiihr. < (Das Wort ripveiv fiir<br />

>diclrten


t44<br />

Die Deutung des Menschenin Sophohles' Antigone<br />

als sei es nur ein dem Menschen angeheingter Zustand und<br />

eine zur Gewohnheit verhartete Ausstattung' Das Unheimischsein<br />

zeigt sich als das noch-nicht-erweckte, nodr nidet entschiedeoe,<br />

nocl, niiht iibernommene Heimischseinkd''nen und Heimischwerden.<br />

Eben dieses Unheimischsein iibernimmt Antigone.<br />

Ihr Erleiden des 6erv6v ist ihr htichstes Handeln. Dieses<br />

Handeln ist die Bewegung und das >>DramaAndenken>Anmerkungen zur Antigone>kiihnsten Moment<<br />

des >Kunstwerkes


t+6 Die Deuntng des Menschen in Sophohles' Antigone<br />

D as I:I eimischwerden im U nheimischsein<br />

r+7<br />

keiner Zeit IaBt dies Bestimmende sich irgendwo als erst gesetzt<br />

antreffen und ist doch allem zuvor schon erschienen, ohne<br />

da[J einer ein Seiendes nennen kiinnte, daraus es entsprungel.<br />

Dem also lJnverborgenen gehiirt das Wesen der Antigone. I1<br />

diesem lJnverborgenen geborgen und heimisch zu werden ist<br />

das, r'r'as sie se}bst nennt na$eiv td 8stvdv 'rofrto- dieses Unheimischsein<br />

in allem Seienden durchzumachen. Indem Antigone<br />

das Unheimischsein in ihr eigenes Wesen iibernimmt, ist<br />

sie >>eigentlich


748 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

Das H eirnischwerden im U nheimisdtsein<br />

t49<br />

Die lVahrheit des Chorliedes kann daher nidrt im ersten<br />

Wort des Beginnes liegen, aber auch nicht im SdriuBwort. Sie<br />

verbirgt sich in dem, was das unmittelbar Gesagte nicht nur<br />

ungesagt ld8t, sondern durch sein Sagen erst zum Ungesagten<br />

dichtet. Steht es jedoch so, wie sollen wir jetzt die Antwort<br />

geben auf die Frage, wer dieses SdiuBwort sage? Nach der<br />

unmittelbar richtigen Feststellung sprechen die thebanischen<br />

Alten. Aus welcher Befugnis sagen sie das Wort iiber das Unheimisdrsein<br />

des Menschen? Inwiefern kiinnen sie sich ausnehmen<br />

von der Versto8ung des Unheimischen? Woher stammt<br />

ihr Wissen vom Herd? Welcher Art ist dies Wissen und seirr<br />

Wort? Weiche Stimme, wessen Stirnrne kommt im Chorlied<br />

zum Wort? Was ist der Chor in der griechischen Tragiidie?<br />

Diese Frage soll hier nicht weitliiufig eriirtert werden. Dariiber<br />

ist vieles hin und her verhandelt und sorgfiiltige gelehrte Arbeit<br />

geleistet worden. DaB iiberhaupt die griechische Tragtidie aus<br />

dem >Chor< entstanden ist, sagt wesentlich geda&t nichts anderes<br />

als: der Chor ist die innere Mitte der Tragiidiendichtung<br />

als Dichtung. Und das Chorlied der vollendeten tragischen<br />

Dichtung wiedemm ist die Mitte dieser Mitte. Deshalb spricht<br />

im >ChorliedChorlied< nicht etwa so, dal3 er dort gesondert noch eigene<br />

Ansichten duBert. Vielmehr wird die dichterische Wahrheit<br />

einer Tragddie, das vor allem Anderen und das fiir alles Andere<br />

zu Sagende, im Chorlied gesagt. Der Chor ist nicht ailein<br />

>entwicklungsgeschichtlich< der Ursprung der Tragiidie, sondern<br />

er wird im Chorlied wesensgeschichtiich zu ihrer Wesensmitte,<br />

die dichterisch das Ganze der Dichtung um sich sammelt;<br />

er ist das Zu-Dichtende.<br />

Unter den mannigfadoen Ratlosigkeiten iiber das, worin die<br />

Wahrheit des erlduterten Chorliedes beruhe, findet sich auch<br />

die, daB man sagt, es sei von so allgemeinem Gehalt, daB es<br />

iberhaupt ohne rechten und eindeutig besonderen Bezug zum<br />

iibrigen Inhalt der Antigone-Tragirdie bleibe und deshalb<br />

eigentlich in ihr keinen Platz habe. Doch was man als allgemeinen<br />

Gehalt rniBversteht, ist die Einzigkeit des Sagens vom<br />

Einzigen 6er.v6v 'nd seinem Wesensgrund, und dieses erscheint<br />

in der einzigen Gestalt der Antigone. Sie ist das reinste<br />

Gedicht selbst.<br />

Das dichterisch zu Sagende ist die dichterische Wahrheit.<br />

Das dichterisch wahre Wort ist jenes Wort, das das dichterisch<br />

Seiende nennt. Aber was ist das dichterisch Seiende? Was heiBt<br />

hier iiberall >dichterisch


150 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

bildens. Dieses Finden steht in einer einzigen Notwendigheit.<br />

Was als das Zu-Dichtende west, kann nicht ein Seiendes sein.<br />

Das Zu-Dichtende, in der Dichtung lVeserrde' ist nie das Seiende,<br />

sondern das Sein. Wenn im Chor der Tragiidiendichtung<br />

und wenn zumal im Chor dieser sophokleischen Tragiidie der<br />

Dichter eigentlich spricht, dann sagt er hier dichtend das wahrhaft<br />

Zu-Dichtende: das Sein. Und der Dichter sagt es' indem<br />

er im alles tragenden SchluBwort des Chorgesanges den Herd<br />

nennt. Der Herd ist das Wort fiir das Sein, ist ienes in Antigones<br />

Wort genannte Erscheinen, das alles und iiber die Gijtter<br />

bestimmt. Das Sein ist nichts Wirkliches, sondern das, was das<br />

Seinkiinnen des Wirklichen bestimmt und zumal das Seinkiinnen<br />

des Menschen; jenes Seinktinnen, in dem sich das Menschsein<br />

erfiillt: das Unheimischsein im Heimischwerden. Dies ist<br />

die Zugehiirigkeit zum Sein selbst' Was west als das Sein und<br />

nie ein Seiendes und Wirkliches ist und deshalb stets so aussieht<br />

wie das Nichts, das kann nur im Dichten gesagt oder im<br />

Denken gedacht werden. Bedenken wir wohl, was im Chorlied<br />

genannt wird als das, was der nur im Seienden ausweglos umherfahrende<br />

Unheimische nicht zu meistern vermag:<br />

rd p6l"trov' "Al6a p6vov<br />

getlr.v or.ix Erdletnu<br />

dem einzigen Andrang vermag er, dem Tod,<br />

durch keine Flucht je zu wehren.<br />

Dieses Eine ist es, dem Antigone s&on zugehdrt, was sie als<br />

zum Sein gehiirig weiB. Deshalb ist sie, weil so im Sein heimischwerdend,<br />

im Seienden die Unheimischste. Dieses Sein<br />

und das Heimischseink6nnen wird hier dichtend gesagt. Das<br />

Seinkijnnen des Menschen im Bezug zum Sein ist dichterisch'<br />

Das unheimische Heimischsein des Mensdren auf der Erde ist<br />

,> dichterisch


t52<br />

Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone<br />

was der Dichter dichten mu8. Steht es so, dann dichtet Sophokles<br />

in der Antigone-Tragiidie das im hijchsten Sinne Dichtungsrviirdige.<br />

Das Chorlied nol,trd rd Esrv6. . . ist dann im<br />

innigsten Bezug zur Gestalt der Antigone die innerste Mitte<br />

dieser Tragiidiendichtung. Und wenn demnach dieses Chorlied<br />

die hijchste Dichtung des hijchsten Dichtungswiirdigen ist,<br />

dann kiinnte das wohl der Grund dafiir sein, daB dieses Chor-<br />

Iied dem Dichter Hiilderlin in der Zeit seiner <strong>Hymne</strong>ndichtung<br />

