GO EAST - Politik und Gesellschaft
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An den Endstationen warten dann<br />
bereits weitere Dabbawalas, die die<br />
Boxen auf ihre Handwagen türmen<br />
oder überall an ihren Velos befestigen,<br />
um sie zu den Bürokomplexen<br />
Mumbais zu transportieren. Während<br />
sich die Manager der Stadt die<br />
frische Hausmannskost schmecken<br />
lassen, dürfen sich auch die Dabbawalas<br />
eine Pause genehmigen, um<br />
in den Tempeln hinter den Bahnhöfen<br />
zu beten oder sich mit ihrem<br />
eigenen Mittagessen für den<br />
Nachmittag zu stärken. Denn noch<br />
ist der Arbeitstag der Kuriere nicht<br />
beendet: Zwischen 13.15 <strong>und</strong> 14 Uhr<br />
sammeln sie die leeren Tiffin Boxes<br />
wieder ein <strong>und</strong> laden sie in den<br />
Zug, der sie pünktlich um 14.48 Uhr<br />
wieder zum Ausgangspunkt bringt.<br />
Von dort aus liefern die Dabbawalas<br />
sie zu den Haustüren, an denen sie<br />
die Mahlzeiten am Morgen abgeholt<br />
haben.<br />
Nun mag man sich fragen, wozu<br />
dieser Aufwand betrieben wird.<br />
Warum verabreden sich die indischen<br />
Büromitarbeiter in der Mittagspause<br />
nicht zum gemeinsamen<br />
Lunch im Bistro um die Ecke oder<br />
kaufen sich ein belegtes Sandwich<br />
am Kiosk? In Mumbai treffen eine<br />
Vielzahl von Ethnien aufeinander.<br />
Diese Vielfalt macht es unmöglich,<br />
den Geschmack jedes Mitarbeiters<br />
zu treffen. Für Hindus ist Rind tabu,<br />
für Muslime Schwein, Daschainas<br />
sind strikte Vegetarier <strong>und</strong> essen<br />
nicht einmal Wurzelgemüse. Zudem<br />
gibt es Sikhs, Parsen, Juden,<br />
Buddhisten sowie Christen, <strong>und</strong><br />
jede dieser Gruppen hat andere kulinarische<br />
Vorlieben <strong>und</strong> religiöse<br />
Vorschriften. Des Weiteren besitzt<br />
jede indische Familie ihr spezielles<br />
Geheimrezept für Masalas (Gewürzmischungen)<br />
oder Dals (Linsenpürees),<br />
welches selbstverständlich –<br />
jedes für sich – unübertrefflich ist.<br />
Dabbawalas streiken nie<br />
Auf der Homepage der Dabbawalas<br />
(www.mydabbawala.com) werden<br />
gleich zehn gute Gründe für die<br />
hausgemachte Alternative präsentiert.<br />
Zum einen seien die frisch<br />
zubereiteten Speisen weitaus gesünder<br />
<strong>und</strong> günstiger (pro Monat<br />
werden je nach Länge <strong>und</strong> Schwierigkeitsgrad<br />
der Route fünf bis acht<br />
Euro berechnet) als Junk Food. Zum<br />
anderen würden sich die K<strong>und</strong>en<br />
den aufwendigen Transport der<br />
Mahlzeiten im überfüllten Arbeitsverkehr<br />
ersparen <strong>und</strong> jedes Risiko,<br />
nicht rechtzeitig speisen zu können,<br />
vermeiden. Auch wird darauf<br />
hingewiesen, dass auf diese Weise<br />
die Unabhängigkeit vieler Familien<br />
bewahrt würde. Tatsächlich ist die<br />
Arbeit für die meisten Dabbawalas<br />
lebensnotwendig. Ohne sie wäre<br />
es ihnen nicht möglich, sich <strong>und</strong><br />
ihre Angehörigen zu versorgen.<br />
Ein weiterer Punkt verdient ebenfalls<br />
besondere Anerkennung: Die<br />
Dabbawalas werden niemals streiken.<br />
Trotz des bescheidenen Einkommens<br />
sind die Kuriere dankbar<br />
// 1 //<br />
für die Arbeit <strong>und</strong> gehen an ihre-<br />
Grenzen, um sie ordnungsgemäß<br />
auszuführen.<br />
Soziale Sicherheit kennen die<br />
Dabbawalas nicht. Auch wenn ihr<br />
Berufszweig oft als Gewerkschaft<br />
umschrieben wird, existiert keine<br />
geregelte Absicherung für Notfälle.<br />
Dabbawalas sind Unternehmer,<br />
deren Gruppen wie Kooperativen<br />
organisiert sind. Das Geld, das jeder<br />
Träger dort kassiert, wo er die<br />
Mahlzeit abholt, wird in einen großen<br />
Topf geworfen, dessen Inhalt am<br />
Monatsende nach Abzug der Ausgaben<br />
geteilt wird. Wer ein Essen<br />
nicht planmäßig ausliefert, zahlt<br />
Strafe. Gemeinsam entscheidet die<br />
Gruppe, wie lange im Krankheitsfall<br />
gezahlt werden kann. Benötigt<br />
ein Zusammenschluss zusätzliche<br />
Kuriere, kann sich ein Anwärter für<br />
50000 Rupien einkaufen. Arbeitet<br />
er nicht zuverlässig, wird er entlassen.<br />
Allerdings bietet diese Organisationsform<br />
auch gewisse Vorteile:<br />
Die Dabbawalas sind autark <strong>und</strong><br />
können ihre Preise selbst bestimmen.<br />
So verdient jeder Kurier monatlich<br />
5000 bis 6000 Rupien (etwa<br />
100 Euro). Ein Bauarbeiter hingegen<br />
bekommt häufig nicht einmal ein<br />
Fünftel.<br />
Die Dabbawalas sind ein Symbol indischer<br />
Effizienz. Sie vereinen alle<br />
Eigenschaften, die die Metropole<br />
in den letzten Jahrzehnten immer<br />
stärker wachsen ließen: Ausdauer,<br />
Genügsamkeit, Ehrgeiz, Arbeitswillen<br />
<strong>und</strong> Ideenreichtum. Einer Umfrage<br />
zufolge gehören die Dabbawalas<br />
von Mumbai zu den 55 Dingen,<br />
auf die Inder besonders stolz sind.<br />
Somit hat sich das, was der Legende<br />
zufolge bereits 1890 begann, als<br />
ein persischer Banker auf die Idee<br />
kam, sich sein Mittagessen ins Büro<br />
liefern zu lassen, zu einem Erfolgsmodell<br />
entwickelt, ohne das ein<br />
reibungsloser Arbeitsalltag in der<br />
indischen Metropole <strong>und</strong>enkbar<br />
wäre.<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>