Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe
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74 Wahrheit und Se<strong>in</strong><br />
nicht nur bei ihr auf, sondern auch bei anderen D<strong>in</strong>gen. Bevor<br />
wir <strong>die</strong> Aussage fällen, s<strong>in</strong>d wir mit der Kreide gar nicht beschäftigt.<br />
Wir richten unser Augenmerk auf <strong>die</strong> Kreide erst <strong>in</strong><br />
dem Moment, <strong>in</strong> dem wir <strong>die</strong> ausgesprochene Aussage mit- und<br />
nachvollziehen.<br />
So ergibt sich, daß unser Aufenthalt bei den D<strong>in</strong>gen merkwürdige<br />
Modifikationen hat, daß er nicht notwendig besagt,<br />
sich damit zu beschäftigen. Wir halten uns hier auf im Saal, d. h.<br />
auch bei der Tür, bei den Lampen, den Kleiderhaken, ohne daß<br />
wir uns mit den D<strong>in</strong>gen beschäftigen. Beschäftigung mit den<br />
D<strong>in</strong>gen ist also nur e<strong>in</strong> ganz bestimmter Modus <strong>in</strong>nerhalb des<br />
Aufenthaltes bei ihnen. Wenn wir unser Augenmerk auf <strong>die</strong><br />
D<strong>in</strong>ge richten, also bei der Aussage über <strong>die</strong> Kreide auf das D<strong>in</strong>g<br />
selbst, dann können wir an <strong>die</strong>sem D<strong>in</strong>g <strong>die</strong> bestimmte Eigenschaft,<br />
daß es weiß ist, erfassen; <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Aufmerken auf das<br />
D<strong>in</strong>g erfahren wir zugleich, daß <strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g, das wir nun erst<br />
ausdrücklich erfassen, schon vorher vorhanden war. Es liegt<br />
im Charakter <strong>die</strong>ses Aufmerkens auf das D<strong>in</strong>g, daß das D<strong>in</strong>g<br />
selbst uns gewissermaßen sagt: ich war schon da, bevor du mich<br />
auffaßtest. In <strong>die</strong>sem Aufmerken auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge tragen wir ihnen<br />
nichts zu, wir reden ihnen gewissermaßen nichts auf,<br />
sondern sie, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge selbst, begegnen uns so. Das Aufmerken<br />
auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>e Tätigkeit von unserer Seite, e<strong>in</strong><br />
sche<strong>in</strong>bares Tun, oder mit Kant zu sprechen, e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare<br />
Spontaneität unserer selbst, ist aber ihrem eigentlichen Wesen<br />
nach gerade e<strong>in</strong> Begegnen-lassen, e<strong>in</strong>e eigentümliche Passivität,<br />
e<strong>in</strong>e eigentümliche Receptivität. Bei <strong>die</strong>sem Begegnenlassen<br />
gibt es weder »E<strong>in</strong>druck« von e<strong>in</strong>em Außen noch H<strong>in</strong>ausgehen<br />
von uns, also auch ke<strong>in</strong> Dr<strong>in</strong>nen; weder ist es e<strong>in</strong><br />
Kausalverhältnis noch verkehrte Transzendenz. Dieses Begegnen-lassen<br />
ist <strong>in</strong> gewisser Weise Spontaneität, aber e<strong>in</strong>e solche,<br />
<strong>die</strong> <strong>in</strong>tentional doch den Charakter des H<strong>in</strong>nehmens, der Receptivität<br />
hat.<br />
Kant wurde durch <strong>die</strong> Spontaneität des Denkens und überhaupt<br />
aller Tätigkeit des Bewußtse<strong>in</strong>s im weitesten S<strong>in</strong>ne dazu<br />
§ 12. Das ursprüngliche Wesen der Wahrheit 75<br />
verleitet zu sagen, nur wo Spontaneität ist, da ist Denken - also<br />
e<strong>in</strong> Bestimmen mit Bezug auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, e<strong>in</strong> Zusprechen von<br />
bestimmten logischen Charakteren. Das ist e<strong>in</strong> Grundirrtum.<br />
Wo Spontaneität ist, ist nicht notwendig ausgeschlossen, daß da<br />
nicht gerade noch e<strong>in</strong>e eigentümliche Receptivität ist. Gerade<br />
im Aufmerken auf etwas, das <strong>in</strong> uns wach wird, ist e<strong>in</strong> Sichfreigeben<br />
für <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, damit sie sich zeigen können, wie sie<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
c) Die Bekundung des Seienden<br />
<strong>in</strong> Bewandtniszusammenhängen<br />
In unserem - auch unaufmerksamen - Aufenthalt bei den D<strong>in</strong>gen<br />
haben wir immer schon e<strong>in</strong>e Mannigfaltigkeit vor uns:.<br />
nicht nur Kreide, sondern Schwamm, Tafel, Katheder, Kleiderhaken,<br />
Mützen, Bänke, Türen.<br />
Aber gew<strong>in</strong>nen wir mit <strong>die</strong>ser Aufzählung das Ger<strong>in</strong>gste zur<br />
Aufhellung des Se<strong>in</strong>s bei ... und demzufolge unseres Verhaltens<br />
zu 'den D<strong>in</strong>gen? Gewiß mag im e<strong>in</strong>zelnen <strong>die</strong> der Kreide angemessene<br />
Beschäftigung, das Schreiben auf der Tafel, etwas<br />
anderes se<strong>in</strong> als <strong>die</strong> Art und Weise, wie ich mit e<strong>in</strong>er Mütze<br />
umgehe, <strong>die</strong> ich nur aufsetze bzw. ablege. Wir entnehmen hieraus<br />
e<strong>in</strong>e bestimmte Art des benutzenden Umgangs mit <strong>die</strong>sen<br />
Gebrauchsd<strong>in</strong>gen. Doch haben wir noch nicht alles ausgeschöpft,<br />
was dar<strong>in</strong> liegt, daß nicht nur <strong>die</strong>se Kreide, über <strong>die</strong> wir<br />
gerade ausdrücklich aussagen, vorhanden ist, sondern mehrere<br />
andere D<strong>in</strong>ge. Sie aber s<strong>in</strong>d für uns vorhanden nicht wie <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Trödlerladen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wirren und beziehungslosen Nebene<strong>in</strong>ander.<br />
Zwar liegt <strong>die</strong> Kreide vielleicht neben dem<br />
Schwamm und beide neben der Tafel. Aber <strong>die</strong>ses Nebene<strong>in</strong>ander<br />
ist e<strong>in</strong> ganz bestimmtes <strong>in</strong> der Nähe von e<strong>in</strong>ander. Es ist<br />
mitbestimmt durch den Sachgehalt, durch das, was und wie <strong>die</strong><br />
D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d. Die Kreide <strong>die</strong>nt zum Schreiben auf der Tafel, der<br />
Schwamm zum Auslöschen des Geschriebenen auf der Tafel.<br />
Diese D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach nur mehrere räumlich neben-