immer neu zugesprochen wurde. Damit sei nicht behauptet,<br />

Hiilderlin habe von diesem Bezug zur Dichtung des Sophokles<br />

in der Form der jetzt gedeuteten und begrifflich gefaBten Beziehungen<br />

eigens gewuBt. Wie er es bei sich gewu8t hat, ktinn.en<br />

wir nie wissen. DaB Htilderlin aber im Dichten der Strtime<br />

(und d. h. der Ortschaft und Wanderschaft des gesdrichtlichen<br />

Menschen) aus seiner ihm zugeschickten lssfi'n'nung in einen<br />

solchen Bezug zum Dideter der Griechen gestellt war, mag das<br />

folgende deutlich machen.<br />

DRITTERTEIL<br />

HOLDERLINS DICHTEN DES WESENS DES DICHTE,RS<br />

ALS HALBGOTT<br />

21. Hrilderlins Stromdichtung und das Chorlied des Sophohles -<br />

das i ew eils geschichtliche H eimischw erden<br />

Das Chorlied des Sophokles und die Stromgedichte Hijlderlins<br />

dichten das Selbe, und deshalb ist zwischen Hijlderlin und Sophokles<br />

die dichterisch-geschichtliche Zwiesprache. Weil aber<br />

beide Dichter das Seibe dichten, deshalb dichten sie gerade<br />

nicht das Gleiche; denn das Selbe ist wahrhaft das Selbe nur<br />

im Verschiedenen. Das Verschiedene aber ist hier das jeweilig<br />

andere geschichtlidee Mensdrentum der Griechen und der Deutschen.<br />

Und der Grund der geschidrtlichen Verschiedenheit dieser<br />

Menschentiimer liegt darin, daB sie in je versdriedener Weise<br />

geschichtlich sind, d. h. in verschiedener Weise heimisch werden<br />

miissen. Deshaib sind sie im Beginn in verschiedener Weise<br />

unheimisch. Dies jedoch sind sie aus dem einzigen Grunde,<br />

daB sie, in verschiedener Weise inmitten des Seienden seiend,<br />

zu diesem sidr verhalten und in ihm sich halten. Worin aber<br />

diese Verschiedenheit des Heimisch-Unheimischseins im Seienden<br />

griindet und woraus es sich ereignet, das zu bedenken<br />

ist das Gebot eines Denkens, von dem hier nicht gesprochen<br />

zu werden braucht. Genug, wenn von daher ein kleines Licht<br />

fdllt auf den dichterisch-geschichtlichen Bezug zwischen HijIderlins<br />

Stromdichtung und dem Chorlied des Sophokles. Denn<br />

in diesem Licht kann sich vielieicht die Dichtung Hiilderlins<br />

um Einiges aufhellen.<br />

Von der Oberfldche her gesehen sieht es zwar so aus, als<br />

gingen die Bemiihungen Hiilderlins ledigiich darauf, im Unterschied<br />

zur griechischen Dichtung die fiir die deutsche Dich-


154 Das Wesen des Dichters ak llalbgott<br />

If iilderlins Strorndichtung und Sophokles' Chorlied<br />

t55<br />

tung wesentlichen >Kunstregeln.< (V, 579) zu finden. Es sieht<br />

so aus, als ob Hijlderlin in den Briefen an seinen Freund Bdhlendorf,<br />

wo er vom Eigenen und Fremden der Griechen sowohl<br />

als auch der Deutschen spricht, nur das Finden der echten<br />

deutschen Dichtungsart im Auge und in der Sorge habe. Al-<br />

Iein, das ist ja dodr das Entscheidende, daB seine Darlegungen<br />

iiber die griec}ische und deutsche Didetungsart zum voraus das<br />

Wesen der Dichtung in einem urspriinglichen und wesentlichen<br />

Sinne denken. Das dichtende Wort bestimr"t sich in dem, was<br />

es dichtet und wie es dichtet, aus dem, was das Zu-Dichtende<br />

selbst ist, weil es nur als Gedidetetes >istLiteraturKlarheit der Darstellungn. Deshalb kiinnle es auch sein,<br />

