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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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266 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das Wesen der re<strong>in</strong>en Anschauung ist e<strong>in</strong>e der<br />

fundamentalsten Entdeckungen, <strong>die</strong> Kant für sich <strong>in</strong> Anspruch<br />

nehmen darf. Anschauung heißt Sichgebenlassen von etwas, so<br />

daß dasjenige, was sich gibt, an ihm selbst anschaubar wird;<br />

Anschauung des Empfangenen = Rezeption. Die Rezeption ist<br />

angewiesen auf <strong>die</strong> Affektion, d. h. darauf, daß dasjenige, was<br />

ich anschauen soll, sich bei mir von sich selbst her meldet. Hier<br />

handelt es sich um das Problem e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anschauung, d. h.<br />

e<strong>in</strong>er Anschauung apriori, oder, wie er sagt, ohne und vor aller<br />

Erfahrung. E<strong>in</strong>e Anschauung ohne Rezeptivität ist das Problem,<br />

das Kant nicht <strong>in</strong> aller Schärfe herausgestellt hat, e<strong>in</strong>e Anschauung,<br />

<strong>die</strong> als solche rezeptiv ist, weil sie ja menschliche Anschauung<br />

ist, gleichwohl apriori, d.h. aus dem Subjekt entspr<strong>in</strong>gend,<br />

aus se<strong>in</strong>er Spontaneität, nicht darauf angewiesen, daß das Anschaubare<br />

von sich her sich meldet. Die Idee der re<strong>in</strong>en Anschauung<br />

hat e<strong>in</strong>en Doppelcharakter. In ihr liegt <strong>die</strong> Idee e<strong>in</strong>es<br />

Vermögens vor, <strong>in</strong> dem der Mensch <strong>in</strong> gewisser Weise produktiv<br />

ist, sofern er nicht auf e<strong>in</strong> sich selbst Gebendes angewiesen ist,<br />

sondern auf etwas, was er sich selbst vorgibt, umßs anzuschauen.<br />

Es besteht also e<strong>in</strong>e Analogie zur Schöpfungsanschauung des<br />

<strong>in</strong>tuitus orig<strong>in</strong>arius.<br />

Welches ist nun <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung? Die beiden re<strong>in</strong>en<br />

Anschauungen, <strong>die</strong> zum endlichen Wesen gehören, s<strong>in</strong>d Raum<br />

und Zeit. Das ist zunächst überraschend, sofern man nicht recht<br />

e<strong>in</strong>sieht, <strong>in</strong>wiefern der Raum oder gar <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e Anschauung<br />

se<strong>in</strong> sollen. Ich entwickle nur kurz e<strong>in</strong>e Charakteristik der Idee<br />

der re<strong>in</strong>en Anschauung an der Zeit, weil nach Kant <strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e<br />

umfassendere Anschauung ist als der Raum; dabei gehe ich <strong>in</strong><br />

der Interpretation über Kant h<strong>in</strong>aus.<br />

Die Zeit selbst spielt e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> der Kritik der<br />

re<strong>in</strong>en Vernunft. Sie ist für Kant das re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander, <strong>die</strong><br />

re<strong>in</strong>e Sukzession als solche, <strong>die</strong> jetzt, vorher und nachher <strong>in</strong><br />

ihrem eigentümlichen Flusse etwas ist, was wir nicht unter den<br />

D<strong>in</strong>gen vorf<strong>in</strong>den. Es ist aber gleichwohl e<strong>in</strong> solches, wodurch<br />

alles, was wir von den D<strong>in</strong>gen erfahren, bestimmt ist; jedes<br />

§ J4. Kants Weltbegriff 267<br />

Anschaubare, alles was sich <strong>in</strong> der Rezeptivität gibt, ist bestimmt<br />

als jetzt, damals oder dann gegeben. In e<strong>in</strong>er Zeitbestimmung<br />

ist alles Erfahrbare g~geben. Die Zeit, das re<strong>in</strong>e<br />

Nache<strong>in</strong>ander, ist e<strong>in</strong>e Form der Gegebenheit, worauf wir im<br />

vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> immer schon h<strong>in</strong>blicken, wenn wir Gegenstände,<br />

D<strong>in</strong>ge erfahren, ohne daß wir e<strong>in</strong> ausdrückliches Bewußtse<strong>in</strong><br />

davon hätten, ohne daß wir das Nache<strong>in</strong>ander zum Gegenstand<br />

e<strong>in</strong>er Betrachtung machen. Wir s<strong>in</strong>d ungegenständlich auf das<br />

re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> gerichtet. Vor aller Erfahrung<br />

und nicht auf Grund der Erfahrung, d. h. apriori, schauen wir<br />

<strong>die</strong> Zeit an, bzw. <strong>die</strong> Zeit selbst ist nur und gibt sich nur als das<br />

re<strong>in</strong>e Nache<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> und für <strong>die</strong>ses Anschauen. Deshalb ist<br />

<strong>die</strong> Zeit e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anschauung <strong>in</strong> doppelter Bedeutung: e<strong>in</strong> a<br />

priori Angeschautes und zugleich e<strong>in</strong> solches, was gewissermaßen<br />

nur im Anschauen selbst ist. So haben wir <strong>die</strong> Zeit als re<strong>in</strong>e<br />

Anschauung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Anschauung Raum <strong>in</strong> gewisser Weise<br />

um greift.<br />

Die entsprechende Betrachtung richtet sich auf das re<strong>in</strong>e<br />

Denken. Denken ist für Kant gemäß der Tradition soviel wie<br />

Urteilen. Ich denke = ich urteile. Ich urteile heißt: ich verb<strong>in</strong>de<br />

e<strong>in</strong> Subjekt mit e<strong>in</strong>em Prädikat. Ich denke ist also soviel wie ich<br />

verb<strong>in</strong>de; <strong>die</strong> Denkhandlung hat den Charakter der Synthesis.<br />

Nun handelt es sich für Kant um das re<strong>in</strong>e Denken, d. h. um e<strong>in</strong><br />

solches Denken, das vor aller Erfahrung gleichwohl etwas<br />

denkt, nicht e<strong>in</strong>fach Form des Denkens ist, sondern als Denken<br />

dem, was im Denken bestimmbar ist, der Anschauung, e<strong>in</strong>e<br />

Bestimmung von sich aus zuweist.<br />

Die Frage ist also: Liegt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Handlung des Menschen,<br />

<strong>die</strong> wir Denken nennen, <strong>in</strong> der Möglichkeit des Urteilens, zugleich<br />

e<strong>in</strong>e Quelle <strong>in</strong>haltlicher Erkenntnis? Wenn ich formal<br />

a =0 h verb<strong>in</strong>de, so liegt nach Kant <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Verb<strong>in</strong>den schon<br />

e<strong>in</strong>e ,ganz bestimmte Erkenntnis, <strong>in</strong>sofern jedes Verb<strong>in</strong>den von<br />

etwas- mit etwas angewiesen ist auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, im H<strong>in</strong>blick<br />

worauf verbunden wird. Nun f<strong>in</strong>det Kant <strong>in</strong> der traditionellen<br />

Urteilstafel Formen der H<strong>in</strong>blicknahme. In jeder <strong>die</strong>ser Urteils-

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