GO EAST - Politik und Gesellschaft
GO EAST - Politik und Gesellschaft
GO EAST - Politik und Gesellschaft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen<br />
Die vielen Seiten der vom Tourismus unentdeckten Hauptstadt Moldawiens<br />
von Felix Jaeger<br />
Chişinău (Kischinau) ist die Hauptstadt<br />
Moldawiens, eines EU-Anrainerstaates<br />
mit knapp 4,5 Millionen<br />
Einwohnern <strong>und</strong> doch so unbekannt<br />
wie ein französisches Dorf.<br />
Dabei ist Chişinău eine der grünsten<br />
Städte Europas <strong>und</strong> mehr als<br />
nur eine Reise wert. In der warmen<br />
Jahreszeit etwa bietet ein Sonntagsspaziergang<br />
inklusive Bootsfahrt<br />
auf dem Stadtsee im „parcul la izvor“<br />
die Erholung, die nach einer<br />
durchfeierten Nacht in Discos wie<br />
dem „City“ oder „Military Club“ nötig<br />
ist. Der Charme dieser Metropole<br />
zeigt sich indes besonders an der<br />
imposanten Hauptkathedrale hinter<br />
dem Triumphbogen am breiten<br />
Boulevard Stefans des Großen oder<br />
auf dem großen Zentralmarkt wo<br />
von Obst, Gemüse, Fleisch <strong>und</strong> einheimischen<br />
Gerichten wie Pelmeni<br />
(russische Tortellini) über Kleider<br />
<strong>und</strong> Hygieneartikeln bis zu kleinen<br />
Haushaltsgegenständen wirklich alles<br />
verkauft wird. Ebenso lohnt sich<br />
ein Besuch des Staatstheaters, insbesondere<br />
wenn man das Glück hat,<br />
bei günstigen Eintrittspreisen das<br />
beeindruckende russische Staatsballet<br />
aus St. Petersburg zu sehen.<br />
Als die größten ihrer Art sind die<br />
nicht weit entfernten Weinkatakomben<br />
in Cricova eine weitere<br />
ganz besondere Attraktion. Um<br />
sich in Moldawien fortzubewegen<br />
benutzt man Busse oder Minibusse,<br />
so genannte Maxi-Taxis, was auch<br />
passender ist. Nicht schlecht staunt<br />
man, wenn man auf dem Fahrplan<br />
des Chişinăuer Busbahnhofs das<br />
Schild Chişinău – Flensburg“ liest.<br />
Auf einer Fläche die ungefähr dem<br />
Hauptbahnhof in Hamburg entspricht,<br />
herrscht dort großes Treiben;<br />
umherlaufende Händler verkaufen<br />
Eis, Zeitungen oder sogar<br />
Plastiktüten.<br />
Wenn man einen von ihnen auf rumänisch<br />
nach dem Weg fragt, kann<br />
es passieren, dass er auf russisch<br />
antwortet. Moldawien war früher<br />
rumänisch, wurde aber in der Sowjetzeit<br />
russifiziert, weshalb viele<br />
Bewohner Chişinăus zweisprachig<br />
aufgewachsen sind. Im Gegensatz<br />
zu russisch ist rumänisch keine slawische<br />
Sprache, sondern eine romanische<br />
<strong>und</strong> dem italienischen sehr<br />
ähnlich. In Moldawien gibt es ferner<br />
ukrainische <strong>und</strong> turkstämmige<br />
Minderheiten, die ihre Sprache<br />
sprechen. Dieser kulturelle Reichtum<br />
hilft jedoch über Moldawiens<br />
Situation als „Armenhaus Europas“<br />
nicht hinweg. Die oft abenteuerliche<br />
Flucht vieler Arbeitsuchender<br />
ins Ausland hat dazu geführt, dass<br />
vor allem nicht-erwerbsfähige zurückgeblieben<br />
sind, unter ihnen<br />
viele Kinder. Zurückhaltende Schätzungen<br />
besagen, dass sich mehr als<br />
10% der moldawischen Staatsbürger<br />
im Ausland befinden <strong>und</strong> Umfragen<br />
ergeben, dass 62% der Bürger für<br />
eine Zeit oder für immer das Land<br />
verlassen würden. Die Moldawier<br />
sind sich ihrer Situation bewusst<br />
<strong>und</strong> in den letzten Jahren hat sich<br />
bereits vieles verändert.<br />
// //<br />
Ein großes Problem bereitet jedoch<br />
der im moldawischen Staatsgebiet<br />
liegende, international nicht<br />
anerkannte Staat Transnistrien.<br />
Von dort hat sich ein Teil der Sovjetarmee<br />
nach der Unabhängigkeitserklärung<br />
Moldawiens 1991<br />
nicht entfernt <strong>und</strong> einen Bürgerkrieg<br />
angestiftet, der seit 1993 ruht.<br />
Transnistrien wurde mir gegenüber<br />
einmal als „Land der W<strong>und</strong>er“ bezeichnet:<br />
Es gibt dort noch einen<br />
sozialistischen Diktator, eine eigene<br />
Währung, eine Post mit eigenen<br />
Briefmarken <strong>und</strong> Reisepässe – nichts<br />
davon ist im restlichen Moldawien<br />
oder im Ausland brauchbar.<br />
Wie auch aus anderen Regionen<br />
Osteuropas bekannt, ist die Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />
in Moldawien überwältigend.<br />
In der transnistrischen<br />
Stadt Bender habe ich mit Pflaumenschnaps<br />
auf das Leben „ so wie<br />
die Äpfel <strong>und</strong> Birnen im Frühling“<br />
angestoßen, in Chişinău wurde ich<br />
von der Witwe eines auf jiddisch<br />
schreibenden Schriftstellers zum<br />
Essen mit Mitgliedern der wieder<br />
gewachsenen jüdischen Gemeinde<br />
eingeladen. Im Gegensatz zum Wissen<br />
der Deutschen über Moldawien<br />
ist das Wissen der Moldawier umgekehrt<br />
beeindruckend. Auch kennt<br />
fast jeder jemanden, der schon zum<br />
Arbeiten nach Deutschland gekommen<br />
ist. So ist es im Gegensatz das<br />
Mindeste wenigstens von der Existenz<br />
Chişinăus, der Hauptstadt von<br />
Moldawien, Kenntnis genommen<br />
zu haben.<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>