daB einmal die Deutschen, gesetzt, da8 sie ihr Eigenes frei gebrauchen<br />

lernen und den Bedingungen fiir dies Lernen nicht<br />

ausweiclen, in dem ihnen Fremden (dem >>Feuer vom Himmel")<br />

das Eigene der Griechen iibertreffen, wenn sie offener<br />

geworden sind, so dafJ >dem offenen Blik offen der Leuchtende<<br />

(der Himmel) ist. (>Der Gang aufs LandGast-Haus< (IV, 514) und<br />

Stift gestiftet und gebaut wird, dern die Tempel der Griechen<br />

nicht mehr nac-hkommen.<br />

Ob Hiilderlin in dieser Bestimmung des geschichtlichen<br />

Wechselbezuges zwischen griechischer und deutscher Geschichtlichkeit<br />

das Anfiingliche schon getroffen hat oder nicht,<br />

diirfen wir erst zu der Zeit f.ragen, wenn Hijlderlins Wort einmal<br />

wahrhaft gehdrt ist und als die Dichtung, die sie ist, den<br />

ihr gemiiBen Gehorsam erweckt und aus diesem Gehorsam<br />

die gepriigte Weise des Hcirens sich gestaltet hat. Bis zu dieser<br />

Zeit bleibt jedode die Einsicht entscheidend, daB die geschicht-<br />

Iiche Beziehung zwischen Griechentum und Deutschtum keine<br />

Angleichung und keinen Ausglei& duldet. Deshalb bleiben<br />

alle blo8 >humanistischen< Ankniipfungen und Wiederbelebungen<br />

(>>Renaissancen


il,<br />

il<br />

ll<br />

il<br />

ir<br />

I<br />

t<br />

l<br />

i<br />

I<br />

156 Das Wesen des Dichters ak Halbeott<br />

Einmal durch das Dichten der Strtime in der <strong>Hymne</strong>ndich_<br />

tung. Dann aber zugleich - fast wie in einer Entsprechuns<br />

zum Chorlied - durch ein eigenes Nennen des Gesetze. ."lb.tl<br />

Bald ist dieses Gesetz nur im Anklang genannt, bald ist es<br />

gewagter und entschieden gesagt. Das Gesetz des Heimischseins<br />

als eines Heimischwerdens besteht darin, dafi der geschichtiiche<br />

Mensch im Beginn seiner Geschichte nicht im Heimischen<br />

vertraut ist, ja sogar unheimisch zu diesem werden<br />

mu8, um in der Ausfahrt zum Fremden von diesem die Aneignung<br />

des Eigenen zu lernen und erst in der Riickkehr aus<br />

ihm heimisch zu werden. Der geschichtliche Geist der Geschichte<br />

eines Menschentums mu8 diesem erst bei seinem Unheimischsein<br />

das Fremde entgegenkommen lassen, um in der Auseinandersetzung<br />

mit ihm das zu finden, was fiir die Riickkehr<br />

zum Herde das Schi&liche ist. Denn Geschichte ist nichts anderes<br />

als solche Riickkehr zum Herde.<br />

22. Der geschichtlich griindende Geist.<br />

Erliiuterung der V erse :<br />

onemlich zu HaulJ ist der Geist<br />

nicht im Anf ang, nicht an der Quell.lhn zehret die Heirnath.<br />

Kolonie liebt,undtapf erVergessen der Geist.<br />

[.Jnsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wcilder<br />

denVerschmachteten. Fast wiir der Beseeler uerbrandt.o<br />

Ein Wort von der zweiten Art hat Hiilderlin in der Verborgenheit<br />

seiner Bntwiirfe zuriickgelassen. Vor wenigen Jahren erst<br />

sind uns einige Verse bekannt geworden, die auch Hellingrath<br />

entweder iibersehen oder iibergangen hat, ein Mangel, der freilich<br />

die Einmaligkeit seiner Hiilderlin-Ausgabe nie im geringsten<br />

antasten kann. Die Verse sind erstmals veriiffentlicht in<br />

einer Schrift von Fr. Bei8ner: >Hijlderlins Ubersetzungen aus<br />

dem GriechischenSein>Zusammenhdnge>ErgebnisseAuswertungen>Brod und Weinin der steilen, verwirrt eilenden Schrift<br />

der alles dndernden spdten VariantenGeist>BeseelerDer Geist>der<br />

Geist


158 Das Wesen des Dichters als Halbeott<br />

Der geschichtlidt gri,indende Geist<br />

159<br />

sentliche und eindeutige, wenngleich noch nicht vollentfaltete<br />

Bedeutung. Wir gingen auf Abwegen, wollten wir meinen, 'vvis<br />

es neuerdings mehrfach geschieht, Hiilderlin habe den meta_<br />

physischen Begriff >>des GeistesPhilosophie<<br />

entlehnt und in seiner Dichtung hier und da iibernommen.<br />

Abwegig ist diese Meinung aus zwei Griinden: Einmal deshalb,<br />

weil kein Dichter, zumal nicht ein Dichter vom Range<br />

Hiilderlins, >BegriffePhilosophie< bedeutet. Aus dem Gesagten<br />

wird klar, daB Htjlderlins Wort >>der Geist< seiner Bedeutung<br />

nach von der deutschen Metaphysik bestimmt ist,<br />

aber nicht mit dem identisch ist, was diese in ihren Begriffen<br />

des >subjektiven< und >objektivensystematisch<<br />

denkt. Nach dem metaphysischen Begriff ist >der Geist<<br />

schlechthin >das AbsoluteDes gemeinsamen Geistes Gedanken,, gehtiren<br />

aber wesentlich zum Geist, weil das Denken das Sein<br />

des Geistes ausmacht. Der Geist ist >eigentlich.sind< in einem ausgezeichneten Sinne. Deshalb<br />

sagt Hiilderlin in einem Vers der <strong>Hymne</strong> >Wie wenn am<br />

Feiertage . . .


160 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

D er ge schichtlidt griindend e G eist<br />

161<br />

wahrt wird. Vom Wirklichen aus gerechnet, ist das Kommende<br />

das noch nicht Wirkliche, aber doch schon >wirkende< >Unwirkliche>MutGemiit< ist >>seelePrinzip< des tierisch-pflanzlichen Lebens, son_<br />

dern als Wesen des Gemiits, das in den Reichtum seines Mutes<br />

die Gedanken des Geistes aufnimmt.<br />

Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind<br />

Still endend in der Seele des Dichters.<br />

Weil in der >>Seeleder Beseeler>geistige>Der GeistWie wenn am Feiertage. . .Brod<br />

und WeinAuch Geistiges leidet, Himmlischer Gegenwart<br />

ziindet wie Feuer, zwlezt.Der Geistder Beseeler>der Geist>nidrt im Anfang, nicht an der Quellnidrt an der Quellnicht im Anfang


D er geschichtlidt griindende G ei st t63<br />

162 Das Wesen des Dichters als Ila.lbgott<br />

1 Vgl. Vorlesung Winter-Semester 1941/42; GA. Bd. Sg, S. 169 ff. Gehorsam zur Aneignung seines Eigenen gerade im Beginn,<br />

sich erst die volle Wahrheit des Wortes: >>nicht an der Queli>istnicht zu HauB>an der Quell< heimisch werden und da_<br />

bewegen. Es ist noch gegen das ihm zugeschickte Geschick verschlossen.<br />

zu mu8 der >Geistan die Quelle< gehen.<br />

Damit aber ist es von seinem eigenen Wesens-<br />

An die eigentliche Quelle zu gehen, ist der schwerste Gans.<br />

ursprung in gewisser Weise ausgeschlossen. Das geschichtliche<br />

Er ist schwer, sowohl weil er in seiner Notwendigkeit a;<br />

Menschentum ist mit der entfalteten Wesensfiille seines Geschicks<br />

schwersten zu erkennen ist, als auch deshalb, weil der Vollzug<br />

das Htjchste fordert. Wie soll denn das Gehen an die QueIIe<br />

erst noch iiberhaupt eigens bedacht werden, da doch der Geist<br />

in seinem Wesen und nur aus seinem Wesen iiberhaupt und<br />

schon Geist ist. Und wenn gar ein Gehen an die Quelle doch<br />

noch niitig sein sollte, was ktjnnte leichter sein als das Gehen<br />

zu dem, worin und wobei er schon ist? Aber dieser Anschein<br />

des Leichtesten verhiillt das Schwerste. Dem Leidrtesten folgend<br />

weicht der Mensch dem Schwersten aus. Daher sagt Hiilderlin<br />

das Wort in dem Gedicht >Andenken< (4. Strophe):<br />

noch nicht vertraut, in ihr nicht >>zu HauBaber wie Flammen Wirket von<br />

oben und priift Leben (d. h. >das Eigeneder gemeinsame Geist<<br />

sein. Im Geist waltet daher die Sehnsucht zu seinem eigenen<br />

Wesen. Also mu8 der Geist um seines Wesens willen und im


ii<br />

ir<br />

I<br />

,l<br />

I<br />

16+ Das I4 esen des Dichters ak Halbgott<br />

>im AnfangKolonie< - das ist nicht das blo8e Fremde des Fremdartigen<br />

und Exotischen, das der Abenteurer zu seinem betdubenden<br />

Gewissen aufsudrt. Den Geist befiillt nicht eine zufZillige Lust<br />

nach dem Fremden. Der Geist >>liebt>Kolonie>liebt<<br />

Kolonie; er wiII im Fremden wesentlidr die Mutter, die freilich<br />

nach der <strong>Hymne</strong> >Die Wanderungschwer a), gewinnen:<br />

die Vers&IosseneliebtIiebt Kolonie>tapfer Vergessen<<br />

liebt; >Und tapfer Vergessenund>und au8erdem nochu, sondern will sagen: >>und um dieser<br />

