222 AnhangBModifikation des faktischen Lebens? Inwiefern tastet sie es an?Wir müssen dem Sinn der Kenntnisnahme als Modifikation desfaktischen Lebens nachgehen und ihn radikal zu Ende führen.Wir fragen also im Einzelnen:1) Was wird durch die Kenntnisnahme modifiziert?2) TtOzu wird »es« modifiziert?3) Wodurch und wie vollzieht sich diese Modifikation?Die Kenntnisnahme steht noch ganz im faktischen Lebenund in seinen Bedeutsamkeitszusammenhängen. Es wird alsonichts modifiziert? Das faktische Leben soll ja selbst unveränderterfaßt, mitgeteilt usw. werden. Die Kenntnisnahme isthöchstens anders eingestellt als das aktuelle Erfahren. Wenn dasaktuelle Erfahren vorüber ist, nehme ich das, was ich erfahrenhabe zur Kenntnis. Eine Einstellung des faktischen Lebens modifiziertsich also zu einer anderen Einstellung (so wie dieWahrnehmung zur Erinnerung wird). Es ist »selbstverständlich«,daß ich Alles zur Kenntnis nehmen kann, allerdings mehroder minder gut.--*II. <strong>DER</strong> SCHLUSSTEIL <strong>DER</strong> VORLESUNG IN <strong>DER</strong>NACHSCHRIFT VON OSKAR BECKER1. Die Dingerkenntnis. Ihre Ungeeignetheitzum Eifassen der SelbstweltDurch die Idee der Dingerfahmng werden wir also nie zur Gmnderfahrungder Selbstwelt kommen, da in ihr Bedeutsamkeitenthalten sein muß. - Wir müssen also nochmals zum faktischenLeben zurückkehren und aus ihm heraus die Grunderfahrungder Selbstwelt entwickeln. - Aber der Umweg über das Dingerfassenwar nicht überflüssig. Denn die Dingerkenntnis wird unszur Folie dienen, von der sich die Gmnderfahmng abhebt.-Das Problem von der spezifischen Gmnderfahmng derSelbstwelt ist als neues von der Phänomenologie gestellt worden.Daß hier in der zeitgenössischen Philosophie (es kommenfür uns nur die Marburger und Rickert~che Schule in Betracht)keine Klarheit herrscht, zeigt sich an dem Problem der Gegebenheit.Dieses Problem ist kein spezielles, es hängt mit derGrundfrage einer möglichen Philosophie als Wissenschaft zusammen.In der Modifikation des faktischen Lebens, die wir als Kenntnisnahmebezeichneten, waren wir, in radikaler Fortführung,gerichtet auf die Bestimmung eines Zusammenhangs, der ganzlosgelöst ist vom Zusammenhang der faktischen Erfahrung.Die Tendenz des Lebens und die Tendenz auf Kenntnisnahmebesteht fort, es wird noch immer Wirklichkeit erfaßt, aber derspezifische Sinn der Erfahrungswirklichkeit ist verloren. Die Bedeutsamkeitsstückesind ihres Bedeutsamkeitskreises beraubt· ,sie sind »sozialisiert« oder »kommunisiert«, d. h. alle auf eineEbene gestellt. Diese ganze Modifikation ist insofern speziell, alssie sich auf das Dingerkennen, das theoretische Verhalten be-
