24 KOlUMnE Nachgedacht Nachgedacht: Text: Stephan Cartier Die meisten Männer sind wehleidig. Der Autor dieser Zeilen bildet selbstverständlich eine Ausnahme. Aber die meisten anderen…, wie gesagt. Dieser Vorwurf wird zumindest von Frauen erhoben, die mit den zurückhaltenden Äußerungen von Männern über Ausmaß und Ursache ihrer Schmerzen bei Krankheit oder Verletzung schlecht umgehen können. Wer nur schaut oder ein wenig wimmert, statt sich ausgiebig über sein Leiden zu äußern, wird schnell als Mittleids-Weichei denunziert. Frauen dagegen pflegen ausführliche Diskurse über die Signale ihres Körpers. Wer dies für ein böses Klischee hält, schaue Werbefernsehen und lasse sich alle anderthalb Minuten ausführlich von Damen jeden Alters über das Unglück eines aufgeblähten Gefühls im Bauchbereich aufklären – und dessen Linderung durch die Einnahme probiotischen Joghurts. Dabei steckt hinter der männlichen Schwierigkeit zu sagen, wo einem etwas weh tut, ein eminentes Problem, auf das nicht ganz zufällig der stets leidend wirkende Philosoph Ludwig Wittgenstein in den 1953 postum erschienenen „Philosophischen Untersuchungen“ aufmerksam machte: Kann man über innere Wahrnehmungen wie Schmerzen mit anderen Menschen missverständnisfrei reden? Nein, so Wittgensteins Antwort! Denn wie jemand das wahrnimmt, was sich in sei- photocase schmerzlIche erKenntnIsse nem Inneren abspielt, dafür gibt es keine verlässliche und allgemein gültige Referenz außerhalb seines Körpers, auf die er sich beziehen könnte, um jemandem sein Leiden zu beschreiben. Was ein Auto ist, darüber lässt sich schnell eine Einigung erzielen. Man zeigt auf das Vehikel, sagt „Auto“, und jeder weiß, was gemeint ist. Frauen ebenso wie Männer. Aber wie ließen sich die organischen Auswirkungen einer Gastroenterits genau vermitteln? (Und wer wollte auch schon genau wissen, wie man sich bei Brechdurchfall fühlt?) Oder wie wäre das schmerzende Gefühl zu beschreiben, das sich am Knöchel einstellt, wenn einen der Freund beim Feierabendfußball mit einer Blutgrätsche von den Beinen geholt hat? Nach Wittgensteins Überzeugung kann es nur die Mitteilung über den Umweg unscharfer, dafür aber allgemein akzeptierter Worte und Sprachbilder wie aufgeblähter Bäuche geben. Und da schweigt der Mann eben lieber. Doch wenn mir schon versagt bleibt, anderen wirklich mitzuteilen, was ich wirklich fühle – woher soll ich es selbst wissen und mir als erster Person sagen? Man muss nicht schizophren sein, um auf diese Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis zu stoßen. Denn die westliche Vorstellung von Selbsterkenntnis wird davon beherrscht, dass ich mein ICH wie einen Außenstehenden betrachte, um mir über SEINEN – also meinen – Gemütszustand klar zu werden. Woher käme sonst die liebe Gewohnheit des Selbstgesprächs? Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat sich sechs Jahre nach den „Philosophischen Untersuchungen“ Wittgensteins in seinem berühmten „Seminar“ darüber Gedanken gemacht, wie man von diesen internen Wegen des eigenen Denkens selbst erfahren kann: „Wir kennen sie nur, weil wir von dem sprechen, was in uns abläuft, weil wir davon sprechen in Begriffen, die unvermeidlich sind, von denen wir jedoch wissen, wie unwürdig leer, vergeblich sie sind.“ Man trifft eben immer auf Bekanntes bei der Kommunikation mit sich selbst. Ernste Sorgen um die Einheit der eigenen Psyche müsste man sich wohl erst dann machen, wenn man sich einen Witz erzählt und lauthals lacht – weil man ihn tatsächlich noch nicht kannte. So rät Lacan seinen Studenten, sich dem Schicksal der allgegenwärtigen Wortkonventionen zu ergeben: „Von dem Augenblick an, in dem wir von unserem Willen oder unserem Verstehen als von unterschiedlichen Fähigkeiten sprechen, sind wir tatsächlich in der Lage, etwas von jenem Geschwätz zu artikulieren, mittels dessen wir uns für uns rechtfertigen, für uns rationalisieren...“ Worüber man eigentlich nicht sprechen kann, darüber muss man also umso mehr schwätzen. Was bleibt einem sonst übrig, um überhaupt irgendwie verstanden zu werden? Vielleicht sind Frauen eben doch die besseren Kranken.
Die Herbst- Kollektionen sind eingetroffen! www.waterfront-bremen.de Foto: © argo74 - Fotolia.com …und viele mehr.