Liebe willen und zu ihren Diensten Iiebt der Geist gerade tapfer<br />

Vergessen>VergessenNicht-mehrdaran-denkens>entgeht<<br />

und entgangen ist, oder daB wir selbst uns etwas aus<br />

dem Sinne schlagen und wegsdrieben. Das Vergessen ist einmal<br />

das Entfallen, ein Verlust, zum anderen das WegstoBen<br />

und Ausweichen, eine Flucht. Diese Flucht ist am leichtesten,<br />

wenn sie irgendwohin fliehen kann, was selbst uns sogleich<br />

D er geschichtlich grilnr)ende G e ist 165<br />

schon gefangen nimmt, so daB wir dabei, wie wir sagen' )>uns<br />

vergessen>tapfer VergessenMuttapferesOrtschaftDie Wanderung


166 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

D er geschichtlich grilntlende G eist<br />

t67<br />

rl<br />

J<br />

I<br />

ll'<br />

Gliikseelig Suevien, meine Mutter,<br />

(gliikseelig bist du zu preisen)<br />

denn nah dem Heerde des Hausses<br />

Wohnst du, und hiirst, wie drinnen<br />

Aus silbernen Opf erschaalen<br />

Der Quell rauscht, . . .<br />

Die dritte Strophe freilich beginnt aus dem tapferen Gliick<br />

dieses Gru8es anders:<br />

Ich aber will dem Kaukasos zu !<br />

Hell steht es jetzt vor uns: >Kolonie liebt, und tapfer Vergessen<br />

der GeistKolonieIJnsere Blumenund die Sihatt€n<br />

unserer Wiilder< - das ist das Heimische, und zwar ist dies<br />

genannt als das Erfreuende. Die Freude ist Behiitung und Hut<br />

der Heimkehr in das Eigene. Nur deshalb gibt es auch die<br />

Freude >>fiirEngelsonst


168 Das Wesen des Dichters ak llalbgott<br />

Hijlderlin spricht in diesem >Brudrstiick< geschichtlich dichterisch<br />

fiir die einzige Geschichte der Deutschen das Gesetz<br />

des Unheimischseins als das Gesetz des Heimisdewerdens aus.<br />

Wir erkennen dies freilich nur, wenn wir das bedacht haben,<br />

was Hiilderiin in seinen <strong>Hymne</strong>n diihtet, indem er das >Heilige(<<br />

sagt. Es gentgt hier, an die erste Strophe der Isterhymne<br />

zu erinnern. Sie beginnt:<br />

l::t<br />

n"**", Feuer!<br />

lange haben<br />

Das Schikliche wir gesucht, . . .<br />

Doch auch diese Worte und fie der anderen <strong>Hymne</strong>n blieben<br />

uns zu einem wesentli&en Teil in ihrer Wahrheit verschlossen,<br />

weiren uns nicht die erw?ihnten Briefe erhalten, in denen Hijlderlin<br />

iiber das Eigene und Fremde unserer Geschichte sich<br />

ausspricht.s Hier sei nur eine Stelle aus Hijlderlins Brief an<br />

Biihlendorf vom'1. XIL 1801 angefiihrt:<br />

>Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei<br />

gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die<br />

Klarheit der Darstellung uns urspriinglich so natiirlide,<br />

wie den Griechen das Feuer vom Himmel.< (V, 319)<br />

Dieses Wort bediirfte freilich auch einer Erlduterung. Hier sei<br />

nur das Niitigste angemerkt. Das Eigene der Grie&en ist >>das<br />

Feuer vom Hirnmel


770 Das Wesen des Dichters als Halbeott<br />

da das Schiksaallose, das 8topoQov, unsere Schwiiche ist.< Diese<br />

Bemerkung steht in den Betrachtungen, die Htilderlin seiner<br />

Antigone-t)bersetzung mitgegeben hat (V, 258). Das Gesetz<br />

der Geschichtlichkeit eines geschichtlichen Volkes sagt, daB das<br />

>NatiirlicheNatur<<br />

ist als >das Geschichtliche< seiner Geschichte. Deshalb ist das<br />

natiirliche >Eigene< in seinem Gebrauch das Schwerste. Unentbehrlich<br />

und so im Dienste des Schwersten, d. h. >>leichter>Feuerversihmachtete BeseelerVorstellungsarten unserer Zeit< geht im besonderen<br />

auf die unbedingte Metaphysik und ihre Frage nach der absoluten Erkenntnis<br />

des Absoluten, lvelche Frage in Wahrheit keine Frage sein kann,<br />

da das Absolute seinem Wesen nach >>bei uns


772 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

Der dichterische Geist als der Stromgeist<br />

175<br />

Erde ablesen? Es scheint so, rveil ja doch die Dichtung zu den<br />

Kulturleistungen gercchnet lverden hann, daran man hinterher<br />

>>dsthetisch< und literatur-historisdr feststellt, wie beschaffen<br />

die Dichtung und ihre Dichter sind. Ist die Dichtung >Kulturleistung


17+ Das Wesen des Dicltters als lIalbgott<br />

sich das Gefiige dieser Dichtung dreht, ist die Strophe X (IV,<br />

176 t.). Sie beginnt:<br />

[Ialbgtitter denk' ich jezt<br />

Und kennen muss ich die Theuern,<br />

WeiI oft ihr Leben so<br />

Die sehnende Brust mir beweget.<br />

>Halbgiitter denk' ich jeztjeztedelster< ist der Rhein selbst, der am Ende<br />

der II. Strophe schon in Vers 51 ausdrilcklich >>Halbgott>Brod<br />

und WeinHalbgott<<br />

gedacht einzig im Hinblick auf das Nennen der Gijtter<br />

und das nennende Sagen des Dichters.<br />

Die Strtime sind Halbgiitter. >Die Striime< meinen nicht alle<br />

Strijme iiberhaupt oder eine beliebige Anzahl. >Die Strtjme<<br />

in einem durdr die <strong>Hymne</strong>ndichtung gedichteten Sinne sind<br />

>Der Rhein>Die DonauDer fsterDie Wandemng< (IV, 170), deren erstes Wort wiederum das<br />