224 Anhang Bzieht; aber es gibt das Problem einer derartigen Modifikationganz im Allgemeinen, für jede Art des (genuinen) Erlebens.2. Das Problem der Gegebenheit - Kritik Natorps und RickertsDas Problem der Gegebenheit gliedert sich folgendermaßen:1) Ich kann im Leben auf etwas gerichtet sein, olme daßich das, worauf ich gerichtet bin, im Charakter der Gegebenheit,des Präsentseins mir gegenüber stehend habe. (Das Problemwird spezialisiert auf die »Dinge« in der gegenwärtigen Philosophie.Die »Dingwelt« erscheint als Welt der Gegebenheitüberhaupt. - Aber »Dinge« sind garnicht faktisch unmittelbargegeben.)2) Man muß unterscheiden: a) Etwas, das in seinem Selbstuns leibhaftig gegeben ist. b) Etwas, das zwar selbst, aber nichtleibhaJt gegeben ist. c) Etwas, das weder selbst noch leibhaJt,d. h. also bloß symbolisch gegeben ist.3) Es ist zu scheiden: a) »Gegebensein« im Sinne des vonmir Gesetzten, d. h. der Fall, wo ich mir etwas »gebe«. b) »Gegeben«im Sinn des mir (von außen) Vorgegebenen.Wir besprechen nun die Behandlung des Problems der Gegebenheitin der gegenwärtigen Philosophie:A) »Gegebenheit« in der Marburger Schule (Natorp)Für die Marburger Schule ist das theoretische Denken, besondersdas der Mathematik, der eigentliche Sinn des Bewußtseins.Bewußtsein ist Denken, Bestimmen, Setzen eines Gegenstands.Jedes Gegebene ist nur als im Denken bestimmt gegeben. Ausder Bestimmung entspringt erst die Gegebenheit. Die Denksetzunghat einen absoluten Vorrang. Das Erkennen ist Gegenstandsbestimmung,Setzen im Denken. Es gibt nichts Vorgegebenes.Es gibt Gegenstände erst im Denken und weil das Erkennenein prinzipiell endloser Prozeß ist, ist der Gegenstand nie gegeben,sondern nur seine Idee (erst die Fiktion des ans Ende gelang-Nachschrift des Schlußteiles 225ten Erkenntnisprozesses gibt den Gegenstand). - Diese Auffassungensind aus dem mathematischen Denken entstanden undvon da aus verallgemeinert. - Allerdings geben auch die Marburgerzu, daß das Denken immer »etwas« bestimmt, daß ihm alsoein letzter ~est vorg:geben ist, - nämlich: die Empfindungen.Indessen: dIe Empfmdungen als Empfindungen sind nur imDenken gegeben, gewonnen und bestimmt. Alles geht also in derReihengesetz~ichk~it des Denkens vor sich. Die Auflösung allesGegebenen m reme Denkbestimmungen ist die Aufgabe desDenkens. Das Aposteriorische, Inhaltliche muß letztlich aus demApriorischen abgeleitet werden wie das Glied der Reihe aus derReihengesetzlichkeit (vgl. Na to rp , Besprechung von Bauchs»I. Kant«!).Wir haben also vier für die Marburger Auffassung charakteristischeMomente:. 1) Denken als gesetzlicher Fortgang. Begriffsbildung bes~Immtd~rch die Reihengesetzlichkeit des Denkens. BegriffsbIldung.mcht bes.timmt aus einer genuinen Abstraktion. Kampfgegen dIe pyramIdale Ordnung der Gegenstände in Gattungenund Arten (Polemik gegen Aristoteles. Ausspielen Platos gegenAristoteles). -. 2). D~s .Gegebene selbst ist ein Aufgegebenes, ein prinzipIellme volhg zu bestimmendes X.3) Der Begriff des Bewußtseins ist von der Objektivierungaus gesehen, als Setzung eines Gegenstandes, als Denkbestimmung.4) Neigung zur Dialektik. Das Denken ist Organ der Gegenstandsbestimmung.Absolute Macht des Denkens daß insich selbst ruht und alle Gegenständlichkeiten bestimm~ (Beziehungzu Hegel).-Die Dialektik ist blind gegen die Gegebenheit. Die Idee derDialektik ist grundverkehrt; sie beruht auf einer Verwechslung1 P. Natorp,. Bruno Ba~chs »Immanuel Kant« und die Fortbildung des Systemsdes Kntlschen Idealismus. In: Kantstudien Bd. XXII, S. 426-459.