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Einleitung in die Philosophie - gesamtausgabe

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190 Wesensbereich der Wahrhelt - Wesen der Wissenschaft<br />

a) Die Vorgängigkeit des Verstehens von Se<strong>in</strong><br />

vor jedem Begreifen<br />

Was heißt hier: dergleichen wie Se<strong>in</strong> erfassen? und gar: Se<strong>in</strong> im<br />

vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> erfassen? Wie soll <strong>die</strong>s gerade <strong>die</strong> Erfassung und d. h.<br />

das Offenbarmachen des Seienden ermöglichen?<br />

Zunächst ersche<strong>in</strong>t es als e<strong>in</strong>e fremdartige Zumutung, das<br />

Se<strong>in</strong> des Seienden zu erfassen. Seiendes - gewiß, das kennen<br />

wir; wir verhalten uns ja jederzeit zu Seiendem mannigfacher<br />

Art. Seiendes können wir daher auch leicht und sicher vorweisen<br />

und so belegen, was wir mit Seiendem me<strong>in</strong>en. Seiendes, das<br />

s<strong>in</strong>d Häuser, Menschen, Bäume, Sonne, Erde, können wir uns<br />

vorstellig machen, aber das Se<strong>in</strong> - was sollen wir uns dabei<br />

denken? Das Se<strong>in</strong> unterscheidet sich offenbar vom Seienden<br />

und ist selbst nichts Seiendes; denn sonst müßten wir es ja auch<br />

als e<strong>in</strong> Seiendes bezeichnen. »Se<strong>in</strong>« - wenn wir ganz ehrlich<br />

s<strong>in</strong>d und uns nichts vormachen, dann müssen wir gestehen, daß<br />

wir uns darunter nichts denken können. Se<strong>in</strong> - das nimmt sich<br />

<strong>in</strong> der Tat aus wie das Nichts, wenn es doch nicht e<strong>in</strong> Seiendes<br />

se<strong>in</strong> soll. Das Nichtseiende ist das Nichts. Das Se<strong>in</strong> wäre dann<br />

das Nichts. Ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer als Hegel sagt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »Wissenschaft<br />

der Logik«, se<strong>in</strong>er Metaphysik: Se<strong>in</strong> und Nichts ist<br />

dasselbe.!<br />

Jedenfalls ist unbestreitbar, daß wir, wenn wir uns ganz und<br />

gar nichts vormachen, gestehen müssen: beim Versuch, dergleichen<br />

wie Se<strong>in</strong> zu fassen, stossen wir <strong>in</strong>s Leere. Also gibt es<br />

dergleichen nicht. Das wäre e<strong>in</strong> voreiliger Schluß. Vielleicht ist<br />

es nur so, daß wir jetzt nicht imstande s<strong>in</strong>d, dergleichen wie Se<strong>in</strong><br />

zu fassen. Alle<strong>in</strong> - verstehen wir denn nicht dergleichen wie<br />

Se<strong>in</strong>? Wenn ich frage: Was ist das? so antwortet jeder unmittelbar:<br />

Das ist e<strong>in</strong>e Kreide. Daraus wird klar: Sie haben <strong>die</strong> Frage<br />

verstanden. Es wurde nach dem gefragt, was <strong>die</strong>ses D<strong>in</strong>g ist,<br />

1 Vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objectlVe<br />

LogIk. Nurnberg 1812. S. 75 (Erstes Buch, I. Kap., C. Werden, Anm. 2).<br />

§ 26. Se<strong>in</strong>sverständnis im wissenschaftlichen Entwwf 191<br />

nach dem Was-se<strong>in</strong>. Wir verstehen, wenn ich sage: Heute ist<br />

Freitag. Das Buch »ist« gekommen. Wir verstehen <strong>die</strong>ses »ist«<br />

und ebenso se<strong>in</strong>e Abwandlungen war, wird se<strong>in</strong>, ist gewesen.<br />

Merkwürdiger Tatbestand: Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits außerstande,<br />

das Se<strong>in</strong> zu erfassen, und verstehen es andererseits gleichwohl.<br />

Wir verstehen es nicht etwa nur, wenn wir »ist« sagen und<br />

hören, sondern <strong>in</strong> allem Reden, Rufen, Bitten, Fragen. Wenn<br />

WIr den Ruf »Feuer«! hören, so heißt das, Feuer ist ausgebrochen,<br />

aber das nicht nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Konstatierung, etwa wie<br />

»hier ist es warm«, sondern der Ruf ist zugleich e<strong>in</strong> Ausdruck<br />

des Schreckens, <strong>in</strong> Schrecken-se<strong>in</strong>s I und e<strong>in</strong>e Aufforderung:<br />

bnngt Euch <strong>in</strong> Sicherheit bzw. kommt zu Hilfe, und das besagt:<br />

Verhaltet Euch so und so, d.h. seid <strong>in</strong> Eurem momentanen Se<strong>in</strong><br />

so und so. Wir verstehen demnach im Hören <strong>die</strong>ses Rufens: Das<br />

Se<strong>in</strong> .von Feuer und e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong>s ollen unserer selbst, und wir verstehen<br />

Vorhandense<strong>in</strong> und Da-se<strong>in</strong>. Aber wir verstehen es auch,<br />

wenn wir uns nicht aussprechen und uns schweigend zu Seiendem<br />

verhalten. Wir müssen uns <strong>die</strong>se merkwürdige Situation<br />

ganz klar machen: Wir erklären es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atem für e<strong>in</strong>e<br />

hoffnungslose Zumutung, dergleichen wie Se<strong>in</strong> im Unterschied<br />

von Seiendem zu erfassen, und doch verstehen wir es. Verstehen<br />

des Se<strong>in</strong>s von Seiendem besagt demnach nicht schon Erfassen<br />

<strong>die</strong>ses Se<strong>in</strong>s und besagt schon gar nicht Begreifen des so erfaßten<br />

Se<strong>in</strong>s.<br />

Doch bei der ersten Kennzeichnung der andersartigen Bestimmung<br />

des Seienden als Natur - im Unterschied von den<br />

Gebrauchsd<strong>in</strong>gen - wurde nicht nur darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß<br />

<strong>die</strong> Se<strong>in</strong>sverfassung des Seienden anders bestimmt wurde, sondern<br />

auch, daß <strong>die</strong>ses Bestimmen des Se<strong>in</strong>s der konkreten<br />

Erfahrung des Seienden voraufg<strong>in</strong>ge. Wir verstehen also nicht<br />

nur dergleichen wie Se<strong>in</strong>, sondern <strong>die</strong>ses Verstehen von Se<strong>in</strong><br />

(Se<strong>in</strong>sverständnis) ist derart, daß es der Erfahrung vom Seienden<br />

voraufgeht. Wir sagen: Das Se<strong>in</strong>sverständnis ist gegenüber<br />

der Erfahrung von Seiendem vor-gängig. Es geht so voraus, daß<br />

wir gleichsam erst <strong>in</strong> der Helle, <strong>die</strong> dadurch erwächst, daß das

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