Land der oberen Donau nennt: >Gliikseelig Suevien, meine<br />

MutterDer Wanderer


176 Das Wesen des Dichters ak Halbeott<br />

den Deutschen feh-it. In der Gastfreundschaft iiegt aber zugleich<br />

die Entschiedenheit, das Eigene als das Eigene nicht mit<br />

dem Fremden zu mischen, sondern den Fremden sein zu lassen,<br />

der er ist. Nrrr so ist in der Gastfreundschaft ein Lernen<br />

miiglich, ndmlich irn Lernen dessen, was der >Beruf < des deutschen<br />

Dichters und seines Wesens sei.<br />

Die zweite Strophe der Isterhymne, die den >Herkules<<br />

nennt, riihrt an jene Beziige, die Hiilderlin im Blick hat, wenn<br />

er vom geschichtlichen Geist sagt: >>Kolonie liebt. . . der: Geist.<<br />

Denn diese Gastlichkeit des Isters gegeniiber dem fremden<br />

Halbgott ist nur eine Gestalt dieser Liebe, jene Gestalt ndmlich,<br />

der gemd8 der Geist die Kolonie auch dann noch liebt,<br />

wenn er in das eigene Heimische zuri.ickgewandert ist.<br />

Dieses alles aber vermiigen wir nur zu verstehen, utenn wir<br />

zum voraus den Ister als Stromgeist und die Strijme als das<br />

Wesen von Ortschaft und Wanderschaft denken, wenn lvir den<br />

Stromgeist als >Halbgott< und diesen als das Wesen des Dichters<br />

und das Dichterische in seinem Beztg zum Heimischwerden<br />

und dieses aus dem Unheimischsein und dieses als das Zu-<br />

Dichtende wissen. Aus dem Chorlied der Antigone-Tragiidie<br />

wurde deutlich, daB und in welcher Weise das Heimischsein<br />

das vom Dichter eigentlich Gedichtete, weil Zu-Dichtende ist.<br />

Deshalb wurde in dieser Vorlesung statt von Hiilderlin fauch]<br />

von Sophokles gesprochen. Wir hijnnen im Sinne der Isterhymne<br />

vom Ister nichts wissen, wenn wir nicht auch zugleich<br />

den von ihm geladenen Gast verstehen. Und diesen verstehen<br />

wir nicht, solange wir nichts ahnen von dem Dichten jenes<br />

Landes und Menschentums, aus dem der Gast geladen ist. Dieses<br />

Dichten der Griechen miissen wir dabei aber in der ljinsicht<br />

zu denken versuchen, aus der es den deutschen Dichter fernher,<br />

aber stetig, angesprodlen hat. So ist vielleicht nicht viel,<br />

aber eiliges zum Verstdndnis der Isterhymne angemerkt, wenn<br />

wir iiberhaupt den Gesichtskreis kennen, aus dem her verstdndlich<br />

wird, warum in einer <strong>Hymne</strong> >iiber< die Donau einer der<br />

griechischen >Halbgiitter< genannt wird. Dennoch bleibt es<br />

Der didrterisdte Geist als der Stromgeist 177<br />

befremdlich, daB Hijlderlin die Donau gerade mit Herakles zusammenbringt.<br />

Doih daftr besitzen wir eine einfadle Erkldrung)<br />

wenn wir Hijlderlins >historische>literarhistorisdreOlympisdren Ode< (V, 15 f.) spricht Pindar<br />

davon, daB Herakles das Laub der Olive nach Olympia gebracht<br />

habe >von des Isters schattigen Quellenn her. Doch dieser<br />

>literarhistorische Beleg< erkld.rt uns wenig, solange wir<br />

nicht auf den Wesenszusammenhang zwischen dem Heimischwerden<br />

und dem Dichten, zwischen dem Dichter und dem<br />

Halbgott, zwischen dem Heimischen und dem Unheimischen<br />

hinausdenken.<br />

Hiilderlins lWort vom Ister, der den Herakles zu Gast geladen,<br />

denkt einen ganz anderen und neuen Bezug, der fiir<br />

den griechischen Dichter keine Notwendigkeit und deshalb<br />

auch nicht miiglich war. DaB der griechische Halbgott zu den<br />

Schatten und Wasserquellen des Isters zu Gast gekommen ist,<br />

sagt aber zugleich, da8 Hiilderlin in seiner <strong>Hymne</strong>ndichtung,<br />

die das >EigeneVaterlendische< dichtet, keineswegs sich<br />

vom Griechentum abgekehrt oder gar dem Christentum sich<br />

zugekehrt hat. Die Gegenwart des Gastes im heimischen Ort<br />

sagt, da8 auch und gerade in der Ortsdeaft des Heimischen<br />

noch die Wanderschaft west und bestirnmend bleibt, wenngleich<br />

gewandelt. Der Gast, d. h. der griechisihe Diihter des<br />

himmlischen Feuers, ist die Gegenwart des Unheimischen im<br />

Heimisihen. Der Gast macht das heimische Denken zu einem<br />

stdndigen Andenken an die Wandersdraft in die Fremde (die<br />

>Kolonie


178 Das Wesen des Dichters ak Halbgott<br />

Bezug zum Heimischen, denn sonst droht die Gefahr. vom<br />

Feuer und seinem >hei8en Strahl< getroffen, geblendet und<br />

verbrannt zu werderr.<br />

Der Strom >ist< die Ortschaft und Wanderschaft zumal, rveil<br />

er der Stromgeist und als der Stromgeist vom Wesen des Halb_<br />

gottes ist. Das besagt hier: Der Strom ist der zwischen den<br />

Menschen und den Giittern dichtende. Das Zu-Dichtende ist<br />

das diihterische wohnen des Menschen auf dieser Erde. Die<br />

Dichtung des Heimischwerdens muB aber dem wesen dieses<br />

Werdens folgen. Das Heimischwerden verlangt das Weggehen<br />

in die Fremde. Der dichtende Stromgeist muB, weil u. au, U"i_<br />

mische sucht und das Eigene frei gebrauchen lernen mu8, aus<br />

der Fremde her ins Eigene kommen. Der Strom muB derge_<br />

stalt im Bereich seiner euelle bleiben, da8 er zu ihr um J".<br />

Fremde hinflieBt. Die Dichtung der ortschaft des Heimischen<br />

ist das Herkommen der Wanderschaft aus der Fremde.<br />

Der scheinet aber fast<br />

Riikwiirts zu gehen und<br />

Ich mein, ermtisse kommen<br />

Von Osten.<br />

Der Ister scheint fast riickwdrts zu gehen. Es scheint, als ginge<br />

er iiberhaupt<br />

"AUl,<br />

nicht vorwdrts und. von der euelle *"g.<br />

der Ister geht nicht nur riickwdrts. Inwiefern entstehi iiberhaupt<br />

der Sdrein, da8 er fast riickwd.rts geht? Weil er ziigernd<br />

flie8t: dieses Ziigern kann nur daraus ko*m"rr, daB dem ur_<br />

spriinglichen Entspringen eine geheime Gegenstriimung ent_<br />

gegendrdngt. So enrsteht der Anblick, daB die ob"r" iorr",<br />

unter den >>Felsen< und dem Fichtenwald zuweilen steht und<br />

in wirbeln riickwdrts drringt. Der Dichter ahnt in diesem Ziigern<br />

die geheimnisvolle Verborgenheit des Ineinander der Be_<br />

zige zwrn Fremden und zum Eigenen. Der Ister geht fast riick_<br />

wd.rts, weil er, an der Quelle bleibend, bei ihr von Osten her<br />

angekommen. Im Ziigern erscheint das strtimen nach der einen<br />

und nach der anderen Richtung. Nach keiner d.er beiden<br />

Der dichterisclte Geist als der Strorngeist 179<br />

Richtungen ist das Striimen unmittelbar. Der Bezug zum<br />

Fremden ist nie das bloBe Ubernehmen des Anderen. Der Bez:ug<br />

z:orn Eigenen ist nie die nur selbstsichere Bejahung des<br />

so genannten > Natiirlichen > Organischen Organische< der Natur<br />

fremd, so fremd wie auch >das LogischeOrganischedas Logische


180 Das Wesen des Dichters als Halbgcttt<br />

Von Osten.<br />

Vieles wdre<br />

Zu sagen davon. ...<br />

Vieles wdre zu sagen von dem Schein, der den Strom in sei_<br />

nem Oberlauf, nahe der Quelle, so zeigt, als strijme er zur<br />

Quelle zuriick; vieles zu sagen w6re von der Meinung, die<br />

durch diesen Schein begriindet rvird, daB hier wohl ein Not_<br />

wendiges waltet, was dem Wegstriimen dieses Stromes vom<br />

Heimischen entgegenstriimt aus der Fremde. >Vieles wd.re zu<br />

sagenhochduftenden FichtenwaldEin soldrer< - d. h. ein Ausgezeichneter' der zwischen den<br />

