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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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260 Weltanschauung und Weltbegriff<br />

Vernunft <strong>die</strong> endliche Erkenntnis oder <strong>die</strong> menschliche Erkenntnis<br />

als solche Gegenstand ist?<br />

Wenn Kant von der endlichen und der menschlichen Erkenntnis<br />

spricht, so ist im H<strong>in</strong>tergrund der Unterschied gegenüber der<br />

unendlichen oder absoluten Erkenntnis. Als solche gilt <strong>die</strong> Erkenntnis<br />

Gottes, der im S<strong>in</strong>ne der christlichen Gottesauffassung<br />

gedacht ist, wonach er primär der Schöpfer ist. Die Erkenntnis<br />

Gottes ist nach der traditionellen Auffassung, <strong>die</strong> Kant zum<br />

Zwecke der Erläuterung der endlichen Erkenntnis noch verschärfte,<br />

<strong>in</strong>tuitive Erkenntnis oder re<strong>in</strong>e Anschauung, oder »nur«<br />

Anschauung. Schon <strong>in</strong> der Scholastik, bei Thomas z. B., herrscht<br />

Klarheit darüber, freilich aus e<strong>in</strong>em vielleicht nicht stichhaltigen<br />

Grund, daß Gott nicht denken kann, denn alles Denken ist der<br />

Index der Endlichkeit. Er begründet das so: Im Denken wird<br />

geurteilt, hier setze ich e<strong>in</strong> Prädikat zu e<strong>in</strong>em Subjekt. Ich durchlaufe<br />

also durch Bestimmungen bestimmte Schritte, d. h. das<br />

Denken ist notwendig als Prädikation successive, braucht Zeit.<br />

Gott ist aber nicht <strong>in</strong> der Zeit. Das Nichtdenkenkönnen ist also<br />

ke<strong>in</strong> MangeL Gottes Erkenntnis ist re<strong>in</strong>e Anschal}ung, d. h. er<br />

erkennt das Seiende im Ganzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Augenblick - »totum<br />

simul« -, was vordem war und künftig kommen wird. Diese absolute<br />

Anschauung ist zugleich <strong>die</strong> Anschauung, <strong>in</strong> der das Seiende,<br />

sowohl das faktisch wirkliche, als auch das mögliche, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Wesen von vornhere<strong>in</strong> erkannt ist. Gott erkennt alles Seiende <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Wesen, weil er ja der Schöpfer ist, weil er selbst das Seiende<br />

herstellt. Se<strong>in</strong>e Anschauung ist e<strong>in</strong>e solche, <strong>die</strong>, sofern sie<br />

vollzogen wird, gewissermaßen dem, was angeschaut wird, das<br />

Se<strong>in</strong> verleiht. Zu se<strong>in</strong>em Wesen gehört e<strong>in</strong>e Anschauung, durch<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge allererst werden; sie werden für Gott nicht, für Gott<br />

s<strong>in</strong>d sie immer, sie werden <strong>in</strong> der Zeit. Diese Anschauung, <strong>die</strong> dem<br />

Anschaubaren den Ursprung se<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s gibt, nennt Kant <strong>in</strong>tuitus<br />

orig<strong>in</strong>arius, <strong>die</strong> als Anschauung dem Anschaubaren zu se<strong>in</strong>em<br />

Ursprung verhilft. E<strong>in</strong> solches Erkennen als absolutes Anschauen<br />

ist schlechth<strong>in</strong> unabhängig vom angeschauten Was. Denn <strong>die</strong>ses<br />

entspr<strong>in</strong>gt aus dem Anschauen Siillbst.<br />

§ 34. Kants Weltbegriff 261<br />

Gegenüber <strong>die</strong>ser absoluten Anschauung, <strong>die</strong> Gott bestimmt,<br />

ist <strong>die</strong> Anschauung alles endlichen Wesens e<strong>in</strong> Intuitus derivatus,<br />

d.h. e<strong>in</strong>e Anschauung, <strong>die</strong> als Anschauung abhängig ist von<br />

etwas; als endliche Anschauung, <strong>die</strong> nicht immer schon ist, ist<br />

sie angewiesen darauf, daß eben <strong>die</strong>ses Seiende von sich her<br />

vorhanden ist und daß der endlichen Anschauung das Anschaubare<br />

gegeben werden muß, weil sie selbst es nicht schafft. Daher<br />

sagt der zweite Satz: »Diese f<strong>in</strong>det nur statt, sofern uns der<br />

Gegenstand gegeben wird«. Folglich ist e<strong>in</strong> Wesen, das endlich<br />

1st, das endliche Anschauung besitzt, se<strong>in</strong>em Wesen nach so<br />

bestimmt, daß ihm etwas gegeben werden kann, daß es empfänglich<br />

ist für etwas. Es muß Empfänglichkeit - Rezeptivität -<br />

haben. Diese Empfänglichkeit für etwas als Rezeptivität bezeichnet<br />

Kant auch als S<strong>in</strong>nlichkeit. Er ist es, der den Begriff der<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit zum ersten Mal gerade aus <strong>die</strong>sem Gegensatz zwischen<br />

absoluter und endlicher Erkenntnis bestimmte. E<strong>in</strong>e<br />

endliche Anschauung ist ihrem Wesen nach durch Empfänglichkeit<br />

charakterisiert. Das, was da gegeben werden soll, muß<br />

von sich aus gewissermaßen sich melden, oder, wie Kant sagt,<br />

das Seiende muß das empfängliche Subjekt affizieren. Aus dem<br />

Wesen der Rezeptivität folgt, daß sie bestimmt ist durch Affektion.<br />

Das empfängliche Wesen muß also so strukturiert se<strong>in</strong>, daß<br />

es affizierbar ist. Die Organe und Strukturen der Affektion bezeIchnen<br />

wir als S<strong>in</strong>ne. Der Mensch hat, wie wir heute glauben,<br />

fünf S<strong>in</strong>ne. Daß der Mensch gerade Augen und Ohren hat, ist<br />

absolut zufällig. Absolut notwendig für das endliche Wesen ist,<br />

daß es Rezeptivität hat und mögliche Organe. Daher ist der<br />

Begriff der S<strong>in</strong>nlichkeit nicht aus den S<strong>in</strong>nesorganen zu bestimmen.<br />

S<strong>in</strong>nesorgane haben wir nur, weil unser Wesen endlich ist.<br />

Diesen Sachverhalt hat Kant zum erstenmal deutlich gesehen.<br />

Man kann nicht sagen, daß das bis heute <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Tragweite<br />

e<strong>in</strong>gesehen wäre. Endliche Anschauung ist also notwendig als<br />

Smnlichkeit bestimmt, wobei <strong>die</strong> Art der Affektion e<strong>in</strong>e sekundäre<br />

Frage ist.<br />

Wir wissen, daß er sagt: Erkenntnis ist bestimmt durch An-

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