210 Anhang Bgar nicht vermutet. Nur unter der Tendenz der Wissenschaftkann ich aus dem Durcheinander des Erfahrungsbodens ZusamrIlengehörigesherausnehmen. Das ist schon eine Leistungder Wissenschaft. Andererseits ist der Charakter einer bestimmtenWissenschaft, z. B. der Botanik, nicht eine willkürliche Erfindung,sondern er ist seinerseits vom Charakter des ErfahrungsbodellSbestimmt. Schon in der umweltlichen vorwissenschaftlichenErfahrung treiben uns besondere Motive zur Wissenschaft;ohne daß wir durch Erfahrungsboden und Sachgebiet hindurchgeheIl,in irgend ein er »absoluten Weise«. Aus diesen Motivenstanllut in bestimmtem Ausmaß die Tendenz der Wissenschaft.*Ergänzung 6Wir haben also das Problem: Für eine bestimmte Wissenschaftsoll ein bestimmter Erfahrungsboden gegeben werden. Die Bereitungdes Erfahrungsbodens geschieht schon von der Tendenzder betreffenden Wissenschaft aus. Andererseits soll diese Tendenzgerade aus dem betreffenden Sachgebiet motiviert sein. Esbesteht also eine Rückbezüglichkeit bei jeder Wissenschaft, unddas ihrem Grundsinn nach.(Man denke an die Entdeckung der Gesetze des freien Fallsdurch Galilei, wodurch plötzlich die gesamte Problematik dermathematischen Naturwissenschaft entsprang. - Oder bei denGeschichtswissenschaften: Herder, Winkelmann, Niebuhr, "WoljJ,Schleiermacher. Vor ihnen tauchte die Idee der Geschichte auf,aus der sich dann ihre konkrete Logik ergab.)Also: die Idee einer Wissenschaft stammt aus ihrem Sachgebietund trotzdem wird das Sachgebiet erst ausgeformt unterder Tendenz dieser Idee. -*Ergänzungen 211Ergänzung 7Zwei Tatsachen aus der jüngsten Vergangenheit beleuchtengrell die gegenwärtig herrschende Verworrenheit in der Problematikder Selbstwelt.1) Der Streit um die historische Methode, der im Anschluß~n Lamprechts »Deutsche Geschichte« (Band I) entbrannte.Lamprecht vertrat die These: Geschichte ist angewandte Psychologie,muß sich auf Psychologie stützen, und zwar auf die>>-exakte«, experimentelle Psychologie (die UiLndt begründete);
212 Anhang Bemer universellen Welterklärung, ähnlich andere Vorsokratiker.Demokrit bildet zuerst den Begriff der Psyche und ordnet ihnin seine Atomtheorie ein. Die rundesten und glattesten Atomebilden nach ihm die Seele.PLato sagt: die Seele flicht das Böse und spürt dem Gutennach; er spannt sie also in einen Wertgegensatz ein. - Fernervergleicht er die Seelenvermögen (-funktionen) mit den Ständen,den Betätigungsformen im Staat.Aristoteles: die Seele ist die erste Entelechie des Körpers, derseiner Potenz nach lebt. Die Seele ist also das Prinzip des Lebens.Die Stoa bildet die Lehre von den Mfekten aus.Im Christentum gelangt die Selbstwelt zu einer ganz neuenBedeutsamkeit. Das zeigt sich philosophisch bei Augustin (Confessionesu. a.) und weiterhin im Mittelalter, besonders in dermittelalterlichen Mystik.In der neueren Zeit werden noch lange dieselben Begriffeund theoretischen Mittel auf das Seelische angewandt wie imAltertum und Mittelalter. So auch noch in der AnthropoLogie des15. und 16. Jahrhunderts. Dann bringt doch die Entstehung dermodernen Naturwissenschaft seit der Renaissance eine neueTendenz auch in die Psychologie. Es wird eine genaue Abgrenzungdes Seelenlebens vom Naturgeschehen notwendig. In derenglischen PsychoLogie (Locke) wird das Seelische durch die Art,wie es erfahrbar wird, charakterisiert in der Lehre vom »innerenSinn«. Man denkt sich ferner die psychischen PhänomeneGesetzen unterworfen, analog den physikalischen Gesetzen. Esentsteht die Assoziationspsychologie, die ihren Höhepunkt inHume erreicht. - Kant steht wesentlich unter ihrem Einfluß,wenn sich bei ihm auch in der »Kritik der Urteilskraft« eine Verbindungmit der Teleologie anbahnt, die aber noch nicht ausdrücklichauf seine Psychologie wirkt.Die Psychologie des deutschen IdeaLismus ist implizite in seinerGesamtphilosophie enthalten, sie enthält wichtige, aber zumeistnoch ganz übersehene Einsichten.Ergänzungen 213Die Idee des gesetzlichen Zusammenhangs der psychischenErscheinungen ist der leitende Gedanke der wissenschaftlichenPsychoLogie des 19. Jahrhunderts. Die transzendentale ÄsthetikKants, aufgefaßt als Subjektivität von Raum und Zeit, wirkt aufJohannes Müller, der sie physiologisch interpretierte. Von ihmdatiert überhaupt die enge Verbindung von Physiologie und Psychologie(»nemo psychologus nisi physiologus«). - E. H. Tfeberentdeckt das sogenannte Weber'sche Gesetz über den Zusammenhangvon Reiz- und »Empfindungsgröße«. - Fechner entwickeltvon hier aus die »Psychophysik«, die Lehre von der Messungder psychischen Phänomene und ihrer funktionalen (immathematischen Sinn) Abhängigkeit von den physikalischenReizgrößen. - Vor ihm hatte schon Herbart diese Idee auf dieSpitze getrieben, indem er alles psychische Geschehen zurückführtauf eine Bewegung einfacher Vorstellungen im leeren Raumdes Bewußtseins unter antreibenden und hemmenden Einflüssen.- Helmholtz begründet die physiologische Optik und Akkustik,doch immer im Zusammenhang mit vermeintlichen »erkenntnistheoretischen«Problemen: ob die Sinnwahrnehmungen »Abbilder«oder »Zeichen« der wirklichen Objekte seien. - WiLhelmUUndt gründet das erste Institut für experimentelle Psychologiein Leipzig. Er beschäftigt sich auch mit den »höheren psychischenTätigkeiten«. Er sieht ein, daß sie nicht aus den Empfindungenerklärt werden können und führt deshalb die »schöpferischeSynthese« ein. - Sein Schüler KüLpe beschäftigt sich besondersmit der Psychologie der Denk- und Willensvorgänge. - DieGrundtendenz dieser modernen »experimentellen« Psychologiebesteht in der Erklärung des psychischen Geschehens durch eineneinheitlichen gesetzlichen Zusammenhang und durch dessenRegulation durch letzte fundamentale Bedingungen, die inletzten Zusammenhängen letzter psychischer Elemente ihreWurzel haben. Man kommt so zu einer psychischen Kausalität,nach der »causa aequat effectum«. Das führt dann zu einer Einordnungder psychischen in die physiologische und physikalischeGesamtkausalität der Natur.-