Mensihen und den Gi;ttern, fiir diese und fiir iene der sein<br />

muB, der er ist. >Ein solcher< muB trotz allem in seinem<br />

Ursprung bleiben und stets dahin zuriickkehren. Dieses Nichtvergessendiirfen<br />

des Ursprungs sctrlie8t jenes >tapfer Vergessen<<br />

nicht aus, das fiir die Wanderung in die Fremde notwendig<br />

ist. Wie kann iedoch Hiilderlin in bezug auf den Ister<br />

fragen: >Und warlm hiingt er / An den Bergen gerad?< Geht


1.82 Das Wesen des Dichters ak Halbgott<br />

Die Strijme als Stifter des Dichterischen<br />

185<br />

denn der Ister nicht auch weg aus den Bergen seines oberen<br />

Laufes in die weite Ebene des Ostens? Aber der Ister muIJ ia<br />

von Osten her kommen, er geht riidQuells der DonauDie Wanderungpsychologischedsthetische>Erlebnisse>ausgelebt<<br />

und >ausgedriickt< werden? Oder bedarf nicht diese<br />

Berufung, u;eil sie eine geschichtliche ist, die erst Ges&ichte<br />

stiftet, der Besinnung und des dichterischen Fragens? Wie wollten<br />

wir nach allem bisher Angemerkten daran zweifeln? Deshalb<br />

fragt auch der Dichter: >rAber wie?


184 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

haupt? Dieses miissen die Dichter wissen, um die Strijme als<br />

Strijme zu kennen und ihrem verborgenen Wesen in einer se_<br />

henden Treue zuzugehiiren :<br />

Sie sollen nemlich<br />

Zur Sprache seyn. Ein Zeichenbraucht es,<br />

Nichts anderes, schlecht und recht, damit es Sonn'<br />

Und Mond trag' im Gemiith', untrennbar,<br />

Und fortgeh, Tag und Nacht auch, und<br />

Die Himmlisdren warm sidr fiihlen aneinander.<br />

Hiitten wir nicht in den voraufgegangenen Bemerkungen den<br />

Versuch gewagt, um iiberhaupt den Bereich zu kldren, in den<br />

das Wesen des Stromes geh6rt, behielten wir jetzt niiht streng<br />

im Blick, da8 die Striime das Heimischwerden im Unheimischsein<br />

erwandern, beddchten wir nicht, da8 dieses Erwandern<br />

der heimischen Ortschaft und ihres Herdes das Didrten des<br />

eigentlich Zu-Dichtenden ist, wiiBten wir nicht, da8 die Dichter<br />

iiber den Menschen und unter den Giittern zwischen beiden<br />

als die Halbgiitter fiir beide das Heilige nennen miissen, dann<br />

stiinden rvir jetzt ratlos und ohne jeden Anhalt vor diesen<br />

>>VersenEin Zeichen<br />

braucht es...<br />

21. Der Dichter das riitseluolle "Zeichenn,<br />

der das Zu-Zeigende<br />

erscheinen liilJt. Das Heilige als das Feuer, das den Dichter<br />

entzilndet. Die Bedeutung des Nennens der Gijtter<br />

Schon bei dem ersten Hinweis darauf, da8 Htilderlin im Denken<br />

>derHalbgiitter< denkt und in diesen das dichterische<br />

Wesen des Dichters verborgen sein ldBt, wurde das Ge-<br />

Der Didtter das riitseluolle >Zeicheno 185<br />

wicht darauf gelegt, da8 der Halbgott hier als der Sagende,<br />

die Gijtter mit Namen Nennende, erfahren ist. Die Strijme<br />

als die Halbgcitter sollen in einem einzigen Sinne des Wortes<br />

>zur Sprache seynEin Zeiehen braucht esrichtiger< erscheinen, das Wort >>Sprache< hier nicht wiirtlich,<br />

sondern in dem iibertragenen Sinne von >ZeichenAusdruck< zu nehmen. Die Strijme<br />

sollen als >>Ausdruck fiir etwasZeichen fiir<<br />

etwas anderes, ndmlich die Dichter. Die Strijme sind also doch<br />

und nach dem eigenen Wort Hiilderlins >SymboleEin Zeichen<br />

braucht esn.<br />

Wenn wir es so meinen, halten wir fiir ausgemacht, was das<br />

sei: >>ein Zeidhen>Zeichen< und >Symbol


186 Das Vf/esen des Dichters ak Halbgott<br />

Ein Zeichen braucht es.<br />

. . . damit es Sonn'<br />

Und Mond trag' im Gemi.ith', untrennbar,<br />

Und fortgeh'. . .<br />

Das Zeichen hat hiernach ein Gemiit, ja das Gemiit ist offenbar<br />

nicht eine Zugabe des >Zeichens,Und fortgeh'>fortgehen


188 Das Wesen des Dichters ak Halbcott<br />

Der Dichter das riitseluolle ,Zeichen"<br />

189<br />

nicht zur Bezeichnung von anderem, sondern so, daB er als<br />

Dichter >Zeichen< ist. Das voraufgehende Wort: >Sie (die<br />

Str6me) sollen nemlich I Zur Sprache seyn>Ausdruckein Zeichen( zu verstehen im Sinne<br />

von >>ein Dichter>AndenkenAndenken>an>Zeichen>Seele>GemiithFeuers>Mnemosyne< trtigt. Wir diirfen dieses griechische<br />

Wort im Sinne Hiilderlins ohne Gefahr mit >>Andenken<<br />

iibersetzen; denn dieser Name nennt die Mutter der Musen<br />

und damit den SchoB und den Ursprung der Didntung und<br />

somit deren Wesen. >>Mnemosyne


190 Das Wesen des Dichters ak Halbgott<br />

Der Dichter das rtitselooLle ,Zeichen*<br />

I91<br />

hitte damit das verloren, was ihn auszeichnet: das Wort, die<br />

Sprache. >Die Sprachedes Wortes Gewaltdas uralt ZeichenBrod und WeinEin<br />

Zeiihen sind wirLang und schwer ist das Wort<br />

von dieser Ankunft aber / WeiB (zuerst: Hell) ist der Augenblik.<br />

Diener ds1 Flirnmlischen sind / Aber kundig der Erd, ihr<br />

Sihritt ist gegen den Abgrund / Jugendlich mensdrlicher doch<br />

das in den Tiefen ist alt.Brod und<br />

WeinwirZwisdeen>MnemosyneDas Zeiihen>das Zei&.enEin ZeiehenEs fesselt kein Zei&eneines>Anzeichensreines< >>SignalsDeutenbloBes Zeigen nac"hNichts anderes, schlecht und rechtSchleciht und recht.., das will<br />

sagen: Das Zeigen des Zeichens muB einfaih sein und mit der<br />

einfachen Eindeutigkeit ist es zugleich lotrecht. Es zeigt das<br />

Zuzeigende und nichts sonst'2 Aber diesem Einfachen im Lernen<br />

des Eigenen zu geniigen und dieses >schlecht und recht


-Y<br />

r92<br />

Das Wesen des Dichters ak Halbgott<br />

und Mond im Blick hat, >untrennbarder Nacht audr< verbunden und iibersteht den<br />

