54 Bekundungsschichten des Lebens§ 12. Rückkehr zum Ausgangspunkt der Betrachtung:das faktische Leben in seinen BekundungsschichtenWir verfolgen diese Richtung zunächst nicht weiter und kehrenzum Ausgang unserer Betrachtung zurück: das faktische ~eb~n,in dem wir Bekundungszusammenhänge antreffen - slch zneinanderschiebendeBekundungsschichten, wobei >Bekundunglrgendwie< selbst als einerGestalt des Lebens begegnet, es selbst als Ziel einer Tendenz zuerreichen sucht, da geschieht es wiederum. Hier zeigt sich wiederder Grundcharakter der Selbstgenügsamkeit in den faktischenFormen und Gestalten des Lebens selbst. (So gibt es Menschen,die eine starke Empfänglichkeit für das Komische haben, die da,wo andere Alltäglichkeiten antreffen und sich langweilen, eminentkomische Situationen sehen. Sie sehen die Um- und Mitweltim lrgendwie des Komischen, so zwar, daß sie dieses Komischeselbst als gegebenen und sich irgendwie gebenden Um - undMitweltcharakter genießen, sich daran »amüsieren«.)Umweltvorfindlichkeiten also, irgendwie umgrenzte Bezirkesolcher geben den Boden für Wissenschaften 1, in denen sich dieselbst sich schon irgendwie bekundenden Umweltvorfindlichkeitenin neuen Ausdruckszusammenhängen darstellen. Diesesind als wissenschaftliche selbst wiederum verschieden, sofernbestimmt ausgeformte Tendenzen aktuellen Lebens und die damiteinigen Lebenswelten in ihrer spezifischen Ausgeformtheitden Gegenstand von Wissenschaften bestimmen. Den genuinenweltmäßigen Ausdruckszusammenhängen entsprechen die zugeordneten(d. h. von da verschieden motivierten) Explikationsformendes theoretischen Wissens, Erkennens.1 und das schon, nämlich das Wie des Boden Gebens und Bereitens, ist verschieden.§ 12. Rückkehr zum Ausgangspunkt 55Der Ausdruckszusammenhang, den der Titel »Wissenschaft«umspannt2, scheint sich also doch irgendwie aller Lebens- undWeltbezirke zu bemächtigen. Er schneidet gleichsam bestimmteBezirke heraus, die in der Wissenschaft wissenschaftlich sich ausdrücken.Das volle Leben in seinen Vergangenheiten bekundetsich als solches in der Geschichtswissenschaft: Geistesgeschichte(Literatur-, Kunst-, Religions-, Wirtschafts-, Staatengeschichte);Natur: Naturwissenschaft, Naturgeschichte (Paläontologie). Undtrotzdem ist »Wissenschaft« nur ein Bekundungszusammenhangunter anderen, und es wurde schon gewarnt, ihn zu verabsolutieren;und besonders in dem jetzigen Stadium unserer Betrachtungerscheint es wenig angebracht, gerade bezüglich dieses Bekundungszusammenhangssich in Einzelheiten einzulassen, wo esüberhaupt darauf ankommt, überhaupt den Aspekt des Lebens,daß sich in ihm alles und jedes immer irgendwie bekundet, ausdrückt,manifestiert, näherzubringen.Trotzdem muß sich schon roh ankündigen, warum wir, beialler klaren Einsicht in die Einzelheit des Bekundungszusammenhangs>Wissenschaft
