Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe
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78 Wahrheit und Sem<br />
d) Wahrheit als Unverborgenheit.<br />
Verschiedene Weisen der Offenbarkeit des Seienden<br />
Die Offenbarkeit des Seienden an ihm selbst jedoch wird uns<br />
e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, wenn wir <strong>die</strong>ses Faktum negativ umschreiben und<br />
sagen: Dieses Seiende, so wie es hier <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bewandtniszusammenhang<br />
an ihm selbst vorhanden ist, ist uns nicht verborgen,<br />
was es doch se<strong>in</strong> könnte; es ist an ihm selbst unverborgen.<br />
Weil es das ist, können wir Aussagen darüber machen und <strong>die</strong>se<br />
auch nachprüfen. Die Offenbarkeit des Seienden ist e<strong>in</strong>e Unverborgenheit.<br />
Unverborgenheit heißt wirklich im Griechischen<br />
UATJ1')-nU, was wir nichtssagend genug mit Wahrheit zu<br />
übersetzen pflegen. Wahr, d.h. unverborgen ist das Seiende<br />
selbst, wodurch und wie ist e<strong>in</strong>e weitere Frage. Also nicht der<br />
Satz und nicht <strong>die</strong> Aussage über das Seiende, sondern das Seiende<br />
selbst ist »wahr«. Nur weil das Seiende selbst wahr ist,<br />
können Sätze über das Seiende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgeleiteten S<strong>in</strong>ne<br />
wahr se<strong>in</strong>.<br />
In der Tradition der Metaphysik im Mittelalter gibt es aber<br />
auch e<strong>in</strong>e Auffassung der Wahrheit - veritas -, wonach sie dem<br />
Seienden selbst, dem ens zukommt. E<strong>in</strong>e These lautet: omne ens<br />
est verum, jedes Seiende ist wahr. Dieser Satz hat aber e<strong>in</strong>en<br />
ganz anderen S<strong>in</strong>n, nämlich daß jedes Seiende, sofern es ist, von<br />
Gott geschaffen ist; sofern es aber von Gott geschaffen ist, ens<br />
creatum, muß es von Gott gedacht se<strong>in</strong>. Sofern es von Gott als<br />
dem, der nicht irrt, von der absoluten Wahrheit gedacht ist, ist es<br />
als von Gott Gedachtes wahr. Weil jedes Seiende geschaffenes<br />
ist, ist es als Seiendes e<strong>in</strong> Wahres, verum qua cogitatum a Deo.<br />
Dieser Begriff der Wahrheit des Seienden beruht also auf ganz<br />
anderen Voraussetzungen als <strong>in</strong> unserer Exposition der Wahrheit.<br />
Wahrheit besagt also Unverborgenheit; <strong>die</strong> Griechen, <strong>die</strong>se<br />
leidenschaftlich <strong>Philosophie</strong>renden, haben im Begriff dessen,<br />
was als das Positivste und mit als höchstes Gut gilt, im Begriff<br />
der Wahrheit, e<strong>in</strong>e negative Bsstimmung, e<strong>in</strong> u-privativum.<br />
§ 12. Das ursprünghche Wesen der Wahrheit 79<br />
Wenn zum Begriff der Wahrheit <strong>die</strong>ser Raub gehört, dann sagt<br />
das, daß das Seiende allererst der Verborgenheit entrissen werden<br />
muß, oder ihm, dem Seienden, muß se<strong>in</strong>e Verborgenheit<br />
genommen werden. Wenn aber das Seiende so <strong>in</strong> der Verborgenheit<br />
liegt, dann muß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche Verborgenheit geraten<br />
sem, zumal ganz und gar nicht e<strong>in</strong>sichtig ist, warum denn etwas,<br />
das ist, verborgen se<strong>in</strong> muß. Was ist das aber für e<strong>in</strong> Geschehen,<br />
durch das das Seiende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verborgenheit gerät? In welcher<br />
VVeise »ist« <strong>die</strong>se Verborgenheit des Seienden, mit der alles Erkennen<br />
als F<strong>in</strong>den der Wahrheit, als Entdecken der Unverborgenheit<br />
kämpft?<br />
Damit stellen wir Fragen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Griechen noch nicht<br />
auftauchten und nach ihnen erst recht nicht. Die Griechen und<br />
dIe Folgezeit kennen <strong>die</strong>se Fragen nicht, weil <strong>die</strong> Antike trotz<br />
des Wortes UATJ1'l'ELa noch nicht ausdrücklich sah, daß im Wesen<br />
der Wahrheit etwas Negatives liegt und weil sie deshalb durch<br />
dIese Negativität nicht beunruhigt werden konnten. Gleichsam<br />
nur <strong>in</strong> der ersten Wortschöpfung, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong> Griechen über<br />
<strong>die</strong> Wahrheit aussprachen, blitzte <strong>die</strong>se Helligkeit über das von<br />
e<strong>in</strong>er Negation durchzogene Wesen der Wahrheit auf. Das Wort<br />
blieb, aber jene Helle, der es entstammte, wandelte sich <strong>in</strong>s<br />
Dunkel zurück und wurde fortan dar<strong>in</strong> gehalten. Sofern nämlich<br />
Wahrheit sich ausspricht, wird sie öffentlich zugänglich im<br />
gesprochenen Satz als Verflechtung von Worten und Bedeutungen<br />
und Vorstellungen. So ist <strong>die</strong> primäre und e<strong>in</strong>zige Gestalt<br />
der Wahrheit <strong>die</strong> prädikative Synthesis. Weil <strong>die</strong>se Kennzeichnung<br />
der Wahrheit auch heute noch <strong>die</strong> selbstverständlichste<br />
ist, zugleich aber durch <strong>die</strong> ehrwürdige Tradition der <strong>Philosophie</strong><br />
sanktioniert, besteht zunächst überhaupt ke<strong>in</strong> Ahnen<br />
mehr, daß <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Wort uATrftWl für Augenblicke etwas Elementares<br />
hell wurde.<br />
So müssen wir <strong>die</strong>sem Urwort erst wieder se<strong>in</strong>en ursprünghchen,<br />
aber verlorengegangenen Gehalt zurückgeben, oder<br />
besser, ihn erst eigentlich <strong>in</strong>s Licht stellen. Über Wahrheit als<br />
Cn-verborgenheit des Seienden, als Privation und Raub sowie