Ubergang von dem einen zum anderen. Ein Zeichen braucht<br />

es atrch, damit<br />

Die Himmlischen warm sich fiihlen aneinander.<br />

Der Dichter sieht jene Seltenen, die dem Himmel heifen. Der<br />

Himmel, die Himmlisdren selbst sind der Hilfe bediirftig, und<br />

zwar der Hilfe des Zeichens und d. h. des Dichters. Dieser mu8<br />

die Giitter nennen, sie sagen in ihrem Wesen. >Ein Zeichen<br />

brauiht es. . .>Heroen


-l'-<br />

194. Das Wesen des Dichters ak Halbgott<br />

Das Dichten ak Herunterhommert des Himmlischen 195<br />

So ist der Dichter iiber die Mensdren hinaus und doch den<br />

Gijttern ungleich, aber audr den Menschen. Daher muB dieser<br />

Andere das Ungleiche in Beziehung zu den Gijttern sowohl<br />

als auch zu den Menschen dulden. Dieser Andere, dessen es<br />

braucht, ist der Halbgott, der Dichter, der Strom, das Zeiclen.<br />

Damit die Gijtter )>warm sich fiihlen aneinanderDer IsterVon selbst<br />

aberfiihlen sie nidrtsgefiihllosvon<br />

selbstHeiligenHertha>Mutter Erde


196 DasWesen des Dichters als Halbgott<br />

tumque ln eo vehiculum, veste contectum; attingere uni sacerdoti<br />

concessum. Is adesse penetrali deam intellegit vectamque bubus feminis<br />

multa cum veneratione prosequitur. Laeti tunc dies, festa loca,<br />

quaecumque adventu hospitioque dignatur. Non bella ineunt, non<br />

anna sumunt; clausum omne ferrum; pax et quies tunc tantum nota,<br />

tunc tantum amata, donec idem sacerdos satiatam conYersatione mortalium<br />

deam templo reddat. Mox vehiculum et vestis et, si credere<br />

velis, numen ipsum secreto lacu abluitur. Servi ministrant' quos<br />

statim idem lacus haurit, Arcanus hinc terror sanctaque ignorantia,<br />

quid sit illud, quod tantum perituri vident.<br />

>Sie sei nicht bei allen Germanen verehrt, sondern nur bei einem<br />

Bund swebischer Stdmme, die glauben, daB sie um die Dinge der<br />

Menschen sich sorge und zu den Volkschaften gefahren komme' Auf<br />

einer Insel des Oceanus ist ein heiliger Hain und als Weihegesdrenk<br />

in ihm aufgestellt ein Wagen, mit einem Tudr iiberde&t. Ihn anzuriihren<br />

ist einzig dem Priester verstattet. Er erkennt die Anwesung<br />

der Gijttin im Heiligtum und die Kiihe einspannend geleitet er die<br />

Giittin rnit hoher Ehrfurcht. Froh sind dann die Tage und festlich die<br />

Orte, die iiberall die Gijttin durch ihr l(ommen und Zugastsein wiirdigt.<br />

Kriege werden dann nidrt gefiihrt. Waffen niclt ergriffen. Weggesdalossen<br />

ist zugleich Eisen; Friede und Ruhe sind ietzt allein im<br />

Sinn, finden jetzt allein die Liebe - bis derselbe Priester die Giittin,<br />

der das Zusammensein mit den Sterblichen genug ist, ihrem Heiligtum<br />

zuriickgibt. Alsbald werden der Wagen und die Tiidrer r:nd,<br />

wenn man es glauben will, die Anwesung der Gtjttin selbst in einem<br />

verborgenen See gewaschen. Sklaven tun den Dienst, die sogleich<br />

derselbe See versdrlingt. Von da stammt der geheime S*rre&en und<br />

das heilige Ni&twissen, weldren \Mesens dasjenige sei, was nur Todgeweihte<br />

zu Gesidrt bekommen...<br />

Von Hiilderlins Dichtung der >Mutter Erde< sagt uns vor allem<br />

die SchluBstrophe der <strong>Hymne</strong> >Germanienu (IV, 184f.);<br />

dann aber auch die <strong>Hymne</strong> >Der Mutter Erdesie die Kinder des Himmelsdie Kinder<br />

des Hirnp1"1t,, soviel wie >die HimmlischenVaters Aether>griinIJndUnd deshalbvon ihren Siihnen einer, der BheinErdensijhns.KinderGottKinder des Himmels