56 Bekundungsschichten des LebensIn den Umkreis der verständlichen Vorfindlichkeiten gehörtnicht nur die Umwelt, sondern auch die Mitwelt - Mitmenschen,die »mit« mir, »mit denen ich« selbst lebe; »Mitwelt«als einen nächst vorfindlichen, erfahrbaren Ausschnitt, eineGestalt der Bekundung der menschlichen Gesellschaft. AlsoWissenschaft von den Mitweltgestalten und -bildungen, ihrergeschichtlichen Entwicklungen: Kirchen-, Sekten-, Staaten-,Stadt-, Dorfgeschichte, Geschichte der Universitäten, Zunft-,Sippen -, Familiengeschichte.Aber all das sind ja bereits wieder verfestigte, stabilisierteTendenzen und Ausformungen des mitmenschlichen Lebens,das noch viel »ursprünglichere« und mannigfaltigere schlichtereZusammenhänge zeigt: ich führe jemanden in der jetzigenDunkelheit nach Hause; esse mit ihm zu Mittag; ich leihe ihmein seltenes Buch; ich schreibe Briefe, telephoniere; ich tragedieses Kleid für den Anderen, für eine Abendgesellschaft, für»ins Theater«.Mitwelt, Umwelt leben in einem merkwürdigen Durchdringungszusammenhangmit meiner Selbstwelt, deren Zuständlichkeitgeradezu in diesem Zusammenhang als einem lebendigenund fließenden aufgeht, so, daß man schon gemeint hat, dieMitwelt und Gesellschaft überhaupt sei nichts Wirkliches, sondernbestehe nur in der Summe und Zusammennahmevon Einzelnem.So kann also auch die Selbstwelt eines Menschen alssolche ausgeformt und Gegenstand der Wissenschaft werden.§ 13. Ausdruckiformen der Selbstbesinnung 57den und fördernden, strafenden und beglückenden Mächte desLebens. Sie vollzieht sich immer in Formen von Weisheitslehren,Lehrsprüchen, »Sentenzen«. Die labile Zuständlichkeitverlegt ausdrücklich und nachdrücklich das Schwergewicht indas Selbst. Die inneren Erfahrungen stellen sich dar und gestaltensich und kommen auf einen Ausdruck. Die momentanenAntriebe dazu mögen verschiedenartig sein und zufällig: Eitelkeit,Ruhmsucht, Fabulierlust, Rechtfertigungstendenz, Bekenntnisdrang.1 Das sinnmäßige Motiv liegt allerdings nicht indiesen akzessorischen Antrieben, sondern in der Merkwürdigkeit,daß das faktische Leben in der Selbstwelt in besondersbetonter Weise zentrieren »kann«. Die Gestaltungs- und Ausdrucksformensolcher inneren Erfahrungen faßt man zusammenunter dem Titel »Selbstbiographie«. Ihrer Struktur nachkönnen sie ganz verschieden sein: Selbstgespräche, Tatenberichte,fingierte Gerichtsreden, rhetorische Deklamationen,literarische Portraits, Memoiren, Tagebücher.2Sie sind aber keine wissenschaftlichen Ausdrucksformen derSelbstwelt. Eine solche Objektivität zu beanspruchen, liegt garnicht in ihrem Sinn. Sie nehmen die Ausdrucksmittel oft undmeist aus dem eigenen Leben und seinen Erfahrungen selbst.Sie sind daher gerade ein weites geeignetes Feld für Selbsttäuschungen.Sie entwachsen der eigenen labilen Zuständlichkeitdes Selbst, das seine Geschichte in dem Aspekt, wie es sie selbstgerade sieht, wiedergibt und vollebendig ausdrückt.§ 13. Ausdrucksformen der Selbstbesinnunga) SelbstbiographieDie Selbstbesinnung in mehr oder minder rohen Formen, dasLeben in inneren Erfahrungen ist so alt wie die Menschheit - esist Selbstbesinnung in der besonderen Gestalt der religiösenN achdenklichkeit über Schicksal und die wirkenden, hemmen-b) Biographische ForschungSelbstbiographien können als solche selbst wieder vorfindlichund zugänglich werden und haben einen selbständigen U€rt(Augustin, Confessiones). Sie können auch in die Funktion derQuelle treten - Quelle für die biographische Forschung im betVgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd.l., Einleitung. LeipzigundBerlin 1907, S. 3-9.2 Vgl. a. a. 0., S. 3.jr