198 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

Gliikseeiig Suevien, meine Mutter,<br />

denn nah dem Heerde des Hausses<br />

Wohnst du, und htirst, wie drinnen<br />

Aus silbernen Opf ersihaalen<br />

Der Quell raus&t, ausgesdriittet<br />

Von reinen Hdnden, wenn beriihrt<br />

Von warmen Stralen<br />

Krystallenes Eis und umgestiirzt<br />

Vom leichtanregenden Li&te<br />

Der schneeige Gipfel iibergiesst die Erde<br />

Mit reinestem Wasser.<br />

Deuten wir die >Kinder flss FlirnrnslsEmilie vor ihrem Brauttag< (III,<br />

21 ff.) ist au& die Mutter Erde mit dem Namen Hertha genannt (ebenda<br />

S. 28j. In der Gegend tles Varusthals wird der Helden geda&t:<br />

urten in dem Thale schlafen sie<br />

'Hier<br />

Zusammen,, spra& mein Vater, >lange s&on,<br />

Die Riimer mit den Deutscben, und es haben<br />

Die Freigebonren sidr, die stolzen, stillen,<br />

Im Tode mit den Welteroberern<br />

Vers6hnt. und Grosses ist und Grdsseres<br />

Zusammen in der Erde Sc.hoos gefallen'<br />

Wo seid ihr, mehe Todten all? Es lebt<br />

Der Mens&engenius, der Sprache Gott,<br />

Der alte Braga noih, und Hertha griint<br />

No& i--er ihren Kindern, und Walhalla<br />

Blaut iiber r::rs, der heimatli&e Hi--el;<br />

Doc,h euch, ihr Helilenbililer' {ind'i& nicht..<br />

Hier wird Hertha, die Griiaende, ihren Kindern genannt; genannt<br />

-it<br />

Das Didtten ak Herunterkommen des Himmlisdten 199<br />

Nach alldem miissen wir wohl die Verse der Isterhymne so<br />

deuten, daB mit den >Kjndern des Himrnsl5,, die Striime gemeint<br />

sind und die Striime als die Halbgiitter und diese Genien<br />

der Sprache als die Diihter. Genannt sind die Strtime<br />

zundchst in ihrem gemeinsamen Wesen, das Zeichen zu sein,<br />

das zeigend zwischen den Giittem und den Menschen steht.<br />

b) Der Ister und der Rhein<br />

Nach &eser allgemeinen Ne'''nung des Wesens der Strijme werden<br />

>dieReinentsprungenen(< sichtbar werde.<br />

Deshalb sagt Hiilderlin noch in demselben Vers ankni.ipfend:<br />

Aber allzugedultig<br />

Scheint der rnir, nicht<br />

Freier, und fast zu spotten.<br />

>Der


200 Das Wesen des Didtters ak Halbgott<br />

Sein Leben lang, und des Herzens Wunsch<br />

Aliein zu erfiilIen, so<br />

Aus giinstigen Hiihn, wie der Rhein?<br />

Und so aus heiligem Schoose<br />

Glnklich geboren, wie jener?<br />

Der trster dagegen ist nicht so frei und so hoch geboren, daB<br />

er aus giinstiger Hdhe entspringen, und d. h. herabstiirzen<br />

und aus der Wucht des Stiirzens sogleich fort etlen kann wie<br />

der Rhein. Gem?iB diesem hohen Ursprung trieb diesen seine<br />

ktinigliche Seele >ungedultig< (5. Strophe) nade dem Osten.<br />

Der Ister dagegen: >>der scheint allzugedultigsiheintsc-heint>ohne diese Weile>nahe dem Heerde des Hausses


202 DasWesen des Dichters ak Halbgott<br />

Anders jedoch der Ister:<br />

Der s&.einet aber fast<br />

Riikwdrts zu gehen und<br />

I&. mein, er miisse kottt*en<br />

Von Osten.<br />

Der Ister verweilt an der Quelle und verldBt schwer den Ort,<br />

weil er nahe dem Ursprung wohnt. Und er wohnet nahe dem<br />

Ursprung, weil er in die Ortschaft heimgekehrt ist aus der<br />

Wanderscbaft in die Fremde. Der Ister geniigt dem Gesetz des<br />

Heimischwerdens als dem Gesetz des Unleimischseins. So<br />

griindet er das dichterische Wohnen des Menschen und ist deshalb<br />

in seinem eigenen Wesen, das das Wesen des Dichters ist,<br />

der den Dichter diihten mu8.<br />

Die verborgene di&teris&e Wahrheit der Rheinhymne<br />

kommt erst jetzt zum Scheinen, .wenn diese Dichtung als die<br />

notwendig gegenwendige Dichtung des Stromwesens begriffen,<br />

und d. h. aus dem Bezug zur Isterhyr'.e gedacht ist. Die<br />

<strong>Hymne</strong>n dieser Striime jedoch stehen in einem urspriinglich<br />

einigen Bezug zur Hy'nns >>Germanien>betriibtMnemosyneAnmerkungen


204 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

>>Zeit>Anmerkungen>poetisehe>SymboleBilder>Zeichenpoetis&e<br />

Bilder< und >Zeichen fiirdie Zeichen>Zeichen>Zeichen<<br />

fiir anderes sind, ni&t Symbole fiir anderes, sondem dieses<br />

vermeintliche Andere seibst. Die Dichter sind als Dichter diese<br />

Striime und diese Strijme sind die Dichter. >Dichterisch>SinnBild< des Stromes, das verrrreintlich erst >>Sinnbild<<br />

werden sollte, zeigt sich erst und nur im Lichte des Wesens<br />

der Dichtung. (Schon vor der Zeit der Stromdichtung erkennt<br />

Hijlderlin den Strom als >>den Bruder des HimmelsKomm und siehe die Freude um uns . . .,, (II, 59).) Geradehin<br />

auf den giingigen Wegen des Vorstellens ist das nicht zu<br />

verstehen. Auch soll nicht die Meinung aufkomrnen, diese Anmerkungen<br />

reichten schon aus, um die Wahrheit dieser Di&-<br />

tung zu denken oder auch nur dafiir, das di&terische Wort<br />

I Die e&ieen Klammern stehen<br />

Das Dicltten als Herunterhommen des Himmlischen 205<br />

und das Wort selbst in seinem eigenen Wesensraum zu erfahren.<br />

Diese Dichtung fordert von uns eine lJmwandlung der<br />

Denkungsart und des Erfahrens, die das Ganze des Seins angeht.<br />

Erst miissen wir die angeblidr natiirlichen >>VorstellungenwirklichenIn lieblicher<br />

Bldue bliihet . . .


206 Das Wesen des Dichters als Halbgott<br />

die alles in siih birgt, was hier stiickweise vermerkt<br />

schlieBt mit der Weisung:<br />

Zum Traume wirds ihm, will es Einer<br />

Besclleichen und straft den, der<br />

Ihm glei&en will mit Gewalt.<br />

Oft iiberrascht es den,<br />

Der eben kaum es geda&t hat.<br />

wurde,<br />

NACHWORT<br />

Heidegger hat drei Vorlesungen Hiilderlin gewidmet, im<br />

W.S. 1954/55 >Germanien>Der Rheinu (GA Bd. 59), im<br />

W.S. 194,1/42 >Andenken< (GA Bd. 52) und im S.S. 1942 >Der<br />

Ister


208<br />

wanderschaft<br />

ru; n mfjffi<br />

Nachwort<br />

"rT.lj: u:",<br />

L".J* l,:n en B es ti:rr _<br />

NacJzwort<br />

*"d;;";;:;;: "",**1*"fi:"i:fi,j,1XH"*<br />

5:"x']:,"t":"n der Abschrift 209<br />

3.,i"",:": J: ig"l' 3i"',ff :::*nL o#,^oj,<br />

": ^, 0"., u " lJ,<br />

;*X"{,:,j:{ii'#'Jfi #;::-":y-a,sZwiesprachezwi-<br />

BT:dl: E tT;n:: ffiffi ri<br />

"::Tft;lffi::<br />

ffi'J:-"",T, ff***h;k t $::t" **#*<br />

3,.firu i*i::: :r#:i: Hft "T,ilt ii=."_:' J"t<br />

- fiir diese Hilfe<br />

mcichte i"h b"roo J"i ;;l;i:<br />

DeY,i, den 1. Oktober 19g5<br />

i+,p*fi}frfitffi:'*ffi;ff<br />

das lVesen der Hd<br />

a". ai"rrr""i"irJ;HffJ:"" sedichtet hat uno wie der Stromgeist<br />

Walter Biemel<br />

::Ji',"rt*n',f;#*:Tti,*:til{:**:lf<br />

i, *, f,il- ;*:;::.::',"**"<br />

" "l"i# il<br />

,.":rr": !*,.0" " * I"""' ru;;,;;:*f$:.<br />

u u'o* chrich ars<br />

"x Hli:l ET:l.:;it ti ;i1,1,"*[ J;: #;','"tt:i:<br />

;:n*1ru;lm::fr<br />

$;e--r J""#",.H"r":,,?f<br />

mit sophokr;;;;;ffT:il:il:iT,f<br />

er Auseinanderserzung<br />

i;',"ffik*i**-ffi+**#tr

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!